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Gerd Eggert, Wirtschaftssenator von Hamburg, wird von einem unbekannten Scharfschützen aus sehr großer Entfernung bei der Ausstellungseröffnung eines russischen Künstlers getötet, der bei diesem Anschlag ebenfalls verwundet wird. Da gefundene Beweismittel eindeutig Richtung Russland als Verantwortlichen für diesen Mord zeigen, stellt sich die Frage, ob Eggert wirklich das eigentliche Ziel war oder Andrej Sokolow, der junge regimekritische Künstler.
Keine leichte Aufgabe für Hauptkommissar Cornelius Brock und sein Team, unter großem Druck der Politiker den oder die Schuldigen zu finden. Man geht schnell davon aus, dass der Schütze im Auftrag gehandelt hat. Aber wer ist dieser Auftraggeber und was sein Motiv?
Und dann bekommen die Ermittler unverhoffte Unterstützung aus Russland, doch statt einer Lösung merklich näher zu kommen, werden weitere Fragen aufgeworfen, die den Fall immer verworrener machen und als unlösbar erscheinen lassen – für Brock eine unvorstellbare Möglichkeit …
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Hans-Jürgen Raben
Der Tod des Senators
Ein Fall für Brock
Ein Hamburg-Krimi
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Kathrin Peschel, 2022
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Epilog
Der Autor Hans-Jürgen Raben
Weitere Werke des Autors
Gerd Eggert, Wirtschaftssenator von Hamburg, wird von einem unbekannten Scharfschützen aus sehr großer Entfernung bei der Ausstellungseröffnung eines russischen Künstlers getötet, der bei diesem Anschlag ebenfalls verwundet wird. Da gefundene Beweismittel eindeutig Richtung Russland als Verantwortlichen für diesen Mord zeigen, stellt sich die Frage, ob Eggert wirklich das eigentliche Ziel war oder Andrej Sokolow, der junge regimekritische Künstler.
Keine leichte Aufgabe für Hauptkommissar Cornelius Brock und sein Team, unter großem Druck der Politiker den oder die Schuldigen zu finden. Man geht schnell davon aus, dass der Schütze im Auftrag gehandelt hat. Aber wer ist dieser Auftraggeber und was sein Motiv?
Und dann bekommen die Ermittler unverhoffte Unterstützung aus Russland, doch statt einer Lösung merklich näher zu kommen, werden weitere Fragen aufgeworfen, die den Fall immer verworrener machen und als unlösbar erscheinen lassen – für Brock eine unvorstellbare Möglichkeit …
***
Sollte er?
Sein rechter Zeigefinger schwebte über der Entertaste.
Sollte er wirklich?
Es wäre unwiderruflich der erste Schritt zu einem Vorhaben, das eine Reihe von Ereignissen auslösen würde, für die er den Preis bezahlen müsste, wenn jemals herauskäme, dass er der Verursacher war.
Hatte er alles bedacht, was ihm gefährlich werden könnte?
Den Laptop hatte er gebraucht bei einem Trödler gegen Bares gekauft. Es gab keine Unterlagen, die auf ihn zurückzuführen waren, und ob der Verkäufer sich an ihn erinnerte, war mehr als zweifelhaft. Er hatte nur auf die Scheine geblickt, die man ihm über den Tisch geschoben hatte. Weit und breit waren keine Kameras zu sehen gewesen.
Jetzt saß er in der Innenstadt allein an einem Tisch im Inneren eines Cafés, möglichst weit entfernt von den übrigen Gästen. Hier gab es ein öffentliches WLAN-Netz, in das er sich eingewählt hatte, um seine eigene IP-Adresse zu verbergen. Er wusste, dass damit keine hundertprozentige Sicherheit gewährleistet war, doch es sollte reichen. Denn wichtig war der nächste Schritt.
Dafür war jetzt die Zeit gekommen. Ein letztes Mal sah er sich aufmerksam nach allen Seiten um. Niemand schien auf ihn zu achten. Der pickelige junge Mann mit der schlechten Haut, der die Kasse bewachte und für die Getränkeausgabe zuständig war, saß hinter seinem Tresen und starrte voller Konzentration auf den Bildschirm eines kleinen Fernsehgerätes. Ohne Ton lief dort die Aufzeichnung eines Fußballspieles. Die anderen Gäste tranken ihren Kaffee, lasen Zeitung oder unterhielten sich leise. Der einzige Kellner stand im geöffneten Türrahmen und blickte gelangweilt nach draußen auf die Straße. Keiner der Passanten warf einen Blick ins Innere, und keiner von ihnen konnte ihn sehen.
Entschlossen drückte er die Taste.
Der TorBrowser wurde hochgeladen. Mit ihm würde er sich völlig anonym im Internet bewegen können, wenn auch langsamer als gewohnt, doch das spielte keine Rolle. Im Internet hatte er sich vorher schlau gemacht, was er zu tun hatte, um in das geheime Netzwerk zu kommen, in dem es alle möglichen verbotenen Dinge geben sollte. Er hoffte sehr, dass er finden würde, was er so dringend suchte, um seine Probleme aus der Welt zu schaffen.
Er wartete, bis das neue Programm installiert war. Ursprünglich war Tor eine Abkürzung für The Onion Router gewesen, da er ähnlich einer Zwiebel eine Schale über der anderen besaß. Heutzutage wurde die Langfassung nicht mehr benutzt.
Wieder zögerte er, doch dann startete er das Programm. Augenblicklich war er in einer Welt, die so ganz anders war als das gewohnte Internet. Es sah aus wie in den Anfangszeiten der damaligen Heimcomputer, wie man sie nannte. Hier gab es die bunte Welt des normalen Internets nicht.
Er befand sich nun im Darknet, und dort gab es tatsächlich Dinge, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Ein kalter Schauer rieselte über seinen Rücken. Er betrat ein verbotenes Land! Ab jetzt musste er sehr vorsichtig sein, denn er hatte keine Ahnung, ob man seine Schritte nicht doch verfolgen könnte. Er spürte die Gefahr, doch es war gleichzeitig ein Abenteuer. Nie hatte er ein ähnliches Gefühl verspürt, wie bei diesen ersten Schritten in eine virtuelle Realität.
Jetzt musste er nur noch finden, was er so dringend suchte. Er ahnte, dass die Leistung, die er suchte, teuer sein würde. Er hatte so einiges darüber gelesen.
Doch er hatte keine andere Wahl. Wenn er aus seiner Situation herauskommen wollte, musste er diesen Weg gehen. Er hoffte nur, dass sein Geld für sein Vorhaben reichte.
Er wusste ebenfalls, dass er in einer virtuellen Währung namens Bitcoins bezahlen musste. Er hatte alles gelesen, was er darüber finden konnte, und er wusste nun auch, wie man sich diese Bitcoins beschaffte.
Hatte er alles bedacht?
Vor lauter Nervosität vertippte er sich mehrmals, bis er den Begriff für die Leistung, die er so dringend brauchte, in die Suchmaske eingegeben hatte. Er wartete. Plötzlich tauchte ein Angebot auf, dann noch eines. Der Bildschirm füllte sich.
Er hatte nicht erwartet, dass es so viele sein würden. Er brauchte einen Filter. Zusätzlich zu dem gesuchten Begriff gab er einen Ortsnamen ein.
Nur noch ein Angebot blinkte auf.
Er lächelte. Eines würde ihm genügen. Jetzt konnte die Kontaktaufnahme erfolgen. Dieser Schritt wäre bereits schwer zu erklären gewesen, wenn man ihm jetzt auf die Schliche gekommen wäre.
Er hatte keine Ahnung, was es kosten würde. Im Unterschied zu offiziellen Online-Angeboten gab es hier keine Bewertungen von glücklichen Kunden. Er musste dem Angebot vertrauen.
Er rief das Angebot auf. Die schnörkellose Seite gefiel ihm. Und er studierte ihren Inhalt. Es war ganz ähnlich wie bei einem Online-Händler, und es war genau das, was er gesucht hatte!
Beim Preis für die Leistung zuckte er kurz zusammen. Das war deutlich mehr, als er sich vorgestellt hatte. Nun, er hatte es mit einem Profi zu tun und sein Vorhaben durfte nicht am Preis scheitern. Seine Belohnung würde später weitaus höher sein. Er lächelte breit, als er daran dachte.
Die Kontaktaufnahme würde über einen geschützten Chatroom erfolgen, einen persönlichen Kontakt würde es nicht geben. Das war der große Vorteil, der die Sache so einfach machte.
Er überschritt die letzte Grenze und drückte erneut eine Taste.
»Das Taxi wird gleich hier sein!«
Gerd Eggert stand vor dem Spiegel im begehbaren Schrank und band sich eine Seidenkrawatte, die Anna, seine langjährige Frau, ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er stellte fest, dass deren Farbe nicht zum Hemd passte. Da er nur hellblaue und hellgraue Hemden trug, passte sie eigentlich zu keinem seiner Hemden. Er vermutete, dass dies genau der Grund war, weshalb er sie geschenkt bekommen hatte.
»Ich bin gleich fertig«, kam endlich die etwas unfreundliche Antwort. »Du hast es doch sonst nicht so eilig, wenn es um meine Veranstaltungen geht!«
Er band die verhasste Krawatte heute dennoch um. Sie sollte denken, dass er ihr einen Gefallen tun wollte, doch in Wirklichkeit würde er nur darauf warten, dass ihn jemand darauf ansprach. Dann könnte er erklären, dass es ein Geschenk seiner Frau war, und die Geschmacklosigkeit würde auf sie zurückfallen. Sollten ihre aufgeblasenen Freunde sich doch wundern. Ein Grinsen überzog sein Gesicht.
Gerd Eggert war Anfang fünfzig, schlank und sportlich. Er trat einen Schritt zurück und musterte sich im Spiegel. Es gefiel ihm, was er sah: Einen gut aussehenden Mann im besten Alter, grau meliertes, aber volles Haar, ebenmäßige Gesichtszüge, gut sitzender Anzug, Designerbrille. Über die grenzwertige Krawatte sah er hinweg.
Gerd Eggert war stolz auf sich und auf das, was er erreicht hatte. Er besaß ein gewisses Charisma, was für andere Politiker seiner Partei nicht selbstverständlich war. Außerdem war er ein hervorragender Redner, und so war es nicht verwunderlich, dass er es bis zum Wirtschaftssenator der Stadt Hamburg gebracht hatte. Diesen Posten besetzte er bereits seit vier Jahren, und er hatte nicht die Absicht, ihn in nächster Zeit aufzugeben. In der Partei besaß er viele Anhänger, nicht zuletzt deshalb, weil er für gute Wahlergebnisse sorgte.
Er spürte den Hauch des Parfüms, bevor Anna in Sicht kam. Sie sah wie immer hinreißend aus. Sie war nur ein Jahr jünger als er selbst, doch das hätte niemand vermutet. Sie quälte ihren Körper mit sportlichen Aktivitäten aller Art, gab ein Vermögen für Kosmetik-Artikel aus und war Dauergast eines bekannten Schönheitschirurgen.
Ihre grünen Augen musterten ihn. Beim Blick auf die Krawatte zuckte sie kurz, doch über ihr eigenes Geschenk konnte sie schlecht etwas Herabsetzendes sagen, obwohl Bemerkungen dieser Art durchaus zu ihrem Repertoire gehörten. Davon konnte Gerd Eggert ein Lied singen.
»Bis du fertig?« Ihre Stimme klang immer noch so wie damals, als er sich als Erstes in ihre Stimme verliebt hatte, gefühlvoll, leicht rauchig und mit einer guten Portion Sexappeal.
Manchmal fragte er sich, weshalb ihre Ehe diese Entwicklung genommen hatte. Solange die Kinder noch im Haus waren, hatten die familiären Beziehungen die Entfremdung der Ehepartner überlagert. Doch seit ihre beiden Söhne außerhalb Hamburgs studierten und somit aus dem Haus waren, war die Stimmung zwischen Gerd Eggert und seiner Frau nahezu feindselig geworden. Nun, er hatte an anderer Stelle einen gewissen Ausgleich gefunden.
Nur die engeren Freunde bekamen einiges mit, aber für das gesellschaftliche Umfeld galten sie nach wie vor als glückliches Traumpaar. Immerhin spielte sie ihre Rolle als glückliche Ehefrau hervorragend, denn sie wusste, dass eine hässliche Scheidung Gift für die Wahlchancen ihres Mannes war. Sie gefiel sich durchaus als Ehefrau eines Senators.
Es klingelte.
»Das wird das Taxi sein«, sagte er. »Lass uns gehen.«
Der Senator hatte seinem Fahrer freigegeben. Er wollte nicht, dass er den ganzen Abend warten musste, um das Ehepaar einige Kilometer zu fahren. Von ihrer Villa an der Außenalster bis zur Kunsthalle war es nicht sehr weit. Die beiden Sicherheitsbeamten konnte er allerdings nicht nach Hause schicken. Sie würden mit ihrem eigenen Fahrzeug dem Taxi folgen.
Eigentlich war es der Abend seiner Frau. Als Vorsitzende ihrer Familienstiftung eröffnete sie heute eine von ihr gesponserte Ausstellung eines russischen Künstlers in der Galerie der Gegenwart, einem würfelförmigen Bau für moderne Kunst, von dessen Terrasse man einen wunderbaren Blick über die Binnenalster hatte. Er gehörte zur Hamburger Kunsthalle und lag dem Altbau genau gegenüber.
Sie bestiegen das Taxi und nannten dem Fahrer ihr Ziel. Während Gerd Eggert sich zurücklehnte, warf er einen kurzen Blick zu Anna, die neben ihm saß und stur nach vorn sah. Sie besaß eine unnahbar wirkende Schönheit, die auf viele Männer geradezu einschüchternd wirkte.
Die Stiftung ihrer Familie, deren Leitung sie vor einigen Jahren übernommen hatte, nachdem ihr Vater gestorben war, förderte vor allem moderne Kunst. Die Stiftung finanzierte Ausstellungen, vergab Stipendien an junge Künstler und kaufte gelegentlich Kunstwerke an, die dann einem der Hamburger Museen geschenkt wurden. Insofern war es keine Überraschung, dass sie ein gern gesehener Gast der einschlägigen Einrichtungen war.
In den Kreisen der Kunstinteressierten nahm sie eine wichtige Position ein. Ihr Wort brachte Künstler nach oben oder vernichtete sie. Kaum jemand wagte es, ihr Urteil zu kritisieren. Die Presse mochte sie, da sie ihre Meinung ungeschminkt zum Besten gab und immer für einen zitierfähigen Satz gut war.
Gerd Eggert hatte mit moderner Kunst nicht viel am Hut. Sein Kunstverständnis endete bei den Impressionisten. Na schön, den Expressionismus ließ er sich auch noch gefallen, vielleicht sogar Werke der Neuen Sachlichkeit, aber dann war Schluss. Er musste zwar zugeben, dass es auch in der Gegenwart bedeutende Künstler gab, aber Geld hätte er für deren Werke nicht ausgegeben. Mit seiner Kollegin, der Kultursenatorin, hatte er aus diesem Grund bei Senatssitzungen bereits einige Zusammenstöße gehabt, wenn es um die Bewilligung von Geldern ging.
Anna hatte sein Desinteresse an moderner Kunst ignoriert und ihn aus allen Angelegenheiten ihrer Stiftung herausgehalten. Dennoch erwartete sie, dass er bei offiziellen Anlässen wie bei der heutigen Ausstellungseröffnung an ihrer Seite war – genauso wie sie es im Gegenzug auch tat.
Gerd hatte einen flüchtigen Blick in den Katalog geworfen. Der junge russische Künstler, der in Berlin lebte, präsentierte vorwiegend Installationen und großformatige Fotos, die sich mit der russischen Geschichte beschäftigten. Soweit er es verstanden hatte, demonstrierten die Kunstwerke, dass sich das heutige Russland nicht allzu sehr vom Unterdrückungsregime der Zarenzeit unterschied. Eine Auffassung, die Gerd Eggert durchaus teilte, deren visuelle Umsetzung er jedoch als unbeholfen und misslungen empfand.
Das Taxi hielt. Sie waren angekommen. Die Sicherheitsbeamten stiegen vor ihnen aus und kontrollierten die Umgebung.
Der Senator seufzte. Er würde die Veranstaltung mit der nötigen Würde hinter sich bringen und versuchen, dabei eine gute Figur zu machen. Es konnte nicht schaden, auf dem einen oder anderen Pressefoto aufzutauchen.
*
Der Mann ging sehr sorgfältig vor.
Trotz seines Alters von Ende dreißig bewegte er sich wie eine Raubkatze. Seine schlanke Gestalt wirkte durchtrainiert. Die grauen Strähnen in seinen dunklen Haaren ließen ihn älter aussehen. Eine gezackte Narbe an der linken Wange trug ebenfalls dazu bei. Seine Kleidung war unauffällig wie seine ganze Erscheinung. Auf der Straße ging er leicht gebeugt und etwas schlurfend. Niemand würde einen zweiten Blick auf ihn werfen. Genau das war seine Absicht.
Als Erstes prüfte er den Sitz seiner Handschuhe, um dann den Schreibtisch in Längsrichtung vor das Fenster zu rücken. Danach vergewisserte er sich als gründlicher Mensch ein weiteres Mal davon, dass er das »Bitte-nicht-stören«-Schild so aufgehängt hatte, dass es nicht herunterfallen konnte. Es wäre fatal, wenn ausgerechnet jetzt ein Zimmermädchen klopfen würde, um das Bett aufzuschlagen und ein Stück Schokolade auf das Kopfkissen zu legen, wie es in Hotels dieser Kategorie üblich war.
Er hatte ohnehin nicht die Absicht, hier die Nacht zu verbringen, obwohl er dafür im Voraus bezahlt hatte. Die Folie, die er auf dem Teppichboden und über dem Schreibtisch ausgebreitet hatte und die er wieder mitnehmen würde, knisterte unter seinen Füßen, als er die zwei Schritte zum Bett machte.
Der Mann zog den Reißverschluss seiner großen Sporttasche auf und entnahm ihr das obenauf liegende Stativ, das er an der genau richtigen Position auf dem Schreibtisch platzierte.
Anschließend hob er das in Folie eingepackte Gewehr aus der Tasche, legte es auf das Bett und zog vorsichtig die Folie auseinander. Die zerlegten Teile der Waffe waren einzeln verpackt. Er baute alles zusammen. Mit seiner jahrelangen Erfahrung hätte er das auch blind tun können, doch er achtete genau darauf, dass alle Teile präzise und in der richtigen Reihenfolge ihren Platz fanden. Leichtsinnige Fehler waren in seiner Welt nicht vorgesehen.
Die heutige Aufgabe würde nicht leicht sein. Glücklicherweise war die Sicht gut. Es war hell genug, und es herrschte kaum Wind. Die Bedingungen waren also nahezu perfekt. Andererseits war das Ziel sehr weit entfernt. Doch er hatte schon unter schwierigeren Bedingungen gearbeitet.
Schließlich war alles aufgebaut. Der Mann betrachtete sein Werk. Auf dem Stativ ruhte jetzt ein Dragunow-Scharfschützengewehr vom Typ SWD-K, wie es vom russischen Militär verwendet wurde. Das übliche PSO-Zielfernrohr hatte er durch ein präziseres und sehr viel teureres Gerät von Bushnell ersetzt. Das Magazin mit den Patronen vom Kaliber 9,3 x 64 mm war eingesetzt. Auf der Mündung steckte der Schalldämpfer. Er überlegte kurz, ob die Treffsicherheit wesentlich davon beeinflusst werden könnte. Schließlich war es ein Schuss über eine lange Distanz, zwischen sechshundert und siebenhundert Metern.
Er nahm den Laser-Entfernungsmesser in die Hand. Gleich würde er es genau wissen. Das Dragunow war sicher nicht das beste Scharfschützengewehr der Welt, doch es war zuverlässig und würde mit dieser Distanz zurechtkommen.
Er maß die genaue Entfernung und stellte einige Berechnungen an. Das Geschoss würde eine Anfangsgeschwindigkeit von etwa achthundert Metern in der Sekunde besitzen und war damit mehr als doppelt so schnell wie der Schall. Bis zum Ziel würde es fast eine Sekunde dauern. Er hoffte, dass sein Ziel sich in dieser kurzen Zeitspanne nicht bewegte. Er hatte sehr genaue Instruktionen erhalten, wie er dabei vorgehen sollte.
Dazu gehörte es auch, einige Gegenstände in dem Hotelzimmer zu platzieren. Er griff wieder in seine Tasche und zog eine halbvolle Wodkaflasche heraus, die er unter das Bett rollen ließ. Eine zerdrückte leere Packung einer billigen russischen Zigarettenmarke ließ er in den Papierkorb fallen. Schließlich faltete er eine Zeitung auseinander und legte sie so wieder zusammen, als hätte jemand im Innenteil gelesen. Die Zeitung kam auf den Nachttisch. Kritisch betrachtete er sein Werk und nickte. Alles richtig!
Die Idee seines Auftraggebers, eine falsche Spur zu legen, war schließlich auch in seinem Sinn.
Als Nächstes richtete der Mann das Gewehr auf die Zielposition aus und legte die schalldämpfenden Ohrschützer auf die Schreibtischplatte. Das Fenster würde er erst kurz vor dem Schuss öffnen, um keine vorzeitige Aufmerksamkeit zu erregen. Er war sicher, dass aufgrund der großen Entfernung niemand in der Nähe seiner Zielperson wissen würde, woher der Schuss gekommen war. Vermutlich würden sie ihn daher und wegen des Schalldämpfers nicht einmal hören.
Es würde einige Zeit dauern, bis die Sicherheitsbehörden herausfinden würden, von wo genau der tödliche Schuss gekommen war. Er brauchte diese Zeitspanne unbedingt, um aufzuräumen und danach ungesehen zu verschwinden.
Doch jetzt musste er warten, bis sein Ziel in Sicht kam. Er setzte sich auf die Bettkante und begann mit seinen Meditationsübungen, die ihm die nötige Konzentration für seine Aufgabe verschaffen sollte. Er versank in fast völlige Bewegungslosigkeit.
*
Senator Gerd Eggert stieg mit seiner Frau und in geringem Abstand von seinen beiden Sicherheitsbeamten gefolgt, die Treppe zu der großen Plattform hoch, die sich zwischen dem Altbau der Kunsthalle und der Galerie der Gegenwart befand. Die ebene Fläche, normalerweise ein Tummelplatz für vorwiegend jüngere Besucher, war heute gesperrt, da auf der Treppe zum Altbau eine erste Begrüßung der Gäste erfolgen sollte, bevor sich dann alle ins Innere begaben, um diverse Ansprachen sowie Häppchen und Getränke genießen zu können. Gerd Eggert schwor sich, diesmal den Wein nicht anzurühren, von dem er immer Sodbrennen bekam.
Auf der Treppe hatten sich bereits zahlreiche Menschen versammelt. Ein einsames Mikrofon auf einem Ständer verriet, dass hier gleich jemand reden würde. Gerd Eggert war glücklich, dass er heute nicht gefragt war und nur als Staffage für seine Frau diente.
Es ist ein russischer Künstler, dachte er. Vielleicht haben sie ein paar Flaschen Wodka kalt gestellt.
Dem allgemeinen Händeschütteln konnte er sich nicht entziehen. Der Künstler wurde ihm vorgestellt, doch den Namen vergaß er gleich wieder. Er entdeckte die TV-Kamera eines örtlichen Senders und wandte ihr aus alter Gewohnheit sofort seine fotogene Seite zu. Seine Frau hatte das kleine Manöver bemerkt und kräuselte verächtlich den Mund.
Dann bemerkte er den Mann, der eben die Treppe hochstieg. Der hatte ihm gerade noch gefehlt! Seine Stimmung sank sofort auf einen Tiefpunkt.
Doktor Werner Larsen war ihm zutiefst zuwider. Es handelte sich um einen gut aussehenden, jüngeren Mann von Mitte dreißig, immer modisch gekleidet und immer leicht grinsend, als sei seine gute Laune im Gesicht festgefroren. Er galt ebenfalls als einer der großen Kunstmäzene der Stadt, wurde vom Kunstbetrieb hofiert und umgab sich gern mit aufstrebenden Künstlern.
Seine Frau schätzte ihn, was Gerd Eggert am meisten ärgerte.
Schon standen die beiden wieder zusammen und tuschelten miteinander. Der Senator trat näher und wurde sofort von Larsens falschem Lächeln begrüßt.
»Hallo, Herr Senator! Schön, dass wir uns bei dieser Gelegenheit wiedersehen. Ich habe Ihrer Frau gerade gesagt, welchen Spürsinn sie bewiesen hat, diesen außergewöhnlichen Künstler für unsere Stadt zu entdecken.«
Eggert knurrte etwas Unverständliches und drehte sich um, als jemand an das Mikrofon klopfte. Der Direktor, der die Gäste kurz begrüßen wollte, bevor sich die Menge in die Ausstellungsräume drängte, war nach vorn getreten.
Der junge russische Künstler stand neben dem Mikrofon. Trotz der warmen Witterung trug er eine Wollmütze auf dem Kopf. Seine etwas abgewetzte Kleidung wirkte künstlerisch, schien aber nicht so recht in das Umfeld zu passen. Der Senator, seine Frau und Dr. Larsen bauten sich schräg hinter dem Mikrofon auf, wie sie es von vergleichbaren Veranstaltungen gewohnt waren. Anna Eggert betrachte den neben dem Direktor stehenden jungen Mann mit Wohlgefallen.
Der Senator wiederum stand ziemlich dicht hinter dem Russen, den er um einen Kopf überragte. Etwa einen Meter entfernt hatte sich Larsen positioniert. Alle standen so, dass sie von der Fernsehkamera erfasst wurden.
Kaum hatte der Direktor den ersten Satz ausgesprochen, wirbelte der Künstler um seine eigene Achse und stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Gleichzeitig wurde Senator Gerd Eggert nach hinten geschleudert und fiel mit einer halben Drehung auf die oberste Treppenstufe, wo er regungslos liegenblieb.
Die Sicherheitsbeamten reagierten als Erste. Einer beugte sich über den Senator, als wollte er ihn abschirmen, der andere sicherte mit gezogener Waffe in geduckter Haltung den am Boden Liegenden und ließ seine Blicke kreisen, um den Schützen auszumachen. Auch wenn er den Schuss nicht gehört hatte, wusste er instinktiv sofort, was geschehen war.