Die Schwestern Kleh - Gina Kaus - E-Book

Die Schwestern Kleh E-Book

Gina Kaus

4,8

Beschreibung

Eine Gouvernante blickt zurück auf die Jugend ihrer Zöglinge, der Töchter des Juweliers Kleh in Wien. Mit beiden hat es ein tragisches Ende genommen … Die Schwestern Irene und Lotte sind einander liebevoll zugetan. Dabei könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Während Irene prädestiniert scheint für ein Leben als Ehefrau und Mutter, träumt die temperamentvolle Lotte zwar von der Liebe, möchte aber vor allem Schauspielerin werden und die Welt bereisen. Bei Irenes Verlobung begegnen sich der Bräutigam und die schöne Lotte zum ersten Mal. Und sie verlieben sich auf den ersten Blick unsterblich ineinander. Auf Drängen der Gouvernante verleugnen beide ihre Gefühle und gehen getrennte Wege - doch das Schicksal nimmt seinen Lauf. Elegant erzählt Gina Kaus ein Liebesdrama voller Verstrickungen und Lebenslügen. Dabei spannt sie ihren Bogen von der Jahrhundertwende bis zur Weltwirtschaftskrise. Ein lebendiges Porträt der "Neuen Frau" des frühen 20. Jahrhunderts.

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Band 20 der

Gina Kaus

Die Schwestern Kleh

Roman

Mit einem Nachwort von Edda Ziegler

Neuausgabe 2013

© 2013

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing/Hamburgherausgegeben von Karen Nölle

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 1933 bei Allert de Lange in Amsterdam.

© Robert M. Kaus, USA

© für das Nachwort: Edda Ziegler 2013

Lektorat Karen Nölle, Sophia Jungmann

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf

ISBN 978-3-942374-55-2

www.editionfuenf.de

Inhalt

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Neue Frau, femme fatale – und die Folgen

Die Autorin

Bisher bei uns erschienen

Für meine Mutter

Erster Teil

1

Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte niederschreiben will, um mein Gewissen zu entlasten oder um den elenden leeren Rest meines Daseins auszufüllen – aber es ist auch einerlei: Niemand wird lesen, was ich schreibe, ich werde es an keine Zeitung, an keinen Verlag schicken. Behüte Gott, dass ich auf meine alten Tage eine Schriftstellerin sein und etwa Geld oder Ehre gewinnen wollte mit dem Bericht über das Unglück der beiden Kinder, die mir wie einer Mutter ans Herz gewachsen waren.

Ich werde auch gar nicht in diese Versuchung kommen, denn mir ist jedes Talent versagt. Schon der Beginn macht mir Schwierigkeiten. Womit soll ich anfangen? Die Dichter verstehen es, mit irgendeinem besonders interessanten Augenblick zu beginnen, und dann erfährt man, ohne es zu merken, von allem Vorangegangenen, soweit es notwendig ist. Ich weiß nicht, wie sie das machen.

Soll ich mit jenem Tag beginnen, an dem ich als Gouvernante in das Haus des Juweliers Kleh kam? Damals waren Irene und Lotte kleine Mädchen, fünf und drei Jahre alt, unsäglich rührend in den schwarzen Kleidchen, die sie um ihre tote Mutter trugen. Frau Kleh war im Wochenbett gestorben, sie und der Knabe, den Herr Kleh so innig ersehnt hatte. Es war ein sehr trauriges Haus, in das ich da kam, aber wahrscheinlich war es gerade das, was mich gleich im ersten Augenblick das Gefühl der Fremdheit überwinden ließ: Denn auch ich war damals sehr traurig und dachte oft daran, ein Ende zu machen. Ich war fünfunddreißig Jahre alt geworden und hatte begonnen zu begreifen, dass meine Jugend ungenützt dahingegangen war und dass ich mein Leben als Frau verpasst hatte. Ich war schon zu alt, um noch an ein Wunder zu glauben, und zu jung, um mich abzufinden. Ich hätte damals das Zusammenleben mit einer glücklichen Familie, vor allem aber den Anblick einer glücklichen Mutter, kaum ertragen, während diese beiden schwarz gekleideten kleinen Waisenmädchen sofort eine glühende Zärtlichkeit in mir erweckten – wohl einfach deshalb, weil ich so viel Zärtlichkeit in mir aufgespeichert hatte und glücklich war, sie an Bedürftige verschwenden zu können.

Aber ich sehe, dass ich damit beginne, von mir zu sprechen, und das ist wirklich das Letzte, was ich tun möchte. Über mich, eine gealterte Gouvernante, wie tausend andere, lohnte es sich gerade, irgendetwas zu sagen: Bloß über meine beiden Mädchen und über das, was sie in den letzten Jahren durchgemacht haben, will ich sprechen, und ich sehe bereits, dass ich viel später anfangen muss.

Ich glaube, es ist am besten, ich beginne mit jenem Tag, an dem Lotte und ich den herrlichen Ausflug auf den Hochschwab machten. Nicht dass an jenem Tag etwas Besonderes passiert wäre – aber ich begriff damals zum ersten Mal, dass auch Lotte bereits ein junges Mädchen und kein Kind mehr war.

Wir hatten einen sechsstündigen Marsch hinter uns und rasteten, bereits auf dem Abstieg, am Rand einer Berghalde, die Sonne stand noch sehr hoch, und wir wollten den Rest des gesegneten Augusttages genießen. Dabei hatte ich eigentlich ein schlechtes Gewissen, denn es war Krieg, August 1915, und ich konnte den Gedanken nicht verscheuchen, dass auch in dieser Stunde, da Gottes Sonne so wunderbar auf unsere angenehm ermüdeten Körper brannte, Menschen zu Leichen geschossen und Mütter in abgrundtiefe Verzweiflung gestürzt wurden. Aber es war mir ganz unmöglich, diesen Gedanken auch auf die Kinder auszudehnen. Im Gegenteil: Es dauerte mich unendlich, dass Irene diesen wunderbaren Tag nicht mit uns genießen konnte, weil sie in Bozen weilte, bei Herrn Klehs Schwester, der verwitweten Generalin Hessel, deren Haus seit Kriegsbeginn in ein Spital umgewandelt worden war.

Lotte tauchte beide Hände in die üppige Pflanzenwelt, in der wir mittendrin saßen, rieb sie auseinander, roch daran und hielt sie mir dann an die Nase:

»Weißt du, wonach das riecht, Eula?«

Sie selbst, Lottchen, war es gewesen, die mich so getauft hatte. Als ich ins Haus gekommen war, hatte sie das Wort »Fräulein« noch nicht aussprechen können. Sie hatte »Eula« gesagt, und dabei war es geblieben, auch Irene hatte es angenommen, und sogar Herr Kleh. Mit der Zeit hatte ich vergessen, dass ich einen richtigen Namen habe, auch für mich selbst war ich »Eula« geworden, obwohl es eigentlich gar nicht hübsch klingt und an eine Eule erinnert. Aber das bin ich doch auch, eine alte Eule, die mit erschrockenen Augen alles Unheil kommen sah und es nicht abwenden konnte.

»Das riecht nach Schwämmen«, erklärte Lotte. »Von Mitte August an riechen alle Nadelwälder nach Schwämmen. Und dann riecht es nach Hitze, nach Ende der Ferien, nach Österreich, und ein ganz klein bisschen nach Pfefferminz.«

»Du solltest Chemikerin werden«, lachte ich, »du kannst ja mit deiner Nase allein ein Laboratorium für die kompliziertesten Analysen aufmachen.«

Lotte schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich Chemikerin werde. Nein, alte Eula, das glaube ich nicht.«

»Was denn möchtest du werden?«, fragte ich, und gleichzeitig fiel mir ein, dass es schon merkwürdig genug war, dass ich dies fragte. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, Irene zu fragen, was sie werden wollte. Wie man nicht fragt, was eine Apfelblüte werden mag: Sie wird sich erfüllen, wenn ihre Zeit gekommen ist, sie wird zur Frucht werden, und Irene würde zur Gattin und Mutter werden, niemand, der sie kannte, hätte das bezweifelt.

Aber bei Lotte war das eben etwas anderes. Ich war auch gar nicht verwundert, als sie mit einem wilden und dabei fast harten Gesicht erwiderte:

»Ich möchte etwas – ich möchte wirklich etwas werden!« Ich begriff sofort, dass dies hieß: etwas anderes als Gattin und Mutter. Lotte war ehrgeizig. Nicht gerade in der Schule, sie war eher eine schlechte Schülerin, aber bei Spielen war sie schon als kleines Kind sehr ehrgeizig gewesen, und dann hatte sie immer etwas gesucht, um sich hervorzutun. Sie spielte wunderbar Geige, sie malte ausgezeichnet. Sie las die schwierigsten Bücher.

»Ich möchte etwas Aufregendes werden«, sagte sie, »Schauspielerin möchte ich werden oder Weltreisende.« Ich lachte hell auf über die seltsame Alternative. »Ja, da kannst du lachen, so viel du willst! Aber genau so ist das. Ich möchte die ganze Welt sehen, nicht bloß ein Teilchen davon, und ich möchte alle Menschen bezaubern, nicht bloß einen einzigen, und wenn er auch der herrlichste von allen wäre …«

»Aber Kind«, sagte ich, »du wirst sehr unglücklich werden, wenn du dir so unmögliche Gedanken machst. Und dein Vater würde es dir auch gar nicht erlauben, weder die Schauspielerei noch das Weltreisen. Es gibt doch eine Menge ordentlicher Berufe, die das Leben einer Frau ausfüllen können.«

Ich sehe Lotte ganz deutlich vor mir, so wie sie damals im hohen Grase saß, das runde kräftige Kinn auf die hochgezogenen Knie gestützt und die mageren Hände vor den Schienbeinen verschlungen. Ihr braungebranntes Gesicht mit den kirschrunden Augen glühte. Es glühte nicht von der Hitze und nicht von dem langen Marsch – es glühte von innen. Das ist vielleicht bloß ein ungeschickter Ausdruck von mir, aber es war eben so, dass ich sehr oft, wenn ich Charlotte ansah, ganz gleich ob sie gerade blass oder rot war, den Eindruck hatte, sie glühe.

»Ausfüllt –?«, wiederholte sie, und die Winkel ihres großen, gut geschnittenen Mundes hoben sich ein wenig, das taten sie oft und gaben dem kindlichen Gesicht einen hochmütigen Ausdruck. »Ausfüllt? Das ist es doch nicht, was ich brauche! Ich habe doch hier«, sie tippte auf ihre Brust, »keine Leere. Und hier«, sie tippte auf die Stirn, »auch nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, ich habe zu viel – zu viel – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll –«

»Zu viele Pferdekräfte?«, scherzte ich. Lotte nickte ernsthaft. Zu viele Pferdekräfte – das war aber wohl doch bloß ein anderer Ausdruck für: zu viel Sehnsucht. Und Sehnsucht ist doch wieder nichts anderes als der Wunsch nach irgendwas zum Haben und Halten – nach einem Inhalt. Bloß dass diese Sehnsucht bei meinem Lottchen nicht sanft, sozusagen nicht sehnsüchtig war, sondern wild, eine Gewalt, die von innen nach außen drängte.

»Hast du nicht auch etwas Besonderes werden wollen, als du jung warst?«, fragte sie.

Und da wunderte ich mich, weil ich gestehen musste, ja, auch ich hatte das gewollt. Es wunderte mich, ja es kam mir geradezu komisch vor, dass auch ich, die zu hässlich war, um einen Mann zu bekommen, zu unbedeutend, um etwas anderes zu erreichen als einen und immer wieder einen neuen Posten als Gouvernante, – dass selbst ich in Lottchens Alter den Wunsch gehabt hatte, mit Schwingen, die mir nicht gegeben waren, mich über die Köpfe anderer Menschen zu erheben.

Aber warum habe ich eigentlich mit diesem Gespräch auf dem Hochschwab begonnen und nicht mit jenem Tag, eine Woche darauf, an dem wirklich alles, wovon ich hier erzählen will, anfing? Ich weiß es nicht mehr, und da es jetzt schon hier steht, mag es auch stehen bleiben. Wohin käme ich denn, wenn ich anfinge, mein Geschreibsel zu verbessern und zu vervollkommnen? Aber von nun an, das gelobe ich mir, will ich nicht mehr abschweifen und nur das Wichtige und Notwendige erzählen.

Es begann also, wie gesagt, erst eine Woche später. Und zwar damit, dass Herr Kleh mich in sein Arbeitszimmer kommen ließ. Da wusste ich sogleich, dass es etwas Ernstes war. Denn Herrn Klehs Arbeitszimmer – ein schmales Kabinett neben dem eigentlichen Juwelenladen – war heilig, niemand, nicht einmal die Kinder, durften es unaufgefordert betreten, und im Laufe von zwölf Jahren war es nur dreimal vorgekommen, dass ich dahin berufen worden war. Denn hier prüfte Herr Kleh mit einer Lupe im Auge und einer kleinen Waage in der Hand die Perlen und bunten Steine, die er in größeren Mengen ankaufte, hier stellte er sie nach den Zeichnungen seines Goldschmiedes für die einzelnen Schmuckstücke zusammen; manchmal, wenn ein Kunde oder ein Lieferant nebenan ins Geschäft trat, musste er alles das liegenlassen, wie es gerade lag, und er wollte ganz allein die Verantwortung dafür tragen, dass nichts fortkam. So hatte er es uns erklärt, denn er war kein Despot, weiß Gott, dass er das nicht war, und wenn er in irgendwas seinen Willen aufsetzte, dann legte er selbst den größten Wert darauf, ihn zu begründen.

Als ich an jenem 24. August das Arbeitskabinett betrat, saß Herr Kleh an seinem verschlossenen Schreibtisch. Schweigend, mit einer Handbewegung wies er mir einen Stuhl. Schweigend reichte er mir einen Brief.

Ich besah den Stempel. Er war aus Bozen. »Von Irene?«, fragte ich.

»Nein, von meiner Schwester.« Herr Kleh wandte mir den Rücken, er trat an das große Fenster, hinter dem das geringe Treiben der vornehmen Straße war. Er stand ganz still, die Hände in den Rocktaschen, und ich könnte wirklich nicht sagen, woran ich so deutlich sah, dass er unbeschreiblich erregt war. Aber ich spürte es so sehr, dass mein Herz gewissermaßen einfror. Ich wagte es nicht, den Brief zu öffnen.

»Es ist doch nicht …«, stammelte ich, »es ist doch nicht – das Schlimmste –?«

Herr Kleh wandte sich nicht um. »Mein Vater hätte noch gesagt: Es ist das Schlimmste. Aber wir leben in einer anderen Zeit. Vielleicht kann alles noch gut werden.«

Da wusste ich sofort, um was es sich handelte. Sofort. Und am Tag zuvor hätte ich noch jeden für irrsinnig erklärt, der behauptet hätte, es wäre möglich, dass Irene – meine stille, brave, ein wenig schwerfällige Irene – meiner Erziehung solche Schande machen könnte! Die Generalin schrieb auch – obwohl ich ihren Brief damals bloß ein einziges Mal gelesen habe, kann ich ihn fast wörtlich auswendig: »Das habe ich immer gesagt«, schrieb sie, »dass eine Erzieherin nichts Gutes tut, wenn sie Kinder mehr als eine Mutter verzärtelt und anbetet, statt sie energisch in Zucht zu nehmen.«

Aber wie hätte ich denn Irene in Zucht nehmen sollen, Irene, die stets auf das leiseste Wort gehorcht, die alle ihre Pflichten übereifrig erfüllt hatte und die niemals kokett gewesen war?

Zehn Seiten lang war der Brief der Generalin. Alles war ganz ausführlich dargestellt, wie sich Irene verdächtig gemacht und wie sie schließlich ertappt worden war, um zwei Uhr morgens im Bett des Reserveleutnants Alexander Wagner – keine Einzelheit hatte die Schreiberin vergessen, um ihrem Bruder mitzuteilen, was ihn auch mit knappen Worten schwer genug getroffen hätte. Die Generalin liebte große Worte und große Szenen. Sie war in ihrer Jugend, zur Scham und Erbitterung der ganzen Familie, beim Theater gewesen, Talent soll sie keines gehabt haben, aber die schönste Figur ihrer Zeit und etwas, das im Hause Kleh »Raffinement« genannt wurde und worunter wir uns alle nichts Rechtes vorstellen konnten. Immerhin hat sie damit ihr Glück gemacht, die ganz große Partie: Baron Hessel, damals noch Major, aber bereits Erbe eines Riesenvermögens, hat sie geheiratet, und sie wurde über Nacht zu einer überaus sittenstrengen, ehrgeizigen und patriotischen Soldatenfrau. Sie lenkte und beherrschte ihren Mann im Kleinen und Großen – bloß dass er knapp nach Kriegsausbruch starb, unheldenhaft, an einem Magengeschwür, hatte sie nicht verhindern können. Um wenigstens ein bisschen Ruhm mit ihrem Namen zu verbinden, hatte sie mit großen Kosten aus ihrem Schloss ein Kriegsspital gemacht. – Was dieser Frau der Skandal mit Irene bedeutete, war leicht zu ermessen.

»Anständigerweise hat sich der Bursche bereiterklärt, Irene zu heiraten«, hieß es am Schluss ihres Briefes, »er ist in Zivil Architekt und stammt aus München. Von seiner Familie weiß ich nichts Näheres. Das ist wohl auch gegenstandslos. Zum Neinsagen ist es jedenfalls zu spät.«

Ich hatte den Brief fallen gelassen, ich konnte das Weinen nicht länger zurückhalten. Herr Kleh hatte sich endlich umgedreht.

»Das hat keinen Sinn, Eula«, sagte er sehr weich und sehr leise, »das hat gar keinen Sinn, heute schon zu weinen. Vielleicht hat Irene Glück gehabt. Vielleicht ist dieser Herr … dieser Herr Reserveleutnant ein ganz ordentlicher, braver Mann …«

Ich glaubte falsch zu hören. Ein braver Mann – der Schurke, der mein gutes liebes Mädchen verführt hatte? Aber ich wagte keinen Widerspruch. So gütig und sanft Herr Kleh alle Zeit über war, in der ich ihn kannte – ihm zu widersprechen war nahezu unmöglich. Auch die anderen Angestellten des Hauses und auch die Kinder folgten ihm blind, obwohl er selten die Stimme, niemals die Hand gegen sie erhoben hatte. Er besaß, im schönsten Sinne des Wortes, was man Autorität nennt, eine stille und – so seltsam das klingt – beinahe schüchterne Würde.

»Man muss den Krieg bedenken«, sagte er und sah wiederum durch das große Fenster auf die Straße, »die vielen Monate im Schützengraben, ohne Frauen und ohne Zärtlichkeit … und die Nähe des Todes.«

Ich bewunderte Herrn Kleh, weil er so gerecht war, auch dort, wo ihm ein Schmerz zugefügt wurde. Aber ich musste doch daran denken, dass er sich vielleicht weniger in der Gewalt hätte halten können, wenn es sich nicht um Irene, sondern um Lotte gehandelt hätte. Es war niemals davon gesprochen worden, dass Lotte sein Liebling war. Er hatte sie auch niemals bevorzugt, weder war er zärtlicher noch nachsichtiger gegen sie. Trotzdem wusste ich es. Wenn man jahrelang unter einem Dache lebt, genügen winzige, kaum aussprechbare Dinge, um ein solches Wissen zu vermitteln.

»Haben Sie das Postskriptum gelesen?«, fragte Herr Kleh. Ich verneinte. »Irene kommt morgen früh hier an.«

»O Gott«, sagte ich, »was sollen wir Lotte erzählen?«

Er antwortete nicht sogleich. Er ging, die Hände auf dem Rücken, in dem schmalen Raum hin und her. Damals war er noch ein schlanker Mann, der viel jünger aussah, als er in Wirklichkeit war, bloß an den Schläfen waren seine Haare weiß. Er hatte eine gesunde, bräunliche Hautfarbe, leuchtende Augen und sehr schmale, feingliederige Hände. Er war ein sehr schöner Mann, der schönste vielleicht, den ich jemals gesehen habe.

»Ich werde nach München fahren und mich nach der Familie dieses Herrn – dieses Herrn Wagner erkundigen«, sagte er plötzlich. »Ich müsste ohnedies in den nächsten Wochen geschäftlich hinfahren, so werde ich es eben schon morgen tun. Lotte nehme ich mit.«

»Und Irene?«, fragte ich. »Wie soll ich Irene begegnen?«

Er überlegte eine Weile. »Sie werden Irene sagen, dass ich mich genau so benehmen werde, als ob nichts vorgefallen wäre. Wenn mir der Mann gefällt – mag sie ihn haben. Wenn nicht –« Diesen Satz hat er erst am nächsten Morgen zu Ende gesprochen. Als die Koffer bereits gepackt und verschlossen waren und Lotte, selig über die unerwartete Reise, schon im Wagen saß – wir hatten damals einen Monatswagen mit zwei alten, klapperigen Gäulen, weil das Auto vom Kriegsministerium requiriert worden war – und als mir noch einmal die dummen Tränen kamen, da sagte Herr Kleh:

»Wenn dieser Kerl – wirklich nur so ein Kerl ist … es ist nicht zu spät, ›Nein‹ zu sagen. Ich werde nicht zulassen, dass mein Mädel ihr Leben lang an den Folgen einer Dummheit zu tragen hat!«

Das war um halb zehn. Um zehn sollte Irenes Zug einlaufen. Ich musste über eine Viertelstunde zu Fuß gehen, ehe ich auf ein freies Taxi stieß, einen altersschwachen Karren, den sein Chauffeur an jeder Ecke neu ankurbeln musste. Bloß weil auch die Züge in jenen Kriegstagen große Verspätungen hatten, gelang es mir, Irene noch zu erreichen. Gerade als ich vorfuhr, trat sie aus der Halle auf die Straße.

Sie war nicht allein. Neben ihr ging ein Mann in reichsdeutscher Uniform, ein blasser und, wie mir im ersten Augenblick schien, recht unscheinbarer Mann. Auch Irene sah elend aus, ihr Gesicht war beinahe mager geworden, aber unglücklich sah sie nicht aus.

Sie erblickte mich, noch ehe ich aus dem Auto gestiegen war, und lief zu mir. »Wo ist der Vater?«, fragte sie. Ich sagte, der Vater sei für wenige Tage geschäftlich verreist.

»Du hast ihm einen großen Schmerz zugefügt«, konnte ich mich nicht zurückhalten hinzuzufügen. Der Offizier war nun auch an den Wagen getreten.

»Alexander Wagner – mein Bräutigam«, sagte Irene. Ich war sehr verwirrt und verzweifelt, denn darauf war ich nicht gefasst. Herr Kleh hatte mir für diesen Fall keine Verhaltensmaßregeln gegeben. Offenbar hatte auch er nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass Irene ihren Verführer einfach mitbringen würde. Ich sagte zunächst gar nichts, aber ich war fest entschlossen, diesen »Bräutigam« nicht ins Haus zu lassen, ehe Herr Kleh zurückgekehrt war.

Zunächst aber stiegen beide zu mir ins Auto. »Er war auf den Tod verwundet«, erzählte Irene, »eine Schrapnellkugel in der Brust, drei Wochen fast war er bewusstlos vom Fieber.«

»Ohne dieses Mädchen wäre ich gestorben«, sagte der Leutnant und lächelte. Er saß mir gegenüber auf dem Rücksitz, und jetzt sah ich sein Gesicht genau. Es war nicht schön, aber sein Lächeln war sehr schön. Er hatte ein männliches Gesicht mit starken großen Zügen, und sein Lächeln war kindlich und offen. »Sie hat mich wirklich ganz allein gesund gemacht. Die hohe Medizin hatte es aufgegeben.«

Schön hast du es ihr gelohnt, dachte ich.

Seine einzige Schwester lebte in Wien, bei ihr wollte er wohnen. Sie war die Frau des Primarius Winterfeldt, und das beruhigte mich sehr. Winterfeldt hatte doch einen sehr bedeutenden Namen, und ich wusste, dass sein Haus auch gesellschaftlich in gutem Ansehen stand.

Als wir an der Karlskirche vorbeifuhren, stand Wagner auf und blieb stehen, solange das Bauwerk in Sicht war.

»Schön!«, sagte er dann. Ein paar Minuten später sagte er wieder: »Schön!« Das war, als wir in der stillen Straße vor unserem Hause hielten. Ich hatte dieses alte Haus lieb, aber bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass es ein Barockbau von seltener Stilreinheit war und dass die Reliefs über den Fenstern von Meisterhänden geformt waren.

»Es ist ein bezauberndes Haus!«, sagte Alexander. »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass etwas Gemeines, Gewöhnliches in solchem Hause aufwächst.«

»Unsere Familie wohnt seit hundertzwanzig Jahren in diesem Haus«, sagte Irene und strahlte vor Glück, »meine Ahnen waren bürgerliche Uhrmachermeister. Noch mein Großvater stellte die Uhren selbst zusammen …«

Wir verabschiedeten uns. »Ich komme nach dem Essen«, sagte der Leutnant. Ich wollte Einspruch erheben, aber da sagte Irene: »Komm bald!«, und sie sagte das mit einem Ausdruck, der mir durch Mark und Bein ging. Als könne sie die Trennung von ein paar Stunden kaum ertragen. Ihre Nasenflügel bebten. Ich war so erschüttert, dass ich kein Wort über die Lippen brachte.

Irene war überhaupt verzaubert, ich kann es nicht anders ausdrücken. Es fehlte ihr auch jedes Gefühl dafür, dass sie etwas Unrechtes getan hatte.

»Schön, du hast dich verliebt«, sagte ich ihr, »das kann ich ja begreifen. Aber warum habt ihr nicht gewartet, bis ihr verheiratet seid? Wenn du darauf bestanden hättest – so hätte er auch gewartet.«

Sie sah mich ganz verwundert an. »Aber von Heiraten war doch gar nie zwischen uns die Rede. Erst als die Tante dahinterkam und einen so furchtbaren Skandal gemacht hat – da erst hat Alexander gesagt, dass er mich heiraten will!«

Heute, wo ich diese Zeilen niederschreibe, haben sich ja die allgemeinen Anschauungen über die moralischen Verpflichtungen eines jungen Mädchens gewaltig geändert. Vielleicht gibt es heute unter hundert Mädchen kaum eines, das sich ihres Liebhabers schämen wollte. Ich sehe auch ein, dass Irene gerade jener Frauengeneration angehörte, die von der Geschichte dazu bestimmt war, mit dem, was man heute Vorurteile nennt, aufzuräumen.

Aber was ich noch immer nicht begreifen kann, das ist eben dieser einzelne Fall: Irene. Wie waren die Keime der unmoralischen Revolte durch die dicken Mauern unseres alten Barockhauses gedrungen?

»Ich war furchtbar glücklich, als er das sagte«, berichtete sie, »nicht wegen der Heirat. Aber es ist doch ein Beweis, dass er mich liebt, nicht wahr?«

»Mein Gott«, sagte ich, »du weißt nicht einmal sicher, dass er dich liebt –!?«

Sie wurde dunkelrot und ging ins Badezimmer. Ich aber saß neben ihrem geöffneten Koffer und vergaß die Kleider in den Schrank zu tun. Ich dachte an meine eigene Jugend, an den Studenten, den ich so innig geliebt hatte, den einzigen Mann, der mich schöner gefunden hatte als alle anderen Frauen der Welt. Wir hatten lange Spaziergänge gemacht, manchmal waren wir zusammen ins Theater gegangen, zwei-, dreimal vielleicht hatten wir uns geküsst. Und dann waren wir auseinandergegangen, weil wir zum Heiraten kein Geld hatten. Eine sehr einfache Geschichte, und niemals zuvor war mir eingefallen, dass sie ganz anders hätte weitergehen können …

Als Irene aus dem Badezimmer zurückkam, fragte sie: »Wo ist Lotte?« Sie war außer sich, als sie erfuhr, dass Lotte mit dem Vater verreist sei. »War sie denn gar nicht ungeduldig, mich zu sehen?«, fragte sie. »Oder hat sie mir das – das mit Alexander übelgenommen?«

Sie beruhigte sich erst, als ich ihr sagte, Herr Kleh hätte es für gut befunden, Lotte zunächst gar nichts zu erzählen. »Ich glaube, du sollst es ihr auch nach ihrer Rückkehr nicht sagen. Ich meine – es genügt, wenn du ihr sagst, Alexander sei dein Bräutigam. Natürlich würde sie dir nicht übelnehmen, was du getan hast – im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, dass es ihr imponiert.«

Ich sah Irene an, dass es ihr schwerfiel, meinen Rat anzunehmen. Die beiden Schwestern liebten einander, wie ich das sonst nur bei Zwillingen gesehen habe, vielleicht kam es daher, dass sie so früh die Mutter verloren hatten. Geheimnisse zwischen ihnen hat es, glaube ich, niemals gegeben. Auch kein Mein und Dein, was die eine bekam, gehörte immer auch der anderen. Trotzdem glaube ich, dass Irenes Schwesterliebe noch weit größer war als die Lottes – vielleicht weil Irene überhaupt liebesfähiger, zärtlicher und mütterlicher war. Eben an dieses Gefühl musste ich mich jetzt wenden: »So etwas kann auch sehr schlecht ausgehen«, sagte ich, »man kann auch an einen unanständigen, leichtfertigen Kerl geraten.«

Schließlich gelang es mir, sie zu überzeugen. Sie versprach zu schweigen. »Du bist ja jetzt kein Backfisch mehr«, ergänzte ich noch, »sondern eine kleine Frau.«

Das war eigentlich nicht das richtige Wort. Irene war, ihrem Äußeren wie ihrem Wesen nach, alles eher als eine »kleine Frau«. Sie war hochgewachsen wie ihr Vater und hatte das Gesicht einer jungen Römerin. Ihre Haut war überall, im Gesicht wie am Körper, von dem gleichen zarten Gelb. Sie wäre eine vollkommene Schönheit gewesen – schöner sogar als Lotte –, wäre nicht alles an ihr um eine unausdrückbare Nuance zu lang gewesen: Sie war um eine Spur zu groß, um anmutig zu sein, ihr Hals, ihre Nase, ihre Hände und Füße – alles war um eine Spur zu lang. Wahrhaft vollendet aber waren ihre Augen und ihr Mund.

Von dem Augenblick an, wo wir mit dem Essen fertig waren, begann sie auf Alexander zu warten, ich erkannte das an ihren zerstreuten Antworten, an den heimlichen Blicken, die sie auf ihre Armbanduhr warf. Von drei Uhr an stand sie am Fenster. Um halb vier fragte sie kleinlaut, ob es möglich sei, dass sie bei Winterfeldts anklingle. Ich fand es unmöglich. Um vier kam Alexander. Er küsste uns beiden sehr höflich die Hand und entschuldigte sich, weil er so spät gekommen sei. Ich sagte, er hätte telefonieren können. Er gestand, nach dem Essen über eine Stunde geschlafen zu haben, die Reise hätte ihn wider Erwarten sehr hergenommen.

»Das war sehr vernünftig«, sagte Irene, »dass du geschlafen hast.«

»Aber vorher hätten Sie telefonieren können«, beharrte ich.

Er dachte einen Augenblick ernsthaft nach und lächelte dann kindlich und offen. »Sie haben Recht«, sagte er, »Sie haben vollkommen Recht. Erziehen Sie mich nur, Fräulein Eula, ich habe es notwendig. Es hat mich bisher niemals irgendwer richtig erzogen.«

»Wieso denn?«, fragte ich. »Haben Sie denn keine Eltern gehabt?«

»Eigentlich – nein«, sagte er.

Er war mir noch zu fremd, als dass ich ihn nach so was Heiklem hätte fragen können. Was es mit seinen Eltern auf sich hatte, das habe ich erst viel später und nur zum geringsten Teil durch ihn selbst erfahren. Aber weil ich doch so ungeschickt bin, dass ich gewiss den richtigen Moment dafür verpassen würde, will ich es gleich jetzt erzählen.

Sein Vater war in München Nervenarzt gewesen. Er soll selbst wie ein Verrückter ausgesehen haben, hoch aufgeschossen, mit wirren Haaren und unstetem Blick, jahrein, jahraus in einen abgeschabten Mantel von unbestimmbarer Farbe gekleidet, mangelhaft gewaschen und so rüde in seinen Umgangsformen, dass es heute noch in München Anekdoten darüber gibt. Trotzdem war er – so merkwürdig das klingt – ein Modearzt. In seinem Wartezimmer saßen die reichsten und angesehensten Leute, vor seiner Haustür standen die elegantesten Autos, und er wurde in aller Herren Länder, einmal sogar zu einem Multimillionär nach Chicago berufen.

Verheiratet war dieser seltsame und wahrscheinlich hervorragende Mann mit einer Frau von zartester, puppenhafter Schönheit, einer vollendeten Dame, die sich niemals im Leben allein an- oder ausgezogen hatte. »Dass sie uns Kinder selbst geboren hat, war mir immer ein Rätsel«, soll Alexander einmal gesagt haben. Wie diese beiden extrem verschiedenen Menschen zusammengekommen waren wird niemand mehr entschleiern. Aber da die Frau von Hause aus reich war und der alte Wagner überhaupt kein Interesse am Geld hatte, muss man wohl annehmen, dass es aus Liebe geschehen war. Später hatte sich diese Liebe in erbitterten Hass verwandelt. »Ich habe meine Eltern niemals miteinander sprechen hören«, sagte Alexander.

Vater und Mutter waren ihrer eigenen Wege gegangen, und keiner von beiden hatte Zeit oder Lust, die Kinder mitzunehmen. Solange sie noch klein waren, wurden sie manchmal in den Salon gerufen, wenn Besuch da war, sie mussten einen zierlichen Knicks machen, ein paar französische Worte oder ein kleines Gedicht hersagen, und dann wurden sie wieder fortgeschickt. Einmal hatte sich Alexander – sechs Jahre alt – ein Loch in den Kopf gestoßen und war heulend vor Schmerz und Angst in die Arme seiner Mutter geeilt. Dafür hatte er eine Ohrfeige bekommen, denn er hatte mit seinem Blut ihr neues Abendkleid besudelt. »Damals ist meine Mutter für mich gestorben«, hat Alexander Irene erzählt.

An diese Geschichte musste ich oftmals denken. Denn ich glaube, gerade sie erklärt, was in Bozen geschehen war. Wie der auf den Tod verwundete Alexander unter der hingebenden Pflege Irenes genas – da war es ihm vielleicht, als wäre er zum zweiten Mal und diesmal von einer wirklichen Mutter geboren worden. Ich beobachtete, dass es ihm eine gewisse Freude machte, wenn sie ihn wie ein Kind bevormundete. Er duldete, dass sie Milch in seinen Mokka goss, und wenn sie sagte: »Rauch doch nicht so viel, das schadet dir« – dann lächelte er wie über eine Schmeichelei und tat die kurze englische Pfeife für eine kleine Weile aus dem Mund.

Um die Wahrheit zu sagen – ich gewann ihn recht lieb in den fünf Tagen zwischen seiner Ankunft und der Rückkehr von Herrn Kleh. Er war wirklich ganz anders als die jungen Männer der uns befreundeten bürgerlichen Familien, die auf Bällen und Gesellschaften mit den Mädchen getanzt hatten. Er war kaum älter als diese Männer – fünfundzwanzig Jahre –, aber er war ganz anders. (Vielleicht kam es daher, dass er vor dem Krieg ein Jahr lang in Indien gewesen war?) Er sprach viel weniger. Er versuchte nie, sich zur Geltung zu bringen. Aber wenn er sagte: »Das ist ein schönes Gedicht, wirklich, ein wunderschönes Gedicht«, dann hatte man, ich weiß nicht, woher das kam, das feste Gefühl, dass nun alles Wesentliche und Wichtige über das Gedicht gesagt worden sei.

Das Einzige, was mich an ihm ärgerte, war, dass er nicht einen noch größeren Teil des Tages bei uns verbrachte. Ich hatte ihn anfangs gar nicht empfangen wollen – das ist wahr. Da es ihm nun aber gestattet war, bei Irene zu sein, ärgerte es mich, dass er nicht den ganzen Tag davon Gebrauch machte. Begriff er denn nicht, dass sie in seiner Abwesenheit überhaupt nichts anderes tat, als auf ihn zu warten?

»Die Stadt ist so schön«, entschuldigte er sich, »ich bin beinahe zwei Stunden zu Fuß gegangen, von einer Gasse in die andere …«

»Glauben Sie nicht, dass es Irene große Freude gemacht hätte, mit Ihnen zu gehen?«, fragte ich. »Warum haben Sie uns nicht abgeholt?«

»Ich habe nicht daran gedacht«, sagte er mit seinem offenen, aufrichtigen Lächeln. »Es war nicht schön von mir.«

Am Abend desselben Tages brachte er Irene einen wunderbaren chinesischen Kimono, weiße Seide mit zartesten rosa und blasslila Blüten bestickt. Sie war außer sich.

»Woher wusstest du, dass ich mir mein ganzes Leben lang so was gewünscht habe?«

»Meine Schwester hat gemeint, das müsste dir Freude machen«, sagte er, »sie hat mir auch geholfen, ihn auszusuchen.«

Ich fand das sehr lieb von der Frau Winterfeldt, aber so recht zu würdigen wusste ich es erst am nächsten Tag, als sie ganz plötzlich zur Teestunde bei uns erschien, weil sie »schon gar zu neugierig war, ihre Schwägerin kennenzulernen.« Im ersten Augenblick war ich beinahe erschrocken, so hässlich erschien sie mir: klein und gedrungen, mit einem großen Busen, das Gesicht beherrscht von einer hohen, übertrieben gewölbten Stirn.

Aber was bedeutet Hässlichkeit bei einer Frau, wie Lisbeth eine war? Schon nach einer Stunde sah ich nurmehr das ruhige tiefe Leuchten ihrer Augen. Und wann immer im späteren Laufe der Jahre Lisbeth ins Zimmer trat – und das tat sie immer, wenn sie glaubte, helfen zu können –, dann war es keine hässliche Frau, sondern ein wunderbares, von Güte strahlendes Menschenwesen, das eintrat und sogleich allen alles leichter machte.

Wir waren sofort vertraut mit Lisbeth, Irene und ich, obwohl wir beide von Natur aus eher schwerblütig waren. Der Tee war kaum abgeräumt, da saßen wir wie eine längst verbundene Familie um den Tisch herum, Alexander hatte eine Mappe mit schönem weißem Briefpapier vor sich und zeichnete das Haus, das er sich für seine künftige Ehe erbauen wollte. Es sollte an der Isar stehen, auf dem Weg nach Nymphenburg, er besaß bereits seit zwei Jahren eine Option auf den Grund.

Er zeichnete zunächst das Erdgeschoss, eine große Halle, die auch als Speisezimmer dienen sollte. »Eine wirkliche, bewohnte Halle, kein snobistisches Vorzimmer«, sagte er, »das muss der gemütlichste Raum im Haus werden.« Dann kamen ein Musikzimmer, eine Bibliothek und ein Damensalon und die unsichtbaren Räume für die Wirtschaftsführung.

»Wundervoll!«, sagte Irene, obwohl ja eigentlich nichts zu sehen war als feine Bleistiftstriche.

Alexander nahm einen neuen Bogen und zeichnete den ersten Stock. »Hier ist dein Schlafzimmer, hier ist meines, dazwischen kommt eine vierflügelige Tür. Und da kommt das Badezimmer … und der Turnsaal. Ich will einen richtigen Turnsaal haben mit allerlei Geräten und einem Punchingball.«

»So ein Architekt hat es wie im Märchen«, sagte Lisbeth, »er malt sich seine Wünsche direkt in die Wirklichkeit hinein. Und wo ist das Kinderzimmer?«

»Hier neben den Turnsaal«, sagte Alexander, »kommt eine große, gedeckte Veranda. Ich glaube nicht, dass es sehr klug ist, Kinder zu kriegen, solange Krieg ist. Wenn sie mich auch vorläufig superarbitriert haben, so bin ich doch noch lange nicht domino. Und wer weiß, wo das noch hinführt mit der Lebensmittelnot. Wenn ich ein Kind habe, dann soll es aus dem Vollen schöpfen können …, aber wenn der Krieg aus ist, und wenn wir dann Lust dazu haben, bauen wir die Veranda zu und machen ein Kinderzimmer daraus.«

Dann nahm er einen dritten Bogen. »Und hier, im zweiten Stock, ist mein Atelier.« Er zeichnete sich liebevoll ein geräumiges Atelier mit breiter Fensterfront und tiefer Nische für eine Clubgarnitur. »Und hier sind die Gastzimmer«, sagte er und setzte zwei kleine Räume mit Balkonen rechts und links neben das Atelier. »Eines für Lisbeth und eines für Fräulein Eula.«

»Und Lotte?«, rief Irene. »Wo ist Lottes Zimmer?«

Ich sagte: »Wir werden doch nicht alle gleichzeitig auf Besuch kommen. Zwei Gastzimmer sind sicherlich genug.«

»Aber ich will doch, dass Lotte neben mir wohnt, wenn sie bei uns ist!«, sagte Irene. »Die paar Wochen im Jahr muss sie doch wenigstens neben mir schlafen können, damit wir am Abend miteinander tratschen können, wie zu Hause …« Ich war die Einzige, die sie verstand: Sie hatte wahrscheinlich jetzt zum ersten Male richtig begriffen, dass die Ehe sie von der geliebten Schwester trennen würde.

»Das geht aber nicht«, sagte Alexander, »ich kann im ersten Stock kein Gastzimmer anbringen.« Er legte den Bleistift hin und sah wie in tiefer Bedrängnis zu Irene. »Ich habe dieses Haus seit zehn Jahren fertig im Kopf. Es soll doch ein Musterhaus werden. Aber ich kann ja deiner Schwester, wenn sie zu uns kommt, mein eigenes Schlafzimmer abtreten und im Atelier schlafen.«

»Das ist aber riesig nett von dir!«, rief Irene. Alexander hatte wieder ein neues Blatt ergriffen und zeichnete jetzt die Innenarchitektur seines Ateliers.

»Ich muss es gleich auf Übernachten einrichten, das ist wiederum ganz einfach. Hier«, er meinte die Nische, »kommt eben keine Clubgarnitur hin, sondern ein richtiges Ruhebett, das bei Tag wie eine Ottomane aussieht, und hier nebenan kommt ein kleiner Duschraum …«

Er zeichnete hingegeben. »Eigentlich gibt es gar nichts Angenehmeres, als so unmittelbar neben der Arbeit zu schlafen, gewissermaßen in der Atmosphäre der Arbeit. Hier kommt ein Vorhang aus schwerem Seidenrips, so dass man das Atelier säubern kann, wenn ich noch im Bett liege …« Er zeichnete einen kleinen niederen Tisch neben sein künftiges Lager und eingebaute Regale für eine kleine Handbibliothek. »Ich glaube«, sagte er, »ich werde immer hier wohnen wollen.«

Irene wurde totenblass. »Immer –?«, fragte sie, und ihre zitternde Stimme brach ab.

Alexander schien das nicht zu bemerken. »Ja, warum denn nicht? Es wird ein wunderbarer Raum. Ihr werdet euch noch alle darum reißen, hier eine Tasse Tee trinken zu dürfen.«

»Du bist mir doch nicht böse?«, stammelte Irene. »Weil ich … Aber Lotte ist doch meine einzige Schwester! Ich wollte dich doch nicht kränken …«

Lisbeth nahm mich beim Arm und führte mich aus dem Zimmer. »Sie sollen sich in Ruhe aussprechen«, sagte sie. Wir gingen in den entlegensten Raum. Ich war überaus besorgt und aufgeregt und machte vor Lisbeth kein Geheimnis aus meinen Sorgen.

»Ich sehe auch nicht klar«, sagte Lisbeth. »Alexander ist ein sehr empfindlicher Mensch, und es ist durchaus möglich, dass er gekränkt ist, weil Irene ein paar Tage im Jahr die Nachbarschaft ihrer Schwester der seinen vorzieht. Aber es ist auch möglich, dass er wirklich lieber in seinem Atelier schlafen will.« Ich muss wohl ein jämmerliches Gesicht gemacht haben, denn sie griff nach meiner Hand. »Das wäre ja noch kein Beweis von Lieblosigkeit Die besten Männer haben oft eine gewisse Angst vor der großen Nähe in der Ehe.«

Ich stotterte unbeholfen, aber Lisbeth verstand mich sofort. Sie hatte auch die ganze Situation sofort richtig verstanden.

»Ich habe selbst schon darüber nachgedacht«, sagte sie, »ob mein Bruder Irene liebt oder ob er … nun, ob er sich eben bloß verpflichtet fühlt, sie zu heiraten. Er ist ein sehr verschlossener Mensch, auch mir gegenüber. Wahrscheinlich auch sich selbst gegenüber. Er hat mir bloß gesagt: ›Ich heirate.‹ Von seiner Braut hat er gesagt, sie sei sehr hübsch und habe einen ausgezeichneten Charakter. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er mit der leidenschaftlichsten Liebe im Herzen auch nicht anders sprechen würde. Aber ich kann mir ebenso gut vorstellen, dass er ohne mit der Wimper zu zucken und ohne sich im mindesten dafür zu bedauern, die Konsequenzen zieht, wenn er … nun, wenn er etwas Unüberlegtes getan hat.«

Mein Herz war überaus beklommen. Wenn bloß Herr Kleh schon da wäre, dachte ich.

»Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte«, sagte Lisbeth, »und Alexander hat das liebe Mädchen wirklich sehr gern. Es ist ja schließlich nicht einem jeden die Gabe – oder besser: der Fluch – der großen Leidenschaft gegeben. Mein Bruder hat meines Wissens niemals besonders heftige Liebesaffären gehabt. Er wird sie hoffentlich niemals kennenlernen.«

An einem dieser Tage kam ein Brief von Herrn Kleh. Er hatte in München nur Gutes über Alexander erfahren, er hatte mit seinem Lehrer, dem berühmten Architekten Rott, gesprochen und den neuen Trakt des Krankenhauses gesehen, der nach Alexanders selbstständigen Plänen knapp vor Ausbruch des Krieges erbaut worden war. »Der wird einmal eine große Nummer werden«, soll Rott gesagt haben, »er hat Talent und verplempert seine Zeit nicht mit Weibern.«

Sonst schrieb Herr Kleh noch, dass die Lebensmittelverhältnisse in Deutschland weit schlimmer seien als in Wien, dass sich er und Lotte seit ihrer Abreise kein einziges Mal richtig satt gegessen hätten – trotzdem aber wolle er noch acht bis zehn Tage unterwegs bleiben, weil ihm aus verschiedenen rheinischen Städten besonders schöne Juwelen zum Ankauf angeboten worden waren. Der Brief war bereits aus Nürnberg, ich schrieb, wie er es verlangt hatte, nach Schaffhausen, express, dass Alexander in Wien sei und täglich nach Hause komme.

Zwei Tage später waren Herr Kleh und Lotte in Wien, ohne sich vorher anzumelden. Wir saßen zu dritt im Salon, Alexander und Irene spielten Schach, ich besserte Strümpfe aus – da ging die Tür auf, und Lotte flog ihrer Schwester an den Hals.

»Du sollst zu Vater ins Arbeitszimmer kommen!«, sagte sie dann und begrüßte auch mich stürmisch. Als Irene gegangen war, stellte ich ihr Alexander vor, als einen »Verwundeten, den Irene in Bozen gepflegt hatte, und der gekommen war, ihr einen Besuch abzustatten«.

Der alte Johann rief mich, damit ich ihm wegen der Koffer behilflich sei, ich hatte allerlei Anordnungen wegen des Nachtmahls zu treffen, es verging vielleicht eine gute halbe Stunde, ehe ich in den Salon zurückkam.

Lotte war eben dabei, eine Szene aus dem Eisenbahncoupé nachzumachen. Sie spielte abwechselnd eine alte Spießbürgerin und eine junge Demimondaine, einen Oberst und einen Schaffner. Weder sie noch Alexander bemerkten meinen Eintritt. Ich war ärgerlich, obwohl Lotte doch nicht ahnen konnte, dass es eine feierliche Stunde war und Alexander doch nichts anders tun konnte, als ihr zuzuhören.

»Aber Lotte«, sagte ich schließlich, »was ist denn das für ein Theater?«

»Ein ausgezeichnetes Theater«, sagte Alexander, »hören Sie mal – dieses Kind ist doch ein mordsmäßiges Talent! Aus der müsste man doch etwas machen!«

Es war schon ziemlich dunkel im Zimmer, aber ich hatte den Eindruck, dass er plötzlich viel jünger aussah als gewöhnlich. »Verdrehn Sie ihr nur nicht den Kopf«, sagte ich, »sie hat ohnedies genug Rosinen drin!«

Später ließ Herr Kleh auch Alexander in sein Arbeitskabinett rufen, und ich blieb mit Lotte allein. Ich fragte sie nach dem Eindruck, den die fremden Städte auf sie gemacht hätten, aber sie gab mir keine Antwort.

»Wird er oft zu uns kommen?«, fragte sie.

»Wer? Herr Wagner? Solange er in Wien ist, wird er wohl oft zu uns kommen. Warum fragst du das?«

»Ach – er sieht so besonders aus, findest du nicht? Und er hört so nett zu. Er macht sich nicht ein bisschen lustig, und dabei ist er so leicht zum Lachen zu bringen. Wir haben Freundschaft geschlossen, weißt du.«

»Etwas schnell, Lotte.«

»Blitzschnell, ja. Ich hab noch nie in meinem Leben so blitzschnell Freundschaft geschlossen. Komisch, was?«

Damals fand ich es wirklich komisch. Ich lachte sogar über das altkluge »in meinem ganzen Leben«. In meinen Augen war Lotte noch ein Kind, ein heftiger Backfisch, der leicht von einem Extrem ins andere fiel. Plötzlich pflanzte sie sich vor mir auf.

»Glaubst du, dass ich schon heiratsfähig bin, Eula?«

Ich war fassungslos. »Wie kommst du bloß darauf?«

»Nur so. Wenn ich mich zum Beispiel in einen Mann verliebe –? Glaubst du, dass ich dann sehr bald heiraten kann, oder muss ich warten, bis Irene einen gefunden hat?«

»Ich glaube, du kannst ruhig warten, bis Irene einen gefunden hat. Erstens bist du wirklich noch zu jung, um zu heiraten, und zweitens wird deine Schwester sehr bald …«

Sie ließ mich nicht aussprechen. »Wer ist es?«, fragte sie, bettelte sie, an meinem Halse hängend, ihr Gesicht so nahe dem meinen, dass ihr heißer Atem meine Wangen und meinen Hals streifte.

Ich blieb standhaft allen ihren Beschwörungen und ihrem Schmollen gegenüber. Aber ich hatte nicht lange nötig, standhaft zu sein, denn nach einer Weile ging die Türe auf, eine unsichtbare Hand drehte das Licht an, und Herr Kleh, Irene und Alexander standen im Zimmer. Etwas Feierliches lag über ihren Gesichtern.

»Gratuliere deiner Schwester«, sagte Herr Kleh zu Lotte, »sie hat sich soeben verlobt. Und begrüße deinen neuen Schwager!«

Lotte wurde bleich wie ein Tuch. Sie machte zwei Schritte gegen die Tür, als ob sie aus dem Zimmer stürzen wollte – dann aber warf sie sich gegen Irene und begann, an ihre Schulter gelehnt, fassungslos zu weinen.

Ich verstand natürlich sofort, was dieses Benehmen zu bedeuten hatte (ich hatte es ja schon vorher verstanden), aber ich maß Lottes Verliebtheiten gar keine Wichtigkeit bei. Ich war das seit ihrer frühesten Kindheit gewohnt. Sie hatte sich schon mit sechs Jahren so heftig in unseren Hausarzt verliebt, dass sie knapp nach einem überstandenen Scharlach in ein Nervenfieber verfiel – bloß weil er gesagt hatte, dass er nunmehr seine Besuche einstellen würde. Sie hatte sich der Reihe nach in alle ihre Vettern verliebt, in alle ihre Lehrer, in jeden Schauspieler, den sie in einer bedeutenden Rolle zu sehen bekam. Immer hatte es Exaltationen gegeben, Tränen, plötzliches Erbleichen, heimliche Gedichte, was weiß ich.

Den andern machte ihr Benehmen noch weniger Sorge als mir: Sowohl Herr Kleh wie auch Irene glaubten natürlich, es handle sich um den Schmerz über das bevorstehende Ende ihres Zusammenseins mit der geliebten Schwester.

»Aber du wirst doch sehr oft zu uns kommen«, sagte Irene – auch sie hatte Tränen in den Augen, »das ist alles schon genau besprochen. Sogar dein Zimmer in unserem Haus ist bereits entworfen! Wir werden uns nicht weniger liebhaben, im Gegenteil …«

Übrigens schlug Lottes Stimmung noch am gleichen Abend um – Herr Kleh hatte Wein zu Tisch geben lassen, das waren die Mädchen nicht gewohnt, und Lotte waren ihre zwei Glas sogleich zu Kopf gestiegen, sie stand auf und wollte eine Rede auf das Brautpaar halten, aber das untersagte Herr Kleh, wahrscheinlich weil er fürchtete, dass sie, ohne die Vorgeschichte dieser Verlobung zu kennen, eine schwere Taktlosigkeit begehen könnte. Hingegen forderte er sie selbst auf, etwas zu singen, und sie sang den »Nussbaum« von Schumann so süß und vollkommen, dass Alexander mir wiederum zuflüsterte:

»Es wäre doch ein Jammer, wenn man ein solches Talent verdorren ließe!«

Drei Wochen lang hatten wir alle Hände voll zu tun, die Hochzeit war schon für den 5. Oktober festgesetzt, wir mussten bis dahin die Ausstattung zusammenstellen, das war ein ganz schönes Stück Arbeit in einer Zeit, wo es allerlei List und Kenntnisse erforderte, um sich einen Ballen reinen Leinens zu beschaffen! In den teuersten Geschäften gab es bloß minderwertige Ersatzware, wir trabten für gewöhnlich halbe Tage lang zwischen Winkelhändlern und Schneiderinnen hin und her, Irene und ich, und wenn wir dann todmüde heimkamen, fanden wir Alexander im Salon, mit den Zeitungen oder einem Buch, während Lotte oben in ihrem Zimmer Violine spielte oder ihre Nägel polierte.

Es ist kein Zweifel, dass sie ihm auswich, so gut sie konnte, die arme kleine Lotte. Auch wenn wir dabei waren, sprach sie wenig mit ihm, und sie sah ihn niemals an. »Wenn ich bloß wüsste, was die Kleine gegen mich hat«, pflegte er zu sagen, und Irene antwortete dann: »Du weißt doch, was sie gegen dich hat – dass du mich wegnimmst von ihr.« Das schien ihm nie ganz einzuleuchten. Trotzdem bin ich ganz fest überzeugt, dass er damals wirklich keine Ahnung hatte, von dem, was in Lotte vorging. Er seinerseits machte durchaus kein Hehl aus seinem Entzücken über die »Kleine«. Aber sie war ihm eben ein Kind – ein entzückendes und ungemein vielversprechendes Kind. Er hatte wahrscheinlich wirklich wenig »Erfahrungen mit Weibern«, wie sein Lehrer Rott und seine Schwester Lisbeth einmütig über ihn gesagt hatten.

Und dann kam jener Septembertag, an dem wir zu viert einen Ausflug nach Greifenstein machten. Wir waren mit dem Schiff donauaufwärts gefahren, dann hatten wir die Ruine besichtigt, dann – es war ein sehr sonniger, sehr warmer Tag – wollten die jungen Leute baden. Ich saß vor der Badeanstalt und sah sie alle drei an mir vorüberschwimmen, die Donau trug sie wie ein paar Korkstücke ohne Gewicht. Ich war so müde von all diesen anstrengenden Tagen und von dem Spaziergang, zumeist aber wohl von dem ungewohnten Stillsitzen in der Sonne, dass ich einnickte.

Es war Irene, die mich weckte: »Wo ist denn Lotte?«, fragte sie. Alexander stand neben ihr. Sie waren beide bereits angekleidet.

Ich erschrak bis zur Unfähigkeit, ein Wort hervorzubringen.

»Sie ist gleichzeitig mit uns in die Kabine gegangen«, sagte Irene, »und jetzt ist die Kabine leer.«

Es beruhigte mich immerhin sehr, dass die beiden gesehen hatten, wie Lotte aus der Donau gestiegen war. Ich fand die Sprache wieder. »Sie wird in der Kantine sein«, sagte ich, »und Limonade trinken.«

Wir gingen in die Kantine. Aber da war Lotte auch nicht. Wir warteten zehn Minuten. Als sie nicht kam, beschlossen wir, sie zu suchen. Und zwar sollte Alexander stromaufwärts, Irene stromabwärts am Ufer entlanggehen, während ich am Landungssteg warten sollte, denn es war eigentlich am allerwahrscheinlichsten, dass Lotte von ihrem improvisierten Spaziergang direkt an den Landungssteg kommen würde, wo in ungefähr einer Dreiviertelstunde unser Dampfer anlegen sollte.

Die beiden waren nicht sehr besorgt. Mit Recht. Ich war ja die Einzige, die Lottes Geheimnis kannte. Ich mag nicht schildern, mit welchen Gefühlen ich den schmalen Landungssteg vielleicht zweihundertmal hin- und herrannte. Wie eine Kuh, deren Kalb sich verlaufen hat.

Nach einer halben Stunde kam Irene zurück. Allein. Ich durfte ihr meine Angst nicht zeigen.

»Es ist garstig von Lotte«, sagte sie, »das ist doch nun unser letzter gemeinsamer Ausflug. Wir hätten doch so nett zusammen in der Kantine sitzen können.«

Von fern her hörten wir bereits das Tuten des Dampfers, und bald darauf sahen wir auch ein Rauchwölkchen gegen den silberhellen Abendhimmel steigen, es schwebte ganz allein, und erst viel später sahen wir den unscharfen Umriss des Schiffes. Aber weder Alexander noch Lotte kamen zurück.

Sie kamen erst, als das Schiff bereits anlegte. Sie kamen schweigend daher. Alexander die Hände in den Rocktaschen und die kalte Pfeife im Mund, und Lotte war sehr blass und hinkte.

Irene stürzte ihr entgegen: »Was hast du? Was ist dir geschehen?«

»Nichts«, sagte Lotte unfreundlich, »ich bin ein wenig hingefallen.«

»Und wo warst du so lange?«

Darauf antwortete Lotte nicht. Es war auch keine Zeit dazu. Wir mussten aufs Schiff. Es war jetzt sehr kalt geworden, und wir hatten keine Mäntel mit, so gingen wir in die Restauration. Bloß Alexander sagte, er habe Kopfweh, und blieb auf Deck. Die Restauration war überfüllt, wir saßen eingekeilt zwischen einer fröhlichen Familie, die aus Linz kam und bereits ziemlich viel Alkohol getrunken hatte. »Am Schiff muss man trinken«, erklärte der Pater familias zwanzigmal hintereinander und war scheinbar sehr stolz darauf, dass sogar sein jüngster Sprössling, ein sechsjähriger Knirps, schon »einen sitzen hatte«. Darüber war Irene, die Kinder über alles liebte und jedes Unrecht an ihnen als schwerste Sünde empfand, so empört, dass sie vergaß, Lotte weiter auszufragen. Lotte hatte den Kopf auf die Banklehne gelegt und tat, als ob sie schliefe. Sie hatte tiefe, blaue Ringe unter den geschlossenen Augen.

Als wir heimkamen, legte ich ihr ein Thermometer in die Achselhöhle. Sie hatte zwar kein Fieber, aber ich sagte, sie hätte welches, um ihr Ruhe zu verschaffen. Sie bekam leichtes Abendbrot ans Bett, mein Lager wurde neben dem ihren aufgeschlagen, und Irenes Kissen übersiedelten wir in mein Zimmer – so war es seit jeher gehalten worden, wenn eines von den Mädchen krank gewesen war.

Tante Lina war zum Abendbrot geladen. – Ich konnte Tante Lina nie leiden, denn sie war eine mondäne Frau, sie fürchtete in allem die Meinung der Welt – aber sie war immer einer Meinung mit der Welt. »Irene hätte eine bessere Partie machen können«, sagte sie vor dem jungen Mädchen, »wenn du sie meiner Führung anvertraut hättest. Dieser Wagner ist doch noch gar nichts.«