Von hier nach da - J.M. Coetzee - E-Book

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J.M. Coetzee

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Beschreibung

2008, kurz nachdem sie sich in Australien begegnet waren, schrieb J. M. Coetzee an Paul Auster in New York und bot ihm an, gemeinsam einen Briefwechsel zu führen. Bis 2011 debattieren sie freimütig sie über den Lauf der Welt: von Tennis bis Vatersein, von erotischer Attraktion bis Finanzkrise, von Hochzeit zu Liebe. Scharfsinnig denken sie über unsere Gegenwart nach und bieten dem Leser in ihren manchmal ausgelassenen Briefen Einblick in ihr Leben und ein ungeschütztes Porträt ihrer Freundschaft. Und sie erklären, warum es manchmal besser ist, Laub zu harken, als Romane zu lesen.

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Seitenzahl: 298

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J.M. Coetzee | Paul Auster

VON HIER NACH DA

BRIEFE 2008 - 2011

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke und Werner Schmitz

FISCHER E-Books

Inhalt

VON HIER NACH DAAn Paul, 14. - 15. Juli 2008An John, 29. Juli 2008An Paul, 12. September 2008An Paul, 11. September 2008An John, 22. September 2008An John, 28. Oktober 2008An Siri, 6. Dezember 2008Brief an P.A.An John, 9. Dezember 2008An John, 14. Dezember 2008An Siri, 30. Dezember 2008An Paul, 30. Dezember 2008An John, 1. Januar 2009An Paul, 5. Januar 2009An John, 10. Januar 2009An Paul, 26. Januar 2009An John, 2. Februar 2009An Paul, 15. März 2009An John, 16. März 2009An Paul, 6. April 2009An John, 8. April 2009An Paul, 24. April 2009An John, 25. April 2009An Paul, 11. Mai 2009An John, 11. Mai 2009An Paul, 27. Mai 2009An Paul, 6. Juli 2009An Paul, 24. August 2009An John, 29. August 2009An John, 13. September 2009An Paul, 26. September 2009An John, 29. September 2009An John, 1. Oktober 2009An Paul, 9. Oktober 2009An John, 10. Oktober 2009An Paul, 14. Oktober 2009An John, 23. Oktober 2009An Paul, 2. November 2009An John, 13. November 2009An John, 22. November 2009An Paul, 15. Dezember 2009An John, 18. Dezember 2009An Paul, 7. Januar 2010An John, 12. Januar 2010An Paul, 19. Februar 2010An John, 23. Februar 2010An Paul, 29. März 2010An John, 7. April 2010An Paul, 17. April 2010An John, 20. April 2010An John, 11. Mai 2010An Paul, 4. Juli 2010An John, 5. Juli 2010An Paul, 19. Juli 2010An John, 21. Juli 2010An Paul, 29. Juli 2010An John, 29. Juli 2010An Paul, 18. August 2010An John, 21. August 2010An Paul, 4. September 2010An John, 6. September 2010An Paul, 21. Oktober 2010An John, 22. Oktober 2010An Paul, 11. November 2010An John, 12. November 2010An Paul, 29. November 2010An John, 3. Dezember 2010An Paul, 19. Januar 2011An John, 28. Januar 2011An Paul, 3. März 2011An Paul, 7. März 2011An John, 8. März 2011An Paul, 14. März 2011An John, 28. März 2011An Paul, 7. April 2011An John, 22. April 2011An John, 24. Mai 2011An Paul, 5. Mai 2011An John, 14. Juni 2011An Paul, 29. August 2011

VON HIER NACH DA

BRIEFE2008 – 2011

 

14. – 15. Juli 2008

 

Lieber Paul,

 

ich habe über Freundschaften nachgedacht, wie sie entstehen, warum sie so lang halten – einige von ihnen, länger als die leidenschaftlichen Beziehungen, für deren blasse Imitationen sie manchmal (fälschlicherweise) gehalten werden. Ich war dabei, Dir über all das einen Brief zu schreiben, und wollte mit der Beobachtung anfangen, dass es erstaunlich ist, wie wenig über das Thema geschrieben wurde, wenn man bedenkt, wie wichtig Freundschaften im gesellschaftlichen Leben sind und wie viel sie uns bedeuten, besonders in der Kindheit.

Aber dann fragte ich mich, ob das wirklich stimmt. Bevor ich mich also hinsetzte und schrieb, ging ich in die Bücherei, um eine schnelle Kontrolle durchzuführen. Und siehe da, ich hätte mich nicht gründlicher irren können. Der Katalog der Bücherei beinhaltete ganze Bücher über das Thema, Dutzende von Büchern, viele davon ziemlich neu. Aber als ich einen Schritt weiter ging und mir diese Bücher näher ansah, gewann ich meine Selbstachtung einigermaßen wieder. Ich hatte doch recht gehabt, jedenfalls teilweise: Was die Bücher über Freundschaft zu sagen hatten, war meist nicht besonders interessant. Freundschaft bleibt anscheinend etwas rätselhaft: Wir wissen, dass sie wichtig ist, aber warum Menschen Freunde werden und Freunde bleiben, können wir nur vermuten.

(Was meine ich, wenn ich sage, was darüber geschrieben wurde, ist nicht besonders interessant? Man vergleiche Freundschaft mit Liebe. Es gibt Hunderte interessante Dinge über die Liebe zu sagen. Zum Beispiel: Männer verlieben sich in Frauen, die sie an ihre Mütter erinnern, oder vielmehr, die sie sowohl an ihre Mütter erinnern als wiederum nicht, die gleichzeitig ihre Mütter sind und es nicht sind. Stimmt das? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Interessant? Mit Sicherheit. Nun zur Freundschaft. Wen wählen sich Männer zu Freunden? Andere Männer ungefähr des gleichen Alters, mit ähnlichen Interessen, zum Beispiel Interesse für Bücher. Stimmt das? Vielleicht. Interessant? Mit Sicherheit nicht.)

Gestatte mir, die wenigen Überlegungen zur Freundschaft anzuführen, die ich bei meinen Besuchen in der Bücherei als wirklich interessant herausgefiltert habe.

Punkt 1: Man kann sich nicht mit einem unbelebten Objekt anfreunden, sagt Aristoteles (Ethik, Kapitel 8). Natürlich nicht! Wer hat das jemals behauptet? Dennoch interessant: Plötzlich erkennt man, woher die moderne linguistische Philosophie ihre Anregung bekam. Vor 2400 Jahren demonstrierte Aristoteles, dass, was wie ein philosophisches Postulat aussieht, nichts weiter als eine grammatische Regel sein kann. Im Satz »Ich bin befreundet mit X«, sagt er, muss X ein belebtes Substantiv sein.

Punkt 2: Man kann Freunde haben, ohne sie sehen zu wollen, sagt Charles Lamb. Das stimmt; und das ist auch interessant – noch eine Hinsicht, in der freundschaftliche Gefühle erotischen Beziehungen unähnlich sind.

Punkt 3: Freunde, oder zumindest Männerfreunde in der westlichen Welt, reden nicht über ihre Gefühle füreinander. Man vergleiche das mit der Schwatzhaftigkeit von Liebenden. So weit ist das uninteressant. Aber wenn der Freund stirbt, welche Schmerzensausbrüche: »Weh mir, zu spät!« (Montaigne über La Boétie, Milton über Edward King). (Frage: Ist die Liebe schwatzhaft, weil Begehren von Natur aus ambivalent ist – Shakespeare, Sonette –, während Freundschaft wortkarg ist, weil sie geradlinig ist, ohne Ambivalenz?)

Zum Schluss eine Bemerkung von Christopher Tietjens in Ford Madox Fords Parade’s End (Keine Paraden mehr): dass man mit einer Frau ins Bett geht, um mit ihr reden zu können. Daraus ist zu schließen, dass eine Frau zur Geliebten zu machen nur der erste Schritt ist; wichtig ist der zweite Schritt, sie zur Freundin zu machen; aber mit einer Frau befreundet zu sein, mit der man nicht geschlafen hat, ist praktisch unmöglich, weil zu viel Unausgesprochenes in der Luft liegt.

Wenn es tatsächlich so schwer ist, irgendetwas Interessantes über Freundschaft zu sagen, dann wird eine weitere Erkenntnis möglich: Anders als Liebe oder Politik, die nie das sind, was sie zu sein scheinen, ist Freundschaft, was sie zu sein scheint. Freundschaft ist transparent.

Die interessantesten Gedanken über Freundschaft kommen aus der Antike. Warum ist das so? Weil die Menschen in der Antike nicht annahmen, der philosophische Standpunkt müsse von Natur aus ein skeptischer sein, und daher nicht voraussetzten, dass Freundschaft etwas anderes sein müsse, als sie zu sein schien, oder umgekehrt zum Schluss kamen, dass Freundschaft, wenn sie ist, was sie zu sein scheint, kein angemessener Gegenstand philosophischer Betrachtung sein könne.

 

Herzliche Grüße

John

Brooklyn

29. Juli 2008

 

Lieber John,

 

über diese Frage habe ich im Lauf der Jahre oft nachgedacht. Ich kann nicht behaupten, zum Thema Freundschaft eine klare Meinung entwickelt zu haben, aber nach Deinem Brief (der einen Sturm von Gedanken und Erinnerungen in mir ausgelöst hat) sollte ich es vielleicht einmal versuchen.

Ich beschränke mich zunächst auf Männerfreundschaften, Jungenfreundschaften.

1) Ja, es gibt Freundschaften, die geradlinig und transparent sind (um Deine Ausdrücke aufzugreifen), aber nach meiner Erfahrung kommen die selten vor. Das mag mit einem anderen Ausdruck zu tun haben, den Du verwendest: wortkarg. Du sagst mit Recht, Männer (zumindest im Westen) neigen nicht dazu, »miteinander über ihre Gefühle zu reden«. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und hinzufügen: Männer neigen nicht dazu, über ihre Gefühle zu reden. Punkt. Und wenn man nicht weiß, wie der Freund sich fühlt, oder was er empfindet, oder warum er etwas empfindet, wie kann man dann ehrlicherweise sagen, dass man seinen Freund kennt? Und doch haben Freundschaften in diesem Nebel des Nichtwissens oft jahrzehntelang Bestand.

Mindestens drei meiner Romane handeln direkt von Männerfreundschaften, sind gewissermaßen Geschichten über Männerfreundschaften – Hinter verschlossenen Türen, Leviathan und Nacht des Orakels –, und in jedem Fall wird dieses Niemandsland des Nichtwissens unter Freunden zur Bühne, auf der das Drama seinen Lauf nimmt.

Ein Beispiel aus dem Leben. Seit fünfundzwanzig Jahren ist einer meiner besten Freunde – vielleicht der engste Freund meines Erwachsenenlebens – einer der ungesprächigsten Menschen, die ich kenne. Er ist elf Jahre älter als ich, aber wir haben vieles gemeinsam: Wir sind beide Schriftsteller, beide irrsinnig sportbegeistert, beide lange mit bemerkenswerten Frauen verheiratet und – ganz entscheidend und besonders schwer zu erklären – haben unausgesprochene, aber gemeinsame Auffassungen davon, wie man leben sollte – eine Ethik der Männlichkeit. Und dennoch, so sehr mir dieser Mensch am Herzen liegt, so sehr ich bereit bin, ihm in Zeiten der Not mein letztes Hemd zu geben, sind unsere Gespräche fast ausnahmslos oberflächlich und nichtssagend, absolut banal. Unsere Kommunikation beschränkt sich auf knappe Grunzlaute, eine Art Steno-Sprache, die jedem Außenstehenden unverständlich sein muss. Was unsere Arbeit betrifft (für uns beide die treibende Kraft in unserem Leben), so sprechen wir praktisch nie davon.

Als Beispiel dafür, wie sehr dieser Mann sich bedeckt hält, eine kleine Anekdote. Vor ein paar Jahren wurden die Fahnenabzüge eines neuen Romans von ihm erwartet. Ich sagte ihm, wie sehr ich mich darauf freute, das zu lesen (manchmal schicken wir uns unsere fertigen Manuskripte, manchmal warten wir auf die Fahnen), und er sagte, ich würde bald ein Exemplar bekommen. Eine Woche später kamen die Fahnen mit der Post, ich machte das Päckchen auf, blätterte darin herum und sah, dass das Buch mir gewidmet war. Natürlich war ich gerührt, ja, tief bewegt – aber worauf ich hinauswill: Mein Freund hat das nie mit einem Wort erwähnt. Nicht der kleinste Hinweis, nicht die leiseste Andeutung, nichts.

Was will ich damit sagen? Dass ich diesen Mann kenne und nicht kenne. Dass er trotz dieses Nichtkennens mein Freund ist, mein bester Freund. Wenn er morgen eine Bank überfallen würde, wäre ich schockiert. Andererseits, wenn ich erfahren würde, dass er seine Frau betrügt, dass er irgendwo in einem Apartment eine junge Geliebte versteckt hält, wäre ich zwar enttäuscht, aber nicht schockiert. Alles ist möglich, und Männer haben Geheimnisse, auch vor ihren besten Freunden. Würde mein Freund Ehebruch begehen, wäre ich enttäuscht (weil er seine Frau betrogen hätte, und die habe ich sehr gern), aber ich wäre auch gekränkt (weil er sich mir nicht anvertraut hätte, was bedeuten würde, dass unsere Freundschaft nicht so gut wäre, wie ich gedacht hatte).

(Ein Geistesblitz. Die besten und dauerhaftesten Freundschaften gründen auf Bewunderung. Sie ist das wesentliche Gefühl, das zwei Menschen auch über lange Jahre zusammenhält. Man bewundert jemanden für das, was er macht, was er ist, dafür, wie er seinen Weg durch die Welt findet. Wer seinen Freund bewundert, der macht ihn größer, erhebt ihn, stellt ihn über sich selbst. Und wenn der andere einen selbst ebenfalls bewundert – und damit dich größer macht, erhebt, über sich selbst stellt –, hat man einen perfekten Gleichstand. Beide geben mehr, als sie empfangen, beide empfangen mehr, als sie geben, und in diesem gegenseitigen Austausch gedeiht die Freundschaft. Aus Jouberts Notizen (1809): »Nicht nur seine Freunde, sondern auch seine Freundschaften muss er in sich pflegen. Sie müssen behütet, gedüngt und gewässert werden.« Und noch einmal Joubert: »Wir verlieren die Freundschaft derer, die unsere Achtung verlieren.«)

2) Jungen. Die Kindheit ist die intensivste Periode unseres Lebens, weil wir das meiste, was wir in dieser Zeit tun, zum ersten Mal tun. Ich habe dazu nur eine Erinnerung anzubieten, aber die scheint mir zu verdeutlichen, wie unendlich wichtig uns Freundschaft ist, wenn wir jung sind, auch sehr jung. Ich war fünf Jahre alt. Wie Billy, mein Freund, in mein Leben getreten ist, weiß ich nicht mehr. In meiner Erinnerung ist er ein kauziger, fröhlicher Bursche mit festen Ansichten und einem hochentwickelten Talent für Unfug (woran es mir in erschreckendem Ausmaß mangelte). Er hatte einen schweren Sprachfehler, und wenn er etwas sagte, waren die Worte so entstellt, so verstopft von dem angesammelten Speichel in seinem Mund, dass kein Mensch ihn verstehen konnte – außer dem kleinen Paul, der als sein Dolmetscher agierte. Meistens streiften wir durch die Vorstadtstraßen unseres Viertels in New Jersey, immer auf der Suche nach toten Tieren – hauptsächlich Vögel, manchmal auch Frösche oder Streifenhörnchen, die wir dann in dem Blumenbeet an meinem Haus beerdigten. Feierliche Rituale, selbstgemachte Holzkreuze, Lachen verboten. Billy verabscheute Mädchen und weigerte sich, die Seiten in unseren Malbüchern, auf denen weibliche Gestalten zu sehen waren, bunt auszumalen; und er glaubte fest daran, dass sein Teddybär grünes Blut in den Adern hatte, denn seine Lieblingsfarbe war Grün. Ecce Billy. Wir waren etwa sechseinhalb oder sieben, als er und seine Familie woandershin zogen. Ich war am Boden zerstört und sehnte mich wochen-, wenn nicht monatelang nach meinem verschwundenen Freund. Schließlich gab meine Mutter nach und erlaubte mir den kostspieligen Anruf in Billys neuem Haus. Worüber wir gesprochen haben, weiß ich nicht mehr, aber an meine Gefühle dabei erinnere ich mich so deutlich wie an mein Frühstück heute früh. Ich empfand dasselbe wie später als Heranwachsender, wenn ich mit einem Mädchen telefonierte, in das ich mich verliebt hatte.

In Deinem Brief unterscheidest Du zwischen Freundschaft und Liebe. Wenn wir sehr jung sind, vor Beginn unseres erotischen Lebens, gibt es diesen Unterschied nicht. Da sind Freundschaft und Liebe eins.

3) Freundschaft und Liebe sind nicht eins. Männer und Frauen. Der Unterschied zwischen Ehe und Freundschaft. Ein letztes Zitat von Joubert (1801): »Wähle keine Frau zur Ehefrau, die du, wäre sie ein Mann, nicht zum Freund nehmen würdest.«

Eine ziemlich absurde Formulierung, finde ich (wie kann eine Frau ein Mann sein?), aber man versteht schon, was er meint, und im Wesentlichen ist es nicht fern von Deiner Bemerkung über Ford Madox Fords Keine Paraden mehr und der drolligen Behauptung, dass man »mit einer Frau ins Bett geht, um mit ihr reden zu können«.

In der Ehe geht es vor allem um Gespräche, und wenn Mann und Frau keinen Weg finden, Freunde zu werden, hat die Ehe kaum eine Überlebenschance. Freundschaft ist eine Komponente der Ehe, aber die Ehe ist ein sich stetig weiterentwickelndes Gerangel, ein work in progress, ein unablässiges Erfordernis, in sich zu gehen und sich im Verhältnis zum anderen neu zu erfinden, wohingegen reine Freundschaft (ich meine jetzt Freundschaft außerhalb der Ehe) eher statisch ist, höflicher, oberflächlicher. Wir sehnen uns nach Freundschaft, weil wir gesellige Wesen sind, geboren von anderen Wesen und dazu bestimmt, bis zu unserem Tod unter anderen Wesen zu leben, und doch, wenn man an die Streitereien denkt, die auch in den besten Ehen gelegentlich ausbrechen, die heftigen Meinungsverschiedenheiten, die hitzigen Beleidigungen, die zugeknallten Türen und zerschlagenen Teller, wird einem rasch klar, dass ein solches Verhalten in den gesitteten Räumen der Freundschaft nicht toleriert würde. Freundschaft, das bedeutet gute Manieren, Freundlichkeit, Stetigkeit der Emotionen. Freunde, die sich anschreien, bleiben selten Freunde. Verheiratete Männer und Frauen, die sich anschreien, bleiben normalerweise verheiratet – oft sogar glücklich.

Können Männer und Frauen Freunde sein? Ich denke schon. Solange auf beiden Seiten keine physische Zuneigung besteht. Sobald Sex dazukommt, ist alles aus.

4) Fortsetzung folgt. Andere Aspekte von Freundschaft müssen ebenfalls diskutiert werden: a) Freundschaften, die welken und sterben; b) Freundschaften zwischen Menschen, die nicht unbedingt gemeinsame Interessen haben (Arbeitsfreundschaften, Schulfreundschaften, Kriegsfreundschaften); c) die konzentrischen Kreise von Freundschaften: die engsten Vertrauten; die weniger Vertrauten, die man dennoch sehr gern hat; dann die, die weit entfernt leben; die angenehmen Bekanntschaften, und so weiter; d) all die anderen Punkte in Deinem Brief, zu denen ich noch nichts gesagt habe.

 

Herzliche Grüße aus dem heißen New York,

Paul

12. September 2008

 

Lieber Paul,

 

entschuldige, dass es mit einer Reaktion auf Deinen Brief vom 29. Juli so lange gedauert hat.

Dorothy ist in Europa (Schweden, Großbritannien) unterwegs gewesen und hat an wissenschaftlichen Konferenzen teilgenommen. Der letzte Abschnitt der Reise war ein ziemlicher Albtraum – sie bekam Bronchitis und musste ihre Reisepläne innerhalb Großbritanniens absagen. Gestern nun ist sie gestürzt und kann sich kaum bewegen. Ich erwarte ihre Rückkehr nach Australien nächste Woche.

Die gute Nachricht ist, dass sie mich nach Estoril [Portugal] begleiten wird. Wir freuen uns beide darauf und auf das Wiedersehen mit Dir und Siri.

 

Herzliche Grüße

John

11. September 2008

 

Lieber Paul,

 

»Die besten und dauerhaftesten Freundschaften gründen auf Bewunderung«, schreibst Du.

Ich wäre vorsichtig, das als allgemein gültig anzunehmen – auf Frauen scheint es mir noch weniger zuzutreffen als auf Männer –, aber ich stimme dem dahintersteckenden Gefühl zu. Platon beschreibt unseren Wunsch, von unseresgleichen geachtet zu werden, als einen Ansporn, uns auszuzeichnen. In einem noch immer von Darwin, Nietzsche und Freud beherrschten Zeitalter gibt es die Tendenz, den Wunsch, geachtet zu werden, auf etwas weniger Idealistisches zu reduzieren – auf den Willen zur Macht zum Beispiel oder den Drang, unsere Gene weiterzugeben. Aber wenn man den Wunsch, geachtet zu werden, als eine der ursprünglichsten Triebkräfte der Seele ausmacht, führt das, wie mir scheint, zu wertvollen Einsichten. Es legt zum Beispiel nahe, warum Sport – Betätigungen, für die es im Rest der Schöpfung keine Entsprechung gibt – für Menschen, besonders für Männer, so wichtig ist. Männer laufen schneller oder kicken den Ball weiter, nicht weil sie damit hübsche Mädchen mit guten Genen beeindrucken und dazu bringen wollen, sich mit ihnen zu paaren, sondern weil sie hoffen, dass ihresgleichen, andere Männer, mit denen sie in gegenseitiger Bewunderung verbunden sind, sie bewundern werden. Ähnliches trifft, mutatis mutandis, auch auf andere Betätigungsfelder zu.

Ich bin auch der Meinung, dass es schwer ist, jemanden als Freund zu betrachten, sobald er/sie sich in den Augen des anderen unehrenhaft verhalten hat. Vielleicht kann das erklären helfen, warum Ehrenkodexe bei ansonsten unmoralischen kriminellen Banden gepflegt werden: Die Bande kann nur so lange zusammenhalten, wie ihre Mitglieder den Kodex befolgen und sich nicht unehrenhaft in den Augen der anderen verhalten.

Du schreibst über Freundschaften in der Kindheit. Vor kurzem ist mir der Gedanke gekommen, wie freizügig wir als Eltern, besonders als Eltern kleiner Kinder, diese wissen lassen, was wir von ihren Freunden halten – ob wir einen neuen Freund gutheißen oder ihn als »schlechten Umgang« betrachten. Wenn ich mein Leben als Vater noch einmal leben müsste, wäre ich in dieser Beziehung vorsichtiger. Es ist unfair dem Kind gegenüber, es raten zu lassen, was an dem neuen Freund ihn für die Eltern unerwünscht sein lässt. Was den Freund unangenehm macht, spielt sehr oft für das Kind überhaupt keine Rolle: Klassendünkel zum Beispiel oder irgendein Gerücht über die Eltern des Freundes. Manchmal ist gerade die Eigenschaft, die den neuen Freund so reizvoll macht – ein besseres Bescheidwissen in sexuellen Dingen zum Beispiel –, das, was die Eltern stört.

Bei der Freundschaft zwischen Männern und Frauen erscheint mir merkwürdig, dass es heutzutage der normale Gang der Dinge ist, dass Mann und Frau eher erst ein Liebespaar und später Freunde werden als erst Freunde und später ein Liebespaar. Wenn diese Verallgemeinerung zutrifft, müssen wir dann Freundschaft zwischen Mann und Frau in gewissem Sinn für etwas Höheres halten als erotische Liebe, als eine Stufe, zu der sie nach bloßen sexuellen Erlebnissen miteinander aufsteigen können? Es gibt gewiss Menschen, die diese Meinung haben: Der Verlauf der erotischen Liebe ist unberechenbar, sagen sie, sie ist nicht beständig, sie kann sich unversehens in ihr Gegenteil verwandeln; während Freundschaft dauerhaft und gleichbleibend ist und die Freunde anspornen kann, bessere Menschen zu werden (wie Du beschrieben hast).

Ich glaube, wir sollten uns hüten, allzu schnell diese Behauptung und die sich daraus ergebenden Folgen zu akzeptieren. Es ist beispielsweise eine weitverbreitete Auffassung, dass es für einen Mann und eine Frau, die lange Freunde gewesen sind (»bloße« Freunde), unklug ist, den Schritt zu körperlicher Liebe zu vollziehen. Mit einer Freundin zu schlafen, ist ein lahmes Erlebnis, ist die allgemeine Auffassung; eine gute Freundin hat nicht das Element des Geheimnisvollen, das der Eros verlangt. Stimmt das wirklich? Gewiss liegt doch die Verlockung des Inzests zwischen Bruder und Schwester genau darin, von dem allzu Bekannten zum geheimnisvollen Unbekannten vorzudringen.

Inzest war einmal ein großes Thema in der Literatur (Musil, Nabokov), ist es aber offenbar nicht mehr. Ich frage mich, warum. Vielleicht weil die Vorstellung, dass Sex eine quasi-religiöse Erfahrung ist – und Inzest deshalb eine Herausforderung der Götter ist –, sich verflüchtigt hat.

 

Herzliche Grüße

John

Brooklyn

22. September 2008

 

Lieber John,

 

bitte sag Dorothy, sie soll vorsichtiger sein. Bronchitis ist schon schlimm genug, aber ein Sturz ist schrecklich. Hoffentlich hat sie sich nichts gebrochen. Siri und ich freuen uns sehr, dass sie im November nach Portugal mitkommen kann.

Ich war auf Reisen – und werde in ein paar Tagen schon wieder aufbrechen. Ungünstige Zeit, Dir ausführlich zu antworten, aber ich verspreche, dies unmittelbar nach meiner Rückkehr Mitte Oktober zu tun.

Eigenartig, dass Du in Deinem Brief das Thema Bruder-Schwester-Inzest anschneidest. Genau dazu kommt es in meinem neuen Buch (und wird dort weitläufig abgehandelt) – und in der Tat ist der Sex für die beiden eine quasi-religiöse Erfahrung (um mich Deiner Worte zu bedienen). Bin ich also hoffnungslos altmodisch? Gut möglich.

Was Bewunderung betrifft, so habe ich mich auf Männerfreundschaften bezogen. Aber mehr davon nach meiner Rückkehr …

 

Ein Händedruck,

Paul

28. Oktober 2008

 

Lieber John,

 

ich wollte Dir schon früher schreiben, bin aber mit einer üblen Darmgrippe nach New York zurückgekommen, die mich bis heute früh ans Bett gefesselt hat. Zum Glück habe ich die siebzehn hektischen Reisetage gut hinter mich gebracht und bin erst am letzten Abend krank geworden, nachdem alles Wichtige erledigt war. Zweifellos vorhersehbar. Man lebt nur noch von Adrenalin, und sobald kein Nachschub mehr kommt, wird einem klar, dass man sich überanstrengt hat. Auf Portugal freue ich mich, das wird eine Atempause, eine Zeit der Ruhe und Sammlung, fast so gut wie Urlaub.

In Deinem letzten Brief erwähnst Du Sport – »Betätigungen, für die es im Rest der Schöpfung keine Entsprechung gibt …«, was mich an einige kurze Gespräche über Sport erinnert, die wir vorigen Sommer auf unserer Fahrt durch Frankreich geführt haben. Hättest Du Lust, darauf näher einzugehen? Ich habe Deine »[Vier] Anmerkungen zum Rugby« von vor dreißig Jahren gelesen. Provokativ und gut argumentiert, aber wenn Du noch einmal darauf zurückkommen möchtest, bin ich gern dabei. (Mein letzter kleiner Beitrag zu dem Thema ist »Der beste Ersatz für Krieg« in Collected Prose, eine Auftragsarbeit für das New York Times Magazine für eine Ausgabe über das Millennium. Der Auftrag lautete: Schreiben Sie – so kurz wie möglich – über das beste Spiel der letzten tausend Jahre. Ich habe mich für Fußball entschieden.)

Mögliche Diskussionsthemen: 1) Sport und Aggressivität; 2) Sport ausüben und anderen dabei zusehen; 3) Phänomenologie – und Mysterien – der Fangemeinden; 4) Einzelsportarten (Tennis, Golf, Schwimmen, Bogenschießen, Boxen, Leichtathletik) und Mannschaftssportarten; 5) der langsame, unausweichliche Niedergang des Boxens. Parallel dazu: das allgemeine Desinteresse an Leichtathletikrekorden. Vor vierzig, fünfzig Jahren wartete die ganze Welt gespannt auf den ersten Hochsprung über 2,20 Meter, den ersten Fünf-Meter-Stabhochsprung, den nächsten Unter-vier-Minuten-Rekord auf der Meile. Warum interessiert das heute kaum noch? 6) Sport als Drama, als Fabel, das Spannende daran; 7) Sport in festem Zeitrahmen (Football, Basketball, Rugby) und Sport ohne zeitliche Beschränkung (Baseball, Kricket); 8) Sport und Kommerz; 9) Sport und Nationalismus; 10) Homo ludens.

 

Mit besten Wünschen,

Paul

6. Dezember 2008

 

Liebe Siri,[1]

 

wie geht es Dir? Ich erhole mich gerade erst von der Grippe, die das Preisrichterteam in Portugal erwischt hat. Ich habe mich elend gefühlt. Hoffentlich hat es Dich verschont.

Welches Vergnügen es gewesen ist, so viel Zeit mit Dir und Paul zu verbringen, brauche ich Dir nicht erst zu sagen.

Ich hänge einen Brief an, der die umwerfende Einsicht enthält, die ich Dir und Paul während unserer letzten Tage in Cascais versprochen habe. Würdest Du ihn bitte ausdrucken und Paul geben? Ich schätze altmodische Briefe mit Briefmarken darauf außerordentlich, aber in diesem Fall habe ich das Gefühl, so lange außer Gefecht gewesen zu sein, dass ich die Energie des Internets einspannen muss.

 

Liebe Grüße

John

BRIEF AN P.A.

 

Lieber Paul,

 

irgendwann Ende 2008 ist etwas im Bereich der Hochfinanz passiert, was, wie uns mitgeteilt wurde, zur Folge hatte, dass die meisten von uns nun ärmer sind (das heißt, ärmer in finanzieller Hinsicht) als vor ein paar Monaten. Was nun genau passiert ist, ist uns nicht völlig erklärt worden und ist vielleicht nicht exakt bekannt: Es wird unter Experten erregt diskutiert. Doch niemand stellt in Frage, dass etwas passiert ist.

Die Frage ist, was war das eigentlich? War es etwas Reales, oder war es so ein imaginäres Etwas mit realen Folgen wie die Erscheinung der Jungfrau Maria, die Lourdes in ein blühendes Touristenzentrum verwandelt hat?

Lass mich zunächst einige wirkliche Ereignisse aufzählen, die zur Folge haben könnten, dass wir – als Nation, als Gesellschaft, nicht bloß als verstreute Individuen hier und da – eines Tages plötzlich ärmer aufwachen könnten.

 

Eine Heuschreckenplage könnte unsere Ernten vernichten.

Es könnte eine jahrelange Dürre herrschen.

Eine Viehseuche könnte unsere Herden zugrunde richten.

Ein Erdbeben könnte Straßen, Brücken, Fabriken und Häuser zerstören.

Eine fremde Armee könnte in unser Land einfallen, unsere Städte plündern, unsere Schätze rauben, unsere Nahrungsvorräte abtransportieren und uns zu Sklaven machen.

Wir könnten in einen endlosen ausländischen Krieg hineingezogen werden, in den wir Tausende starker junger Männer schicken müssten, während wir unsere restlichen Ressourcen in den Erwerb von Rüstungsgütern stecken müssten.

Eine ausländische Kriegsflotte könnte die Vorherrschaft über die Meere erlangen und unsere Kolonien daran hindern, uns Schiffsladungen von Lebensmitteln und von Edelmetallen zu schicken.

 

Durch Gottes Gnade ereilten uns 2008 keine solchen Katastrophen. Unsere Städte blieben unversehrt, unsere landwirtschaftlichen Betriebe intakt, unsere Geschäfte sind voller Waren.

Was also ist passiert, das uns ärmer gemacht hat?

Die Antwort, die wir bekommen, ist, dass bestimmte Zahlen sich geändert haben. Bestimmte Zahlen, die sonst hoch waren, fielen plötzlich, und das hat zur Folge, dass wir ärmer sind.

Aber die Zahlen 0, 1, 2, … 9 sind bloße Zeichen, nicht anders als die Buchstaben a, b, c, … z bloße Zeichen sind. Es konnten also nicht die fallenden Zahlen an und für sich sein, die uns ärmer gemacht haben. Das musste von etwas bewirkt worden sein, was die fallenden Zahlen anzeigten.

Aber was genau war es, das durch die neuen, niedrigeren Zahlen angezeigt wurde und uns ärmer machte? Die Antwort ist: ein anderes Zahlenwerk. Die schuldigen Zahlen standen für andere Zahlen, und diese anderen Zahlen standen für wieder andere Zahlen, und so weiter.

Wo endet diese Rückführung bei den Signifikanten? Wo ist das Ding selbst, das sie bezeichnen: die Heuschreckenplage oder die ausländische Invasion? Ich kann es nirgends sehen. Die Welt ist wie zuvor. Nichts hat sich geändert außer den Zahlen.

Wenn nichts wirklich passiert ist, wenn die Zahlen keine Realität widerspiegeln, sondern im Gegenteil sich einfach auf andere Zahlen beziehen, warum, so frage ich, müssen wir dann das Urteil annehmen, dass wir jetzt ärmer sind und anfangen müssen, uns so zu verhalten, als seien wir ärmer? Warum, frage ich, sollten wir nicht dieses spezielle Zahlenwerk verwerfen, Zahlen, die uns unglücklich machen und sowieso keine Realität widerspiegeln, und neue Zahlen für uns erfinden, vielleicht Zahlen, die zeigen, dass wir reicher als früher sind, obwohl es besser sein könnte, wenn wir Zahlen erfinden, die uns exakt so darstellen, wie wir sind, mit unseren gut gefüllten Vorratskammern und unseren dichten Dächern und unserem Hinterland voller produktiver Fabriken und landwirtschaftlicher Betriebe?

Die Antwort, die ich auf diesen Vorschlag erhalte (diesen »naiven« Vorschlag), ist ein mitleidiges Kopfschütteln. Die Zahlen, mit denen wir konfrontiert sind, die Zahlen, die wir geerbt haben, beschreiben tatsächlich die realen Zustände, wird mir gesagt; die interne Logik der Entwicklung dieser Zahlen von höheren zu niedrigeren, von Anfang 2008 zu Ende 2008, beschreibt eine reale Verarmung, die stattgefunden hat.

Wir haben also ein Patt. Einerseits Menschen wie ich, die nicht glauben, dass real etwas geschehen ist, und einen anschaulichen Beweis für das Gegenteil verlangen. Andererseits die Bescheidwisser, die immer mit dem Spruch kommen: »Du verstehst offensichtlich nicht, wie das System funktioniert.«

In Buch 7 von Der Staat fordert uns Platon auf, uns eine Gesellschaft vorzustellen, in der die Menschen ihre wachen Stunden damit verbringen, nebeneinander in einer dunklen Höhle zu sitzen und auf Wände (Bildschirme) zu starren, auf denen verschiedene flackernde Schattenbilder zu sehen sind. Keiner von ihnen ist je außerhalb der Höhle gewesen, keiner kennt etwas anderes als die flackernden Bilder auf ihren Bildschirmen. Alle akzeptieren ohne Frage, dass das, was sie auf den Bildschirmen sehen, alles ist, was es zu sehen gibt.

Eines Tages steht zufällig einer dieser Menschen auf und stolpert nach draußen. Seine an das Licht nicht gewöhnten Augen sind geblendet, doch er erblickt flüchtig Bäume, Blumen und eine Vielzahl anderer Formen, die nicht im Geringsten den flackernden Bildern ähneln, an die er gewöhnt ist.

Er schützt seine Augen und kehrt zu seinen Gefährten zurück. Der Ort, an dem wir leben, ist in Wirklichkeit eine Höhle, sagt er, und es gibt eine Welt außerhalb der Höhle, und diese äußere Welt ist ganz anders als die innere. Dort draußen findet das wirkliche Leben statt.

Seine Gefährten lachen höhnisch. Du armer Tor, sagen sie, erkennst du einen Traum nicht, wenn du einen erlebst? Das hier ist wirklich (sie deuten auf die Bildschirme).

Es ist alles bei Platon (427–348 v.u.Z.), bis zu den gekrümmten Schultern, den flackernden Bildschirmen und der Kurzsichtigkeit.

 

Viele Grüße

John

 

PS: Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit dem Vorschlag, neue, »gute« Zahlen für die alten, »schlechten« Zahlen zu erfinden und sie in allen Computern der Welt zu installieren, nichts Geringeres vorschlage, als die Entsorgung des alten, schlechten ökonomischen Systems und seine Ersetzung durch ein neues, gutes System – mit anderen Worten die Einführung universeller ökonomischer Gerechtigkeit. Das ist ein Projekt, zu dessen Umsetzung unsere gegenwärtigen Führer weder in der Lage noch wirklich willens sind.

9. Dezember 2008

 

Lieber John,

 

Dein »Brief an P.A.« ist in Siris Computer aufgetaucht, und sie hat ihn mir ausgedruckt. Ich weiß nicht, wann er geschrieben oder abgeschickt wurde, und sollte ich Tage oder Wochen zu spät antworten, verzeih mir bitte.

Bevor ich auf Platons Höhle und den völligen Zusammenbruch der Kultur, wie wir sie kennen, zu sprechen komme, möchte ich Dir und Dorothy sagen, was für ein enormes Vergnügen es war, diese Tage in Portugal mit Euch zu verbringen. Die Sonne, die Gespräche, die Mahlzeiten, die geruhsame Gangart – unvergesslich. Ja, wir hatten ein paar grauenhafte Filme zu überstehen, aber die Gelegenheit, wenigstens einen großartigen Film zu sehen, hat unsere Qual doch hinreichend kompensiert.

BRIEF AN J.C.

Ich denke, unser Thema ist das Vermögen der Fiktion, die Wirklichkeit zu beeinflussen, und die größte Fiktion unserer Welt ist das Geld. Ist Geld etwas anderes als wertloses Papier? Wenn dieses Papier wertvoll geworden ist, dann nur, weil sehr viele Menschen sich entschieden haben, ihm Wert beizumessen. Das System lebt von Vertrauen. Nicht von Wahrheit oder Realität, sondern von kollektivem Glauben.

Die von Dir genannten Zahlen sind aus diesem Glauben erwachsen. Die Zahlen stehen für das Papier, und bei größeren Finanztransaktionen (Börsenhandel und Bankgeschäfte im Gegensatz zu, sagen wir, Lebensmittel einkaufen) ist das Papier verschwunden und zu Zahlen geworden. Zahlen kommunizieren mit Zahlen, und wir sind ins Reich reiner Abstraktion geworfen. Du spielst daher mit Recht auf Platons Höhle an. Die Zahlen sind die Schatten an der Wand. Oder wie Siris Vater zu sagen pflegte: Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt. Die, die für ihr Geld arbeiten, und die, deren Geld für sie arbeitet.

Inzwischen sind wir in eine Phase eingetreten, wo die Zahlen uns Angst zu machen beginnen. Ich stimme Dir zu, die Krise scheint unwirklich, losgerissen von allen greifbaren Tatsachen. Banken kollabieren wegen törichter, riskanter Wetten auf zukünftige Hypothekenkosten (Zahlen kommunizieren mit Zahlen), die Rettung verschlingt zigmilliarden, und plötzlich gerät das System (der kollektive Glaube an die von uns erschaffene Fiktion) ins Wanken. Gestern noch alles ruhig; heute Panik allenthalben.

Leider führt diese Panik, die nicht mehr und nicht weniger in der Realität gründet als die Ruhe von gestern, zu sehr greifbaren Resultaten – das Äquivalent Deiner Heuschreckenplage, Deiner Seuche.

Ich rede von der sogenannten Kreditklemme. Banken haben solche Angst, dass sie kein Geld mehr verleihen. Nehmen wir an, Du besitzt eine kleine Fabrik, die Sessel herstellt. Um Dein Geschäft am Laufen zu halten, musst Du neue Maschinen anschaffen, und weil Du nicht genug Geld hast, sie zu bezahlen, gehst Du zur Bank und willst einen Kredit aufnehmen. Die Bank lehnt ab, und weil Dein Betrieb ohne die neue Ausstattung nicht weitermachen kann, bist Du gezwungen, die Hälfte Deiner Arbeiter zu entlassen, Konkurs anzumelden und den Laden endgültig dichtzumachen.

Allein im vorigen Monat haben mehr als eine halbe Million Arbeiter in Amerika ihren Job verloren. Die Panik hat zu einer sich ständig verschärfenden Arbeitslosigkeit geführt, und Menschen ohne Arbeit sind wahrhaftig arm – ungeachtet des verbreiteten Eindrucks, wie Du schreibst, dass unsere Vorratskammern gut gefüllt sind.

Die Krise endet nur, wenn die Panik endet. Aber was die Panik beenden könnte, ist mir schleierhaft.

Deine Idee, eine neue Art von Zahlen zu erfinden, könnte ein Anfang sein. Eine andere Lösung, die mir neulich einfiel, könnte so aussehen, dass die Regierungen ungeheure Mengen Geld drucken und jedem einzelnen Menschen auf der Erde etliche zehntausend Dollar in die Hand geben. Da steckt sicher ein Fehler drin (übersehe ich die Möglichkeit einer galoppierenden Inflation?), aber wenn ich nicht irre, werden die Rettungsaktionen doch genau auf diese Weise finanziert: indem man mehr Geld druckt.

 

Herzlich

Paul

14. Dezember 2008

 

Lieber John,

 

erst gestern, eine Woche nach dem Absendedatum, tauchte der Begleitbrief zu Deinem »Brief an P.A.« in Siris Computer auf. Irgendwie muss sie den übersehen haben (im digitalen Leben sind wir ein hoffnungsloses Paar); freut mich sehr, dass Dir Portugal genauso gut gefallen hat wie mir; nur schade, dass Dich dann die Grippe erwischt hat. (Ich hatte Anfang Herbst eine ziemlich schlimme und weiß, wie unangenehm diese Mikroben sein können.) Aber ich nehme an, Du bist längst wieder auf dem Damm. Die messerscharfe Präzision Deines Briefs könnte ein Kranker nicht zustande bringen.

Dein Verweis auf das Filmfestival hat mich an eine kuriose Geschichte erinnert, die ich Dir gern erzählen möchte. 1997 war ich Mitglied der Jury in Cannes. Zufällig feierte das Festival in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Jubiläum, und die Organisatoren hatten beschlossen, so viele frühere Preisträger wie möglich einzuladen und zu einem großen Gruppenfoto zu versammeln. Aus irgendeinem Grund wurden die Jurymitglieder dazugenommen – und so bin auch ich auf diesem Bild mit über hundert Personen gelandet.

Ich habe dieses Foto jetzt vor mir, und unter den Regisseuren erkenne ich Antonioni, Almodóvar, Wajda, John Boorman, David Lynch, Tim Burton, Jane Campion, Altman, Wenders, Polanski, Coppola, die Coen-Brüder, Mike Leigh, Bertolucci und Scorsese. Schauspieler, unter anderem: Gina Lollobrigida (!), Lauren Bacall, Johnny Depp, Vittorio Gassman, Claudia Cardinale, Liv Ullmann, Charlotte Rampling, Bibi Andersson, Vanessa Redgrave, Irène Jacob, Helen Mirren, Jeanne Moreau und Anjelica Huston.

Bevor wir uns für das Foto aufstellten, gab es einen Cocktail-Empfang, der ungefähr eine Stunde dauerte. Ich glaube nicht, dass ich jemals in einem Raum gewesen bin, der stärker mit menschlicher Elektrizität aufgeladen war. Ein Gefühl, als ob jeder Einzelne dort jeden anderen kennenlernen und mit ihm sprechen wollte, als habe die von einer solchen Zusammenballung erregte Begeisterung diese Stars und Legenden in einen Haufen hyperaktiver Schulkinder verwandelt.