Der Tod Jesu - J.M. Coetzee - E-Book

Der Tod Jesu E-Book

J.M. Coetzee

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Beschreibung

J. M. Coetzee unternimmt in seiner »Jesus-Trilogie« eine Reise an das Ende erzählerischer Gewissheiten. Seine Figuren sind ans Land gespülte Menschen. Sie alle sind auf der Suche nach einer Bedeutung, die über sie hinausreicht, sie mit etwas verknüpft, das ihrem Leben »Sinn« verleiht, so fragil er auch sei. »Der Tod Jesu« hat unvergleichliche Sogkraft: David, das Kind, wendet sich von der improvisierten Familie ab, die Simon ihm geschaffen hat. Er will ins Waisenhaus, vor allem will er dort in das Fußballteam. Aber es geht nicht lange gut und David liegt im Spital, in das Kinder und Erwachsene pilgern, um seine Geschichten zu hören. Mit jeder Geschichte, die er erzählt, zieht er sich langsam aus dem Leben zurück. Mit einem Stil, so »scharfsichtig, unsentimental und gnadenlos präzise« (Deutschlandfunk), untersucht der Nobelpreisträger den Abglanz einer Hoffnung, das sanfte Leuchten einer verlorenen Illusion. Die ersten beiden Bände der Trilogie »Die Kindheit Jesu« (2013) und »Die Schulzeit Jesu« (2018) sind ebenfalls bei S. FISCHER erschienen.

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Seitenzahl: 252

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J.M. Coetzee

Der Tod Jesu

Roman

Roman

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

FISCHER E-Books

Inhalt

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzig

Eins

Es ist ein frischer Herbstnachmittag. Er befindet sich auf der Rasenfläche hinter dem Wohnblock und schaut einem Fußballspiel zu. Gewöhnlich ist er der einzige Zuschauer bei diesen Spielen, die zwischen den Kindern aus dem Block ausgetragen werden. Doch heute sind zwei Fremde stehen geblieben, um auch zuzuschauen: ein Mann in einem dunklen Anzug und an seiner Seite ein Mädchen in Schuluniform.

Der Ball fliegt zum linken Flügel, wo David spielt. Er stoppt den Ball, hängt den Verteidiger, der sich ihm entgegenstellen will, mühelos ab und hebt den Ball in die Mitte. Da keiner ihn abfängt, auch der Torwart nicht, überquert er die Torlinie.

Bei diesen Spielen unter der Woche gibt es keine richtigen Mannschaften. Die Jungen teilen sich auf, wie es gerade kommt, steigen ein, steigen aus. Manchmal sind dreißig auf dem Rasen, manchmal nur ein halbes Dutzend. Als David vor drei Jahren zum ersten Mal mitgemacht hat, war er der Jüngste und Kleinste. Nun ist er unter den größeren Jungen, aber flink trotz seiner Größe, antrittsschnell, ein trickreicher Läufer.

Das Spiel erlahmt. Die beiden Fremden kommen näher; der zu ihren Füßen dösende Hund steht auf und reckt den Kopf. »Guten Tag«, sagt der Mann. »Was sind das für Mannschaften?«

»Das ist nur ein Spiel zwischen Kindern aus der Nachbarschaft, die sich zwanglos treffen.«

»Sie sind recht gut«, sagt der Fremde. »Spielt Ihr Sohn mit?«

Ist er Davids Vater? Lohnt es sich zu erklären, was genau er ist? »Der da drüben ist mein Sohn«, sagt er. »David. Der große, dunkelhaarige Junge.«

Der Fremde mustert David, den großen, dunkelhaarigen Jungen, der zerstreut herumschlendert und dem Spiel nicht viel Aufmerksamkeit schenkt.

»Haben die Jungen schon einmal daran gedacht, eine richtige Mannschaft zu bilden?«, fragt der Fremde. »Darf ich mich vorstellen: Julio Fabricante. Das ist Maria Prudencia. Wir kommen von Las Manos. Kennen Sie Las Manos? Nein? Das ist das Waisenheim auf der anderen Seite des Flusses.«

»Simón«, sagt er, Simón. Er gibt Julio Fabricante vom Waisenheim die Hand, nickt Maria Prudencia zu. Maria ist seiner Schätzung nach vierzehn, kräftig gebaut, mit dicken Augenbrauen und gut entwickelter Brust.

»Ich frage, weil wir uns freuen würden, sie zu Gast zu haben. Wir besitzen ein richtiges Spielfeld mit richtigen Markierungen und richtigen Torpfosten.«

»Ich glaube, es reicht ihnen, einfach zu kicken.«

»Ohne Wettkampf verbessert man sich nicht«, sagt Julio.

»Das stimmt. Andererseits würde die Bildung einer Mannschaft bedeuten, dass man elf auswählt und den Rest ausschließt, was dem Ethos widerspricht, auf das sie sich geeinigt haben. So sehe ich das. Aber vielleicht irre ich mich. Vielleicht würden sie in der Tat gern einen Wettkampf bestreiten und sich verbessern. Fragen Sie sie.«

David hat den Ball vor den Füßen. Er täuscht links an und läuft nach rechts und bewegt sich dabei so geschmeidig, dass der Verteidiger ausgetanzt wird. Er spielt den Ball an einen Mannschaftskameraden ab und beobachtet, wie der den Ball lahm in die Arme des Tormanns schlenzt.

»Er ist sehr gut, Ihr Sohn«, sagt Julio. »Ein Naturtalent.«

»Er hat einen Vorteil gegenüber seinen Freunden. Er nimmt Tanzunterricht, deshalb hat er eine gute Körperbeherrschung. Wenn die anderen Jungen auch Tanzunterricht nehmen würden, wären sie genauso gut.«

»Hast du das gehört, Maria?«, sagt Julio. »Vielleicht solltest du Davids Beispiel folgen und Tanzunterricht nehmen.«

Maria starrt vor sich hin.

»Maria Prudencia spielt Fußball«, sagt Julio. »Sie ist eine der Stützen unserer Mannschaft.«

Die Sonne geht unter. Bald wird der Junge, dem der Ball gehört, ihn zurückfordern (»Ich muss gehen«), und die Spieler werden sich auf den Heimweg machen.

»Ich weiß, dass Sie nicht ihr Trainer sind«, sagt Julio. »Ich merke auch, dass Sie nichts für organisierten Sport übrighaben. Trotzdem, lassen Sie es sich im Interesse der Jungen durch den Kopf gehen. Hier ist meine Visitenkarte. Vielleicht hätten sie Spaß daran, als Mannschaft gegen eine andere Mannschaft zu spielen. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«

Dr. Julio Fabricante, Educador, steht auf der Karte. Orfanato de Las Manos, Estrella 4.

»Komm, Bolívar«, sagt er. »Zeit, heimzugehen.«

Der Hund erhebt sich schwerfällig und lässt einen stinkenden Furz fahren.

Beim Abendessen fragt David: »Wer war der Mann, mit dem du gesprochen hast?«

»Er heißt Dr. Julio Fabricante. Hier ist seine Visitenkarte. Er kommt von einem Waisenheim. Er macht den Vorschlag, dass ihr Jungs eine Mannschaft zusammenstellt, um gegen eine Mannschaft vom Waisenheim zu spielen.«

Inés schaut sich die Karte an. »Educador«, sagt sie. »Was bedeutet das?«

»Das ist ein hochtrabender Ausdruck für Lehrer.«

Als er am darauffolgenden Nachmittag zur Rasenfläche kommt, ist Dr. Fabricante schon dort und spricht zu den Jungen, die sich um ihn scharen. »Ihr könnt auch einen Namen für eure Mannschaft wählen«, sagt er. »Und ihr könnt die Farben eurer Mannschaftstrikots wählen.«

»Los Gatos«, sagt ein Junge.

»Las Panteras«, sagt ein anderer.

Las Panteras findet Anklang bei den Jungen, die offenbar von Dr. Julios Vorschlag begeistert sind.

»Wir vom Waisenheim nennen uns Los Hálcones, nach dem Habicht, dem Vogel mit dem allerschärfsten Auge.«

David spricht: »Warum nennt ihr euch nicht Los Huérfanos?«

Verlegene Stille. »Weil wir, junger Mann«, sagt Dr. Fabricante, »keine Vorteile wollen. Wir wollen nicht, dass man uns gewinnen lässt, weil wir sind, was wir sind.«

»Sind Sie eine Waise?«, fragt David.

»Nein, ich selbst bin zufällig keine Waise, aber ich bin für das Waisenheim verantwortlich und wohne dort. Ich bringe Waisen viel Respekt und Liebe entgegen. Es gibt mehr von ihnen auf der Welt, als ihr vielleicht glaubt.«

Die Jungen verstummen. Auch er, Simón, schweigt.

»Ich bin eine Waise«, sagt David. »Kann ich für eure Mannschaft spielen?«

Die Jungen kichern. Sie sind an Davids Provokationen gewöhnt. »Hör auf damit, David!«, zischt einer von ihnen.

Es ist an der Zeit für ihn, sich einzuschalten. »Ich bin mir nicht sicher, David, dass du verstehst, was es heißt, eine Waise zu sein, eine richtige Waise. Eine Waise hat keine Familie, kein Zuhause. Hier kommt Dr. Julio ins Spiel. Er bietet Waisen ein Zuhause. Du hast schon ein Zuhause.« Er wendet sich an Dr. Julio. »Entschuldigen Sie, dass Sie in einen Familienstreit hineingezogen werden.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Die Frage, die David aufwirft, ist wichtig. Was bedeutet es, eine Waise zu sein? Bedeutet es einfach, dass man keine sichtbaren Eltern hat? Nein. Waise sein heißt im Grunde, allein auf der Welt zu sein. Wir sind also in gewisser Hinsicht alle Waisen, denn wir sind im Grunde alle allein auf der Welt. Wie ich den jungen Menschen in meiner Obhut sage, gibt es keinen Grund, sich für das Leben in einem Waisenheim zu schämen, denn ein Waisenheim ist ein Mikrokosmos der Gesellschaft.«

»Sie haben mir nicht geantwortet«, sagt David. »Kann ich für eure Mannschaft spielen?«

»Es wäre besser, wenn du für deine eigene Mannschaft spielen würdest«, sagt Dr. Julio. »Wenn alle für Los Halcones spielten, gäbe es niemanden, gegen den wir spielen könnten. Dann gäbe es keinen Wettkampf.«

»Ich frage nicht für jeden. Ich frage nur für mich.«

Dr. Julio wendet sich an ihn, Simón. »Was halten Sie davon, Señor? Gefällt Ihnen Las Panteras als Name für eure Fußballmannschaft?«

»Dazu habe ich keine Meinung«, antwortet er. »Ich möchte den jungen Leuten nicht meinen Geschmack aufdrängen.« Damit begnügt er sich. Gern würde er hinzufügen: Diese jungen Leute, die glücklich damit waren, Fußball auf ihre Weise zu spielen, bis Sie auf der Bildfläche erschienen sind.

Zwei

Sie wohnen jetzt das vierte Jahr im Wohnblock. Obwohl Inés’ Wohnung im ersten Stock groß genug für alle drei ist, hat er in beiderseitiger Übereinkunft eine eigene Wohnung im Erdgeschoss gemietet, kleiner und schlichter möbliert. Er konnte sich das leisten, seit seine Einkünfte durch eine Erwerbsunfähigkeitsrente aufgrund eines Rückenschadens, der nie richtig ausgeheilt war, aufgebessert wurden. Dieser Schaden rührt von seiner Zeit als Schauermann in Novilla her.

Er hat ein eigenes Einkommen und eine eigene Wohnung, aber er hat keinen Freundeskreis, nicht weil er ein ungeselliger Mensch oder Estrella eine unfreundliche Stadt ist, sondern weil er vor langer Zeit beschlossen hat, sich ohne Einschränkung der Erziehung des Jungen zu widmen. Inés dagegen verbringt ihre Tage und manchmal auch ihre Abende damit, sich um die Modeboutique zu kümmern, die sie zur Hälfte besitzt. Ihre Freundinnen und Freunde kommen von Modas Modernas und der breiteren Modewelt. Er interessiert sich absichtlich nicht für diese Freundschaften. Ob unter ihren Freunden auch Liebhaber sind, weiß er nicht und möchte es auch nicht wissen, solange sie weiter eine gute Mutter ist.

Unter ihren Fittichen hat sich David prächtig entwickelt. Er ist stark und gesund. Vor Jahren, als sie in Novilla lebten, hatten sie einen Streit mit dem öffentlichen Schulwesen. Davids Lehrer fanden ihn obstinado, widerspenstig. Seitdem haben sie ihn aus den öffentlichen Schulen herausgehalten.

Er, Simón, ist zuversichtlich, dass ein Kind mit einer solch deutlichen angeborenen Intelligenz keine formelle Schulbildung braucht. Er ist ein außergewöhnliches Kind, sagt er zu Inés – wer kann voraussagen, wo seine Begabung liegt? Inés ist in ihren umgänglicheren Momenten bereit, ihm zuzustimmen.

In der Musikakademie von Estrella bekommt David Gesangs- und Tanzunterricht. Der Gesangsunterricht wird vom Direktor der Akademie, Juan Sebastián Arroyo, geleitet. Was den Tanz betrifft, gibt es niemanden in der Akademie, der ihm irgendetwas beibringen kann. An den Tagen, an denen er im Unterricht auftaucht, tanzt er, wie er will; die übrigen Schüler folgen ihm, oder wenn sie nicht folgen können, sehen sie zu.

Auch er, Simón, ist ein Tänzer, obwohl spät dazu bekehrt und ohne Begabung. Er tanzt an den Abenden, ganz privat und allein. Nachdem er seinen Schlafanzug angezogen hat, stellt er das Grammophon in gedämpfter Lautstärke an und tanzt für sich, mit geschlossenen Augen und lange genug, dass sein Kopf leer wird. Dann schaltet er die Musik aus, geht zu Bett und schläft den Schlaf des Gerechten.

An den meisten Abenden ist die Musik eine Tanzsuite für Querflöte und Violine, von Arroyo komponiert zur Erinnerung an den Tod seiner zweiten Frau Ana Magdalena. Die Tänze haben keinen Titel; die Schallplatte, die im Hinterzimmer eines Ladens in der Stadt gepresst wurde, hat kein Label. Die Musik an sich ist langsam und würdevoll und traurig.

David lässt sich nicht dazu herab, eine normale Schule zu besuchen, und besonders nicht dazu, wie ein normaler Zehnjähriger Rechenaufgaben zu lösen, weil er ein Vorurteil gegen die Mathematik hat, das von der verstorbenen Señora Arroyo bei ihm unterstützt wurde. Sie hat allen Schülern, die durch ihre Hände gingen, eingeprägt, dass ganze Zahlen Gottheiten sind, himmlische Einheiten, die schon existierten, bevor die physische Welt entstand, und weiter existieren werden, nachdem die Welt zu Ende gegangen ist, und die daher Verehrung verdienen. Die Zahlen miteinander zu vermischen (adición, sustracción) oder sie zu zerhacken (fracciones) oder sie anzuwenden, um Ziegelsteinmengen oder Mehlmengen zu messen (la medida), stellt eine Beleidigung ihrer Göttlichkeit dar.

Zu seinem zehnten Geburtstag haben er und Inés David eine Uhr geschenkt, die David nicht tragen will, weil (wie er sagt) sie die Zahlen kreisförmig anordnet. Neun Uhr mag ja vor zehn Uhr sein, sagt er, aber neun ist weder vor noch nach zehn.

Señora Arroyos Verehrung der Zahlen, die in den Tänzen, die sie ihren Schülern beibrachte, ihren Ausdruck fand, hat David eine ganz eigene Marotte hinzugefügt: die Identifizierung bestimmter Zahlen mit bestimmten Sternen am Himmel.

Er, Simón, versteht die Zahlenphilosophie nicht (die er persönlich nicht für eine Philosophie, sondern für einen Kult hält), die in der Akademie verkündet wird – offen von der verstorbenen Señora, diskreter vom Witwer Arroyo und von seinen Musikerfreunden. Er versteht sie nicht, doch er toleriert sie, nicht nur aus Rücksicht auf David, sondern auch weil ihm, wenn er in der rechten Stimmung ist, bei seinem einsamen Tanzen am Abend manchmal eine Vision erscheint, kurz und flüchtig, eine Vision dessen, wovon Señora Arroyo beständig gesprochen hat: zahllose silberne Sphären, die im unendlichen Raum mit einem unirdischen Summen umeinanderkreisen.

Er tanzt, er hat Visionen, doch er hält sich nicht für einen Anhänger des Zahlenkults. Für seine Visionen hat er eine vernünftige Erklärung, eine, die ihn die meiste Zeit befriedigt: der einschläfernde Rhythmus des Tanzes, die hypnotische Melodie der Flöte rufen einen Trancezustand hervor, in dem aus den Tiefen der Erinnerung geschöpfte Bruchstücke vor dem inneren Auge herumwirbeln.

 

David kann oder will nicht rechnen. Noch beunruhigender ist, dass er nicht lesen will. Das heißt, nachdem er sich selbst das Lesen aus Don Quijote beigebracht hat, zeigt er kein Interesse, irgendein anderes Buch zu lesen. Er kennt Don Quijote auswendig, in einer verkürzten Version für Kinder; er behandelt es nicht als erfundene Erzählung, sondern als wahre Geschichte. Irgendwo auf der Welt, oder wenn nicht in dieser Welt, dann in der nächsten, ist Don Quijote auf seinem Ross Rosinante unterwegs, und auf einem Esel trottet Sancho neben ihm.

Sie haben sich über Don Quijote gestritten, er und der Junge. Wenn du dich nur für andere Bücher öffnen würdest, sagt er, würdest du entdecken, dass die Welt eine Vielzahl anderer Helden außer dem Don hat, und auch Heldinnen, die vom fruchtbaren Geist der Autoren aus dem Nichts beschworen wurden. Und ja, da du ein begabtes Kind bist, könntest du eigene Helden erschaffen und sie in die Welt hinausschicken, damit sie Abenteuer erleben.

David hört ihm kaum zu. »Ich will keine anderen Bücher lesen«, sagt er geringschätzig. »Ich kann schon lesen.«

»Du hast ein falsches Verständnis davon, was Lesen bedeutet. Lesen ist nicht nur, wenn man gedruckte Zeichen in Laute umsetzt. Lesen ist etwas Tieferes. Wahres Lesen bedeutet, darauf zu hören, was das Buch zu sagen hat, und darüber nachzudenken – vielleicht sogar sich in Gedanken mit dem Autor zu unterhalten. Es bedeutet, etwas über die Welt zu lernen – über die Welt, wie sie wirklich ist, nicht wie du sie dir wünschst.«

»Warum?«, fragt David.

»Warum? Weil du jung und unwissend bist. Du wirst dich nur von deiner Unwissenheit befreien, wenn du dich für die Welt öffnest. Und die beste Art, dich für die Welt zu öffnen, ist zu lesen, was andere Menschen zu sagen haben, Menschen, die weniger unwissend sind als du.«

»Ich weiß Bescheid über die Welt.«

»Das stimmt nicht. Du weißt gar nichts von der Welt, was über deine eigene beschränkte Erfahrung hinausgeht. Tanzen und gegen einen Fußball treten sind an und für sich gute Aktivitäten, aber sie lehren dich nichts über die Welt.«

»Ich lese Don Quijote.«

»Noch einmal, Don Quijote ist nicht die Welt. Beileibe nicht. Don Quijote ist eine erfundene Geschichte von einem alten Mann, der sich etwas vormacht. Es ist ein vergnügliches Buch, es zieht dich in seine Phantasie hinein, aber Phantasie ist nicht Wirklichkeit. Eigentlich ist die Botschaft des Buches genau die, Leser wie dich davor zu warnen, in eine unwirkliche Welt hineingezogen zu werden, in eine Phantasiewelt, wie es mit Don Quijote geschieht. Erinnerst du dich nicht daran, wie das Buch damit endet, dass Don Quijote wieder zur Vernunft kommt und seine Nichte beauftragt, seine Bücher zu verbrennen, damit niemand zukünftig verlockt werde, seinem verrückten Pfad zu folgen?«

»Aber sie verbrennt seine Bücher nicht.«

»Doch! Das steht vielleicht so nicht im Buch, aber sie tut es! Sie ist nur zu froh, sie loszuwerden.«

»Aber Don Quijote verbrennt sie nicht.«

»Sie kann Don Quijote nicht verbrennen, weil sie in Don Quijote ist. Man kann kein Buch verbrennen, wenn man in ihm ist, wenn man ein Charakter darin ist.«

»Man kann es. Aber sie macht es nicht. Denn wenn sie es gemacht hätte, würde ich Don Quijote nicht haben. Es wäre verbrannt worden.«

Aus diesen Streitgesprächen mit dem Jungen geht er irritiert, doch seltsam stolz hervor: irritiert, weil er einen Zehnjährigen nicht bei einer Diskussion besiegen kann; stolz, weil der Zehnjährige ihn so geschickt durcheinanderbringen kann. Mag sein, das Kind ist faul, mag sein, das Kind ist überheblich, sagt er sich, aber dumm ist das Kind wenigstens nicht.

Drei

Ab und zu beordert der Junge sie beide nach dem Abendessen auf das Sofa (»Komm her, Inés! Komm her, Simón!«) und führt für sie un espectáculo auf, so nennt er es, eine Show. Das sind die Momente, in denen sie sich als Familie am engsten verbunden fühlen und die Zuneigung des Jungen zu ihnen sich am deutlichsten zeigt.

Die Lieder, die David in seinen espectáculos singt, stammen aus dem Gesangsunterricht, den er bei Señor Arroyo bekommt. Viele davon sind eigene Kompositionen Arroyos, gerichtet an ein tú, das sehr wohl Arroyos verstorbene Frau sein mag. Inés findet sie ungeeignet für Kinder, und er neigt dazu, ihren Vorbehalt zu teilen. Dennoch muss es Arroyos Stimmung heben, seine Schöpfungen von einer so reinen, klaren jungen Stimme wie der Davids umgesetzt zu hören, denkt er bei sich.

»Inés, Simón, wollt ihr ein Rätsellied hören?«, fragt der Junge am Abend nach Fabricantes Besuch. Und mit ungewöhnlicher Dringlichkeit und Kraft erhebt er die Stimme und singt:

In diesem Wetter, in diesem Braus,

nie hätt’ ich gesendet das Kind hinaus –

Ja, in diesem Wetter, in diesem Braus,

durft’st du nicht senden das Kind hinaus!

»Ist das alles?«, fragt Inés. »Es ist sehr kurz für ein Lied.«

»Ich habe es heute Juan Sebastián vorgesungen. Ich wollte eigentlich ein anderes Lied singen, aber als ich den Mund aufgemacht habe, kam das da heraus. Wisst ihr, was es bedeutet?«

Er wiederholt das Lied langsam und artikuliert die seltsamen Worte sorgfältig.

»Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Es ist in einer fremden Sprache. Was hat denn Señor Arroyo dazu gesagt?«

»Er weiß es auch nicht. Doch er hat gemeint, ich brauche keine Angst zu haben. Er hat gesagt, wenn ich in diesem Leben nicht weiß, was es bedeutet, dann werde ich es im nächsten Leben herausfinden.«

Er, Simón, fragt: »Hat er daran gedacht, dass das Lied nicht aus dem nächsten Leben, sondern aus deinem vorigen Leben kommen könnte, aus dem Leben, das du hattest, bevor du an Bord des großen Schiffes gegangen bist und den Ozean überquert hast?«

Der Junge schweigt. Damit endet das Gespräch und auch das espectáculo des Abends. Aber am nächsten Tag, als er und David allein sind, kommt der Junge auf das Thema zurück.

»Wer war ich, Simón, bevor ich den Ozean überquert habe? Wer war ich, bevor ich Spanisch zu sprechen begann?«

»Ich würde sagen, du warst dieselbe Person, die du heute bist, außer dass du anders ausgesehen, einen anderen Namen gehabt und eine andere Sprache gesprochen hast, und das alles wurde weggewaschen, als du den Ozean überquert hast, zusammen mit deinen Erinnerungen. Trotzdem, um die Frage ›Wer war ich?‹ zu beantworten, würde ich sagen, dass du, in deinem Herzen, in deinem Innersten, du selbst warst, einzig und allein du selbst. Sonst würde es keinen Sinn ergeben zu behaupten, dass du die Sprache vergessen hast, die du gesprochen hast, und so weiter. Denn wer sonst war da, um zu vergessen, außer du selbst, das Selbst, das du im Herzen bewahrst? So sehe ich das.«

»Aber ich habe nicht alles vergessen, stimmt’s? In diesem Wetter, in diesem Braus – ich erinnere mich daran, nur kann ich mich nicht erinnern, was es bedeutet.«

»In der Tat. Oder vielleicht kommen die Worte nicht aus deinem vergangenen Leben zu dir, sondern, wie Señor Arroyo andeutet, aus deinem nächsten Leben. In diesem Fall wäre es falsch zu sagen, die Worte kommen aus der memoria, aus der Erinnerung, weil wir uns nur an Dinge erinnern können, die vergangen sind. Stattdessen würde ich deine Worte profecía nennen, Voraussage. Es wäre, als würdest du dich an die Zukunft erinnern.«

»Was ist es nun, was glaubst du, Simón, Vergangenheit oder Zukunft? Ich glaube, es ist Zukunft. Ich glaube, es kommt aus meinem nächsten Leben. Kannst du dich an die Zukunft erinnern?«

»Nein, leider erinnere ich mich an gar nichts, weder an die Vergangenheit noch die Zukunft. Verglichen mit dir jungem Burschen, David, bin ich ein sehr langweiliger Geselle, in keiner Weise außergewöhnlich, tatsächlich das genaue Gegenteil von außergewöhnlich. Ich lebe in der Gegenwart wie ein Ochse. Es ist ein großes Geschenk, wenn man sich erinnern kann, sei es an die Vergangenheit oder die Zukunft, wie Señor Arroyo sicher bestätigen würde. Du solltest immer ein Notizbuch dabeihaben, damit du aufschreiben kannst, wenn du dich an etwas erinnerst, selbst wenn es keinen Sinn ergibt.«

»Oder aber ich kann dir erzählen, an was ich mich erinnere, und du kannst es aufschreiben.«

»Eine gute Idee. Ich könnte dein secretario sein, der Mann, der deine Geheimnisse aufschreibt. Wir könnten ein Projekt daraus machen, du und ich. Statt darauf zu warten, dass du dich an etwas erinnerst – an das Rätsellied zum Beispiel –, könnten wir jeden Tag ein paar Minuten reservieren, wenn du morgens aufwachst oder kurz bevor du einschläfst, eine gewisse Zeit, in der du dich konzentrierst und an etwas aus der Vergangenheit oder der Zukunft zu erinnern versuchst. Wollen wir das machen?«

Der Junge schweigt.

Vier

Am Freitag derselben Woche verkündet David unvermittelt: »Inés, morgen werde ich richtigen Fußball spielen. Du musst mit Simón kommen und zuschauen.«

»Morgen? Morgen kann ich nicht kommen, mein Lieber. Sonnabend ist im Geschäft viel los.«

»Ich spiele für eine richtige Mannschaft. Ich bin Nummer 9. Ich muss ein weißes Trikot tragen. Du musst eine Zahl 9 machen und sie auf den Rücken aufnähen.«

Die Details der neuen Ära, der Ära des richtigen Fußballs, tauchen eins nach dem anderen auf. Um neun am Morgen wird ein Kleinbus kommen, um die Jungen vom Wohnblock abzuholen. Die Jungen müssen weiße Trikots mit schwarzen Nummern, von eins bis elf, auf dem Rücken tragen. Punkt zehn Uhr werden sie unter dem Namen Las Panteras gegen Los Hálcones, die Mannschaft vom Waisenheim, auflaufen.

»Wer hat eure Mannschaft ausgewählt?«, fragt er.

»Ich.«

»Bist du dann der Kapitän, der Anführer?«

»Ja.«

»Und wer hat dich zum Kapitän gemacht?«

»Alle Jungen. Sie wollen mich als Kapitän. Ich habe ihnen ihre Nummern gegeben.«

Der Bus vom Waisenheim kommt pünktlich am nächsten Morgen, gefahren von einem schweigsamen Mann im blauen Overall. Nicht alle Jungen sind fertig – sie müssen einen Boten schicken, um Carlitos zu wecken, der verschlafen hat –, und nicht alle haben, wie angewiesen, weiße Trikots mit schwarzen Nummern an – außerdem haben nicht alle richtige Fußballschuhe. Doch David hat, dank des näherischen Geschicks von Inés, eine elegante Nummer 9 auf seinem Trikot und sieht voll und ganz wie der Kapitän aus.

Er und Inés verabschieden sie und folgen ihnen dann mit dem Auto – die Aussicht, ihren Sohn eine Mannschaft von Fußballern aufs Spielfeld führen zu sehen, siegt über die Arbeit im Geschäft.

Das Waisenheim befindet sich auf der anderen Seite des Flusses, in einem Stadtteil, den zu erkunden es für ihn nie einen Grund gab. Sie folgen dem Bus über eine Brücke, durch ein Industrieviertel, dann eine schmale, ausgefahrene Straße zwischen einem Speicher und einem Holzlager hinunter, um an einem überraschend angenehmen Ort beim Fluss anzukommen: ein Komplex flacher Sandsteingebäude, beschattet von Bäumen, mit einem Sportplatz, auf dem Kinder jeglichen Alters durcheinanderlaufen, gekleidet in die adretten dunkelblauen Uniformen des Waisenheims.

Es weht ein scharfer Wind. Inés hat den Schutz einer Jacke mit hohem Kragen; er, der weniger vorausschauend war, hat nur einen Pullover an.

»Das ist Dr. Fabricante«, sagt er und zeigt ihn ihr, »der Mann mit dem schwarzen Trikot und den schwarzen Shorts. Offenbar wird er der Schiedsrichter sein.«

Dr. Fabricante entlockt seiner Pfeife ein gebieterisches Pfeifsignal nach dem anderen und wedelt mit den Armen. Die Meute der Kinder flitzt vom Feld, die beiden Mannschaften stellen sich hinter ihm auf, die Waisen tipptopp in blauen Trikots, weißen Shorts und schwarzen Schuhen, die Jungen aus dem Wohnblock in ihren bunt gemischten Sachen und Schuhen.

Sofort fällt ihm die Ungleichheit, was die Körpergröße betrifft, zwischen beiden Mannschaften auf. Die Kinder in Blau sind einfach viel größer. Unter ihnen ist sogar ein Mädchen, das er an ihren stämmigen Oberschenkeln und dem gut entwickelten Busen als Maria Prudencia wiedererkennt. Es gibt auch Jungen, die eindeutig postpubertär aussehen. Im Vergleich dazu wirken die Besucher mickrig.

Vom Anstoß an weichen die jungen Panteras zurück, scheuen davor zurück, sich mit den schwereren Gegnern anzulegen. Im Handumdrehen hat die Mannschaft in Blau sich durchgeboxt und ihr erstes Tor geschossen, bald darauf ein zweites.

Verärgert wendet er sich an Inés. »Das ist kein Fußballspiel, das ist Kindermord!«

Der Ball fällt einem der Jungen aus Davids Mannschaft vor die Füße. Wild stößt er ihn nach vorn. Zwei seiner Kameraden jagen hinterher, aber er wird von Maria Prudencia abgefangen, die über dem Ball steht und sie herausfordert, ihn ihr wegzunehmen. Sie erstarren. Verächtlich spielt sie ihn seitlich einem Mannschaftskameraden zu.

Die von den Waisen verfolgte Taktik ist schlicht, doch effektiv: Sie spielen den Ball systematisch nach vorn, stoßen die Gegner mit der Schulter aus dem Weg, bis sie ihn am glücklosen Torhüter vorbei schießen können. Als Dr. Fabricante Halbzeit pfeift, steht es 10:0. Zitternd im scharfen Wind, drängen sich die Kinder aus dem Wohnblock zusammen und warten darauf, dass das Abschlachten weitergeht.

Dr. Fabricante pfeift das Spiel wieder an. Der Ball prallt an jemandem ab und trudelt zu David. Mit dem Ball am Fuß gleitet er am ersten Gegner vorbei, am zweiten und dritten und spitzelt ihn ins Tor.

Eine Minute später wird ihm der Ball wieder zugespielt. Mit Leichtigkeit umspielt er die Verteidiger; aber dann, statt aufs Tor zu schießen, spielt er den Ball an einen Mannschaftskameraden ab und sieht zu, wie er ihn hoch über die Torlatte schießt.

Das Spiel endet. Entmutigt traben die Jungen vom Wohnblock vom Feld, während die Sieger von einer jubelnden Schar umringt werden.

Dr. Fabricante kommt mit großen Schritten zu ihnen herüber. »Ich bin sicher, Sie haben das Spiel genossen. Es war ein wenig einseitig – dafür entschuldige ich mich. Aber es ist für unsere Kinder wichtig, dass sie sich gegen die Welt da draußen beweisen. Wichtig für ihre Selbstachtung.«

»Unsere Jungen sind wohl kaum die Welt da draußen«, erwidert er, Simón. »Es sind nur Jungen, die gern kicken. Wenn Sie Ihre Mannschaft wirklich testen wollen, sollten Sie gegen einen stärkeren Gegner spielen. Findest du nicht auch, Inés?«

Inés nickt.

Er ist zornig genug, dass es ihm egal ist, ob Dr. Fabricante Anstoß nimmt. Doch nein, Fabricante wischt den Tadel fort. »Gewinnen und verlieren ist nicht alles«, sagt er. »Worauf es ankommt, ist, dass Kinder teilnehmen, ihr Bestes leisten, das Maximale aus sich herausholen. Aber in bestimmten Fällen wird das Gewinnen doch zu einem wichtigen Faktor. Der unsere ist solch ein Fall. Warum? Weil unsere Kinder mit einem Nachteil starten. Sie müssen sich beweisen, dass sie sich mit Außenstehenden messen können – sich messen und durchsetzen können. Das leuchtet Ihnen doch gewiss ein.«

Das leuchtet ihm überhaupt nicht ein; aber er hat nicht das Bedürfnis, sich zu streiten. Ihm gefällt Dr. Fabricante, educador, nicht; er hofft, ihn nie wiederzusehen. »Ich friere«, sagt er, »und bestimmt frieren die Kinder auch. Wo steckt der Fahrer?«

»Er wird gleich da sein«, sagt Dr. Fabricante. Er macht eine Pause und spricht dann Inés an: »Señora, kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«

Er, Simón, schlendert davon. Die Kinder aus dem Waisenheim haben vom Spielfeld Besitz ergriffen und sind in ihre verschiedenen Spiele vertieft. Sie ignorieren die besiegten Besucher, die unglücklich auf den Bus warten, der sie nach Hause bringen soll.

Der Bus kommt, Las Panteras klettern hinein. Sie sind bereit zur Abfahrt, als Inés gebieterisch ans Fenster klopft: »David, du kommst mit uns.«

Widerstrebend steigt David aus dem Bus. »Kann ich nicht mit den anderen fahren?«, fragt er.

»Nein«, sagt Inés grimmig.

Auf der Rückfahrt, im Auto, offenbart sich der Grund für ihre schlechte Laune. »Stimmt es, dass du Dr. Fabricante gesagt hast, du willst von zu Hause weg und in seinem Waisenheim wohnen?«, fragt sie.

»Ja.«

»Warum hast du das gesagt?«

»Weil ich eine Waise bin. Weil du und Simón nicht meine echten Eltern seid.«

»Und das hast du ihm gesagt?«

»Ja.«

Er, Simón, schaltet sich ein. »Lass dich nicht provozieren, Inés. Niemand nimmt Davids Geschichten ernst, am wenigsten ein Mann, der ein Waisenheim leitet.«

»Ich möchte für ihre Mannschaft spielen«, sagt der Junge.

»Du verlässt dein Zuhause wegen Fußball? Um Fußball für das Waisenheim zu spielen? Weil du dich für deine eigene Mannschaft schämst, für deine Freunde? Willst du uns das sagen?«

»Dr. Julio hat gesagt, ich kann in seiner Mannschaft spielen. Aber zuerst muss ich eine Waise sein. Das ist die Regel.«

»Und du hast gesagt: Sehr gut, ich werde mich von meinen Eltern lossagen und behaupten, eine Waise zu sein, und das alles wegen Fußball?«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: Warum ist das die Regel? Und er hat gesagt: Deshalb.«

»Ist das alles, was er gesagt hat: Deshalb?«

»Er hat gesagt, wenn es keine Regel gäbe, würde jeder für ihre Mannschaft spielen wollen, weil sie so gut sind.«

»Sie sind nicht gut, sie sind nur groß und stark. Was hat Dr. Fabricante sonst noch gesagt?«

»Ich habe gesagt, ich bin eine Ausnahme. Und er hat gesagt, wenn jeder eine Ausnahme ist, dann funktionieren Regeln nicht. Er hat gesagt, das Leben ist wie ein Fußballspiel, man muss die Regeln einhalten. Er ist wie du. Er versteht nichts.«

»Nun, wenn Dr. Julio nichts versteht und wenn seine Mannschaft nur ein Haufen Rüpel ist, warum willst du dann zu ihm und in seinem Waisenheim leben? Geht es nur darum, für eine erfolgreiche Fußballmannschaft zu spielen?«

»Was ist so schlecht daran zu gewinnen?«

»Es ist nichts Schlechtes daran zu gewinnen. Und es ist auch nichts Schlechtes daran zu verlieren. In der Regel ist es eigentlich besser, unter den Verlierern zu sein als unter Leuten, die um jeden Preis gewinnen wollen, würde ich sagen.«

»Ich will ein Gewinner sein. Ich will um jeden Preis gewinnen.«

»Du bist ein Kind. Du hast nur wenig Erfahrung. Du hast noch keine Gelegenheit gehabt zu sehen, was mit Menschen geschieht, die um jeden Preis gewinnen wollen. Sie werden zu Rüpeln und Tyrannen, die meisten von ihnen.«

»Das ist ungerecht! Wenn ich etwas sage, was dir nicht gefällt, dann sagst du, ich bin ein Kind, also zählt nicht, was ich sage. Es zählt nur, wenn ich einer Meinung mit dir bin. Warum muss ich immer einer Meinung mit dir sein? Ich will nicht reden wie du, und ich will nicht sein wie du! Ich will sein, der ich sein will!«