Der Teufel nebenan - Gina Kaus - E-Book

Der Teufel nebenan E-Book

Gina Kaus

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Beschreibung

Der junge, unvermögende Student Albert Holzknecht lernt die reiche Witwe Melanie Simrock kennen. Melanie ist von dem unerfahrenen Mann sehr angetan und die beiden heiraten. Melanies Vermögen ermöglicht Albert eine hohe Stellung in einer Keramikfabrik – der Einzelgänger kommt unter Leute und es dauert nicht lange, da ihm seine Ehefrau Untreue und Affären mit anderen Frauen unterstellt. Ihre Eifersucht steigert sich zum Psychoterror, die Streitereien zwischen dem Paar nehmen immer unbarmherzigere Formen an und das unglückliche Ende ist abzusehen. Gina Kaus' Roman ist ein Psychodrama wie aus einem individualpsychologischen Lehrbuch, die Protagonisten sind Paradeneurotiker im Sinne der Individualpsychologie Alfred Adlers – und auf fatale Weise durch Minderwertigkeitskomplexe und Eifersuchtsneurose miteinander verbunden. Kaus versteht es jedoch, das Paar nicht in eine Schwarz-Weiß-Schablone zu pressen, sondern das unglückliche Zusammenspiel der beiden Charaktere zu beleuchten. Der 1940 verfasste Roman nebenan wurde 1956 mit Lilli Palmer und Curd Jürgens in den Hauptrollen unter dem Titel Teufel in Seide verfilmt – und avancierte damit zum Bestseller. In der Romanfigur des Arztes Dr. Heinsheimer setzte Kaus Alfred Adler ein literarisches Denkmal.

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Gina Kaus

Der Teufel nebenan

Roman

Mit einem Nachwort vonVeronika Hofeneder

Inhalt

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

ZWEITER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

DRITTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teufel in Seide Psychodrama und Zeitroman

GINA KAUS VITA

ERSTER TEIL

1

Die Mutter pflegte zu sagen: »Albert ist ein Mensch, den man nicht allein lassen darf.«

Der Vater widersprach: »Du redest ihm das ein. Ich kann nicht finden, daß er unselbständiger ist als andere Jungen in seinem Alter. Und wenn er es wäre, so müßte man ihn eben deshalb einmal allein ins Leben schicken. Du willst es einfach nicht wahrhaben, daß er ohne dich auskommen kann, und wenn er wirklich ein Schwächling ist, so bist du schuld daran.«

Es handelte sich darum, ob Albert in der Provinzstadt, wo sie daheim waren, oder in der Reichshauptstadt seine Studien vollenden sollte. Seine Mittelschulen hatte er mit Glanz absolviert, alle Lehrer hielten Großes von ihm. »Er könnte mal was werden«, sagten sie. Seine Kollegen sagten das gleiche. Aber niemand konnte so richtig sagen, was er eigentlich werden sollte.

»Wenn du dich einmal richtig aussprechen würdest«, sagte der Vater, »es wäre dann viel leichter, einen Beschluß zu fassen.«

Albert sah unschlüssig zwischen den Eltern hin und her. Er war ein großer Junge mit breiten athletischen Schultern und einem großen freundlichen Gesicht, das später vielleicht einmal schön werden würde. Vorläufig war es noch ein unfertiges Gesicht, halb kindlich, halb männlich. Nur die Nase hatte sich schon zu ihrer endgültigen Form entschieden, sie war groß und breit, beinahe eine Kartoffelnase. Obwohl er schlank war, sah man ihm an, daß er in nicht allzu ferner Zeit dick werden würde, daran würde weder eine mäßige Lebensweise noch ausgiebige sportliche Betätigung etwas ändern. Es lag in seinem Charakter, dick zu werden, und sein Charakter stand in seinem Gesicht geschrieben. Mit sehr viel sportlichem Training würde er die kernige Massivität eines Boxers erreichen können – aber sportliches Training lag ihm nicht. Wer ihn mit sehenden Augen ansah, konnte wissen, daß er es ohne Widerstand hinnehmen würde, mit dreißig Jahren dick zu sein.

Er sah zwischen den Eltern hin und her, dann sagte er: »Wenn es nach mir ginge, möchte ich Philosophie studieren.«

»Philosophie«, sagte der Vater. »Was heißt das – Philosophie? Was kann man damit anfangen?«

»Wenn ich Philosophie studiere, kann ich in vier Jahren fertig sein. Dann könnte ich meinerseits an einer Universität Philosophie unterrichten. Und dabei bliebe mir Zeit genug, um für mich weiterzustudieren.«

»Was weiterzustudieren?« fragte der Vater.

»Philosophie«, sagte Albert.

Beide Eltern schwiegen und waren unzufrieden. Der Vater hatte erwartet, Albert würde sagen, er wolle Ministerpräsident werden. Die Mutter hatte gehofft, er würde irgendein Lebensziel angeben, bei dem man Millionär wird. Sie waren beide vom Leben ziemlich verbraucht, weder reich noch bedeutend, und sie konnten nicht verstehen, daß ihr Sohn, der jung war, nicht höher hinaus wollte.

»Um Philosophie zu studieren«, sagte die Mutter, »braucht er doch nicht in die Stadt zu fahren.« Sie wußte nicht genau, was Philosophie war; aber da man damit nicht sehr reich werden konnte, dachte sie, es sei etwas Minderwertiges, was sich wohl auch an einer kleinen Provinzuniversität vorfinden würde. Ausführlich zählte sie die Vorteile des Daheimbleibens auf, niemand hörte ihr zu, da sie nur Selbstverständliches sagte.

Der Vater ging mit großen Schritten im Zimmer hin und her und sagte eine Menge kluger Sachen, die er zwar aus Büchern und Zeitungsartikeln hatte, die aber in gewissem Sinne doch ihm gehörten, da sie ihm einleuchtend und für seine persönlichen Zwecke von ihm verarbeitet worden waren.

»Es kommt nicht allein darauf an, was ein junger Mensch lernt – es kommt darauf an, was er daraus macht, auf ihn selbst kommt es an, auf seine Persönlichkeit. Das Vaterhaus ist nicht der richtige Ort, um eine Persönlichkeit herauszubilden und abzuschleifen. Zum Beispiel«, sagte er und wies auf den Sohn, »sieh dir Albert in diesem Disput an. Benimmt er sich so, wie ein junger Mann in seiner Situation sich verhalten sollte? – Nein! Er verhält sich vollkommen passiv und wartet unsere Entscheidung ab, anstatt seinen eigenen Willen als den allerwichtigsten Faktor in die Waagschale zu werfen. Warum zum Teufel«, wandte er sich an den Sohn, »warum sagst du nicht, daß du in die Stadt fahren willst?«

»Aber er will doch gar nicht!« rief die Mutter, ehe Albert Zeit hatte, irgend etwas zu äußern.

Sie hatte Tränen in den Augen, und Albert bemerkte es. Aus Gründen, die er niemandem hätte erklären können, waren ihm diese Tränen unerträglich. Er hätte, und wenn es ihm noch zehntausendmal wichtiger gewesen wäre, nicht aussprechen können, daß er für sein Leben gern zur Stadt fahren wollte. Ja, in diesem Augenblick, als er seine Mutter weinen sah, hatte er nicht einmal mehr die richtige Erinnerung daran, wie wichtig ihm in den letzten Monaten diese Reise gewesen war, wie er sich alles ausgemalt und wie er mit seinen Freunden davon gesprochen hatte. Er hatte nur mehr den einen Wunsch, der Vater möge endlich aufhören, in ihn zu dringen, und alle Dinge beim alten lassen.

»Da siehst du, was für ein Mensch er ist«, sagte der Vater mit tiefer Mißbilligung, »er ist nicht einmal imstande, sich gegen deinen unsinnigen mütterlichen Egoismus durchzusetzen. Wie soll er sich da jemals gegen Fremde oder gar gegen Feinde behaupten? Behalte ihn in Gottes Namen hier!« schrie er die Mutter an. »Füttere ihn mit nahrhaften Dingen, gib acht, daß er keine kalten Füße bekommt und nachts nicht zu spät nach Hause kommt – mach einen unbrauchbaren, lächerlichen Waschlappen aus ihm! Du wirst nicht mehr viel Mühe damit haben!«

Damit ging der Vater aus dem Zimmer und schlug die Tür zu.

Albert fühlte sich hundeelend. Er hatte gehofft, der Vater würde die Sache für ihn durchsetzen. Aber es war eigentlich ganz klar, daß es anders kommen mußte. Der Vater, obwohl weitaus intelligenter und fremden Leuten gegenüber weitaus weltgewandter als die Mutter, setzte in Wirklichkeit nie etwas gegen sie durch. Seine Energie erschöpfte sich in klangvollen Worten, während ihre sanfte Beharrlichkeit bisher noch immer recht behalten hatte.

Albert wußte auch genau, woran es lag. Die Mutter, bei aller Bescheidenheit ihres Auftretens, war innerhalb ihres Bezirkes von der Richtigkeit ihrer Ansichten voll und ganz durchdrungen. Er aber, ebenso wie der Vater, waren im Grunde genommen Zweifler. Sie hielten es immer für möglich, daß sie irren könnten. Die Mutter war in Wirklichkeit die Mutigere, sie nahm die Verantwortung für das, was nach ihrem Willen geschah, ohne weiteres auf sich und schien nie etwas von dieser Last zu spüren.

2

So schien es Albert, aber dann zeigte es sich, daß alles offenbar ganz anders war.

Als er zwanzig Jahre alt war, starb sein Vater ganz plötzlich, und acht Tage später verlangte die Mutter, er solle nach der Stadt übersiedeln. Auf seine Frage erwiderte sie, daß sie damit einen Wunsch des Toten erfülle. Aber das hätte sie gewiß nicht getan, wäre ihr nicht endlich klargeworden, daß er mit diesem Wunsch immer recht gehabt hatte. Irgendwelche ehelichen Differenzen, von denen er nichts ahnen konnte, waren offenbar auf Alberts Rücken ausgetragen worden. Es war sehr viel Reue in der Haltung der Mutter, denn sie betrieb Alberts Abreise mit großer Eile und Energie.

Der Vater war Beamter in einer Versicherungsgesellschaft gewesen und hatte seiner Familie eine bescheidene Rente und ein kleines Barvermögen hinterlassen. Die Mutter übergab Albert dieses Barvermögen – es waren nur ein paar tausend Kronen – und rechnete ihm vor, daß er bei bescheidenster Lebensführung drei bis vier Jahre damit auskommen könnte. Außerdem gab sie ihm Empfehlungen in einige angesehene Häuser, von denen er aber niemals Gebrauch machte.

Übrigens hatte Albert Verwandte in der Stadt. Einen Onkel Josef, der Offizier bei der Infanterie war, und einen anderen Onkel, Fritz, der es als Architekt zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Aber dieser Onkel Fritz war das schwarze Schaf der Familie, denn er lebte seit Jahren im Konkubinat mit einer Französin, die niemand je zu Gesicht bekommen hatte und die man »das Frauenzimmer« zu nennen pflegte. Die Mutter trug Albert strenge auf, Onkel Fritz erst anzurufen, wenn er ein eigenes Zimmer hatte, und ihn zu sich zu bitten – natürlich nur ihn allein. Aber es kam anders. Onkel Fritz lud Albert sofort zum Abendbrot, und er wußte nicht, wie er es hätte ablehnen können.

Onkel Fritz bewohnte den sechsten Stock eines ganz modernen Hauses. Er war sehr stolz auf die Wohnung, die er einem »ganz gewöhnlichen Dachboden« abgezwungen hatte, einen sehr großen Arbeitsraum und fünf winzige Zimmerchen, wie für Schneewittchens Zwerge, in denen aber die behaglichsten aller Lehnstühle Platz hatten – offenbar, weil nichts Überflüssiges umherstand.

Das »Frauenzimmer« rief aus der Küche, man solle zu ihr kommen. Sie stand an einem kleinen, weißemaillierten Gasherd, hatte eine weiße Schürze vorgebunden und sah genauso warm und appetitlich aus wie der Auflauf, den sie gerade aus dem Rohr nahm. Albert dachte, sie würde sehr verlegen sein. Sie aber nahm ihn mit weichen, warmen Händen beim Kopf, küßte ihn auf beide Wangen und sagte: »Du nennst mich einfach Martha«, sie sprach das Deutsche ganz geläufig, bloß mit einem starken ausländischen Akzent, »und wenn du etwas brauchst, so kommst du zu mir. Fritz ist ein sehr guter Kerl, aber unpraktisch wie ein kleines Kind. So und jetzt hilf mir die Teller hineintragen.«

Es war die erste ordentliche Mahlzeit, die Albert seit den acht Tagen seines Aufenthaltes in der Stadt in den Magen bekam, denn er hatte noch nicht heraus, wie man in Restaurants gut und billig essen kann. Es gab Bier zu Tisch und nachher einen ausgezeichneten Obstschnaps.

»Hast du dich schon einmal ordentlich betrunken?« fragte Onkel Fritz.

»Doch. Am Abend nach der Matura. Ich glaube, ich war der Besoffenste von allen, ich weiß überhaupt nicht, was ich getan und was ich geredet habe. Nachher haben sie mir weismachen wollen, ich habe mich schrecklich unanständig aufgeführt. Aber das glaube ich nicht. Ich habe meinen ehemaligen Klassenprimus verprügelt, das ist wahr, und am nächsten Tag habe ich ihn um Entschuldigung gebeten. Man soll sich nicht betrinken«, sagte er mit starker Stimme, »man soll nicht Dinge tun, deren man sich am nächsten Tage schämt!«

Er hatte keine Ahnung, daß er wieder betrunken war.

»Und die Frauen?« fragte Martha lächelnd. »Hast du eine Freundin daheim zurückgelassen?«

»Die Frauen«, sagte Albert und machte eine große, breite Bewegung mit den Armen, wobei er an die Wände des winzigen Zimmerchens stieß, »die Frauen interessieren mich nicht.«

Fritz und Martha begannen gleichzeitig zu lachen. Albert staunte erst darüber, dann lachte er gutmütig mit.

»Offen gestanden – ich habe Angst vor den Frauen. Man hat wenig Freude mit ihnen, ich habe das an meinen Freunden gesehen. Manche von ihnen haben sich verliebt – die einen wurden verlassen und waren sehr unglücklich darüber, die anderen aber konnten ihr Mädchen nicht mehr loswerden und waren noch unglücklicher. Es ist wie eine Rechnung, die falsch aufgestellt ist und die nie aufgehen kann.«

Er war wirklich ziemlich betrunken, jedenfalls sprach er weit mehr, als es in seiner Gewohnheit lag. Onkel Fritz legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte vergnügt:

»Du bist es, der die Sache falsch ansieht. Ich verstehe nichts von Mathematik und weiß nicht, ob Rechnungen unbedingt aufgehen müssen. Aber ich glaube, ich verstehe etwas von Frauen, und ich kann dir sagen, es kommt nicht darauf an, wie die Sache ausgeht.«

»Worauf kommt es denn an?« fragte Albert, ehrlich interessiert.

»Mein Gott – wenn du mich so fragst! Es kommt nicht auf das Vollkommene an, sondern auf das Ungefähre. Nicht auf das Ewige, sondern auf das zeitlich Begrenzte.«

Martha nahm ihm das Schnapsglas aus der Hand. »Drück dich wie ein vernünftiger Mensch aus, sonst bekommst du keinen Schluck mehr«, sagte sie.

»Über solche Dinge kann man nicht vernünftig reden!« Onkel Fritz fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, er hatte nicht mehr sehr viele, aber sie kamen doch in beträchtliche Unordnung. »Vernünftig gesprochen, hat er vielleicht ganz recht. Ohne Frauen könnte man mehr arbeiten, mehr verdienen. Aber wozu arbeiten, wozu verdienen? Und zum Teufel – warum soll man nicht ab und zu unglücklich sein? Was hat er vorhin gesagt? Man soll nicht Dinge tun, die man am nächsten Tag bedauert. Unsinn. Man soll sie tun, sonst ist das Leben überhaupt nicht wert, gelebt zu werden. Man soll sich einen Rausch antrinken und den Katzenjammer in Kauf nehmen. Und man soll die Leiden der Liebe in Kauf nehmen, sonst kann man sich einfach begraben lassen! Was meinst du dazu?« fragte er Martha und legte seine Hand auf ihr Knie, was Albert veranlaßte, verlegen wegzusehen.

Martha küßte ihren Freund zunächst einmal auf den Mund. Dann sagte sie, während sie aufstand und den Tisch abräumte: »Männer zerbrechen sich immer viel zuviel den Kopf. Diese Dinge kommen von selbst – wie sie eben wollen. Wenn ich dir sage«, wandte sie sich an Albert, »daß ich mit siebzehn Jahren noch ins Kloster gehen wollte … Ich war in einen Vetter von mir verliebt, aber zum Sterben verliebt, und er hat eine andere geheiratet – er weiß bis heute noch nicht, daß er mich beinahe umgebracht hat. Und ich hätte nie geglaubt, ich könnte noch einen anderen Mann ansehen.« Sie strich Albert mit ihrer weißen warmen Hand über das Haar. »Ich glaube, es ist sehr gut, wenn man in der Jugend eine große Enttäuschung durchmacht. Scharlach, Keuchhusten und die große Liebe – alle diese Krankheiten soll man vor dem zwanzigsten Jahr durchmachen.«

Als Albert zum erstenmal auf den Gedanken kam, nach der Uhr zu sehen, war es Mitternacht. Onkel Fritz sagte zu seiner Freundin: »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich Albert ein Stück begleiten. Sonst habe ich morgen einen schweren Kopf.«

Auf der Straße fragte Albert plötzlich: »Warum heiratest du Martha eigentlich nicht?« Er hätte das nicht gefragt, wenn er weniger getrunken hätte.

Onkel Fritz antwortete ohne jede Verwunderung: »Es gibt gar keinen Grund dafür – außer einem einzigen: daß es nämlich auch gar keinen Grund gibt, sozusagen aus heiterem Himmel zu heiraten. Vor zehn Jahren, als es mit uns beiden begann, hatte jeder von uns ein großes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Seither haben wir, soweit ich mich erinnere, einfach nie mehr über dieses Thema gesprochen.«

Wenn Onkel Fritz mit seiner Freundin niemals über dieses Thema gesprochen hatte, so offenbar nicht deswegen, weil er nicht gerne davon sprach: auf dem langen Heimweg mit dem zwanzigjährigen Neffen, den er zum erstenmal seit seiner Kindheit vor sich hatte, sprach er lange und ausführlich darüber. Er nannte die Ehe bald »ein Gefängnis«, bald einen »Shylockvertrag«, dann wieder »das Grab der Liebe« und noch alles mögliche sonst. Albert besaß zwar so gut wie keine Lebenserfahrung, trotzdem konnte sogar er bemerken, daß Onkel Fritz sich in diesen Reden gefiel, daß er offenbar stolz war auf seine unbürgerlichen Ansichten und auf sein unbürgerliches Leben, obwohl sein Heim viel ordentlicher und behaglicher war als irgendeines der bürgerlichen Heime, die Albert kannte.

Als sie angelangt waren, bestand Onkel Fritz darauf, den Neffen bis in sein Zimmer zu begleiten. »Du bist nicht gewohnt zu trinken, am Ende fällst du noch über die Treppen.«

»Aber ich wohne doch im Erdgeschoß.«

»Das macht nichts.«

Albert sperrte das Haustor auf und führte den Onkel über den Hof.

»Du wohnst im Hinterhaus?«

»Im Gartenhaus«, verbesserte Albert. Aber es war richtig, daß man den Garten, der nur aus fünf Bäumen bestand, auch einen Hof nennen konnte, ohne ihn zu beleidigen.

Endlich standen sie in Alberts Zimmer. Onkel Fritz sah vom zerschlissenen Teppich zu dem schmutzigen Stuck an der Decke, er sah an den Wänden die Fotografien der vermutlich längst verstorbenen Verwandten der Hausfrau, er sah die billigen verschnörkelten Blumenvasen, Zwerge, Hunde und andere Scheußlichkeiten auf der Kommode und sagte schließlich:

»Hoffentlich ist das Zimmer wenigstens hell und ruhig.«

»Nein, das kann man nicht sagen. Hell ist es gar nicht, nicht einmal morgens. Und dann – der Garten gehört zu einer Schule, und in jeder Pause kommen die Kinder, um zu spielen.«

Es fiel ihm plötzlich zum erstenmal auf, daß sein Zimmer sehr, sehr häßlich war. Während dieser ersten Woche seines Hierseins war er stolz darauf gewesen, überhaupt ein eigenes Zimmer zu haben, »ein möblierter Herr« zu sein.

»Es war ganz einfach das erste Zimmer, das ich gefunden habe«, gestand er. »Ich bin im Hotel abgestiegen – aber das Hotel ist furchtbar teuer. Ich bin hier, in der Nähe der Universität, über die Straße gegangen und in die erste Haustür hinein, an der ›zu vermieten‹ stand. Ich dachte, es ist alles da, was ich brauche, ein Bett, ein Kasten, ein Schreibtisch und ein Lehnstuhl … der Lehnstuhl ist sogar sehr bequem und angenehm.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und auf Alberts »Herein!« erschien, in einem Flanellschlafrock und in Pantoffeln, das graue Haar unter einem Netz, die Hausfrau.

»Sie haben Besuch?« fragte sie.

»Jawohl«, erwiderte der Onkel anstatt Alberts, »mein Neffe hat Besuch. Haben Sie vielleicht etwas dagegen?«

Die Alte fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase. »Nein, natürlich nicht. Wenn es kein Damenbesuch ist, habe ich nichts dagegen. Gute Nacht, die Herren.«

»Sie ist eine sehr gutmütige Person«, sagte Albert, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, »sie bringt mir morgens das Frühstück ans Bett und hat sich angeboten, meine Wäsche in Ordnung zu halten. Sie hat bloß schreckliche Angst vor Damenbesuch.«

»Höre einmal, mein Junge«, sagte Onkel Fritz beinahe ernst, »du wirst hier kündigen. Das ist ein scheußliches Loch, und deine Hausfrau ist ein scheußlicher alter Drachen. Ich verstehe gar nicht, wie du deinen Tee hinunterschlucken kannst, wenn diese häßliche Hexe ihn dir ans Bett stellt. Und mit der Zeit wirst du natürlich Damenbesuch haben wollen. Nimm dir einen Tag dafür Zeit und suche dir eine menschenwürdige Behausung bei gemütlichen Leuten, die nachts beide Augen zudrücken. Und wenn es etwas mehr kosten sollte« – er griff nach seiner Brieftasche –, »ich bin dir zwanzig Weihnachtsgeschenke schuldig. Da nimm – von einem alten Onkel ist es keine Schande!«

Er stopfte Albert einen größeren Geldschein in die Rocktasche.

»Und was ich dir noch sagen wollte: vergiß nicht, deinen Onkel Josef aufzusuchen. Ich kann ihn zwar nicht leiden und du wirst ihn auch nicht leiden können – ganz zu schweigen davon, wie zuwider du ihm sein wirst –, aber er hat ausgezeichnete Beziehungen zu allen möglichen einflußreichen Leuten, und wenn du mit deinen Studien fertig sein wirst, kannst du diese Beziehungen gebrauchen. Gute Nacht für heute!«

3

Drei Jahre später, als er seine Studien beinahe beendet hatte, bewohnte Albert noch immer das dunkle Hofzimmer mit dem zerschlissenen Teppich und dem schmutzigen Stuck an der Decke. Die Kinder lärmten jede Stunde im Garten, aber er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte sich auch an alle die häßlichen Fotografien an den Wänden und an die Nippesgegenstände auf der Kommode gewöhnt.

Knapp nach dem nächtlichen Gespräch mit Onkel Fritz hatte er kündigen wollen, aber da er nicht wußte, wie man das macht, hatte er ein allgemeines Gespräch mit der Hausfrau begonnen, und in diesem Gespräch hatte die alte Dame, Witwe eines Postbeamten, bitter über die Schwierigkeiten ihres Daseins geklagt. Eine Tochter, die schlecht verheiratet war, kostete sie alle ihre Ersparnisse. Sie lebte ausschließlich von ihren beiden Mietern, von Albert und von einem jungen Mediziner, und Albert konnte seine Kündigung einfach nicht über die Lippen bringen, mitten in diesen wortreichen Jammer hinein.

Er hatte später einmal versucht, wenigstens die überflüssigen Scheußlichkeiten aus seinem Zimmer entfernen zu lassen. »Frau Hessler«, hatte er gesagt, »ich brauche die Platte der Kommode für meine Bücher. Sehen Sie mal – der Schreibtisch ist schon ganz vollgeräumt.« Frau Hessler hatte mit trüben Augen auf die Hunde, Zwerge und Blumenvasen geblickt und nur erstaunt gesagt: »Aber sie sind doch so schön!«

Es war alles geblieben, wie es war. Seinen Onkel hatte er noch immer nicht angerufen, und jetzt war es längst zu spät; denn Onkel Josef würde es doch niemals verzeihen, daß er drei Jahre lang in der Stadt gewesen war, ohne sich bei ihm zu melden.

Zu Onkel Fritz ging er jedoch an jedem Donnerstagabend, und er hatte sich daran gewöhnt, sich von ihm einen Schwächling nennen zu hören – ganz so, wie er es von seinem Vater her gewohnt gewesen war.

»Man muß das Herz haben, seinen Willen durchzusetzen«, sagte Onkel Fritz, »vorausgesetzt natürlich, daß man so etwas wie einen Willen hat. Und wenn du keinen hast, tust du mir leid.«

»Ich fürchte, ich habe keinen«, sagte Albert, »jedenfalls kann ich meinen Willen nicht so sehr wichtig nehmen wie die meisten Leute. Aber ich glaube, es ist überhaupt etwas ganz anderes. Ich spüre, was in anderen Menschen vorgeht, verstehst du? Und wenn ich spüre, dem anderen liegt besonders viel daran, daß eine Sache so bleibt, wie sie ist, dann habe ich einfach gar keine besondere Lust mehr, sie zu ändern. Schließlich ändert sich alles von selbst. Es war genauso, als ich seinerzeit in die Stadt fahren wollte und meine Mutter sich so darüber kränkte. – Eines Tages hat sie mich selbst hergeschickt.«

»Du wirst es nie zu etwas bringen«, sagte Onkel Fritz, »es gibt keine Karriere, die nicht ein paar Nebenmenschen beiseite schiebt!«

»Wirst du mich sehr verachten, wenn ich dir sage, daß ich keine besondere Sehnsucht nach einer Karriere habe? Ich kann mir beim besten Willen nichts darunter vorstellen, was mich hinreißt. Ich habe kein Bedürfnis nach Luxus und großer Welt – ich habe es nun einmal nicht. Alle Dinge, die mir Freude machen, sind von einer Art, die nicht ins Geld geht. Ich liebe Bücher – aber ich brauche keine Erstausgaben oder Unika. Es stört mich nicht, zu wissen, daß noch zehntausend andere Menschen die gleichen Bücher haben. Ich liebe die Natur – aber ich schlafe sehr gern in Herbergen, und es stört mich nicht, sie zu Fuß oder in überfüllten Autobussen zu erreichen. Überhaupt glaube ich, die meisten Dinge, die so viel Geld kosten, daß Menschen unbedingt Karriere machen müssen, um sie zu besitzen, dienen gar nicht zu ihrem Vergnügen, sondern dem Ärger der anderen. Zum Beispiel die vielen überflüssigen Zimmer in den Häusern der Reichen. Wozu das? Wozu die kostbaren Gemälde, die Tapisserien an den Wänden? Wenn ich meinen Schönheitssinn befriedigen will, gehe ich ins Museum. Und wenn ich es mir werde leisten können, dann werde ich mir gute moderne Drucke von meinen Lieblingsbildern an die Wände hängen.«

Albert war längst dahintergekommen, daß sich seine Anschauungen von einem glücklichen Leben nicht mit denen der meisten Menschen deckten. Nicht nur die Eltern waren über seinen mangelnden Ehrgeiz enttäuscht gewesen, nicht nur Onkel Fritz brummte über »dieses lächerliche Minimalprogramm« – auch sein bester Freund Stephan Rotaug wußte nichts damit anzufangen.

Stephan war der junge Mediziner, der mit ihm für den Lebensunterhalt der verwitweten Hausfrau sorgte. Wie sich bei den meisten guten Dingen mit der Zeit herausstellt, daß sie ihre Fehler haben, so zeigen auch die schlechten oft unerwartete Vorzüge. Alberts mehrjährige Nachbarschaft mit dem jungen Mediziner hatte zu einer Freundschaft geführt, die zu jenen gehörte, von denen man sich nicht vorstellen kann, daß sie nicht fürs ganze Leben sein könnten.

Stephan war unsagbar arm. Seine Eltern lebten in Polen, es ging ihnen schlecht, und das Geld blieb oft am Monatsersten aus. Stephan gab Stunden aller Art, Lateinstunden an Gymnasiasten, Nachhilfestunden an Kollegen jüngerer Semester, er machte Übersetzungsarbeiten aus dem Polnischen und ins Polnische, er bestand alle seine Prüfungen mit Auszeichnung, pflegte mit großer Gewissenhaftigkeit eine Reihe von gesellschaftlichen Beziehungen und fand immer noch Zeit für nächtliche Gespräche mit Albert, die um die Letzten Dinge gingen.

Außerdem hatte er eine Freundin, die noch ärmer war als er. Eine Kollegin, die mit einem anderen Mädchen ein winziges Zimmer in der Vorstadt bewohnte und die als Eintänzerin in einem drittklassigen Kaffeehaus einen wahrhaft heroischen Kampf um ihre Kolleggelder führte.

Dreimal in der Woche war im »Café Viktoria« Ball. Dann ging Stephan hin, und manchmal begleitete Albert ihn. Sie saßen bis zwei Uhr morgens bei einer Tasse schwarzen Kaffees und sahen zu, wie Franzi mit wohlbeleibten Herren aus der Provinz Rumba tanzte und lieb lächelte, wenn sie ein Trinkgeld in die Hand gedrückt bekam. Denn sie hatte kein fixes Gehalt.

Nur sehr selten kam Franzi zu ihnen an den Tisch. Sie hatte zwar keine Verpflichtungen gegenüber den Gästen, aber diese durften nicht wissen, daß sie einen Freund hatte. Man sollte sie lieber für tugendhaft halten und recht oft wiederkommen, um zu sehen, ob nicht mit der Zeit doch etwas zu machen sei.

Manchmal brachte Franzi ihre Zimmergenossin mit, es war Emmy, ein ganz einfaches Mädchen, das bei einer Modistin angestellt und für die das »Café Viktoria« ein richtiges Vergnügungslokal war.

»Sie müssen mit ihr tanzen«, flüsterte Franzi Albert ins Ohr, »sie tanzt so leidenschaftlich gerne.«

Albert tanzte sehr schlecht. Trotzdem folgte er Franzis Worten und der flehenden Bitte in Emmys Augen. Emmys Augen waren klein und blau wie gewisse Frühlingsblumen, sie saßen in einem runden frischen Kindergesicht, das von blonden, übermäßig gelockten Haaren umrahmt war. Wenn er mit Emmy tanzte, dann roch er den Duft dieser Haare. Es war ein gesunder, tierhafter Geruch, den er noch zu spüren glaubte, wenn er dann längst daheim in seinem Bett lag.

Mit der Zeit kamen sowohl er wie Emmy immer regelmäßiger zu den Abenden ins »Café Viktoria«, es wurde eine Art Gewohnheit, aber weiter nichts; denn Albert war viel zu schüchtern, um während eines Tanzes – obwohl ihre Wange so nahe der seinen war, daß er ihr die Worte bloß hätte ins Ohr flüstern müssen – Emmy zu fragen, ob sie ihn nicht einmal an einem anderen Ort und allein treffen wolle.

Er war mit den Dingen, so, wie sie liefen, ganz zufrieden – anders als Stephan, der sich Franzis wegen mit Vorwürfen quälte.

»Ich bin ihr Unglück«, sagte er düster, »wenn ich nicht wäre, fände sie leicht einen reichen Freund und hätte die ganze Rackerei nicht nötig.«

»Sie ist doch sehr glücklich mit dir und mit der Rackerei«, tröstete Albert, »sie ist sehr stolz darauf, man sieht es ihr doch an. Mit einem reichen Freund würde sie sich wahrscheinlich hundeelend fühlen.«

Stephan ließ sich nicht trösten. Er wiederholte immer wieder und mit eisernem Ernst, daß es seine Lebensaufgabe sei, Franzi aus dem Elend herauszureißen. Dazu mußte er es zu etwas bringen. – Es zu etwas bringen – das war das Leitmotiv seines Denkens. Er sprach morgens und abends davon, er dachte an nichts anderes. Aber er war sich nicht klar darüber, womit er es zu etwas bringen solle. Er war mit Begeisterung Arzt – seine Wangen glühten, wenn er von einer gewagten Operation sprach, die er im amphitheatralischen Zuschauerraum für die Studenten mit angesehen hatte –, aber andererseits hielt er sich für einen Schriftsteller. Er plante Theaterstücke und große Romane, und sein Lieblingstraum war die Herausgabe einer modernen, mutigen Zeitschrift, die sich gegen die herrschende Gesellschaftsschicht richten sollte.

Es stand nicht im Widerspruch dazu, daß er, wann immer es möglich war, die Häuser der Reichen besuchte. – »Selbst um die Gesellschaft anzugreifen, muß man in ihr arrivieren«, pflegte er zu sagen, wenn er seinen einzigen dunklen Anzug sorgfältig bürstete, »und vor allem muß man sie aus eigener Erfahrung von Grund aus kennen.« – Albert pflichtete ihm bei. Er war der Gesellschaft dankbar, daß sein Freund wenigstens ein- oder zweimal in der Woche satt werden konnte.

Von Albert wollte Stephan nie einen Pfennig annehmen, auch nicht, wenn es ihm noch so dreckig ging.

»Warum darf ich dir nicht helfen?« fragte Albert. »Ich bin doch dein Freund.«

»Eben, du bist mein Freund. Es gibt Menschen, mit denen ich verkehre aus nacktem Eigennutz, aus bewußter Berechnung – und da bin ich gänzlich skrupellos. Ich rede ihnen nach dem Mund, teile ihre politischen Ansichten, bewundere ihren Geist, ihren Geschmack, ihre Toiletten; denn es gibt auch Frauen, die sich den Luxus leisten, heranwachsende Talente zu fördern. Aber ich glaube sagen zu dürfen, daß ich nicht so gemein bin, wie ich mich diesen Menschen gegenüber benehme, ich muß es bloß tun, um es zu etwas zu bringen. Dafür brauche ich aber andere Menschen, bei denen ich mich von den Strapazen meiner eigenen Erniedrigung erholen kann. Von einer Frau, mit der ich schlafe, und von einem Mann, den ich gern habe, will ich nichts annehmen.«

Eines Abends aber bat er Albert doch um Hilfe. Nicht um Geld – es handelte sich darum, an seiner Stelle zu einem Souper zu gehen.

»Franzi hat Geburtstag, und es wäre einfach undenkbar, daß ich nicht bei ihr bin. Dazu hat sie heute noch ihren freien Abend.«

»Sag doch einfach ab, dort, wo du eingeladen bist!«

»Unmöglich, ich bin der vierzehnte. Ich bin überhaupt nur deswegen eingeladen worden. Frau Simrock hat mich bisher niemals zu bemerken geruht. Vorgestern rief sie mich plötzlich an, es kam mir gleich nicht geheuer vor, und zum Schluß sagte sie: ›Daß Sie sich nicht unterstehen, abzusagen, ohne Sie wären wir dreizehn bei Tisch.‹ Du verstehst? Es hatte offenbar schon jemand abgesagt, und sie brauchte unbedingt ganz schnell einen einzelnen Herrn. Und ich hatte im Augenblick vergessen, daß Franzi Geburtstag hat. Aber der Simrock ist es natürlich ganz gleich, ob ich komme oder du. Du bist ihr wahrscheinlich lieber, denn du siehst besser aus. Und du hast einen Smoking.«

Albert wehrte sich vergebens. Frau Melanie Simrock war, wie Stephan behauptete, »sehr wichtig«, sie hatte »einen Kreis«, und Stephan war davon überzeugt, daß er es nie »zu etwas bringen würde«, wenn er sich diese reiche Witwe zur Feindin machte.

»Und dir kann doch wirklich nichts daran liegen. Du hast nichts zu tun, als mit Anstand einen Poulardenflügel zu essen, und dann brauchst du die Leute niemals im Leben wiederzusehen.«

4

Albert läutete eine Viertelstunde nach der festgesetzten Zeit an Frau Simrocks Tür. Er hatte durchaus nicht der erste sein wollen. Aber als ihm das Stubenmädchen den Mantel abnahm und in den völlig leeren Kleiderschrank hängte, sah er mit Schrecken, daß er offenbar immer noch zu früh daran war.

Durch die geschlossene Türe kam Musik. Eine Frauenstimme sang zu Klavierbegleitung ein Lied von Grieg.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich ein wenig warte«, sagte Albert.

Das Mädchen maß ihn mit ernsthaftem Staunen. Sie sah ganz anders aus, als er sich ein Stubenmädchen in wohlhabendem Haus vorgestellt hatte. Zwar trug sie über dem schwarzen Gewand ein zierliches Batistschürzchen und ein Häubchen von Batist über dem Scheitel. Aber diese koketten Utensilien brachten die groteske Häßlichkeit ihres Gesichts, die Derbheit ihres Körpers nur stärker zur Geltung. Sie sah aus wie ein Frosch. Sie hatte auch einen Kropf.

»Die gnädige Frau wartet schon«, sagte sie und öffnete ihm die Tür zum Salon.

Er sah den großen schwarzen Flügel und den Rücken der Frau, die sang. Das Stubenmädchen hatte die Tür hinter ihm leise wieder geschlossen.

Die singende Frau hatte ihn offenbar nicht gehört. Er blieb bewegungslos stehen und sah sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war ein Mittelding zwischen einem Salon und einer Bibliothek. Es waren erstaunlich viele Bücher an den Wänden und, wie Albert mit einem schnellen Blick auf das nächste Regal feststellte, keine ledergebundenen Prachtausgaben, wie sie reiche Leute zusammenkaufen, um den Eindruck einer gepflegten Bibliothek zu erwecken, sondern, in wildem Durcheinander, alte und neue Bücher, die Werke Pascals und broschierte Romane, Zeitschriften, ein ganzer Stoß Theaterstücke. – Hat sie diese Bücher von ihrem verstorbenen Mann geerbt oder liest sie selbst? dachte er.

Der Gesang gefiel ihm nicht. Sie sang viel zu anspruchsvoll für eine Frau, die zum eigenen Zeitvertreib vor sich hin trällert, und viel zu unregelmäßig für eine geübte Sängerin. Ihre Stimme war groß und erreichte mühelos die gewünschte Höhe, aber es war eine Stimme, die jeder Wärme entbehrte.

Das Kleid, das sie trug, war von rosenfarbener Seide, es war lang und bildete zu beiden Seiten ihrer Füße sanfte Wellen auf dem Teppich. Trotzdem hatte Albert, der von solchen Dingen nichts verstand, das Gefühl, daß es keines jener Kleider sei, das eine Dame trägt, wenn sie viele Gäste erwartet. Er konnte nur ihren Rücken sehen, der auffallend gerade war, den langen Hals und das tiefschwarze Haar.

Aber plötzlich sah er in einem Spiegel ihr Gesicht. In derselben Sekunde begegnete er im Spiegel dem Blick ihrer Augen, sie hörte jäh zu singen auf und drehte sich auf ihrem Klavierstuhl herum.

»Wer sind Sie?« fragte sie.

Er wußte nicht, was ihn so maßlos erschreckt hatte, als er ihrem Blick im Spiegel begegnet war. Kaum hörte er, was sie sagte, sie mußte ein zweites Mal und beinahe gereizt fragen, ehe er sich zusammenraffte und erwiderte: »Ich bin der Freund Stephan Rotaugs – meine Name ist Albert Holzknecht.«

Tölpelhafterweise blieb er dabei an der Tür stehen. Frau Simrock ihrerseits dachte anscheinend gar nicht daran, sich von ihrem Klavierstuhl zu erheben und ihm entgegenzugehen. »Und?« fragte sie bloß.

Er wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Er blickte schief nach abwärts und sah, daß ihr rosenfarbenes Kleid vorn auseinanderging und ihre Beine bis zu den Knien freigab. Und er sah auch, daß sie Pantoffel an den bloßen Füßen trug, sehr hübsche, mit Straußenfedern besetzte Pantoffel, aber eben Pantoffel.

Albert fühlte leichten Schweiß auf der Stirne. Er dachte, er sei in ein falsches Haus gegangen, habe an einer falschen Tür geläutet. Es war eine Situation, die er aus Angstträumen kannte, und er sah an sich hinab, um sich zu überzeugen, daß er wenigstens vollkommen bekleidet war.

»Mein Freund hat mich gebeten …«, begann er schließlich zu stottern, »… er hat nämlich ganz plötzlich eine Grippe bekommen – 39 Grad Fieber, Schüttelfrost« – das alles hatte ihm Stephan aufgetragen, und er brachte es zur Not heraus –, »er hat gemeint, ich solle an seiner Stelle herkommen, weil …«

»Das ist aber – sehr sonderbar«, sagte die Dame am Klavier, »er hat einfach jemanden anders statt seiner geschickt?«

»Ja – damit nicht dreizehn bei Tisch sind. Sie haben ihm gesagt, ohne ihn seien Sie dreizehn bei Tisch – und deshalb hat Stephan gemeint, es komme nicht so sehr darauf an. – Aber wenn Sie einen anderen vierzehnten haben«, sagte er plötzlich mit einem Schimmer von Hoffnung, in den nächsten Minuten weggehen zu dürfen, »oder wenn Sie vielleicht nur Spaß gemacht haben und gar nicht abergläubisch sind …«

Das unerträglichste war, daß Frau Simrock ihn stottern ließ und sich überhaupt nicht rührte. Sie saß kerzengerade auf ihrem Klavierstuhl am anderen Ende des Zimmers und blickte ihn unverwandt an. Er versuchte ein- oder zweimal, ihr ins Gesicht zu sehen; aber jedesmal, wenn er ihren Augen begegnete, packte ihn der gleiche jähe Schreck wie vorhin im Spiegel.

»Ach so«, sagte sie endlich, »jetzt fange ich an, das Ganze zu verstehen. Er konnte wohl nicht telefonieren, weil er Fieber hat.«

»Ja.« Albert war begeistert, weil sie ihm glaubte und weil sie selbst etwas gefunden hatte, woran er gar nicht gedacht hatte. »Natürlich kann er nicht telefonieren, bei uns ist das Telefon im Korridor, und der Korridor ist eiskalt – wir haben nämlich keine Zentralheizung.«

»Schön, schön. Es ist sehr nett, daß Sie statt Ihres Freundes gekommen sind. Bloß – das Diner ist abgesagt. Ihr Freund ist nicht der einzige, der um diese Jahreszeit Grippe hat. Ich habe es auf nächsten Monat verschoben.«

Sie hatte sich endlich entschlossen, aufzustehen. Das Kleid schloß sich um ihre Beine, sie erschien Albert sehr groß, als sie durch das Zimmer auf ihn zukam.

»Wie, haben Sie gesagt, heißen Sie?«

»Holzknecht – Albert Holzknecht, Student der Philosophie.«

Eine Hand schwebte ihm entgegen – eine sehr weiße, beinahe blutleere, schmale Hand mit roten Fingernägeln. Er ergriff sie und berührte sie mit den Lippen.

»Dann werde ich mich jetzt empfehlen«, sagte er glücklich.

»Aber warum denn? Ich bin, wie Sie sehen, ganz allein, und Sie haben mir diesen Abend schon zugedacht. Wenn Sie mit einem bescheidenen Abendbrot vorliebnehmen …«

Er war zu Tode erschrocken. Was sollte er allein mit dieser fremden Dame, wovon sollte er mit ihr sprechen? In einer größeren Gesellschaft hätte ihn niemand beachtet, aber so … allein …

»Wir kennen uns doch gar nicht!« platzte er heraus.

Sie lachte. »Das ist ein Fehler, der mit jeder Minute besser wird. Los, machen Sie keine Geschichten! Setzen Sie sich! Wollen Sie Sherry oder Wermut?«

»Ich weiß es nicht, mir ist es gleich.«

Sie brachte ihm aus der Hausbar ein Glas Sherry. »Zigarette? – Es lohnt sich zwar kaum, das Essen wird gleich dasein.« Trotzdem gab sie ihm mit einem übertrieben großen Streichholz Feuer. »Sie leben also mit Ihrem Freund Stephan zusammen – in einer Wohnung – ohne Zentralheizung?«

Das häßliche Stubenmädchen erschien wirklich wenige Minuten später und bat zu Tisch. Als er sie erblickte, fiel es Albert ein, daß sie gesagt hatte: »Die gnädige Frau wartet schon« – aber er war so wirr im Kopf, daß er diesen Satz mit allem übrigen nicht in Einklang bringen konnte. – Ich werde zu Hause darüber nachdenken, dachte er.

Bei Tisch konnte er es nicht gut vermeiden, Frau Simrock anzusehen. Wenn sie gerade damit beschäftigt war, das Huhn zu zerlegen oder den Salat zu würzen, fand er, daß sie eine mäßig hübsche Frau von unbestimmbarem Alter, jedenfalls unter Dreißig, war. Sie hatte ein sehr kleines, beinahe mageres, sehr weißes Gesicht mit etwas zu schmalen Lippen und etwas zu starken Wangenknochen. Das war alles.

Wenn sie ihn aber ansah, blickte er jedesmal wieder erschrocken in seinen Teller. Er wußte schon jetzt, daß ihre Augen übermäßig groß waren, von einem kalten, klaren Blau. Aber er wußte noch immer nicht, warum diese Augen ihn erschreckten. Er wußte nicht einmal, welchen Ausdruck sie hatten.

Er fühlte, daß sie ihn beobachtete. Gott sei Dank, er wußte mit Gabel und Messer umzugehen, und trotz seiner Befangenheit stieß er weder ein Glas um noch bekleckerte er das Tischtuch mit der Sauce. Was ihm peinlich war, das war der Zustand seines Smokings. Er war nicht neu, er war nicht nach Maß gearbeitet. Er hatte ihn von seinem Vater geerbt, und der Vater war etwas kleiner gewesen als er. Die Hosen hatten sich leicht verlängern lassen, aber an den Ärmeln sah man den abgeschabten Rand, dort, wo sie bei ihrem früheren Besitzer geendet hatten. Trotzdem waren diese Ärmel immer noch zu kurz, und ab und zu bemühte er sich, so verstohlen wie möglich, die Manschetten, von denen man ein viel zu großes Stück sah, zurückzuschieben.

Nach dem Dessert machte er wieder einen Versuch, sich zu verabschieden. Aber nach dem Dessert wußte Melanie bereits genug von ihm, um zu erwidern: »Warum denn? Sie haben keine Freundin. Ihre Doktorarbeit ist beinahe fertig – warum wollen Sie mich so früh verlassen? – Frieda«, sagte sie zu dem Mädchen, »den Champagner!«

Sie führte ihn in den Salon zurück. Der Champagner kam sofort, er war bereits eisgekühlt, und Albert fragte sich erstaunt, ob diese Dame nach jedem Abendbrot zu trinken pflege.

»Trinken wir auf die baldige Genesung Ihres Freundes«, schlug sie vor. Albert fühlte sich erröten, aber er stieß tapfer an. »In zwei Tagen ist er sicher wieder gesund«, sagte er zuversichtlich.

»Ich halte sehr viel von Ihrem Freund, müssen Sie wissen. Er hat sich neulich bei Freunden an einer Debatte beteiligt – es handelte sich, wenn ich nicht irre, um den Mystizismus –, ich kann Ihnen nicht mehr genau sagen, was Ihr Freund ausführte, aber er hat sich sehr gut zur Geltung gebracht – sehr gut, obwohl Universitätsprofessoren anwesend waren und sehr bekannte Schriftsteller. Ich glaube, es steckt etwas in ihm.«

»Ganz bestimmt! Ganz bestimmt!« sagte Albert eifrig, zum erstenmal an diesem Abend von einem Gesprächsthema angenehm berührt. »Stephan ist ein ausgezeichneter Kerl. Voll von Ideen – und fleißig wie eine Biene.«

»Vielleicht wird er einmal ein großer Schriftsteller«, sagte Melanie.

»Vielleicht, aber ich glaube eher, daß er bei der Medizin bleiben wird. Ich glaube, er liebt den Beruf des Arztes viel mehr, als er selbst weiß. Aber jedenfalls wird er es zu etwas bringen«, schloß Albert mit Stephans Lieblingsworten.

»Er verliert nur Zeit mit der Medizin«, sagte Melanie beinahe ärgerlich, »es ist schade um die Zeit.«

Albert hatte bereits zwei Glas Champagner getrunken und wagte zu widersprechen. »Ich glaube, es ist niemals schade um die Zeit, die man mit einem Studium verbringt«, sagte er, »und am allerwenigsten für einen späteren Schriftsteller. Bei einem Maler oder bei einem Musiker wäre es etwas anderes – die können ihre Jugend damit zubringen, auf Akademien oder in Konservatorien das Technische ihrer Kunst zu erlernen, bis sie reif genug sind, um etwas zu schaffen. Aber ein Schriftsteller kann in dieser Zeit nichts anderes tun als Material sammeln.«

»Menschenmaterial?« fragte Melanie, einen ganz leisen Zug von Spott um die Lippen.

»Menschen, ja, und menschliche Zusammenhänge. Verschiedene soziale Schichten, Milieus. – Ich glaube, man kann diese Dinge nicht wirklich aus Beobachtung kennenlernen, sondern nur aus Erfahrungen am eigenen Leib. Zumindest muß man eine Menge eigene Erfahrungen machen, ehe man richtig beobachten lernt.«

»Und wie lange muß – Ihrer Ansicht nach – ein werdender Schriftsteller seine Zeit damit zubringen, Erfahrungen zu machen?«

»Aber dafür gibt es doch keine bestimmten Gesetze. So lange eben, bis er selbst etwas zu sagen hat und in seiner eigenen Sprache. Ich meine, bis er die Welt nicht mit den Augen eines geliebten Vorbildes sieht, mit denen Thomas Manns oder Somerset Maughams, sondern eben mit seinen eigenen. Und bis es nie mehr vorkommt, daß er eine Novelle schreibt, die er für großartig hält, weil sie ganz ähnlich ist wie Novellen von Hemingway, sondern vor der er selbst ganz ratlos dasteht, weil sie an nichts erinnert, was er kennt, weil sie eben ganz und gar von ihm ist.«

»Sie glauben nicht, daß ein Genie fix und fertig zur Welt kommt?«

Er starrte Frau Simrock erstaunt an. Auf seiner Zunge lag es, zu sagen: »Aber wir sprechen doch nicht von einem Genie, sondern von meinem Freund Stephan!« Er beherrschte sich rechtzeitig und sagte: »Das ist wahrscheinlich ganz verschieden.«

Sie nahm die Flasche aus dem Kübel und füllte mit ihrer schmalen, blutlosen Hand sein Glas.

»Wissen Sie, ich glaube, was Ihrem Freund Stephan not tut, das ist ein richtiges Frauenerlebnis. Eine große, starke Liebe.«

»Aber das hat er ja!« rief Albert fröhlich. »Wußten Sie nicht, daß er eine Braut hat und daß er sie vergöttert?«

Er erzählte ausführlich von Franzi, von ihrem mutigen Daseinskampf, und daß Stephan hauptsächlich darum Karriere machen wolle, um ihr helfen zu können.

»Ein prachtvolles Mädel!« schloß er. »Man kann sich keinen besseren Kameraden wünschen!«

»Auch keine bessere Geliebte?« fragte Melanie.

Albert senkte die Augen. »Ich glaube nicht, daß Stephan sich in irgendeinem Sinn eine andere Frau wünscht«, sagte er.

Damit war plötzlich und ganz unerwartet das Gespräch zu Ende und kein neues kam mehr in Gang. Als Albert wiederum sagte: »Ich glaube, jetzt werde ich mich aber empfehlen«, stand Melanie auf und reichte ihm die blasse, zarte Hand.

5

Er sah Stephan erst am nächsten Morgen, denn Stephan kam sehr spät von Franzis Geburtstagsfeier nach Hause.

Am Morgen hörte er ihn im Nebenzimmer trällern, als die Wirtin ihm gerade das Frühstück ans Bett gestellt hatte. Er klopfte an die Wand, was hieß: Komm herein!

Stephan kam herein, die Wangen voll Seifenschaum. Er rasierte sich in Alberts Zimmer und verfolgte die Erzählung des Freundes mit großer Spannung. Als Albert zu der Geschichte mit dem abgesagten Diner kam, unterbrach er und fragte ärgerlich: »Wenn sie allen abgesagt hat – warum hat sie mich nicht angerufen? Das ist doch wirklich eine erbärmliche Rücksichtslosigkeit!«

»Du hast recht«, sagte Albert schuldbewußt, weil ihm diese Rücksichtslosigkeit gar nicht aufgefallen war. »Ich bin ein Idiot. Ich hätte ihr sagen sollen, daß sie sich natürlich nur einem Armen gegenüber erlaubt hat, ihn umsonst kommen zu lassen und ihm seinen Abend zu verderben. Aber du weißt doch, ich bin solchen Situationen nicht gewachsen. Und dann später, dann hat sie sehr nett von dir gesprochen – eigentlich haben wir den ganzen Abend nur von dir gesprochen.«

Stephan hörte mit angespanntester Aufmerksamkeit, was gesprochen worden war, wie ein Detektiv, der eine Fährte gefunden hat.

»Und es war für zwei Personen gedeckt?« fragte er plötzlich. »Hat es lange gedauert, bis das Essen kam?«

»Aber keine fünf Minuten. Sie hat mir eine Zigarette angeboten, und ich hatte sie nicht bis zur Hälfte geraucht, da kam das Mädchen schon. – Ja, und jetzt fällt es mir wieder ein, das Mädchen sagte, als ich kam, die gnädige Frau warte bereits.«

»Und sie war im Schlafrock, sagst du?«

»Schlafrock ist vielleicht nicht der richtige Name dafür. Es war etwas sehr Elegantes, aus rosa Seide, aber wenn sie saß, fiel es vorn auseinander, und sie hatte Pantoffel an.«

Die beiden jungen Männer sahen einander an und begannen gleichzeitig zu lachen.

»Verflucht!« sagte Stephan. »Da bin ich an meinem Glück vorbeigegangen! Sie hat natürlich niemals ein Diner angesagt, und das mit dem vierzehnten hat sie mir nur gesagt, damit ich ganz bestimmt komme. – Und ich habe gar nicht bemerkt, daß sie ein Auge auf mich geworfen hatte!« sagte er erstaunt. »Ich habe sie gar nicht daraufhin angesehen. – Dabei ist sie doch hübsch und jung. Findest du nicht auch?«

»Ich weiß es nicht, sie hat merkwürdige Augen.«

»Und sie hat Geld! Ich weiß natürlich nicht, wieviel – aber jedenfalls mehr, als sie verbrauchen kann. Ich muß ihr in den nächsten Tagen meine Aufwartung machen.«

»Ich glaube, es hat keinen Sinn mehr«, sagte Albert. »Ach Gott, ich glaube, ich habe alles für dich verdorben! Ich habe das Ganze doch nicht verstanden und ihr von Franzi erzählt.«

»Was hast du? – Und warum, zum Teufel?«

»Weil sie gesagt hat, du brauchst ein tiefes, starkes Frauenerlebnis. – O mein Gott, bin ich ein Esel!«

Darauf fingen beide wieder zu lachen an.

»Aber du hättest Franzi doch nicht mit ihr betrogen?« fragte Albert, als er ausgelacht hatte.

»Gewiß nicht. Aber ich hätte ihr einen schüchternen Jüngling hingelegt, mit dem sie zwei Jahre lang nicht ins reine gekommen wäre. – Na, vorbei! Ich habe bis heute nicht mit Frau Simrocks Unterstützung gerechnet, es wird auch weiter ohne sie gehen müssen. – Wie spät hast du? – Wirklich schon acht? Verflucht!«

Er stürzte aus dem Zimmer, riß im Vorbeiflitzen seinen Mantel vom Haken, stieß einen Arm hinein und rannte aus dem Haus, sämtliche Türen hinter sich offenlassend.

Albert stieg aus dem Bett, die Türen zu schließen, dann legte er sich wieder hin, um sein Frühstück zu beenden. Seine Vorlesung begann erst um zehn – das heißt, es hätte auch zu früheren Stunden Vorlesungen gegeben, die er bei besonderem Interesse hätte anhören können, aber diese waren nicht obligatorisch, und Albert tat ungern mehr, als nötig war, am wenigsten des Morgens.

Er bedurfte keines besonderen Luxus, aber er hatte eine große Vorliebe für kleine Bequemlichkeiten. Morgens im Bett zu frühstücken, den Tee in langsamen Schlucken zu trinken, dazu eine und dann eine zweite Zigarette zu rauchen, in der Badewanne zu liegen, bis das heiße Wasser lauwarm wurde – das war ein tägliches Vergnügen, auf das er, auch um einen hohen Preis, nicht gern verzichtet hätte. Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, ein dunkles, unbestimmtes Gefühl von Schuld gegenüber allen den Menschen, die längst an der Arbeit waren, von Schuld gegen die Zeit, Schuld gegen sich selbst. Aber dieses bißchen schlechte Gewissen machte die morgendliche Beschaulichkeit nur noch reizvoller, würzte sie gewissermaßen mit einer kleinen Prise von Verbotenem.

Als er an diesem Morgen in der Badewanne saß und das Wasser noch lange nicht lauwarm war, klopfte die Hausfrau an die Tür und sagte, eine Dame verlange ihn am Telefon. Unangenehm gestört in seinem Morgenzeremoniell, den Bademantel um den nassen Körper, die Pantoffel an den nassen Füßen, latschte er zum Telefon.

Es war Frau Simrock. Er erschrak sehr. Sie fragte nach Stephans Befinden. Er stammelte etwas von »bereits etwas besser« – aber ehe er noch einen ganzen Satz geformt hatte, unterbrach sie ihn.

»Eigentlich rufe ich Sie an, um zu fragen, ob Sie nicht Lust haben, heute abend mit mir in ein Konzert zu gehen. Ich habe zwei Plätze – Mengelberg dirigiert.«

Er fand in der ersten Sekunde nichts, was ihn daran hinderte, ins Konzert zu gehen, und während er noch nach etwas Vernünftigem suchte, sagte sie: »Also, wenn Sie nichts anderes vorhaben, dann kommen Sie. Wir treffen uns im Vorsaal.«

Niedergeschlagen ging er zurück ins Badezimmer und überlegte einen Augenblick. Doch da er bereits abgeseift und der Bademantel bereits durchfeuchtet war, stieg er nicht mehr in die Wanne. Der ganze Tag schien ihm in Unordnung geraten und von wachsendem Unbehagen erfüllt.

Mittags traf er Stephan in der Mensa, wo beide für sehr wenig Geld sehr wenig zu essen bekamen.

»Mach doch kein so unglückseliges Gesicht! Man könnte meinen, der Pfändungskommissar ist über dich gekommen. Schließlich bist du ein unabhängiger junger Mann, und Melanie ist eine unabhängige junge Frau.«

»Aber …«

»Was, aber? Melanie ist alles, was sich ein Mensch in deiner Lage nur wünschen kann. Sie ist hübsch, gepflegt, parfümiert, sie hat Interesse für Dinge, die auch dich interessieren, sie ist Witwe …«

»Was habe ich davon, daß sie Witwe ist?«

»Ich meine damit, daß sie wenigstens eine gewisse Erfahrung in Dingen der Liebe hat, und das scheint mir notwendig für einen Traumichnicht, wie du einer bist.«

»Aber sie gefällt mir nicht!«

»Unsinn. Warum soll sie dir nicht gefallen? Für ein vorübergehendes Abenteuer …«

»Nein, schau«, sagte Albert, »das mit dem vorübergehenden Abenteuer – ich kann dir nicht sagen warum, aber ich hab’ nichts dafür übrig. Wenn ich heute mit einer Frau ein Verhältnis anfange« – er stockte vor dem Wort »Verhältnis« und wurde sogar vorübergehend rot –, »ich sage nicht, daß es fürs ganze Leben sein muß, ich weiß ganz gut, daß meist etwas dazwischenkommt, ehe das Leben zu Ende geht, es ist mir auch schon passiert – aber gleich von Anfang an auf Abbruch lieben, das kann ich nicht, da sträubt sich etwas in mir dagegen. Ich finde, das ist eine Beleidigung für die Frau und für mich selbst. Auf jeder Liebe ruht – auch wenn sie sich hinterher als vorübergehend erweist – im Augenblick, da man sie empfindet, ein Abglanz der Ewigkeit, und nur das ist es …«

»Sag mir, wovon sprichst du eigentlich?« unterbrach Stephan, der schon ungeduldig war, weil seine nächste Vorlesung in wenigen Minuten beginnen mußte. »Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß du nicht imstande bist, mit einer Frau zu schlafen, ohne sie mit einem Abglanz der Ewigkeit zu lieben? Wenn nicht, dann tust du mir leid.«