Der Tharandter Wald Krimi - Joachim Thomas - E-Book

Der Tharandter Wald Krimi E-Book

Thomas Joachim

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Beschreibung

Der Tharandter Wald ist der schönste Wald Sachsens. Und inmitten des Waldes befindet sich ein idyllisches Plätzchen mit dem Hexenhäusel. Eine Gruppe Jugendlicher hat sich diesen Platz ausgesucht, um ein entspanntes Wochenende dort zu verbringen. Aber daraus wird nichts - sie finden eine Leiche im Wald. Und damit beginnt die Aufgabe für Hans Nagel, einen erfahrenen Kriminalisten der Dresdner Polizeidirektion, dieses Tötungsdelikt aufzuklären. Keine einfache Sache, da die Identität des Toten zunächst nicht feststeht. Hans Nagel steht also vor einer Aufgabe, die sein gesamtes kriminalistisches Wissen erfordert. Und letztlich hat er Erfolg, der Mörder wird gefunden. Mit einer Motivation für die Tat, die so nicht vorherzusehen war.

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Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Der grausame Fund am Hexenhäusel

Die Ermittlungen beginnen

Wer ist der Tote

Eine erste Lagebesprechung

Ein unvorhergesehenes Ereignis

Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf

Ein sehr intensives Gespräch in lauer Sommernacht

Noch fehlt die heiße Spur

Eine überraschende Mitteilung

Ein neues Puzzlesteinchen- und das führt nach Hannover

Der Durchbruch steht bevor

Das Finale im Tharandter Wald

Epilog

Der Autor

Vorwort

Sehr geneigte Leserin, sehr geneigter Leser,

bevor sie sich in einer hoffentlich entspannten Atmosphäre diesem Buch widmen und die Aufklärung des grausamen Verbrechens verfolgen, das im Tharandter Wald, dem angeblich schönsten Wald Sachsens, passiert ist, bedarf es noch einiger erläuternder Worte. Der Tharandter Wald ist wunderschöne Realität wie auch alle anderen, in diesem Buch beschriebenen Örtlichkeiten. Das gilt auch für das alte „Kurhaus“ im Kurort Hartha, das im Moment noch dahindümpelt, aber alle Chancen hat auf eine bessere Zukunft.

Nicht in der realen Welt leben die handelnden und beschriebenen Personen dieser Kriminalgeschichte. Sowohl das Geschehen und die Handlung dieser Geschichte sowie auch alle aktiv oder passiv am Geschehen beteiligten und beschriebenen Personen sind total frei erfunden. Es gibt weder im schönen Dresden einen Kriminalhauptkommissar Hans Nagel in der dortigen Kriminalpolizeiinspektion, noch gibt es einen Bürgermeister Claudius Bormann im Tharandter Rathaus. Auch die übrigen genannten Personen werden sie vergeblich suchen, wenn sie tatsächlich die Lust verspüren sollten, ihnen nachzuspüren. Die Mitarbeiter des Tharandter Rathauses sind absolut integer wie auch die übrigen Bürger dieser einladenden Kommune am Rande des Tharandter Waldes, in der zu leben ich das Glück habe. Doch der Phantasie sind ja keine Grenzen gesetzt. Und eine phantasievolle und möglichst realistisch ausgestaltete Kriminalgeschichte sollte tunlichst dort spielen, wo man sich am besten auskennt und natürlich auch wohlfühlt. Und für mich ist das nun einmal die Stadt Tharandt und der Tharandter Wald sowie die angrenzende reizvolle und ausgesprochen interessante uns abwechslungsreiche Umgebung bis hin zur imposanten Landeshauptstadt Dresden. Dieses einmal vorweggenommen, möchte ich ihnen nunmehr viel Freude und Spannung wünschen bei der Lektüre des ersten „Tharandter Wald Krimis“.

Ihr

Joachim Thomas

Der grausame Fund am Hexenhäusel

Sie haben sich dermaßen auf diesen Ausflug gefreut. Die sechs Jungen vom Kreischaer Jugendclub. Seit Wochen fiebern sie dem Wochenende im Mai entgegen, an dem sie eine Radtour zum Tharandter Wald machen wollen, um dort – völlig ungestört – die nächtliche Stimmung inmitten des Waldes genießen zu können. Geplant war dieser Ausflug seit langem. Doch Corona hatte die Planung im vorvorletzten Jahr ebenso zerstört wie auch im vorletzen. Und im vergangenen Jahr war es der Wettergott, der partout kein Verständnis zeigen wollte für das Vorhaben der jungen Abenteurer. Aber nun ist es endlich soweit. Und der im letzten Jahr von den Jungs noch heftig verfluchte Wettergott könnte es mit ihnen in diesem Jahr nicht besser meinen: der erste wirklich warme Frühsommertag und ein wolkenfreier Himmel laden sie ein. Sie sind gut vorbereitet: die Satteltaschen ihrer Fahrräder sind hinreichend gefüllt mit Getränkenmit und ohne Alkohol- mit Bratwürsten, Steaks und anderen kulinarischen Köstlichkeiten. Zelte haben sie dabei, einen kleinen Campinggrill und sogar die komplette extra angesparte Trapperausrüstung, die sie für ihr Unternehmen benötigen. Die Eltern haben abgenickt: alt genug sind die Jungs, um auf sich aufpassen zu können. Sollen sie ihren Spaß haben.

Und das haben sie. Gut gelaunt und voller Euphorie starten sie also an diesem Freitagmittag, dem 17. Mai, kurz nach Schulschluss. Erst bergauf nach Possendorf. Dann wird es bequemer, den Berg wieder runter nach Freital, durch die Stadt hindurch weiter nach Tharandt auf dem neu gebauten Radweg und dann den steilen Berg hinauf nach Hartha. Es sind nur ein paar Kilometer. Aber die haben es in sich. Und so wird am Eingang des Forstbotanischen Gartens erst einmal eine Rast eingelegt. Mit weniger Proviant radelt es sich leichter. Und so weit ist es ja nicht mehr. Der Tharandter Wald liegt vor ihnen. Nur noch durch Hartha hindurch in den Wald hinein. Ein wenig bergauf – die restliche Strecke fährt sich auf dem breiten Waldweg wie von allein. Schon bald ist ihr Ziel erreicht. Tief inmitten des Waldes befindet sich der alte Porphyr Steinbruch, ein wild romantischer Basaltbruch am sogenannten Ascherhübel. Basaltsäulen inmitten hoher, dunkler Bäume. Am Rande dieses Naturdenkmals: das Hexenhäusel, eine kleine Schutzhütte und ehemals Rückzugsort des Sprengmeisters, als dort vor Jahrzehnten der Basalt gebrochen wurde.

Die Jungen staunen. Ja, so soll es sein. Ein paar Tage die Wildnis pur erleben. Weg von der Zivilisation. Obwohl diese ja nur wenige Meter entfernt ist. Aber hier merkt man davon nichts. Die Fahrräder sind schnell abgeladen, ein paar kleine Zelte aufgebaut. Ob man hier überhaupt zelten darf? Sicher nicht. Die Clubmitglieder haben sich darüber keine Gedanken gemacht. Auch jetzt ist ihnen das egal. Sie sind ja für sich im großen Wald- wen sollten sie schon stören? Dass sie einen Campinggrill dabei haben, macht ihnen schon etwas mehr Kopfzerbrechen. „Offenes Feuer ist doch sicherlich verboten, hier im Wald?“ Nils, mit seinen 16 Jahren der jüngste von ihnen, ist auch der ängstlichste und wird von Tobias auch gleich zurechtgewiesen: „Du warst doch die ganze Zeit dabei, als wir den Ausflug geplant haben. Mit Würstchen grillen, zelten und toben im Wald. Nächtigen unter freiem Himmel. Sterne beobachten und Tiere belauschen. Wenn du Angst hast, hättest du ja nicht mitkommen müssen. Außerdem sind wir vorsichtig. Es kann nichts passieren. Ingolf hat sogar den Feuerlöscher aus dem Auto seines Vaters mitgenommen- für alle Fälle. Und unbeaufsichtigt lassen wir den Grill ja auch nicht brennen. Außerdem ist der Waldboden noch feucht vom vergangenen Winter.“ Die anderen nicken zustimmend, so dass Nils keine Anstalten macht, weitere Bedenken zu äußern. Es stimmt ja, sie haben alles vorher geplant. Und auch er war mit Elan an der Planung beteiligt gewesen.

Die Bedenken sind zerstreut, ihr Abenteuerwochenende kann beginnen. Erst einmal anstoßen auf das, was vor ihnen liegt. Und sie merken, dass Fahrradfahren hungrig macht. Und was liegt näher, als dass man dem Grill seine Feuertaufe bestehen lässt. „Ich besorge noch etwas trockenes Reisig,“ ruft Renato, mit 19 Jahren der älteste und Leiter der kleinen Gruppe, seinen Kumpels zu und strebt auch spontan auf ein kleines Tannendickicht zu, das sich hinter dem Hexenhäusl bergauf bis zum Rand des Basaltbruches erstreckt. Die anderen sind emsig damit beschäftigt, den Platz vor dem kleinen Steinhaus wohnlich zu gestalten. Sie kramen handliche Klappstühle aus den Satteltaschen ihrer Fahrräder hervor, Töpfe, Geschirr und beginnen, die mitgebrachten Lebensmittel zu sichten. Niemand stört sie bei ihren Vorbereitungen in der Stille des Waldes.

Doch dann dieser markerschütternde Schrei von Renato. Er kommt aus dem Dickicht hervorgestürmt, aschfahl im Gesicht, mit angstgeweiteten Augen. Schweiß steht ihm auf der Stirn und er fuchtelt mit seinen Armen unkoordiniert in der Luft herum. Erst ist es nur ein Stammeln, unverständliche Laute, die er von sich gibt. Erst als die anderen auf ihn einreden und ihn auffordern, sich doch mal etwas klarer auszudrücken, fällt die Anspannung ein wenig von ihm ab. Er beugt sich nieder, atmet tief durch und dann bricht es aus ihm raus: „ Da hinten, keine 50 Meter von hier entfernt“, stammelt er mit immer noch angstgeweiteten Augen, „ da liegt einer unter dem Laub. Ganz offensichtlich ein toter Mensch“.- Pause- und absolute Ruhe bei den sichtlich verstörten Jungs, ehe Renato fortfährt: „Ich habe zwei Beine gesehen und zwei Arme, die nur ein wenig mit Reisig bedeckt sind. Es ist…. es ist grausig, einfach nur grausig und furchtbar.“

Renato kniet am Boden, die Hände bedecken sein Gesicht. Er zittert am ganzen Körper. Die Jungen stehen schweigend um ihn herum. Was sollen sie tun? So haben sie sich ihr Abenteuerwochenende nicht vorgestellt. Jens ist der Erste, der seine Sprache wiederfindet: „Kommt mit, wir müssen uns das ansehen. Danach entscheiden wir, was zu tun ist.“

Ganz langsam, mit schleppenden Schritten, voller Unbehagen vor dem, was sie zu erwarten fürchten, folgen die fünf Gefährten Renato in den Wald hinein. Die kurze Wegstrecke über den laubbedeckten und mit Ästen und Reisig übersäten Boden kommt ihnen unendlich lang vor. Sie zittern vor Furcht und vor dem, was sie erwartet. Schließlich bleibt Renato stehen und streckt seinen rechten Arm aus in Richtung eines kleinen Gebüschs. Mit angstgeweiteten Augen folgen die Jungs Renatos Arm.

Was sie zu sehen bekommen, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Tatsächlich, vor ihnen im Gebüsch sehen sie in dem blätterüberfluteten Boden zwei Füße, ganz zweifellos menschliche Füße, mit Schuhen, und mit Erde beschmiert. Man sieht noch Stoffreste, die sich im Laub verirren. Sonst nichts. Der Rest ist mit Blättern und Laub bedeckt und verwehrt jeden weiteren Blick auf die offensichtlich vor ihnen liegende Leiche. Doch allein dieser Anblick reicht aus, um bei den Jungen Panik auszulösen. Einen kurzen Moment verharren sie noch in Schockstarre. Dann laufen sie laut kreischend sie durchs Unterholz zurück zum Hexenhäusel.

„Wir müssen die Polizei benachrichtigen.“ Markus ist der Erste, der seine Sprache wiederfindet. „Auf keinen Fall, die würden doch sofort sehen, dass wir hier im Wald Feuer gemacht haben. Wir müssen erst unsere Sachen wegräumen, sonst bekommen wir noch Ärger-“ fällt ihm Tobias, der es gewöhnlich mit dem Einhalten von Vorschriften nicht so ernst nimmt, ins Wort. Es scheint, dass Renato sich inzwischen halbwegs beruhigt hat und sich seiner Verpflichtung als Gruppenältester bewusst geworden ist: „ Es hat keinen Sinn,“ sagt er und versucht, dabei sehr bestimmt zu wirken, „natürlich müssen wir die Polizei rufen. Die wird wichtigere Dinge zu klären haben, als sich um unser Zeltlager zu kümmern. Ich rufe jetzt die Polizei an. Renato fingert sein Handy aus der Brusttasche seiner Jacke, während die anderen Jungs ihm, teils zustimmend nickend, dabei zusehen. Er wählt die 110 und hat offensichtlich sofort eine Verbindung. Mit klaren und präzisen Worten schildert er seinem unbekannten Gesprächspartner die Situation und beschreibt die Stelle, wo sie sich gerade befinden. Dann beendet er das Gespräch, holt sich eine Flasche Bier, öffnet diese und setzt sich vor dem Hexenhäusel auf den Boden: “Jungs, die Polizei wird gleich hier sein. Wir müssen stark sein und dürfen nicht den Kopf verlieren. Wir sollen alles so lassen, wie es ist und nichts verändern. Und wir sollen vor allem hier bleiben, bis die Beamten kommen.“ Sagt es, setzt die Flasche an und trinkt sie in einem Zuge aus.

Die Jungen harren aus. Schweigend. Und wirklich, es dauert nicht sehr lange, da hören sie die Martinshörner der Streifenwagen, die sich auf dem Waldweg dem Hexenhäusel nähern. Soweit es möglich ist auf dem zerfurchten Waldweg, fahren die Polizisten mit ihren Streifenwagen in das Gelände hinein und erreichen die deprimierten Jugendlichen. Wie Renato es vorausgesehen hat, haben die Beamten keine Augen für das Camp der Gruppe. Sie versuchen, die verstörten Jungen zu beruhigen und bitten dann Renato, ihnen die Fundstelle der vermeintlichen Leiche zu zeigen. Auch sie erschauern vor dem Anblick, der sich ihnen bietet. Ganz offensichtlich : eine Leiche im Tharandter Wald. Es stimmt also, was die Jungen mitgeteilt haben. Die Fundstelle spricht nicht dafür, dass es sich um einen Unfall handelt. Und der Umstand, dass der Körper offenbar unter Laub verborgen werden sollte, deutet auch nicht gerade darauf hin, dass es sich um eine Selbsttötung handeln könnte.

Die Beamten sind erst verunsichert, kommen dann aber zu dem Entschluss, dass hier ihre Kompetenzen für weitere Untersuchungen nicht gegeben sind. Ein Beamter geht zurück zum Streifenwagen und informiert die Einsatzzentrale. Die anderen lassen sich von den Jungen die Einzelheiten des Fundes schildern, nehmen routinemäßig schon einmal die Personalien der sechs Gefährten auf und bitten die kleine Gruppe, vorsichtshalber hier vor Ort zu bleiben, bis die Kriminaltechnik eingetroffen ist. Die Kollegen von der Kripo aus Dresden müssen entscheiden, wie es weiter geht mit diesem Fall.

Die Ermittlungen beginnen

Hans Nagel ist eine imposante Persönlichkeit, ein Baum von einem Mann, kräftig und doch sportlich drahtig. Seit vielen Jahren ist er schon als Hauptkommissar in der Kriminalpolizeiinspektion tätig, im Dezernat 1, das auch für Gewalt- und Tötungsdelikte zuständig ist für Dresden und die angrenzenden Landkreise, zu denen auch der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gehört, in dem sich der Tharandter Wald befindet. Er hat seinen Beruf von der Pike auf gelernt und ist auch jetzt noch Polizist mit Begeisterung. Nur heute, an diesem Freitagabend – nicht. Denn sein Lieblingsfußballverein Dynamo Dresden hat heute Abend ein Heimspiel. Und genauso wie er Kriminaler mit Leib und Seele ist, ist er auch Fan seines Vereines, der gerade jetzt in der Endphase der Spielsaison sehr um den Aufstieg in die 2. Bundesliga kämpfen muss. Er hätte ihn liebend gern unterstützt- zumindest durch seine Anwesenheit und Anfeuerungsrufe. Aber der Beruf geht nun einmal vor. Und der verlangt von ihm, dass er sich unverzüglich mit seinem Assistenten, dem Kommissaranwärter Eike Wertenberg in den Tharandter Wald begeben muss. Dort habe man eine Leiche gefunden - so die knappe Notiz, die man ihm als dringlich auf den Schreibtisch gelegt hatte - und alle Umstände sprächen dafür, dass es sich nicht um eine natürliche Todesursache handele.

Die Spurensicherung sowie die Kriminaltechniker und ein Rechtsmediziner sind schon unterwegs zum Fundort, der sich ca. 25 KM südwestlich der Stadtmitte Dresdens inmitten des Tharandter Waldes befindet. Hans Nagel hat keine Wahl. Ausgerechnet am Wochenende muss das passieren: ein neuer Fall, für den er zuständig ist. Knapp informiert er seinen Kollegen über die ihm mitgeteilten Fakten. Dann brechen auch sie auf. Dynamo Dresden muss heute Abend auf die Anfeuerungsrufe von Hans Nagel verzichten.

Am Ort des Geschehens angekommen, begrüßen Hans Nagel und sein Begleiter Eike Wertenberg zunächst den Leiter des kriminaltechnischen Dienstes, Oberkommissar Erwin Schade, ein seit vielen Jahren vertrauter und auch sehr kompetenter Kollege des mit den Ermittlungen beauftragten Hauptkommissars. Nagel kann nicht anders, er muss ein wenig innerlich schmunzeln, immer dann, wenn er auf Erwin Schade trifft. Obwohl auch dieser Mitfünfziger ist, wie er selbst, wirkt er mit seinen in die Stirn gekämmten noch vollen schwarzen Haaren, mit seiner zu groß geratenen altmodischen Hornbrille und seinen einerseits intellektuellen, andererseits aber durchaus verschmitzten Gesichtszügen nicht nur sehr viel jünger, als er tatsächlich ist. Er verbreitet vielmehr auch das Flair eines etwas tollpatschigen, schelmenhaften großen Jungen. „Unser Harry Potter der Kriminalistik,“ pflegt Hans Nagel bisweilen anzumerken, wenn er über Erwin Schade spricht. Und das nicht zu Unrecht. Denn all die Dinge, die der Kriminaltechniker bei seinen Untersuchungen bisweilen zu Tage fördert, grenzen in den Augen der übrigen Kollegen nicht selten an Hexerei. Und auch jetzt zeigt Erwin Schade sich wieder einmal voll in seinem Element und kann bereits erstaunliche Erkenntnisse präsentieren, obwohl er nicht wesentlich früher als Nagel und Wertenberg am Fundort der Leiche eingetroffen sein kann mit seinem Team sowie auch dem sehr erfahrenen Gerichtsmediziner Dr. Klaus Bauer vom Dresdner Universitätsklinikum. Die Mediziner sind ganz offensichtlich voll bei der Sache und wuseln im Wald herum mit ihrer sterilen Plastikmontur.

Schade geleitet den Hauptkommissar zum Fundort der Leiche. Diese liegt noch, wie von den Jungs vorgefunden, auf dem Boden; inzwischen allerdings vom Laub und Reisig befreit. Die übrigen Beamten untersuchen den Boden, markieren die eine oder andere Stelle, machen Fotos, stellen Messungen an und durchforsten das angrenzende Gelände, während der Chef der Spurensicherung einen ersten Bericht abgibt: „Also, Hans, nicht zu verkennen: es handelt sich bei dem Toten um einen Mann. Alter etwa Mitte fünfzig. Augenscheinlich Mitteleuropäer. Todesursache dürften nach Auffassung Bauers Stichverletzungen ins Herz sein. Ob mittels eines Messers oder eines anderen scharfen Gegenstandes, muss die Obduktion ergeben. Auch der genaue Todeszeitpunkt steht noch nicht fest. Allzulange lag der Tote jedenfalls noch nicht im Wald, da die Verwesungsspuren noch nicht so ausgeprägt sind. Auch das Ungeziefer und die possierlichen Tierchen des Waldbodens, also die Maden und Würmer, Aaskäfer und Schmeißfliegen sind gerade erst dabei, es sich in den Körperöffnungen ihres neuen Zuhauses bequem zu machen“. Erwin Schades Gesicht zeigt trotz des traurigen Anlasses Anzeichen eines leicht makabren Schmunzelnsso ist Erwin Schade, wie man ihn kennt- geprägt durch eine lange, nicht immer einfach zu ertragende, berufliche Tätigkeit: „Maximal eine Woche, eher etwas weniger. Und – das erscheint mir sehr wichtig – er muss hier umgebracht worden sein, da im Umkreis des Tatorts Reste von Blutspuren gefunden wurden. Ob vom Opfer oder vielleicht sogar vom Täter, weiß ich noch nicht. Auch hier muss Dr. Bauer noch genau untersuchen. Vielleicht hat es ja einen Kampf gegeben, zumal am Hemd des Toten einige Knöpfe fehlen. Einen Hinweis auf die Identität des Opfers gibt es allerdings nicht. Mantel oder Jacke mit persönlichen Papieren, Schlüsseln oder einem Handy fehlen. Alles, was auf die Person des Opfers hinweisen könnte, muss der Täter mitgenommen oder vernichtet haben. Ob es noch weitere Spuren gibt, an der Kleidung zum Beispiel, untersuchen wir noch.“

Hans Nagel bedankt sich für diese erste Einschätzung, betrachtet noch einmal die vor ihm liegende Leiche eindringlich und geht dann in Gedanken versunken in Richtung des Hexenhäusels, während sein Kollege die Spurensuche am Fundort der Leiche weiter verfolgt.

Am Hexenhäusel harren noch immer die Mitglieder des Kreischaer Jugendclubs aus. Ihre Zelte haben sie inzwischen abgebaut und ihre Fahrräder wieder beladen. Ein weiterer Aufenthalt an dieser Stelle und auch noch über Nacht ist selbstverständlich kein Thema mehr. Andererseits haben sie sich weitgehend gefasst und interessiert die Ermittlungstätigkeit der Polizei beobachtet. Bisher kannten sie so etwas nur aus den Krimis im Fernsehen. Aber die Realität ist doch etwas anderes. Mitten drin zu sein in einer Mordermittlung und einen echten Toten zu Gesicht zu bekommen: das ist nicht nur wahnsinnig aufregend, sondern wird noch für viel Gesprächsstoff in der Schule und im Freundeskreis sorgen.

Hans Nagel setzt sich zu den Jungs, befragt sie noch einmal, wie es zum Auffinden des Toten gekommen ist und bohrt weiter nach: haben sie etwas anderes gefunden im Wald oder am Hexenhäusl, etwas, das dort nicht hingehört? Ist ihnen vielleicht irgendetwas Unnormales aufgefallen, etwas verdächtig vorgekommen? Haben sie den Toten schon einmal gesehen? Haben sie irgendwelche Spuren in der Nähe des vermutlichen Tatorts bemerkt? Die Jungen verneinen alle Fragen. Für Hans Nagel ist hier also kein Weiterkommen. Er bohrt nach, stellt weitere Fragen, um festzustellen, ob die Jungen psychisch in der Lage sind, alleine die Rückfahrt nach Hause antreten zu können. Als er sich davon überzeugt hat, bedankt er sich und händigt den Jungs seine Karte aus. Er stehe jederzeit zur Verfügung, falls es Probleme gäbe oder falls ihnen doch noch etwas einfallen sollte, was für die Ermittlungen von Belang sein könnte. Sicherlich werde er mit ihnen noch einmal Kontakt aufnehmen müssen. Jetzt aber sollten sie erst einmal nach Hause fahren und zur Ruhe kommen- wenn das für sie überhaupt möglich ist nach einem derart einschneidendem Erlebnis. Er klopft ihnen noch einmal auf die Schultern, wünscht ihnen viel Kraft in der nächsten Zeit und verabschiedet sie dann. Man wird sich sicherlich noch einmal Wiedersehen im Laufe der weiteren Ermittlungen.

Nagel selbst informiert sich noch einmal bei der Spurensicherung, ob es inzwischen weitere Erkenntnisse gegeben hat, ob den Beamten noch irgendetwas aufgefallen ist. Erwin Schade zuckt mit den Schultern: „Nein, nichts, das ich dem Tatgeschehen zuschreiben könnte. Ein Stück Baumrinde ist uns allerdings ziemlich merkwürdig vorgekommen. Es lag fast in Nähe des Toten und machte den Eindruck, als sei es irgendwie gestaltet worden- drapiert mit ein paar Blumen, einem Blatt, das wie ein Segel aussieht. Eine Arche? Kann Zufall sein, vielleicht einfach nur vom Wind so zusammengeweht. Eine Laune der Natur? Vielleicht auch nicht. Wir haben es vorsichtshalber fotografiert und sichergestellt. Ich glaube aber nicht, dass es irgendeine Bedeutung hat.“

Hans Nagel nickt, bittet seinen Kollegen aber gleichzeitig, das Fundstück genetisch untersuchen zu lassen. Man kann ja nicht wissen und man will sich ja kein Versäumnis nachsagen lassen. Und Fotos vom Toten brauche er. Auch von diesem merkwürdigen Blatt- und überhaupt, vom ganzen vermutlichen Tatort und seiner Umgebung. Möglichst bald. „ Am besten schon vorgestern,“ lacht er. „Ich kann ja nicht ermitteln, wenn ich nichts in der Hand habe. Und zum Glück musst du ja heutzutage die Bilder nicht mehr langwierig entwickeln, obwohl ich glaube, du würdest auch das schaffen.“ Auch Schade lacht und versichert ihm schnellste Zuarbeit. Dann verabschiedet sich Hans Nagel von Schade mit Handschlag und der Versicherung, dass man sich in nächster Zeit sehr häufig begegnen werde- nicht nur in der Kantine des Polizeipräsidiums. Zurück geht es ins Präsidium. „Dynamo wäre mir jetzt lieber,“ denkt Nagel bei sich und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen – ist vielleicht aber besser so…. fürs Wohlbefinden.

Wer ist der Tote

Freitagabend im Polizeipräsidium. Nur wenige Fenster des stattlichen Gebäudes an der Schießgasse sind noch erleuchtet. Zwei davon gehören zum Büro von Hans Nagel, der zusammen mit Eike Wertenberg vor dem großen Eichenschreibtisch sitzt, der einen Großteil des Büros ausfüllt. Ein altes Möbelstück, das den Hauptkommissar schon seit Jahrzehnten begleitet und das bisher jede Büroerneuerung überstanden hat. „An diesem Schreibtisch lässt sich am besten denken und kombinieren, hier sind schon die denkwürdigsten Verbrechen aufgeklärt worden. Dieser Schreibtisch denkt quasi mit“, pflegt Nagel zu sagen, wenn man ihm – was in regelmäßigen Abständen der Fall ist- modernere und praktischere Büromöbel andient.