Der Tod, der mal vom Leben träumte - Lisa Maria Olszakiewiecz - E-Book

Der Tod, der mal vom Leben träumte E-Book

Lisa Maria Olszakiewiecz

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Beschreibung

Der Tod ist kein Schicksalsschlag, sondern das Werk eines uralten Kollektivs. Im Namen dessen tötet Nepomuk Menschen, deren Zeit gekommen ist. Als gelangweilter Unsterblicher hat er für die Bedürfnisse seiner Opfer nur zynische Kommentare übrig. Seine Welt wird jedoch völlig auf den Kopf gestellt, als er eines Tages Isabel trifft, eine Frau, die ihm die wunderbaren Seiten der menschlichen Welt zeigt. Doch schon bald ist das Glück der beiden in Gefahr, denn das Kollektiv duldet keine Verbindungen zwischen Todesdienern und Sterblichen. Für Nepomuk beginnt ein schmerzhafter Kampf gegen seine Gefühle und die verzweifelte Suche nach einem Ausweg.

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Kapitel 1
Die Kunst zu sterben
Kapitel 2
Knubbel im Kopf
Kapitel 3
Das Kollektiv
Kapitel 4
Die schlimmste Krankheit
Kapitel 5
Ein bisschen sexy
und dabei unglaublich süß
Kapitel 6
Herzlich willkommen wäre übertrieben
Kapitel 7
Nachhilfe und Salmonellen
Kapitel 8
Sieg nach Punkten
Kapitel 9
Herz aus Watte
Kapitel 10
Schwellungen an komischen Stellen
Kapitel 11
Ein kleiner Tod
Kapitel 12
Gleis drei
Kapitel 13
Die Macht der Wut
Kapitel 14
Falscher Hase
Kapitel 15
Pusteblumen
Kapitel 16
Im Loch der Wespe
Kapitel 17
Vom Wal verschluckt
Kapitel 18
Sturm auf die Bazille
Kapitel 19
Aufstand und Wandel
Kapitel 20
Leeres Blut
Kapitel 21
Der Herr über Leben und Tod
Kapitel 22
Ich habe noch nie
Kapitel 23
Kinder der Leere
Kapitel 24
Schisser
Kapitel 25
Tornado der Leere
Kapitel 26
Wie der Tod zum ersten Mal starb
Kapitel 27
Die Saat des Lebens
Kapitel 28
Stirb wohl
Epilog
DIE AUTORIN
DANKSAGUNG

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

05/2022 1. Auflage

 

Der Tod, der mal vom Leben träumte

 

© by Lisa Maria Olszakiewiecz

© by Weltenbaum Verlag

Rathausstr.3

79588 Efringen-Kirchen

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Magicalcover

Lektorat/Korrektorat: G. Hoffmann

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Marvin Ruppert

 

 

ISBN 978-3-949640-23-0

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Printed in Germany

 

 

Lisa Maria Olszakiewiecz

 

 

Der Tod,

der mal

vom

Leben träumte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"There is love in holding

and there is love in letting go."

 

(Elizabeth Berg)

Kapitel 1

Die Kunst zu sterben

 

Die Menschen denken, wenn sie sterben, fallen sie einfach um und dann wird es dunkel. Aber das passiert den wenigsten. Für die meisten kommt der Tod langsam. Ich lasse mir gerne Zeit für meine Arbeit – manchmal zu viel. Ganz sicher ließ ich mir bei Inge zu viel Zeit. Inge lag auf ihrem Bett und wartete. Sie wartete schon so lange, dass ihre Haut bereits farblich mit den verwaschenen Kissenbezügen verschmolz. Ihr Blick klebte an einem Spinnennetz unter der hellblau gestrichenen Decke des Krankenzimmers. Sie zuckte nicht einmal, als ich eintrat.

»Morgen!«, sagte ich. Bewusst verzichtete ich auf den Zusatz »guten«. Sie verdiente keinen Hohn. Im Gegensatz zu den anderen Krankenpflegern, die sich stets darum bemühten, mehr Lebensfreude zu versprühen als sie besaßen, wollte ich ihr den Respekt erweisen, den sie verdiente. Ihre Augenlider zuckten, als ich ans Bett trat und die Beatmungsmaschine überprüfte. Der Schlauch in ihrer Luftröhre hatte ihre Stimme verstummen lassen. Aber ich brauchte keine Worte, um sie zu verstehen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen erzählten die Geschichte ihres Lebens wie die Jahresringe eines Baumes.

Eine Kindheit, überschattet vom Krieg und vom Tod ihrer Eltern. Die Flucht aus der Heimat, ein Neuanfang in der Fremde und die Ausbildung in der Schwesternschule einer Stadtklinik, wo niemand zu viele Fragen über ihre Herkunft stellte. Dort lernte Inge nicht nur die Kunst der Krankenpflege, sondern auch einen Sanitäter namens Hansi kennen. Und da sie beide die Einsamkeit und eine Vorliebe für Zigaretten teilten, lag es nah, ihre zwei Leben zusammenzuführen. Inge bekam ihre ersten Lachfalten, von dem Kichern, das sie vergeblich unterdrückte, wenn Hansi sich heimlich an der Aufseherin des Schwesterwohnheims vorbei in ihr Zimmer schlich. Diesen ersten Glücksgefühlen folgten weitere: die intime Hochzeitsfeier in der kleinen Waldkapelle, die Flitterwochen in der Lüneburger Heide, der Umzug in die gemeinsame Wohnung. Die Geburt des Sohnes, dicht gefolgt von der der Tochter. Hansis Beförderung zum Leiter der örtlichen Rettungsstelle. Ein Leben wie ein Teller Milchnudeln: nichts Exquisites, aber immer warm und sättigend. Zwanzig Jahre lang wünschte sich Inge nichts weiter, als dass alles so bliebe, wie es war. Hüten Sie sich davor, Wünsche zu haben: Das Leben kann und wird sie gegen Sie verwenden. Und so änderte sich Inges Welt mit einem Schlag.

»Junge Junge, die gute Inge quatscht einem ja heute wieder ein Ohr ab«, sagte Typhus, der auf meiner Schulter hockte. Ich gab ihm ein Zeichen, den Mund zu halten. Normalerweise fand ich seinen Sarkasmus unterhaltsam, doch in Inges Gegenwart schien er mir respektlos – auch wenn sie ihn gar nicht hören konnte. Bakterien haben so dünne Stimmen, dass sie das menschliche Ohr gar nicht erreichen.

Typhus rollte die Augen. »Im Ernst, warum kommen wir jeden Tag hierher? Mit der ist noch weniger los als mit den Jungs und Mädels im Kühlhaus.«

Ich ignorierte ihn. Die Gardinenschienen quietschten, als ich die beigefarbenen Vorhänge beiseitezog. Sonnenstrahlen verdrängten die schummrige Dunkelheit des Zimmers.

»Soll ich dein Bett ans Fenster schieben, damit du dir den Park anschauen kannst?«, fragte ich Inge, während ich durch die steril geputzte Scheibe auf die morgenfeuchte Grünanlage blickte. Zwischen Dönerpapier und zerbrochenen Bierflaschen waren ein paar Krokusse erblüht. Ein zotteliger Hund pinkelte darauf, bevor er sein schläfrig wirkendes Herrchen am anderen Ende der Leine zum nächsten Baum schleifte. In der Ferne erstreckte sich ein See, der keinen Namen trug, und deswegen von allen nur »der große Teich« genannt wurde.

Ich wandte mich Inge zu, deren Blick immer noch an der Zimmerdecke klebte. Der Luftschlauch in ihrem Rachen verursachte röchelnde Geräusche. Nur ein feines Ohr konnte die Worte darin hören. Mein Hansi hat immer gerne am Fenster gesessen. Morgens haben wir zusammen am Küchenfenster geraucht und auf die Straße geschaut. Ein weiteres Atemgeräusch – dieses Mal lang und gedehnt. Ich möchte zu ihm.

Zum ersten Mal blitzte in ihren Augen etwas auf, das die gähnende Leere zerriss – eine dünne Mischung aus Sehnsucht und Hass. Beides schien ihr genug Kraft zu geben, um ihren Kopf ein wenig zu drehen. Ihr Blick wanderte hin zum Schlauch, der sie wie eine Fessel mit dem Leben verband. Eine Verbindung, um die die Ärzte dieser Klinik hart kämpfen mussten. Nach jedem gewonnen Duell mit Inges Krankheit klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern und sprachen von einem Erfolg.

Inge sah mich an. Ein tiefer Atemzug. Warum lässt du mich nicht zu ihm?

Typhus stöhnte. »Ich korrigiere mich: Die Jungs und Mädels im Kühlhaus sind pures Adrenalin im Vergleich zu ihr.«

Ich tat, als hätte ich beide nicht gehört, und zog die gestrige Ausgabe des Stadtkuriers aus der Tasche meines Kasaks.

»Ich habe hier etwas, was du bestimmt sehen möchtest.«

Ihr Blick wanderte wieder zur Decke, während ich im Lokalteil nach der Seite suchte.

»Du hast mir doch erzählt, dass dein Enkelsohn Julian Gedichte schreibt, nicht wahr?«

Sie hatte nie davon gesprochen. Aber ich konnte ja schlecht zugeben, dass ich mich gelegentlich in ihrer Wohnung umsah – erfahrungsgemäß reagieren Menschen empfindlich darauf.

Endlich fand ich den Bericht über Julian.

»Er hat einen Wettbewerb gewonnen. In der Zeitung ist ein Interview mit ihm erschienen – mit Foto, schau her.«

Ich faltete die Zeitung und hielt ihr den bebilderten Artikel so hin, dass sie den Enkel anschauen konnte.

Typhus gluckste.

»Gib den grauen Zellen eine Pause, Nepomuk. Wie soll sie sich denn noch an den erinnern?«

Ohne ihn zu beachten, gab ich Inge Zeit, das Foto anzusehen. Doch ich wusste, dass Typhus Recht hatte.

Inge sprach ihre Enkel seltener als den Schornsteinfeger. Letzterer schickte ihr zumindest eine gelegentliche Grußkarte.

Pünktlich zu ihrem achtzehnten Geburtstag hatten Inges Kinder das Elternhaus verlassen. Sie zogen in andere Städte, wo ein Studium und das Versprechen nach Freiheit lockten. Ein Jahr später kehrten sie zurück, um ihren Vater zu beerdigen und ihre Mutter zu umarmen. Dann verschwanden sie wieder in die fremden Städte, die sie jetzt ihr Zuhause nannten, um sich dort zu verlieben und Familien zu gründen. Inge blieb alleine zurück, in einer Wohnung voller Tabakrückstände und Traurigkeit. Sie saß auf ihrem Sofa und rauchte, bis der blaue Dunst Hansis Gesicht in die Luft zeichnete. Einmal im Monat lüftete sie, wenn ihre Kinder mit den Enkeln zu Besuch kamen. Die monatlichen Stippvisiten wurden zu halbjährlichen, zu weihnachtlichen und schließlich zu »Wir können leider nicht mehr kommen, Mama. Die Rauchrückstände in deiner Wohnung sind Gift für die Kinder. Das verstehst du doch sicher, nicht wahr?«

Sie sei aber bei ihnen jederzeit herzlich willkommen, hieß es am Telefon.

Inge versprach, sie bald zu besuchen und versicherte, dass es ihr gut ginge. Zwei Lügen in einem Satz. Sie litt an einer chronischen Lungenerkrankung und konnte kaum zwei Schritte gehen, bevor sie Atemnot bekam. Der Arzt riet ihr, eine Reha mit Lungensport und Rauchentwöhnung zu beantragen. Doch ihr leuchtete nicht ein, wie sie mit einer kollabierenden Lunge Sport treiben solle. Und so blieb Inge auf ihrem Sofa und versuchte, eine Position zu finden, in der sowohl das Atmen als auch das Existieren sie weniger anstrengten.

Sie ignorierte die Zeitung nun schon so lange, dass ich mir albern vorkam. Ich ließ das Blatt sinken, als sie plötzlich ihre Hand ausstreckte. Doch anstelle des Stadtkuriers packte sie meinen Arm. Eine Sekunde lang erstarrte ich, war überrascht von der Kraft in ihrem ausgezehrten Körper. Wieder sah ich die Sehnsucht in ihren Augen und noch etwas anderes: Entschlossenheit. Sie durchschaute mich längst.

Ihre zitternde Hand wies auf die Beatmungsmaschine neben dem Bett. »Bring mich zu ihm. Ich weiß, dass du es kannst.«

Wenn ich so etwas wie ein Herz besessen hätte, wäre es in diesem Moment weich geworden. Während Inge meine Hand hielt, spürte ich, mit welchem Widerwillen sie gegen jeden Atemzug, jeden Herzschlag ankämpfte. Das Leben kann ein Sadist sein und die Krönung seiner Folter ist, wenn es dich einfach nicht loslassen will – egal, wie sehr du es dir wünschst.

»Tu es endlich, Nepomuk. Ich erzähle es auch keinem«, flüsterte Typhus. Von seinem üblichen Sarkasmus fehlte jede Spur.

Ich wollte nichts lieber, als Inge zu helfen. Niemand würde es in Erstaunen versetzen, wenn ein Körper sein Leben aushauchte. Das Pflegepersonal steckte mitten in der Schichtübergabe, sodass sie mich nicht überraschen würden, wenn ich Inge auf ihre letzte Reise schickte. Ich müsste nur ihre Essenz an mich nehmen und verstecken, bis jemand danach fragen würde. Mit den Fingern der freien Hand streichelte ich Inges von Altersflecken übersäten Handrücken.

»Nicht heute, Inge. Nicht heute.«

Dann löste ich ihre Hand von meiner und verließ das Zimmer.

 

Womöglich halten sie mich nach dieser Ouvertüre für einen grausamen Menschen. Lassen Sie mich zwei Missverständnisse aufklären. Erstens ist Grausamkeit eine Frage der Perspektive und zweitens bin ich kein Mensch. Ich habe nicht einmal einen Körper. Die fleischliche Hülle, in die ich schlüpfe, um mich als Krankenpfleger durch die Klinik zu bewegen, gehört einem Sozialhilfeempfänger, den ich mir gelegentlich ausleihe, um meiner Arbeit nachzugehen. Was für eine Arbeit das sein soll, fragen Sie? Ich bin ein Todesdiener. Gevatter Tod, Freund Hein, Schlafes Bruder oder wie Ihresgleichen mich sonst nennen. Nein, denken sie jetzt bitte nicht an diese lächerliche Figur mit der dunklen Kapuzenrobe und der Sense, mit der Cartoonisten mich und meinesgleichen verballhornen. Glauben Sie, ich könnte meiner Arbeit diskret nachgehen, wenn ich in so einem Aufzug herumliefe? Das hat im Mittelalter funktioniert, als Menschen noch jeden übersinnlichen Hokuspokus glaubten. Heutzutage muss ich schon etwas professioneller auftreten. Und glauben Sie mir – das tue ich. Denn im Gegensatz zu vielen meiner dilettantischen Kollegen, die meist stümperhafte Arbeit abliefern, nehme ich mein Handwerk ernst. Sicherlich darf ich behaupten, dass ich ein Meister meines Faches bin. Sie glauben mir nicht? Dann begleiten Sie mich doch zu jemandem, der es ihnen bestätigen wird.

 

»Tragt mir bloß keine Sporen rein«, rief Helga, noch bevor wir den Obduktionsraum betreten konnten.

Gehorsam trat ich meine Schuhe auf der grauen Fußmatte ab, um die gelblichen Sporen von den Sohlen zu wischen. In spätestens einer halben Stunde würden sie wieder an mir kleben, doch ich wusste, dass Helga keinerlei Dreck in ihren Arbeitsräumen duldete.

»Eine Embolie? Nepomuk, soll das ein Witz sein?«, schimpfte sie weiter, während ich die Tür hinter mir schloss. Kopfschüttelnd reinigte Helga das Skalpell, an dem noch das Blut von der frisch geschnittenen Lunge klebte, und legte es – parallel zu den anderen chirurgischen Instrumenten – zurück auf das Tablett. Der Schnitt durch das Gewebe wirkte wie mit dem Lineal gezogen. Ich betrachtete die Schnittkanten an den Rippen der jungen Frau, die vor uns auf dem Seziertisch lag.

»Eine 25-Jährige, die aus heiterem Himmel an einer Thrombose verstirbt. Niemand wird mir diese Geschichte abkaufen.« Helgas Wangen leuchten so rot wie ihre Haare, deren grauen Ansatz sie regelmäßig beim Friseur nachfärben ließ. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie so penibel auf das Äußere ihres Wirtskörpers achtete. Ihre Klientel, mit der sie täglich verkehrte, interessierte sich nicht für ihr Aussehen – ein Umstand, um den ich sie durchaus beneidete.

Ich seufzte. Den Besuch bei Inge spürte ich noch wie eine kalte Hand im Nacken.

»Sagst du nicht immer selbst, dass jeder Mensch an allem sterben kann?«

Mit einem der anderen Skalpelle begann Helga, ein Stück Gewebe aus der Lunge herauszutrennen.

»Natürlich. Theoretisch kann ein Mensch auch beim Atmen sterben, wenn er eine große Fliege einatmet und daran erstickt. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass das einer jungen, gesunden Frau passiert?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wenn sie mit offenem Mund Fahrrad fährt …«

Ich duckte mich, um dem blutigen Stück Lunge auszuweichen, das Helga mir entgegenschleuderte. Es klatschte gegen die weiß geflieste Wand und glitt mit einem schmatzenden Geräusch zu Boden. Typhus rümpfte angewidert die Nase. Wenn es um die Arbeit ging, verstand Helga wirklich keinerlei Spaß. Genau deswegen war sie ja auch eine exzellente Qualitätsprüferin – penibel wie ihr schnurgerader Pony. Es verging kein Tag, an dem nicht mindestens ein schludriger Todesdiener einen deftigen Einlauf von ihr bekam. Ich bildete mir etwas darauf ein, nicht zu diesen Kollegen zu gehören. Also hob ich das Stück des Organs auf und trug es wie ein Friedensangebot zurück an den Seziertisch.

»Du solltest mich doch allmählich kennen. Du weißt, dass ich mich gerne kreativ auslebe.«

Helga verdrehte die Augen. »Du immer mit deiner Kreativität. Ein klassischer Verkehrsunfall ist wohl unter deinem Niveau.«

Ich nickte ernst. »Durchaus. Verkehrsunfälle sind für Amateure. Außerdem lassen sich dabei eventuelle Kollateralschäden nur schwer vorausberechnen.«

Helga nahm das Stück Lunge entgegen, trennte eine kleine Probe davon ab und legte diese in eine Petrischale.

»Ich bevorzuge praktische Lösungen. Die machen mir weniger Arbeit.« Sie schnaubte frustriert und ließ die restliche Lunge zurück in den Brustkorb gleiten. Ein wenig tat sie mir schon leid. Es gehörte zu ihren Aufgaben, einen Tod »natürlich« aussehen zu lassen – das bedeutete, sie musste eine Ursache dafür finden, die nach menschlichen Maßstäben als plausibel galt. Leider geschieht es viel zu oft, dass Todesdiener ihre besondere Sorgfaltspflicht nicht begriffen. Dann wird in der Zeitung von merkwürdigen Todesfällen berichtet, die unnötiges Aufsehen und Spekulationen erregen. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Fall eines jungen Mannes, der sich, beim Verdrehen des Kopfes nach einer attraktiven Frau, das Genick gebrochen hatte. Es kostete Helga ihre ganze Überredungskunst, die Gerichtsmediziner davon zu überzeugen, dass in diesem Fall keine übersinnlichen Kräfte gewirkt hatten. Die Menschen hielten den Tod für ein Schicksal und so sollte es bleiben. Wenn Helga mich kritisierte, diente das also dem Gemeinwohl der Welt – zumindest legten wir Todesdiener es so aus. Sie wandte sich wieder der jungen Frau auf dem Tisch zu.

»Nepomuk, du kannst nicht aus jedem Auftrag ein Kunstwerk machen. Es hat noch nie jemand eine Auszeichnung für kunstvolles Sterben gewonnen.«

»Ein unverzeihliches Versäumnis, wenn du mich fragst.« Ich grinste breit. »Denn du würdest ihn mir sofort verleihen, wenn ich dir erkläre, warum ich dieses Objekt genau so und nicht anders gestorben habe.«

Sie hob die Augenbrauen. »Na, dann lass mal hören.«

Widerwillig ließ sie zu, dass ich den Arm um sie legte. Ich wusste, dass allein die Vorstellung, ich könne ihren Kittel zerknittern, sie gerade in den Wahnsinn trieb, und dieser Gedanke bereitete mir wiederum große Freude.

Ich hätte nicht mehr als einen Arm gebraucht, um meine Freundin und Kollegin komplett zu umschlingen. Doch ich wollte nicht riskieren, das Ziel einer weiteren Organwurfattacke zu werden. Deshalb schob ich sie nur sanft zum Fußende des Tisches. Kalt und weiß lagen zwei lange, schlanke Beine vor uns. Am linken Knie klebte etwas geronnenes Blut. Für einen Moment bereute ich, mit dem Sterben dieser Frau nicht gewartet zu haben, bis sie ihre Beinrasur beendet hatte. Ich hasste es, meine Objekte zu beschädigen.

»Was siehst du, Helga?«

Sie rammte mir ihren Ellbogen in die Seite und ich ließ sie augenblicklich los.

»Hör auf mit dieser Sherlock-Holmes-Nummer und komm zum Punkt.«

Ich rieb meine schmerzende Seite. Nicht mal ein bisschen Spaß gönnte sie mir. »Schau dir ihre Beine genau an. Sind das für ihr Alter nicht auffällig viele Varizen?«

Helga runzelte die Stirn. »Ja und? Welche Frau hat heutzutage keine Krampfadern?«

Ich nickte. »Leider nur wenige. Diese ganzen Hormone, die sie schlucken und die ewige Sitzerei – es ist, als würden sie sich ihre Beine absichtlich ruinieren wollen. Aber dieses Objekt hier sei von diesem Verdacht freigesprochen, weil es eine angeborene Gerinnungsstörung hat.«

Helga riss die Augen auf. »Und das weißt du woher?«

Ich konnte mir ein weiteres Grinsen nicht verkneifen.

»Weil ich meine Auftragsobjekte gründlich recherchiere, bevor ich sie sterbe. Ich habe mehrere Telefonate des Objekts mit seiner Mutter belauscht. Diese wurde seit ihren Vierzigern aufgrund von Thrombosen wiederholt ins Krankenhaus eingeliefert. Im Schlafzimmer des Objekts stand außerdem ein Koffer, an dem ein Gepäckschein vom Flughafen klebte. Die junge Dame hier flog kürzlich für eine Geschäftsreise nach New York und wieder zurück – durch das lange Sitzen auf engem Raum verstopften sich ihre Venen mit mehreren Blutgerinnseln. Eines davon löste sich einige Tage später wieder – durch einen kleinen Schubser meinerseits – und wanderte durch ihre Blutbahn bis in die Lunge. Da hast du deine Embolie.«

Ich unterstrich meine Schlussworte mit einer triumphierenden Geste. Typhus applaudierte mir und Helga nickte widerwillig. Ich reichte ihr einen Zettel mit Namen und Telefonnummer der Eltern. »Ruf dort an, falls jemand an der Todesursache zweifelt und frag nach, ob in der Familie ein Faktor V Leiden vorliegt.«

Helga presste die Lippen zusammen. Doch sie konnte nicht verhindern, dass sich ein Hauch von Anerkennung auf ihrem Gesicht ausbreitete. Deshalb drehte sie sich von mir weg, beugte sich über ihren Schreibtisch und tat so, als würde sie etwas Wichtiges in ihren Computer eingeben.

Plötzlich ertönte ein lautes Brummen. Helga zuckte zusammen und tastete hektisch nach dem vibrierenden Smartphone, das neben ihr auf dem Schreibtisch lag. Sie bekam es nicht richtig zu fassen und das Gerät glitt über die Tischkante. Rasch trat ich vor und fing es auf, bevor es auf dem Boden aufschlug.

Ich wollte es Helga gerade überreichen, als sie es mir auch schon aus der Hand riss. »Hey, gib das her!«

Ich schaute auf meine nun leere Hand.

»Danke, Nepomuk, dass du mein Smartphone gerettet hast. So eine Display-Reparatur ist echt teuer«, säuselte Typhus mit verstellter Stimme.

»Ja, danke«, erwiderte Helga und steckte das immer noch vibrierende Gerät in die Innentasche ihres weißen Kittels.

»Wer will dich denn sprechen?«, fragte Typhus, der das Wort Diskretion nicht kannte.

So schnell Helga ihre Fassung verloren hatte, so schnell hatte sie sie auch wiedererlangt. Nur die roten Flecken auf ihren Wangen verrieten, dass ihr Körper unter höchstem Stress stand. »Das geht dich nichts an. Seht zu, dass ihr Nervensägen Land gewinnt.«

Das taten wir, bevor sie noch etwas nach uns werfen konnte. Trotzdem hätte ich zu gerne gewusst, wessen Anruf sie vor mir verbarg.

Kapitel 2

Knubbel im Kopf

 

Die Frage nach dem geheimnisvollen Anrufer beschäftigte auch Typhus. »Du hättest ihr das Handy nicht sofort wiedergeben dürfen. Wie soll ich diese Ungewissheit jetzt ertragen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du wirst darüber hinwegkommen.«

Mein Ärger über Helgas Mangel an Anerkennung verdrängte die Neugierde über den mysteriösen Anrufer. Ich hielt diese Embolie für einen unglaublichen Geniestreich. Nicht jeder meisterte die Herausforderung, ein Blutgerinnsel bis in die engsten Kapillaren der Lunge zu lenken.

Der nächste Auftrag auf meiner heutigen Liste saß im Wartebereich der Notaufnahme: ein Anzugträger, der Chipskrümel direkt aus der Tüte in seinen Mund schüttete.

»Kinderspiel«, lautete Typhus‘ erste Einschätzung. »Mittleres Alter, mittleres Übergewicht. Job im mittleren Management bei einem großen Konzern, verheiratet, zwei Kinder. Familie mit klassischer Rollenverteilung. Er verdient die Brötchen. Sie arbeitet halbtags in einem unbedeutenden Büro, um den Schein ihrer Unabhängigkeit zu wahren, fühlt sich in der Rolle der Hausfrau und Mutter aber eigentlich zu wohl. Sie wohnen in einer Doppelhaushälfte am Stadtrand. Sein Lieblingsessen: Pommes und Currywurst. Hobby: Fußball – also Fußball anschauen im Fernsehen mit seinen zwei Kumpels und einem Kasten Bier. Leidet offensichtlich an Bluthochdruck und fortgeschrittener Arterienverkalkung. Da musst du nur mit dem Finger schnipsen.«

Wir standen im Raum hinter dem Empfangsschalter und schauten durch die zerkratzte Trennscheibe in den Wartebereich hinein. Ich blickte auf eine große Anzahl leerer Stuhlreihen. Der übliche Geruch von Schweiß und Ungeduld lag in der Luft. Nur eine Handvoll Menschen mit mehr oder weniger eingebildeten Leiden und deren Angehörige hockten auf den braunen Plastiksitzen. An einer der Wände hing ein eingeschalteter Fernseher. Niemand beachtete ihn, aber er strahlte unverdrossen die Bilder des gestrigen Fußballderbys in den Raum. Dazwischen liefen Kurznachrichten, ein Bericht über eine Schießerei im Ostviertel. Also im Wesentlichen dasselbe wie jeden Tag – langweilte es die Menschen eigentlich nicht, dass sich die Weltgeschichte ständig wiederholte?

»Hey Meister! Hast du mir überhaupt zugehört?« Typhus nörgelige Stimme riss mich aus meinen Gedanken zurück in die Gegenwart.

Ich vergaß den Fernseher und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Anzugträger. Kritisch begutachtete ich ihn, um Typhus‘ Aussage zu prüfen. Wir machten uns häufig ein Spiel daraus, die Lebensumstände meiner Objekte zu ergründen.

»Ich stimme dir zu, was Alter, Übergewicht und die anderen gesundheitlichen Mängel betrifft. Bei allen anderen Schlussfolgerungen hast du dich wieder einmal von deinen Vorurteilen leiten lassen, mein Freund.«

Typhus sah mich entrüstet an. »Das rätst du jetzt aber nur!«

Ich schüttelte den Kopf. »Sieh genau hin. In seinem Job scheint man Wert auf gute Kleidung zu legen, deshalb trägt er den Anzug. Doch das Hemd ist zerknittert, die Krawatte falsch gebunden und beides passt farblich überhaupt nicht zusammen. Eine liebende Ehefrau hätte ihn zumindest darauf hingewiesen – Emanzipation hin oder her. Da er trotzdem noch einen Ring trägt, tippe ich auf Trennung oder einen Status kurz davor. Was den Job betrifft: Die meisten Manager, die ich kenne, stecken den ganzen Tag in Meetings mit Kollegen und Kunden. Dementsprechend legen sie Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Ich schätze, unser Objekt hier arbeitet alleine, sonst hätte ihn längst jemand auf sein Äußeres angesprochen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er ist Immobilienmakler. Jedenfalls bewegt er nichts außer der Maus an seinem Computer. Das erklärt zumindest seine verkümmerte Muskulatur. Der Rundrücken deutet auf eine sitzende Tätigkeit hin. Die geröteten Augen verraten, dass er schlecht schläft und vermutlich viel zu viel arbeiten muss, damit sein Geschäft nicht bankrott geht. Dementsprechend fehlt ihm die Zeit für Hobbys und Freunde. Den Mangel an Energie bekämpft er dürftig mit Junk Food, was ihn letztlich aber noch mehr schwächt. Für relevante Lebensveränderungen fehlt ihm die Kraft und, seitdem seine Frau ihn verließ, wahrscheinlich auch der Wille. Aber da er die ganze Zeit an seinem Ehering dreht, könnte ich mir vorstellen, dass er hier auf seine Frau wartet. Vermutlich ist er immer noch als Notfallkontakt in ihrer Akte eingetragen. Kannst du mir folgen?«

Typhus brummelte einen unverständlichen Fluch, der nach widerwilliger Zustimmung klang. Wenn es darum ging, Menschenleben zu analysieren, gewann ich in der Regel. Nicht, dass man dafür ein besonderes Talent benötigte – die meisten sahen einfach nur nicht genau hin. Menschliche Lebensgeschichten laufen immer nach ähnlichem Muster ab. Am Anfang jagen die Menschen ihren Träumen hinterher und am Ende fragen sie sich, ob es nur Hirngespinste gewesen waren. Woher sollten sie auch wissen, dass der Inhalt ihrer Träume keinen Unterschied machte? Am Ende bereuen sie immer, die andere Seite der Geschichte nicht kennengelernt zu haben. Wenn Sie so viele Leben von außen betrachtet hätten wie ich, dann würden Sie sich fragen, warum alle so große Angst vor dem Sterben haben.

 

Wie Typhus schon sagte, war dieser Job ein Kinderspiel. Aber solche Aufgaben gehörten nun einmal auch zu meinen alltäglichen Pflichten. Zunächst mussten wir ihn jedoch aus dem Wartebereich herauslocken. Hier gab es zu viele Zeugen, die ihm zu Hilfe kommen konnten. Ich überlegte gerade, wie ich ihn in einen unbeobachteten Bereich der Klinik zwingen konnte, als er plötzlich aufstand. Mit hängenden Schultern schleppte er sich zum Mülleimer und warf die Chipstüte und die Getränkedose hinein. Ich dankte der Biologie dafür, dass koffeinhaltige Getränke den Harndrang erhöhen, denn das Objekt steuerte in Richtung der Toilette. Das gab mir die Gelegenheit, die ich brauchte.

Ich verließ meinen Beobachtungsposten und folgte dem Mann in den Waschraum. Es war eine typische Krankenhaustoilette mit beigen Fliesen und einer Beleuchtung, die verschleiern sollte, wo die Hygienevorgaben einer Klinik an ihre Grenzen stießen. Ich wartete, bis das Objekt die erste Toilettenkabine betrat. Dann begab ich mich in die angrenzende Kabine, setzte mich auf den Klodeckel und verließ meine organische Hülle. Der Wirtskörper sackte benommen in sich zusammen. Wenn wir Todesdiener einen Wirt übernehmen, betäuben wir sein Bewusstsein. Die meisten Wirte dösen ungefähr eine halbe Stunde, bevor sie wieder aus der Bewusstlosigkeit erwachen. Deshalb konnte ich meinen Körper ohne Bedenken hier zurücklassen, während ich als körperloser Dunst durch die Wand der Klokabine zum Objekt schwebte. Der Mann ließ gerade die Hose herunter. Ich schlüpfte durch den dünnen Stoff seines Hemds und drang in den Brustkorb ein.

 

Das menschliche Herz besticht durch seine wahrhaft faszinierende Komposition. Keinem Ingenieur ist es jemals gelungen, eine Pumpe zu entwickeln, die so leistungsfähig und zuverlässig arbeitet wie dieses fleißige Organ. Um den Herzmuskel mit seinen vier Kammern schlängeln sich unzählige filigran verästelte Gefäße, die die unermüdliche Pumpe mit Sauerstoff versorgen. Ich möchte sie nicht mit weiteren Details langweilen. Doch ich empfehle Ihnen dringend, darüber eine Dokumentation im Fernsehen anzuschauen. Für unser Vorhaben genügt es, die eben erwähnten feinen Herzkranzgefäße zu erkennen. Bei meinem Objekt sahen sie, wie ich erwartet hatte, reichlich mitgenommen aus. Fett, Kalk und anderer Abfall blockierten die schmalen Öffnungen der kleinen Äderchen. Der Blutstrom suchte sich neue Wege, um zum Herzen zu gelangen. Doch immer mehr Zugänge hatten sich im Laufe der Jahre verschlossen. Ich würde nun den letzten verschließen – den entscheidenden. Es gehört zu den größten Anfängerfehlern, einfach ein beliebiges Gefäß zu verstopfen und darauf zu hoffen, dass das Objekt schnell genug stirbt. Ich sage Ihnen, was dann passiert: Der Betroffene selbst oder ein Angehöriger wählt den Notruf und die Rettungskräfte beginnen augenblicklich mit der Herzmassage. Bevor Ihr Objekt stirbt, liegt es in der Klinik und die Kardiologen haben den Knubbel, den Sie so mühselig ins Herzkranzgefäß gepresst haben, mit ein paar Medikamenten aufgelöst. Nein, für einen tödlichen Herzinfarkt müssen Sie dem Objekt so wenig Zeit wie möglich lassen und dafür gibt es nur eine todsichere Stelle: den Hauptstamm der Koronararterie. Damit schneiden sie den Großteil des Herzmuskels sofort von der Sauerstoffversorgung ab. Natürlich braucht es für diese größere Arterie etwas mehr Verschlussmaterial. Aber daran herrschte bei meinem Objekt kein Mangel. Im Handumdrehen formte ich aus den Ablagerungen eine stattliche Kugel. Ich schob sie in die Öffnung der Arterie, bis kein Tropfen Blut mehr hindurchfließen konnte. Die tüchtige Pumpe geriet aus dem Takt. Mein Objekt schwankte. In letzter Sekunde gelang es mir, aus dem Brustkorb des Mannes zu flüchten, bevor sein Körper gegen die Toilettenkabine krachte.

 

In einem Dokumentarfilm auf dem Discovery Channel habe ich mal einen Anthropologen sagen hören, dass die natürlichen Instinkte des Menschen durch die moderne, naturferne Lebensweise verloren gegangen wären. Ich glaube, diesem Experten wären seine Theorien im Hals stecken geblieben, wenn er jemals das Gesicht eines Menschen erblickt hätte, der in Lebensgefahr schwebt. Instinktiv griff sich der Mann an die Brust, als der Schmerz einsetzte. Schlagartig verschwand das Blut aus den geröteten Wangen und hinterließ sie aschfahl. In den aufgerissenen Augen blitzten die nackte Angst und die Gewissheit, dass es mit ihm zu Ende ging. Ich wartete ein paar Minuten, bis er das Bewusstsein verlor. Dann löste sich seine Essenz – oder seine Seele, wie Sie es vielleicht üblicherweise bezeichnen würden – von seinem Körper. Essenzen sind schwierig zu beschreiben, weil sie so unterschiedlich aussehen – für uns Todesdiener sind sie so individuell wie für euch Menschen der Fingerabdruck. Ich kenne welche, die wie ein silberner Schimmer über ihren Besitzern schweben. Die von Kindern ist häufig klar und durchsichtig. Manche Essenzen riechen nach Lavendel, Zitrusfrüchten oder Rauch. Diese hier lag wie ein klumpiger, grauer Schleier auf der Haut des Objekts. Mit Mühe konnte ich noch ein schwindendes Aroma von Milch und Honig ausmachen. Ich öffnete meinen Essenzentiegel und sog den Grauschleier damit auf. Erst wenn der letzte Rest Essenz den Körper verlässt, ist der Tod vollzogen. Nach getaner Arbeit kehrte ich in den Körper des Krankenpflegers zurück. Eine Minute später verriet nichts außer ein paar feinen Sporen, dass der Tod sein Werk verrichtet hatte.

 

Sie werden mittlerweile bemerkt haben, dass ich den Menschen nicht allzu viel Mitleid entgegenbringe. Das liegt in der Natur meines Berufs. Tatsächlich verbietet mir mein Ethos, Mitgefühl für die Objekte zu zeigen oder gar persönliche Bindungen einzugehen. Das leuchtet doch ein. Wie könnte ich meiner Arbeit nachgehen, wenn Menschen mir leidtäten? Einige von Ihnen mögen eine solche Haltung als unmenschlich bezeichnen. Dabei findet die Strategie der emotionalen Distanz gerade in Ihrer Spezies breite Anwendung, insbesondere bei Menschen, für die der Tod zum Alltagsgeschäft gehört. Wenn Rettungssanitäter, Notfallmediziner oder Bestatter sich jedes traurige Schicksal zu Herzen nähmen, müssten sie ihren Beruf nach wenigen Wochen an den Nagel hängen und sich in die Nervenklinik einweisen lassen. Nur weil man emotionale Distanz wahrt, bedeutet das ja nicht, dass man keinen Respekt vor den Menschen hat. Im Gegenteil — ich bewundere Ihre Spezies, ja, beneide sie sogar für ein Talent, das meinesgleichen verwehrt bleibt: die Fähigkeit zu erschaffen. Sie erschaffen prächtige Gebäude, Monumente, Kunstwerke, die den Lauf der Zeit überdauern. Ihren Gedanken entspringen Ideen, die die Welt formten und formen – seien sie technischer, revolutionärer oder künstlerischer Natur. Meine größte Bewunderung gilt der Kunst, insbesondere der Musik. Zeitlos und körperlos wie ich löst ihre Anwesenheit augenblicklich starke Gefühle aus. Zugegeben, manche Formen der heutigen Musik erschließen sich mir nur bedingt. Im Jahr 2001 starb ich ein Objekt, dem die Begründung einer Musikrichtung namens Death Metal nachgesagt wird. Natürlich zögerte ich nicht, mir eine Hörprobe davon zu genehmigen. Ein schrecklicher Fehler, wenn Sie mich fragen – wie konnte man so einen höllischen Lärm nach dem Tod benennen? Nennen Sie mich konservativ, aber eine hunderttausendjährige Existenz versteift selbst das flexibelste Gemüt. Die Klänge, die mich in einen Zustand brennender Euphorie versetzen, sind weniger metallisch, sondern eher italienisch und klassisch. Eines meiner Objekte, ein Musiklehrer, hatte Verdi, Puccini und Rossini gehört, während das Leben ihn verließ. Seinen Walkman mit der Kassette habe ich behalten und seitdem bereichern diese Meisterwerke meinen Alltag. So hielt das Schicksal ausgerechnet Vivaldis »La primavera« für eine passende Begleitmelodie, zu der meine kleine Welt kopfüber in den Abgrund fiel.

 

Die fröhliche Ouvertüre des Frühlings auf den Ohren betrat ich in meinem Wirtskörper die onkologische Abteilung der Klinik. Es gab keine Aufträge mehr für mich zu erledigen. Doch als Meister meiner Kunst leistete ich gerne Überstunden. Hier in der Onkologie trieben sich viele potenzielle Objekte herum, die vielleicht nur einen Atemzug von meiner Auftragsliste entfernt waren. Der Besuch diente sozusagen Recherchezwecken. Außerdem gefiel mir die Stimmung, die an diesem Ort herrschte. Die Menschen bewegten sich wie gläserne Figurinen. Wenn die Tage des Lebens gezählt scheinen, tritt die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit aus dem Unterbewusstsein in die Realität. Dann beginnen die Menschen zu lauschen, um sich herum und in sich hinein.

Im graublau gestrichenem Wartebereich spielte ein junger Vater ein Kartenspiel mit einem etwa achtjährigen Mädchen. Auf der Stirn des Mannes zeigten sich frische Sorgenfalten – die ersten Narben des Lebens. Doch seine Augen leuchteten, und seine Essenz schimmerte warm und rosig. Er würde mir so bald keine Arbeit machen, ebenso wenig wie das Mädchen, das nach vielen Monaten anstrengender Therapie einen Vater zurückbekam. Nicht weit von ihnen stand ein älterer Herr neben einer jungen Ärztin und ließ sich einen Befund erklären. Beide lächelten und ihre Essenzen blitzten auf, als wollten sie sagen: »Ich geh hier nicht so bald weg.«

In der Chemolounge war es ziemlich leer. Nur in dem Stuhl, der am nächsten zum Fenster stand, döste ein junger Mann vor sich hin, während Medizin aus dem Tropf in seine Armvene floss. Ohne Kostüm und Make-up hätten ihn die meisten Menschen wohl nicht erkannt. Doch mir verriet das Funkeln seiner knallbunten Essenz, dass es sich nur um Valerio handeln konnte – sofort erklang sein Charthit There’s a queen in everyone in meinem Ohr. Vorsichtig pirschte ich mich heran, nur um einen flüchtigen Blick auf den Star zu erhaschen. Wie oft bekam man schon die Gelegenheit, Berühmtheiten so nah zu sein? Doch die Menschen in der Onkologie schienen meine Präsenz besser zu spüren. Valerio öffnete die Augen.

»Hallo.« Er lächelte matt.

Ich erwiderte den Gruß mit einem Nicken.

Er deutete auf das Fenster, durch das die grelle Mittagssonne in seine Augen fiel. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun und die Vorhänge ein Stück zuziehen?«

»Natürlich«, murmelte ich und ging zum Fenster, um die Vorhänge zu schließen. Nur weil man tötet, muss man ja nicht unhöflich sein. Valerios Gesichtszüge entspannten sich, als der Schatten sich auf seine Haut legte. Jetzt, wo ihn die Sonne nicht mehr belästigte, musterte er mich genauer. »Verrätst du mir, wie du heißt?«

»Ich heiße Nepomuk.«

»Ich bin Typhus«, sagte Typhus, doch das konnte Valerio nicht hören.

»Hey, Nepomuk, würdest du ein Selfie mit mir machen für Pixtagram? Ich würde meinen Fans gerne schreiben, wie es mir geht.«

»Ein was?«

»Ein Foto«, zischte mir Typhus ins Ohr. »Komm endlich im 21. Jahrhundert an, Meister.«

Ich zögerte. Als Todesdiener legte ich eigentlich großen Wert darauf, nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Aber Valerios großen braunen Augen konnte ich nicht widerstehen. Also posierte ich mit ihm für das Foto. Ich sah zu, wie Valerios Finger im rasenden Tempo die Tastatur seines Apparates bedienten. Dann hielt er mir das Display hin.

»Ich würde es mit dem Text posten okay?«

Ich las die getippten Zeilen auf dem kleinen Display.

 

Liebe Freunde. Heute habe ich mit einer Chemotherapie begonnen, um den Tumor in meinem Kehlkopf zu bekämpfen. Ich weiß, dass ich einen gefährlichen Weg beschreite. Aber ich habe das beste Krankenhausteam ever an meiner Seite. Eine Operation kommt für mich nicht infrage. Singen ist meine Leidenschaft. Musik ist mein Leben und dafür werde ich kämpfen. Durch nichts und niemanden lasse ich mir die Stimme rauben. Stay proud!

#pride #fckcancer

 

Ich betrachtete mein Gesicht neben dem Valerios. Selbst mit all diesen Giften in seinem Körper wirkte er lebendiger als ich. In seinen Augen loderte Kampfgeist. Dieser Mensch wollte durchs Feuer gehen, um zu leben. Warum nur?

 

Laut pfeifend setzte ich meinen Weg durch die Abteilung fort. Der Frühling erreichte seinen Höhepunkt. Ich tanzte über den Flur, drehte mich im Kreis und wirbelte mit den Armen, als würde ich das Orchester dirigieren. Hemmungslos schwang ich sie immer wilder mit dem anschwellenden Crescendo — bis ich gegen etwas stieß. Ich fuhr herum. Auf dem Boden vor mir lag eine Frau, die sich mit zusammengepressten Augen an den Kopf griff. Am rechten Fuß trug sie einen braunen Slipper. Der andere lag unter der Wartebank. Ich ging in die Hocke, um sie anzusprechen.

»Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt?«

Ich erschrak, weil ich meine eigene Stimme nicht hörte.

Dann riss mir jemand den Kopfhörer von den Ohren. »Das hilft vielleicht beim Hören«, sagte Typhus. Ich ignorierte ihn. All meine Sinne konzentrierten sich auf diese Frau.

»Sind Sie auf den Kopf gefallen?«

Wie ein echter Pfleger schob ich eine Hand unter ihren Hinterkopf, um nach Verletzungen zu suchen. Sie stöhnte.

»Machen Sie sich keine Gedanken, der ist eh schon kaputt.«

Sie kicherte und für einen Moment meinte ich, erneut Vivaldi zu hören. Ich reichte ihr die Hand.

»Setzen Sie sich mal auf – langsam … langsam!«

Es kribbelte, als sie meine Hand ergriff. Ein Kribbeln, das von den Fingerspitzen ausgehend den Arm hinauflief und dann allmählich wie ein Tropfen, den Rücken hinunter perlte. Für einen Moment gefror mein Körper und ich fragte mich, ob ich auch verletzt war.

»Es geht schon.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie mich ansah. Ihre Augen waren braun. Durch die Iris brachen die goldgelben Tupfer ihrer Essenz. Dünne Fältchen zogen sich wie die Spuren eines Lachens um ihre Lider.

»Was für ein wichtiges Orchester haben Sie denn da dirigiert?«

Ihre Stimme klang hell wie Vivaldis Geigen. Das Grinsen, das sich über ihr Gesicht ausbreitete, schwang in jedem ihrer Worte mit.

Ohne es zu bemerken, starrte ich sie an. Schließlich erwachte ich wie aus einem verwirrenden Traum.

»Der Frühling … ich meine Vivaldi … also … «

»Junge, was ist denn los? Hast du einen Schlaganfall?«, zischte Typhus mir ins Ohr. Ich schüttelte mich innerlich.

»Bitte verzeihen Sie. Ich war so vertieft in die Musik.«

Sie winkte ab. »Machen Sie sich nichts daraus. Wenn ich Musik höre, vergesse ich auch alles um mich herum. Und sich in einem Vivaldi zu verlieren, ist wirklich kein Verbrechen.«

Dieses Lächeln. Ich starrte schon wieder. Ich musste irgendetwas sagen.

»Ist Ihnen schwindelig?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, alles okay.«

Ich konnte nicht aufhören, in ihre Augen zu sehen. Was war nur los mit diesen Augen?

»Stimmt etwas nicht? Sie schauen mich so an.«

»Ja, Mann, warum starrst du sie so an?«

In Gedanken verpasste ich Typhus einen Tritt.

»Nein, nein. Ich habe nur Ihre Reflexe geprüft«, log ich. Erneut wollte ich ihr die Hand reichen, um ihr aufzuhelfen, als ich feststellte, dass ich sie immer noch hielt. Diese Erkenntnis überwältigte mich so sehr, dass ich für einen kurzen Moment loslassen wollte. Doch meine Finger blieben an ihren haften wie Magneten an einem Kühlschrank. Vorsichtig half ich ihr hoch. Sie bewegte prüfend ihre Arme. »Scheint alles noch heile zu sein. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Einige Sekunden, in denen ich etwas hätte erwidern können, verstrichen ungenutzt. Dann nickte sie.

»Na, dann dirigieren Sie mal schön weiter. Ich muss jetzt zu meinem Arzt.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass ein buntes Tuch ihren Kopf bedeckte. Die Augen, in denen ich mich verloren hatte, trugen keinen Wimpernkranz. Jeden Tag sehe ich Menschen, die von der Chemotherapie kommen und nicht alle sehen sterbenskrank aus. Manche sind ein bisschen blass um die Nase und einige verlieren ordentlich Gewicht während der Behandlung. Doch im Großen und Ganzen haben Krebspatienten nichts mit den Elendsgestalten gemein, die Ihnen in Fernsehschmonzetten präsentiert werden. Doch diese schwerkranke Frau eröffnete den Zugang zu einer ganz neuen Ebene von Lebendigkeit, wie ich sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Ihre Essenz glühte feurig warm und bernsteinfarben. Sie verströmte den Geruch von Kraft und Freiheit. Was immer diese Frau durchgemacht hatte – sie war mit ihrem Leben noch längst nicht am Ende.

Ein Stück weiter den Flur hinunter öffnete sich eine weiße Tür und Doktor Bär streckte den Kopf auf den Gang heraus. Mit seiner langen krummen Nase erinnerte er tatsächlich an einen Bären – allerdings an einen Ameisenbären.

»Frau Wittkamp?«

»Ich komme.« Sie wandte sich von mir ab und es fühlte sich an, als würde mir jemand ein Pflaster abreißen.

 

Ohne nachzudenken, eilte ich zur Gästetoilette. Dort sperrte ich meinen Wirt zum zweiten Mal an diesem Tag in eine WC-Kabine. Typhus ließ ich ungeachtet seiner Proteste bei dem bewusstlosen Körper zurück. Dann schwebte ich körperlos durch die Wände in Doktor Bärs Sprechzimmer. Die Frau saß kerzengerade auf der Kante eines weich gepolsterten Stuhls und beobachtete mit großen Augen ihren Arzt. Der kleine Onkologe verschwand beinahe hinter seinem gewaltigen Schreibtisch mit den riesigen Computermonitoren.

»Frau Wittkamp, ich habe gute Nachrichten für sie.« Doktor Bär drehte einen der Monitore um, damit die Patientin die Röntgenbilder sehen konnte. Ich schwebte näher und erkannte die aus verschiedenen Blickwinkeln gemachten Aufnahmen eines Gehirns. Neben den Bildern befanden sich einige Zahlenreihen, die ich nicht verstand. Außerdem stand da ein Name. Wittkamp, Isabel. Isabel. Ein Name, der in mir das Bedürfnis zu lächeln weckte. Dann las ich den Befund und mir war nicht mehr nach Lachen zumute.

Ein Kugelschreiber schob sich zwischen mich und den Monitor. Er zeigte auf einen kleinen Knubbel im Gehirn auf der linken Seite des Bildschirms.

»Hier sehen Sie die CT-Bilder, die wir vor der Behandlung gemacht haben, und hier die Aufnahmen von dieser Woche«, erklärte Doktor Bär, während er mit seinem Kugelschreiber auf das andere Bild deutete.

»Hier saß das Gliom, das wir während der Operation entfernt haben.«

Er zeigte auf den Knubbel.

»Die Chemotherapie und die Bestrahlungen sollten verbliebene Tumorzellen beseitigen. Und wie sie sehen, ist uns das gelungen.« Er zeigte auf das andere Bild, das durch die Abwesenheit von Knubbeln glänzte.

Ich hörte, wie Isabel tief Luft holte. »Heißt das, ich bin geheilt?«

Mit großen braunen Augen sah Isabel ihren Arzt an. Eine Mischung aus Hoffnung und Angst lag in diesem Blick. Doktor Bär fuhr sich durch den nicht vorhandenen Bart.

»Sehen Sie, Frau Wittkamp, ‚geheilt‘ ist ein großes Wort.«

Die Andeutung eines Lächelns auf Isabels Gesicht verschwand. »Ich verstehe.« Sie schluckte. »Na ja, das kann man wohl bei so einer Krankheit auch nicht erwarten.«

Doktor Bär nahm seine randlose Brille ab und begann, sie zu putzen. Patienten sind erst vom Krebs geheilt, wenn sie an einer anderen Krankheit sterben, hatte ich mal einen Onkologen sagen hören. Eine grundfalsche These, die leider von vielen Ärzten vertreten wird. Menschen sterben nicht an Krankheiten, sondern daran, dass sie auf meiner Liste landen. Das konnte Doktor Bär natürlich nicht wissen und als Mediziner musste er ihr Mut machen, ohne Erwartungen zu wecken.

»Der Tumor ist vorerst weg, Frau Wittkamp. Das ist ein fantastischer Durchbruch.«

Isabel wirkte nicht begeistert. »Aber ich muss mit dem Risiko leben, dass er zurückkommt.« Kein Fragezeichen.

Doktor Bär setzte seine Brille wieder auf und nickte. »Hören Sie, es bringt nichts, zu viel über diese Dinge nachzudenken. Sie sind vorerst krebsfrei. Machen Sie eine Pause vom Kranksein. Gehen Sie nach Hause zu Ihren Kindern, kommen Sie wieder zu Kräften und dann reden wir bei Ihrem nächsten Nachsorgetermin weiter.«

Isabel nickte langsam. »Kann ich irgendetwas tun, um meine Prognose zu verbessern?«

Doktor Bär lächelte. »Genießen Sie das Leben und sorgen Sie gut für sich selbst.«

Sie sagte nichts. Auf ihrer Stirn stand ein großes Fragezeichen. Das Leben genießen? Während in ihrem Kopf noch die Überreste einer entschärften Zeitbombe lauerten? Wie sollte das gehen? Doktor Bär schrieb einige Termine und die Telefonnummern von Selbsthilfegruppen und Psychologen auf, die Krebspatienten »zurück ins Leben« halfen. Dann gab er ihr die Hand und sie erhob sich. Das Gespräch hatte ihr das strahlende Lächeln vom Gesicht gewischt. Auch das Kribbeln in meinem Bauch verwandelte sich in ein unangenehmes Ziehen. Das Leben genießen – was sollte das überhaupt heißen?

 

Kapitel 3

Das Kollektiv

 

Genießen Sie ihr Leben ... je länger ich über diese Worte nachdachte, desto weniger Sinn ergaben sie für mich. Doch sie weckten einen Gedanken, der schon seit Ewigkeiten in mir schlummerte – wie ein längst vergessener Mückenstich, an dem man versehentlich kratzt. Und jetzt juckte es in meinem Kopf: Warum hingen die Menschen so an ihrem Leben? Ich kenne keine andere Lebensform, die sich so hartnäckig mit der Endlichkeit des eigenen Daseins beschäftigt. Gewiss haben auch Tiere einen natürlichen Selbsterhaltungstrieb, doch kein Hund denkt morgens schon darüber nach, ob er wohl heute seinen letzten Knochen kaut. Keine Topfpflanze käme auf die Idee, eine Lebensversicherung abzuschließen. Nur der Homo sapiens hat sich das Memento mori auf die Fahne geschrieben. Wenn das Sterben also einen so großen Raum in ihren Köpfen einnimmt, muss das Leben ja etwas Besonderes sein. Aber was? Ich kann nicht behaupten, dass ich mein bisheriges Dasein sonderlich genossen hätte. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich empfinde Freude an meiner Arbeit. Aber ich erfülle diese Pflicht nun auch schon seit über zehntausend Jahren und wenn ich wüsste, dass meine Existenz morgen endet, würde ich weder Bedauern noch Angst verspüren. Allerdings ist diese Vorstellung auch ziemlich abstrakt. Denn im Gegensatz zu Ihnen bin ich nicht sterblich – zumindest nicht im herkömmlichen Sinne.

 

Solche verzwickten Überlegungen plagten mich an diesem Morgen und das Denken fiel mir schwer. Meine inneren Sensoren wanderten ständig zu Isabel und ihrem Wunsch, weiterzuleben. Ich hatte es in ihren Augen gelesen. Diese Augen ... Immer wieder rief ich sie mir in Erinnerung und versuchte, die Sprenkel darin zu zählen. Dabei erklang ihre Stimme warm wie eine Mandoline.

»Nepomuk?«

Eddas Stimme holte mich in die Realität zurück. Das Hologramm-Gesicht unserer Eminenz erinnerte an eine alte, steinerne Büste. Immer wenn sie eine Miene verzog, bröselte ein wenig Staub davon ab.

»Scheint, als wäre jemand gerade aufgewacht!«, sagte mein Kollege Edgar und grinste wie ein Bengel, der den kleinen Bruder beim Klauen von Keksen erwischt. Sein Haustier – ein unansehnlicher Herpesvirus, der in Edgars Bart wohnte und auf den Namen HP hörte – kicherte heiser.

»Diese widerliche Eiterkruste beleidigt meine Augen«, wisperte Typhus mir ins Ohr. Er und HP konnten sich genauso wenig leiden wie Edgar und ich.

»Nepomuk! Hättest du die Güte, zu uns zurückzukehren?«

Eddas Stimme klang höflich, aber das verärgerte Zucken um ihre Mundwinkel verriet ihre wahre Stimmung. Die tiefen Furchen, die ihre Lippen einrahmten, bildeten einen harten Kontrast zum jugendlichen Bob und dem modernen Kostüm ihrer Wirtin. Sie hob eine dünn gezupfte Augenbraue. Die ältesten Kollegen verbreiteten gerne Gerüchte darüber, dass Edda in den frühen Zeiten des Kollektivs den ein oder anderen ungehorsamen Todesdiener bei lebendigem Leib verschlungen habe. Tatsächlich weiß ich aber nur von einer Begebenheit, bei der sie das wirklich getan hat – nämlich als ein größenwahnsinniger Kollege namens Adolf den Plan fasste, Edda zu stürzen und sich selbst zum Herrn über Leben und Tod zu ernennen. Nun, sie wissen, wie das ausging. Seitdem war meines Wissens kein Todesdiener mehr in ihrem gewaltigen Schlund gelandet – schon gar nicht, weil er während eines Meetings seinen Tagträumen nachhing. Trotzdem wollte ich mein Schicksal nicht herausfordern und gab mich reumütig. »Entschuldigung, Eure Eminenz. Ich habe meine Gedanken ein wenig lustwandeln lassen.«

»Wie überaus schön für deine Gedanken.« Edda legte die dünnen Fingerspitzen aneinander. »Ich hoffe, dein geistiger Exkurs hat dir Erkenntnisse geliefert, die Viktoria bei der Lösung ihres aktuellen Falls helfen können.«

Sie deutete mit einem langen, rosa lackierten Nagel auf das neueste Mitglied des Teams, das in der Mitte unserer Runde unter dem Präsentationsmonitor stand.

---ENDE DER LESEPROBE---