Eine gute Geschichte - J.M. Coetzee - E-Book

Eine gute Geschichte E-Book

J.M. Coetzee

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Beschreibung

»Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, mögen nicht wahr sein, aber sie sind alles, was wir haben.« Wir alle erzählen Geschichten - Schriftsteller alleine für sich, wir für andere, gemeinsam mit einem Therapeuten, um das Rätsel unserer Biographie zu lösen. Wir sind von Geschichten umstellt und spinnen sie in einem fort. Doch steckt überhaupt eine Wahrheit hinter den Varianten, Versuchen, Projektionen? J. M. Coetzee geht in seinem Austausch und Briefwechsel mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz diesen Fragen nach. Ausgehend von seiner eigenen Arbeit, mit Exkursen zu Dostojewskij und Cervantes sowie Rückgriffen auf das eigene Leben, diskutieren sie Antworten in dem von Sigmund Freud und Melanie Klein abgesteckten Feld. »Coetzees Stil ist wie immer eindringlich und konzentriert ... Kurtz erweckt die psychoanalytischen Konzepte und Praxis mit einer seltenen Präzision und Unmittelbarkeit zum Leben.« Literary Review

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Seitenzahl: 254

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J.M. Coetzee | Arabella Kurtz

Eine gute Geschichte

Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

FISCHER E-Books

Inhalt

Anmerkung der VerfasserAnmerkung der ÜbersetzerinBemerkung zur Verwendung klinischer BeispieleGlossar und QuellenangabenEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfGlossar

Anmerkung der Verfasser

Der folgende Gedankenaustausch befasst sich mit der Praxis der psychoanalytischen Psychotherapie und damit, was diese Praxis in einem weiteren gesellschaftlichen und philosophischen Kontext bedeutet. Es werden psychische Prozesse bei Individuen und Gruppen angesprochen, sowohl im klinischen Kontext als auch außerhalb desselben. Da in unserem säkularen Zeitalter und in der westlichen Welt Psychotherapie und das Ideal des persönlichen Wachstums zum Zeitgeist gehören, hoffen wir, dass diese Themen auch für Leser außerhalb der therapeutischen Berufe von Interesse sind.

Der Gedankenaustausch gründet sich auf die Vorstellung, dass eine Therapeutin davon profitieren kann, wenn sie in Begleitung eines Außenseiters der psychologischen Disziplin, in diesem Fall eines verständnisvollen Schriftstellers, ihre Praxis erforscht. Auf den ersten Blick haben die Psychotherapeutin und der Romanautor vieles gemein, zumindest wenn man von ihrem Interessenfokus ausgeht. Die menschliche Natur und die menschliche Erfahrung beschäftigen beide stark, ebenso die Möglichkeiten des Menschen, zu wachsen und sich zu entwickeln.

Die Sprache ist das Arbeitsmittel sowohl von Schriftstellern als auch von Psychotherapeuten. Beide befassen sich mit der Erforschung, Beschreibung und Analyse der menschlichen Erfahrung, mit dem Finden oder Erfinden linguistischer und narrativer Strukturen, in denen Erfahrung gespeichert wird, und mit den äußeren Grenzen der Erfahrung.

Die intellektuelle Kooperation, die sich in diesem Austausch widerspiegelt, begann 2008 und spricht (einerseits) für das Interesse einer Therapeutin, die von einem Romanwerk beeindruckt ist, in dem innere Prozesse aus einer Perspektive geschildert werden, die sich radikal von einer psychotherapeutischen unterscheidet (z.B. der knappe, lebhafte Bericht von Michael K’s innerem Widerstand gegen Unterdrückung in Leben & Zeit des Michael K); und (andererseits) für das Interesse eines Schriftstellers an der Vertiefung seines Verständnisses für eine postreligiöse Form des therapeutischen Gesprächs.

Dieses Buch ist das zweite Produkt dieser Kooperation. Das erste erschien unter dem Titel »Nevertheless, my sympathies are with the Karamazovs« in der Zeitschrift Salmagundi, Nrn. 166–167 (2010), S. 39–72.

Dieser Gedankenaustausch erfolgt in einem interdisziplinären wie auch forschenden Geist. Er folgt nicht immer einem geradlinigen Gedankengang. Es gibt manchmal Wiederholungen und Widersprüche, man kommt immer wieder auf hartnäckige Fragen zurück oder verfolgt einen Gedankengang, ohne zu wissen, wohin derselbe führt. Das alles geschieht in der Hoffnung, dass sich hier und da eine neue Sicht auf die Praxis der psychoanalytischen Psychotherapie und auf das psychotherapeutische Projekt in seinen weiteren gesellschaftlichen Ausprägungen öffnet.

Die Autoren bedanken sich für hilfreiche Kommentare zu Entwürfen der hier veröffentlichten Texte und/oder für wertvolle Diskussionen über relevante Ideen bei: Nick Everett, Jillian Vites, Orna Hadary, Margot Waddell und Daisy Evans.

AK & JMC

Anmerkung der Übersetzerin

Die Praxis in manchen (wissenschaftlichen) englischen Texten, durch die Kombination eines Subjekts im Singular mit einem Verb im Plural anzuzeigen, dass die männliche und die weibliche Form des Subjekts gemeint sind, kann im Deutschen nicht nachvollzogen werden. Um den Text nicht unnötig aufzublähen, wurde an diesen Stellen im Deutschen die maskuline Form Singular gewählt.

Bemerkung zur Verwendung klinischer Beispiele

Details der klinischen Beispiele, die in dem Gedankenaustausch verwendet werden, wurden verändert, um die Anonymität von Patienten zu wahren. Es wurde entschieden, das Material unkenntlich zu machen, anstatt die Genehmigung der Patienten einzuholen, weil bei Letzterem die Gefahr der Beeinflussung des therapeutischen Prozesses bestand.

Glossar und Quellenangaben

Die fettgedruckten Termini werden im Glossar erläutert. Fußnoten führen den Leser zur Literaturliste im Anhang.

Eins

Was es bedeutet, der Autor seiner Lebensgeschichte zu sein (seine Vergangenheit zu erfinden) statt nur ihr Erzähler. Wenn man eine gutgebaute Erzählung produziert, statt die wahre Geschichte zu erzählen.

 

Der Psychoanalytiker als der idealerweise aufmerksame Zuhörer: Widerstände in der Erzählung heraushören und analysieren. Das therapeutische Ziel: die Freisetzung der Patientenstimme, der narrativen Vorstellungskraft des Patienten.

* * *

JMC – Was sind die Eigenschaften einer guten (einer plausiblen, einer sogar fesselnden) Erzählung? Wenn ich anderen meine Lebensgeschichte erzähle – und wichtiger noch, wenn ich mir selbst meine Lebensgeschichte erzähle –, sollte ich dann versuchen, daraus ein gutgebautes Kunstprodukt zu machen, indem ich die Zeiten, in denen nichts passierte, schnell abhandle, die Dramatik der Zeiten, in denen viel passierte, steigere, der Erzählung eine Form gebe, Erwartung und Spannung erzeuge; oder sollte ich im Gegenteil neutral und objektiv sein, mich darum bemühen, eine Art von Wahrheit zu erzählen, die den Kriterien einer Gerichtsverhandlung entspräche: die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?

Welche Beziehung habe ich zu meiner Lebensgeschichte? Bin ich ihr bewusster Autor, oder sollte ich mich schlicht für eine Stimme halten, die mit so wenig Einmischung wie möglich einen Strom von Worten äußert, die aus meinem Inneren aufsteigen? Und vor allem, was sollte oder muss ich weglassen angesichts des reichen Materials in meinem Gedächtnis, das Material eines Lebens, wenn ich mir Freuds Warnung vor Augen halte, dass das, was ich ohne nachzudenken weglasse (d.h., ohne bewusst nachzudenken), der Schlüssel zur tiefsten Wahrheit über mich sein kann? Doch wie ist es logisch betrachtet für mich möglich zu wissen, was ich ohne nachzudenken weglasse?

• • •

AK – Vermutlich ist es die Aufgabe der Psychoanalyse zu versuchen, die tiefste Wahrheit zu erzählen; oder etwas bescheidener und exakter, die Widerstände dagegen zu analysieren, damit die Geschichte eines Individuums zu einem gewissen Zeitpunkt so umfassend und zusammenhängend und engagiert wie möglich hervortreten kann – weil es ein fortlaufender Prozess ist und die Geschichte sich ständig verändert. Die wahre Geschichte, die man als Kind erzählen könnte, unterscheidet sich von der Geschichte, die man über dieselben Erlebnisse als Heranwachsender oder als Erwachsener erzählen könnte und so weiter.

Freud empfahl die Methode der freien Assoziation als besten Weg, um im Sprechzimmer Zugang zu unbewussten Erfahrungen zu bekommen, doch nach meiner Erfahrung funktioniert das nicht wirklich so, wie man es erwartet. Der Patient wird aufgefordert, so frei zu sprechen, wie ihm möglich ist, ohne auf die üblichen gesellschaftlichen Vorschriften und Gepflogenheiten zu achten, doch was er oder sie meist entdeckt, ist das Ausmaß, in dem der freie Ausdruck behindert wird – selbst in der Privatsphäre der eigenen Gedanken. Das ermöglicht uns zu erkennen, wie die Abwehrmechanismen des Individuums operieren, und an der Analyse des Widerstands zu arbeiten, was eine wichtige Aufgabe bei den meisten Therapien ist.

Eine Vorstellung von der Psychoanalyse ist die, dass sie darauf abzielt, die erzählerische oder autobiographische Vorstellungskraft freizusetzen. Wenn wir dieser Argumentationslinie folgen, ist es möglich, dass ein Schriftsteller wie Sie Erkenntnisse über die Form, die diese Erzählung im Sprechzimmer annimmt, zu bieten hat.

• • •

JMC – Also gut. Dann möchte ich eine Frage stellen, die mich schon geraume Zeit beschäftigt hat. Was bewegt Sie als Therapeutin zu dem Wunsch, Ihren Patienten mit der Wahrheit über sich zu konfrontieren, statt offen oder insgeheim an einer Geschichte mitzuwirken – nennen wir sie eine Fiktion, doch eine stärkende Fiktion –, die dem Patienten ein gutes Selbstgefühl verschafft, gut genug, um in die Welt hinauszugehen und besser lieben und arbeiten zu können?

Eine radikalere Formulierung derselben Frage ist: Sind nicht alle Autobiographien, alle Lebensberichte, Fiktionen, wenigstens in dem Sinn, dass sie Konstruktionen sind (Fiktion vom lateinischen fingere, gestalten oder formen oder bilden)? Es wird hier nicht behauptet, dass die Autobiographie frei in dem Sinn ist, dass wir unsere Lebensgeschichte nach unseren Wünschen erfinden können. Vielmehr wird behauptet, dass wir beim Produzieren unserer Autobiographie dieselbe Freiheit ausüben, die wir in Träumen haben, in denen wir eine Erzählform, die uns gehört, selbst wenn sie durch Kräfte beeinflusst wird, die dunkel für uns sind, auf Elemente einer erinnerten Realität anwenden.

Wie wir beide wissen, gibt es eine Reihe von Selbsthilfe-Therapien, die ziemlich deutlich darauf abzielen, der betreffenden Person zu einem guten Selbstgefühl zu verhelfen, und die auf das Wahrheitskriterium nicht allzu viel Wert legen, wenn die Wahrheit nur schwer zu verkraften ist. Auf solche Therapien blicken wir häufig herab. Wir sagen, dass die Heilung, die sie bringen, nur eine scheinbare ist, dass die betreffende Person früher oder später wieder mit der Realität kollidieren wird. Aber was ist, wenn wir durch eine gewisse gesellschaftliche Übereinkunft beschlossen haben, keinen Staub aufzuwirbeln, sondern stattdessen zusammenzukommen, um uns unsere Phantasien gegenseitig zu bestätigen, wie es in manchen Therapiegruppen geschieht? Dann gäbe es keine Realität, mit der man kollidieren könnte.

In unserer liberalen, postreligiösen Kultur neigen wir dazu, dieses erzählerische Vorstellungsvermögen als eine wohltätige Kraft in uns zu betrachten. Doch man kann es auch anders sehen, wenn man von unserer Erfahrung ausgeht, wie Selbstdarstellungen im Leben vieler Menschen funktionieren: als eine Fähigkeit, die wir nutzen, um für uns und unseren Kreis die Geschichte auszuarbeiten, die uns am besten passt, eine Geschichte, die rechtfertigt, wie wir uns in der Vergangenheit verhalten haben und in der Gegenwart verhalten, eine Geschichte, in der wir ganz allgemein im Recht sind und die anderen im Unrecht. Wenn diese Selbstdarstellung allzu offensichtlich mit der Realität kollidiert, mit den wirklichen Zuständen, schließen wir als Beobachter, dass die betreffende Person sich etwas vormacht, dass die von der Einbildungskraft erzeugte ganz persönliche Wahrheit mit der realen Wahrheit in Streit liegt. Gehört es daher nicht zu den Aufgaben des Therapeuten, dem Patienten klarzumachen, dass es ihm nicht freisteht, seine Lebensgeschichte nach Belieben zu erfinden, dass das Erfinden von Geschichten über uns selbst ernsthafte Konsequenzen in der realen Welt haben kann?

• • •

AK – Aber eine Darstellung des eigenen Lebens, die in der von Ihnen beschriebenen Weise zu eigennützig ist, wird schwach und nicht haltbar sein und sich leicht selbst widerlegen. Man könnte das, was in der Psychoanalyse geschieht, beschreiben als Kombination von aufmerksamem Zuhören und gezieltem Kommentar – zu jenen Aspekten einer Lebensgeschichte, die offenbar nicht haltbar sind oder darauf hinweisen, dass eine überzeugendere, darunterliegende Geschichte auftauchen könnte. Das habe ich mit meiner Bemerkung gemeint, dass die Psychoanalyse meines Erachtens die Freisetzung der erzählerischen Vorstellungskraft anstrebt.

Ich möchte Sie als Schriftsteller fragen, ob diese Vorstellung, dass man mit Hilfe von Deckerzählungen zu einer wahreren Erzählung durchdringen kann, Anklang findet? Ich meine, wahrer im Sinn von poetischer oder emotionaler Wahrheit, wenn eine Sache sowohl treu sich selbst gegenüber und in sich geschlossen als auch in Übereinstimmung mit den Sachen draußen ist, aber nicht notwendigerweise auf eine Art, die transparent oder direkt ist. Und was Schriftsteller wissen und Psychotherapeuten von ihnen lernen können, wie ich glaube, ist, dass der beste Weg, um etwas sowohl Wahres als auch Neues oder neu bewusst Gewordenes zu erhalten, oft ein kreativer Weg ist oder zumindest nicht dem entspricht, was in unserer gemeinsamen Realität auf ungeprüfte Weise als wahr etabliert und festgelegt ist.

Ich glaube wirklich, dass die besseren Psychotherapeuten, wie die besseren und verständnisvolleren Zuhörer, mehr auf den inneren Zusammenhang einer Erzählung achten – auf die unausgesprochenen Wünsche und Frustrationen, die sich nach und nach in Ungereimtheiten und Brüchen in Form und Inhalt zeigen – und weniger von ihren externen Vorstellungen von der Realität einer Situation oder ihren vorgefassten Meinungen, wie ein Leben gelebt werden soll, einbringen.

Zwei

Schriftsteller und ihre problematischen (vielleicht selbstdienlichen) Vorstellungen von der Wahrheit. Die Formbarkeit des Gedächtnisses. Erinnerungen verankern, anstatt den Erinnerungsspeicher zu plündern, um die Lebensgeschichte umzuschreiben. Die Verlockung der Selbsterfindung. Gesellschaftliche Folgen der freien Selbsterfindung.

 

Die Patientenwahrheit im therapeutischen Kontext. Dynamische (sich entwickelnde) Wahrheit. Die Mittlerrolle des Therapeuten. Intersubjektive Wahrheit. Mitgefühl. Die Rolle des Herzens, die Rolle des Kopfes. Geteilte soziale Erfahrungen als Bremse für rücksichtslose Selbsterfindung. Die Lehren der Kunst. Die Begegnung mit Kunstwerken als eine intersubjektive Erfahrung. Lernen, seine eigene Perspektive einzunehmen; ein klinischer Fall.

* * *

JMC – Ich muss wohl auf der Frage beharren, die ich das letzte Mal gestellt habe: Ist es das Ziel des Therapeuten (ich schreibe absichtlich nicht, das Ziel der Therapie), den Patienten mit der wahren Geschichte seines Lebens zu konfrontieren oder vielmehr mit einer Geschichte seines Lebens, die es ihm ermöglicht, angemessener oder glücklicher zu leben (nach der Freud’schen Minimal-Richtlinie heißt das, dass er in die Lage versetzt wird, wieder zu lieben und zu arbeiten)? Welches Maß an Flexibilität kann sich die Therapie in der Praxis leisten? Natürlich strebt der Therapeut immer das ideale Ergebnis an, die ganze Wahrheit und die Akzeptierung der ganzen Wahrheit durch den Patienten; doch muss sich der Therapeut, wenn man die zeitlichen und finanziellen Beschränkungen bedenkt, nicht sehr oft mit einem weniger guten Ergebnis zufriedengeben, mit einer Wahrheit, die nicht die ganze Wahrheit ist, die jedoch gut genug ist, um den Patienten wieder arbeitsfähig zu machen?

Wenn ich lese, was Freud in seinen weniger pessimistischen Momenten geschrieben hat, stelle ich fest, dass er auf eine meiner Meinung nach bedingungslose Art die Richtlinie wiederholt: Du sollst die Wahrheit wissen, und die Wahrheit wird dich frei machen. Meine Frage ist: Wenn das Ziel der Therapie darin besteht, den Patienten frei zu machen, ist die Wahrheit der einzige Weg zur Freiheit? Könnte nicht eine Version der Wahrheit, nicht so umfassend wie die ganze Wahrheit und vielleicht an die Erfordernisse des Moments angepasst (die Erfordernisse zu diesem Zeitpunkt im Leben des Patienten), genauso gut funktionieren, wenn es das Ziel ist, den Patienten wieder ins Gleis zu bringen?

Für mich ist die Frage brisant, weil zumindest seit Platons Zeiten die Dichter (das heißt, Leute, die Geschichten erfinden) bezichtigt werden, dass sie nicht in erster Linie der Wahrheit verpflichtet seien. Die Dichter verteidigen sich typischerweise mit der Erklärung, dass sie an die Wahrheit glauben, aber dass sie ihre eigene Definition haben, worin die Wahrheit besteht. Wenn man ihre Definition untersucht, stellt sie sich gewöhnlich als gemischt heraus. Die poetische Wahrheit besteht zum Teil darin, die Welt zutreffend (»wahrheitsgemäß«) widerzuspiegeln, doch zum anderen Teil entspricht sie einer inneren Folgerichtigkeit, Eleganz und so weiter – mit anderen Worten, autonomen ästhetischen Kriterien.

Bei Platons Argumenten gegen die Poeten geht es im Kern darum, dass sie, wenn sie zwischen Wahrheit und Schönheit wählen müssen, allzu bereit sind, die Wahrheit zu opfern. Bei den Argumenten der Poeten geht es im Kern darum, dass Schönheit ihre eigene Wahrheit besitzt.

Man findet irgendeine Version des Schönheit-ist-Wahrheit-Arguments in der Praxis fast jeden Schriftstellers. »Ich mag ja diese Geschichte erfinden, aber aus geheimnisvollen Gründen, die mit ihrer inneren Stimmigkeit, ihrer Plausibilität, ihrem Eindruck von Richtigkeit und Unausweichlichkeit zu tun haben, ist sie trotzdem in gewissem Sinn wahr oder erzählt sie uns zumindest etwas Wahres über unser Leben und die Welt, in der wir leben.«

Der Poet, sagt Platon, überzeugt uns von der Wahrheit seiner Version, wie die Dinge sind, und überzeugt uns, indem er das volle Arsenal der poetischen Tricks und Kunstgriffe benutzt. Der Poet gleicht somit dem Rhetoriker, der nicht das Ziel hat, zur Wahrheit vorzudringen, sondern der einen von seinen Ansichten überzeugen will.

Ich kehre zur therapeutischen Situation zurück. Was hindert mich als Therapeuten daran, mir vorzunehmen, das zu benutzen, was der Patient mir erzählt, um zu einer überzeugenden (das heißt, plausiblen) Erzählung über das bisherige Leben des Patienten zu kommen und zu einer überzeugenden Skizze, wie dieser Erzählstrang so in die Zukunft geführt werden kann, dass der Patient in der Welt lieben und produktiv arbeiten kann?

Die offensichtliche Antwort ist: Meine Loyalität gegenüber der Wahrheit hindert mich daran. Doch kann in der Praxis die Wahrheit – die ganze Wahrheit – ohne endlose Analyse erreicht werden? Und wenn eine nicht enden wollende Analyse nicht praktikabel ist, warum sollte man sich dann nicht mit einer Version der Wahrheit begnügen, die in gewissem Sinn funktioniert?

• • •

AK – Die kurze Antwort auf Ihre Frage ist: Ja, natürlich muss man sich mit einer Version der Wahrheit, die funktioniert, zufriedengeben. Doch nach meiner Erfahrung IST es sehr oft die Wahrheit, die funktioniert – ich kann den Gegensatz zwischen Praktikabilität und Wahrheit in Ihrer Darstellung nicht akzeptieren. Zunächst einmal haben ja die Menschen, wenn sie so weit sind, einen Psychotherapeuten zu konsultieren, oft schon alle plausiblen und vernünftigen Erklärungen für das, was geschieht, erschöpft und alle möglichen Formen praktischer Hilfe ausprobiert. Es bedarf eines Psychotherapeuten, der dem Patienten hilft, tiefer zu graben und gewissermaßen zu begreifen, warum er so unglücklich ist, was vorher nicht möglich war, meist weil man nicht in der Lage ist, sich etwas Schmerzlichem oder Schwierigem zu stellen. Wenn das geschieht, wie unzureichend und unvollständig auch immer, fühlt es sich wie die Wahrheit an. Keine historische oder wissenschaftliche oder philosophische Wahrheit, sondern eine emotionale Wahrheit.

Ich möchte versuchen, noch etwas mehr über die Natur der Wahrheit in der Psychotherapie zu sagen, weil ich glaube, dass es eigentlich darum geht. Denken wir einen Moment daran, wie sich die eigene Vorstellung von den Eltern, nehmen wir an, von der Mutter, im Lauf des Lebens verändert, so dass man bei einem psychotherapeutischen Gespräch unterscheiden kann zwischen der Sicht auf die Mutter, die man als Baby hatte, und der Sicht, die man als Kind hatte, als Heranwachsender, als junger Erwachsener mit oder ohne eigene Kinder, als Erwachsener in mittleren Jahren und so weiter. Wenn man sich das als Beispiel dafür, wie sich Lebenserzählungen in der Therapie entwickeln, vor Augen hält, scheint mir nun, dass es keine irgendwie festgelegte und ewige Wahrheit gibt, die allmählich und mühsam erworben wird – in diesem Fall im Hinblick auf die Mutter und wer sie wirklich war und ist. Oder wenn es sie doch geben sollte, dass es dann wenigstens nicht die Aufgabe der Therapie ist, wie ich sie verstehe. Darüber hinaus ist es doch so, dass Therapeut und Patient darauf hinarbeiten, die Art und Weise zu verstehen, wie eine intime, prägende Beziehung im Kopf des Patienten erlebt wird. Dabei ist die Perspektive wichtig: Wo befindet sich der Patient im Hinblick auf seine eigene Entwicklung und seine Bedürfnisse, sein Temperament, die Art der Beziehung und die äußere Situation, wie sie von ihm erlebt wird. Aus diesem Grund ist die Wahrheit in der Psychotherapie ihrem Wesen nach dynamisch, weil sie aus der Perspektive eines Lebewesens abgeleitet ist, eines Lebewesens, dessen äußere und innere Charakteristika sich im Laufe der Zeit verändern, wenn auch geringfügig.

Wenn zum Beispiel ein Patient seine Mutter idealisiert, um sich vor der vollen Wucht der Enttäuschung über sie zu schützen, kommt es darauf an, dem Patienten zu helfen, die emotionale Logik der Situation zu ergründen und zu verstehen, wo sie sich in seine Entwicklung einfügt und wie die daraus resultierende Geisteshaltung eine Weiterentwicklung behindert. Man könnte das tun, indem man praktisch eine Verzerrung beseitigt und etwas aufdeckt, was sich für den Patienten realer und wahrer in der äußeren Welt anfühlt. Aber als Psychotherapeut arbeitet man darauf hin, die innere Welt des Patienten zu verstehen und die Notwendigkeit der Verzerrung zu beseitigen, indem man diese Notwendigkeit versteht – statt zu viel äußere Wahrheit anzubieten. (Meiner Auffassung nach gerät das letztere Vorgehen in gefährliche Nähe zu der Art des Kritisierens und Abwertens von emotionalen Erfahrungen, die die Menschen in erster Linie zur Therapie führt.)

Wahrheit in der psychoanalytischen Psychotherapie ist innere Wahrheit – die Wahrheit dessen, was im Herzen und im Kopf des Patienten ist, erkannt und – wenn man Glück hat – verstanden vom Herzen und vom Kopf des Psychotherapeuten. Denn genauso wie man stets zu berücksichtigen versucht, dass der Patient ein erkennendes Subjekt ist, das die Welt auf seine einzigartige Weise erlebt, und ihm zu helfen versucht, sich stärker als solches wahrzunehmen, ist auch der Psychotherapeut ein erkennendes und fühlendes Subjekt in Bezug auf den Patienten als Objekt. Und ebendiese Art und Weise, in der die Therapie alle Vorgänge des Wissens und Verstehens spiegelt, an denen ein Objekt und ein Subjekt beteiligt sind, ermöglicht eine angemessen mitfühlende und emotional angepasste Erforschung der Methode, mit der der Patient sich die Welt erklärt.

Die Wahrheit, auf die sich die Psychotherapie, oder wenigstens meine Version der Psychotherapie, gründet, ist stets dynamisch, provisorisch und intersubjektiv. Sie ist enthalten in den Bedingungen für eine Beziehung, die anstrebt, über innere Erfahrungen nachzudenken und damit dem Patienten zu helfen, ein möglichst erfülltes Leben in der Welt zu führen. Sie gründet sich meines Erachtens auch auf den Glauben, dass wir uns nur durch andere voll und ganz kennen und verstehen können – durch die Art und Weise, wie wir andere und uns im Verhältnis zu anderen erleben, und wie andere uns erleben.  

Das habe ich als Thema Ihres Buches Sommer des Lebens wahrgenommen.

• • •

JMC – Hinter dem von Ihnen Gesagten steht so offensichtlich ein Reichtum an klinischer Erfahrung und gründlicher Reflexion über diese Erfahrung, dass eine Antwort darauf mir Verlegenheit bereitet. Ich habe keine derartige Erfahrung, weder von der einen noch der anderen Seite des klinischen Dialogs; der Fall, den ich schildere (und ich frage mich, ob das überhaupt einen Fall darstellt), klingt für mich abstrakt bis zur Wirklichkeitsfremdheit. Aber ich will dennoch fortfahren, so gut ich kann.

Lassen Sie mich mit einer philosophischen Frage beginnen. Was ist ein Ereignis an und für sich, im Gegensatz zu dem Ereignis, wie wir es für uns selbst interpretieren, oder wie es uns gegenüber oder für uns von anderen interpretiert wird, speziell von Autoritätspersonen? »Als ich acht Jahre alt war, schlug mich mein Vater mit einem Tennisschläger«, sagt ein Subjekt. »Das stimmt nicht«, sagt sein Vater. »Ich habe den Tennisschläger geschwungen und ihn versehentlich damit getroffen.« Was ist wirklich passiert? Insbesondere, stimmt die Erinnerung des Jungen an das Ereignis oder die des Vaters? Ich nenne es eine Erinnerung, aber das ist eine Vereinfachung: Es ist eine Erinnerungsspur, die einer gewissen Interpretation unterworfen wurde. Ich könnte sogar weitergehen und sagen, dass es eine Erinnerungsspur ist, die einer Interpretation unterworfen wurde, hinter der ein bestimmter Wille zur Interpretation steht (im Fall des Jungen vielleicht ein Wille, dem Ereignis die schwärzeste Interpretation zu geben, im Fall des Vaters ein Wille, ihm eine harmlose Interpretation zu geben). Wie können wir die Erinnerungskomponente von der Interpretationskomponente trennen, wenn wir den Willen hinter der Interpretation für den Moment unberücksichtigt lassen? Ist es möglich – philosophisch, aber auch neurologisch –, von einer Erinnerung zu sprechen, die ursprünglich ist, nicht gefärbt durch Interpretation?

Erst kürzlich habe ich einen Artikel von Jonathan Franzen gelesen, in dem er sagt, dass er, nachdem er ein Interview nach dem anderen zur Werbung für sein neues Buch über sich hatte ergehen lassen, das Gefühl gehabt habe, er müsse sich losreißen, sonst würde er schließlich an die Lebenserzählung glauben, die er in den Interviews zum Besten gegeben habe. Ich interpretiere ihn in dem Sinne, dass er nicht etwa Unwahrheiten in den Interviews gesagt hat, sondern dass die ständige Wiederholung einer einzigen Darstellung seines Lebens eine so tiefe Spur eingegraben hat, dass er bald die Freiheit verlieren würde, sein Leben anders zu interpretieren (zu erinnern).

Eine Lebensgeschichte als Kompendium von Erinnerungen zu begreifen, die man entsprechend den Erfordernissen (und Wünschen) der Gegenwart frei interpretieren kann, scheint mir charakteristisch für die Denkweise eines Schriftstellers zu sein. Das kontrastiert meiner Ansicht nach mit der Art und Weise, wie viele Menschen ihre Lebensgeschichte sehen – als eine Geschichte, die für immer festgelegt ist (»man kann die Vergangenheit nicht ändern«). Es ist doch seltsam, wie viele von uns unsere Lebensgeschichte festlegen wollen, indem wir uns selbst und anderen immer wieder die eine oder andere bevorzugte Interpretation davon erzählen.

Man kann täglich triviale Beispiele für das Festlegen eines Stücks Geschichte hören, wenn man im Bus sitzt und Gespräche mit anhört. »Ich habe ihr gesagt … Sie hat zu mir gesagt … Ich habe zu ihr gesagt …«

Sie schreiben über die sich ändernde Weise, in der man die Vergangenheit sehen kann, entsprechend dem jeweiligen Alter oder der persönlichen Entwicklung; Sie benutzen das Wort Perspektive. Ich glaube, Sie und ich sind in dieser Beziehung nicht weit voneinander entfernt. Der Therapeut, der mit der »üblichen« Auffassung konfrontiert wird, dass die Vergangenheit eines Menschen (exakter, die Geschichte von der Vergangenheit) unveränderlich ist, muss das gewiss als Hindernis erleben.

Was mich an diesen festgelegten Lebensgeschichten interessiert, ist, wie schon gesagt, nicht so sehr, was hineingelangt, sondern was ausgelassen wird.

Dinge auszulassen ist vermutlich Verdrängung; und die Theorie besagt anscheinend, dass die ausgelassenen Stücke sich noch irgendwo in den dunklen Winkeln des Gedächtnisses befinden. Ich weiß, das menschliche Hirn ist riesig, aber ist es wirklich groß genug, alles zu behalten, was ausgelassen wurde? Ist das, was wir auslassen, am Ende nicht das ganze Universum minus unserem kleinen Anteil? Wir lassen es weg, sagen wir, weil es nicht relevant ist. Das bedeutet, dass es für die gegenwärtige Interpretation, die wir unserer Vergangenheit zu geben belieben, nicht relevant ist.

Und das alles bringt mich zurück zu Ihrem Hinweis, dass Psychotherapeuten von Schriftstellern (in diesem Fall Prosaschriftstellern) lernen könnten, wie man zu einer Lebenserzählung gelangen oder zumindest sich mit ihr begnügen kann, einer Lebenserzählung, deren Wahrheit poetisch ist (ein schwer zu definierender Begriff – später schreiben Sie von »der Wahrheit dessen, was im Herzen und im Kopf ist«, was dasselbe sein kann oder auch nicht) und nicht so sehr pragmatisch, in Übereinstimmung mit den Fakten.

Ich würde dem zustimmen und könnte sogar überredet werden, noch weiter zu gehen und zu sagen, dass der Therapeut darauf hinarbeiten könnte, beim Patienten eine Freiheit zu fördern, Herr über seine eigene Lebenserzählung zu sein; dass das Gefühl der Freiheit oder Meisterung, und was damit erreicht werden kann, sich als wichtiger als die Erzählung selbst erweisen kann.

Es fragt sich jedoch, ob wir uns wirklich in einer Gesellschaft bewegen wollen, in der sich jeder um uns herum ermächtigt fühlt (diesen Begriff benutze ich mit Vorsicht), »zu sein, wer er sein will«, indem er den persönlichen Mythos (den »poetischen« Mythos) lebt (auslebt), den er für sich konstruiert hat. Vertrauen wir auf die menschliche Phantasie als einer Kraft, die ausnahmslos das Gute schafft? Greift nicht die menschliche Phantasie in neunundneunzig von hundert Fällen auf die banalsten Geschichten zurück, aufgelesen aus einem kommerziellen Repertoire?

Ich bin nicht sicher, wohin das führt. Einerseits beunruhigt mich die Aussicht auf eine Welt, in der die Menschen unter Freiheit auch die Freiheit verstehen, ihre persönlichen Geschichten unaufhörlich rekonstruieren zu können, ohne Sanktionen (ohne das Realitätsprinzip) befürchten zu müssen. Wenn andererseits eine Person, die tief unglücklich ist, aufgeheitert werden kann, indem man sie ermutigt, ihre Lebensgeschichte zu revidieren, indem sie ihr eine positive Wendung gibt, wer könnte etwas dagegen haben?

Im ersten Fall scheint mir die Wahrheit entschieden wichtig zu sein. Wir können schlicht nicht alle die sein, die wir sein möchten. Im zweiten Fall scheint mir die Wahrheit weniger wichtig zu sein. Was ist unrecht an einer harmlosen Lüge, wenn sie uns besser fühlen lässt? (Beispiel für eine solche Lüge: Nach unserem Tod wachen wir in einer anderen, besseren Welt auf.)

Helfen Sie mir, hier weiterzukommen.

• • •

AK – Versuchen kann ich es ja!

Wenn ich Ihre Aussagen etwas interpretiere, höre ich folgende psychologischen Alternativen heraus: ein Verhältnis zur externen Realität, das geradezu als nicht menschlich charakterisiert werden sollte, nämlich als rein und interpretationsfrei und daher für uns zu hoch und unerreichbar (ich glaube, wir beziehen uns als einen moralischen Imperativ darauf mit Wendungen wie »mach dir nichts vor« und »sieh der Realität ins Auge«); und andererseits eine alarmierende Situation, in der man sich einer verbundenen, gemeinsamen Realität nur äußerst wenig bewusst ist und die Menschen voneinander getrennt sind, weil sie sich reinem Wunschdenken hingeben und die Geschichten über ihr Leben erzählen, die am bequemsten für sie sind.

Was dabei fehlt, ist ein Sinn für uns als Lebewesen in der Welt – diese Beschreibung klingt so, als existierten wir entweder nur in unserer Vorstellung oder gewissermaßen überhaupt nicht. Die äußere und die innere Erfahrung sind im Widerstreit, nicht in Beziehung miteinander.

Die Vorstellung von einer reinen, externen Realität – von einem Ort, an dem ein Ereignis stattfindet und ein Ereignis nur in und aus sich selbst ist – kann ich nicht anders als intuitiv auf eine gezwungene und völlig abstrakte Weise erfassen. Ich kann nur weiterhin meine eigene Erfahrung zugrunde legen – was gibt es denn sonst? –, aus der folgt, dass Erfahrung einzig und allein eine Sache der Perspektive ist, ob individuell oder gemeinsam. Ich meine damit, dass sie im Geist von Lebewesen stattfindet. Aber wenn Erfahrung im Geist von Lebewesen verankert ist, dann sind Lebewesen wiederum fest in unserer gemeinsamen Welt verankert – der Welt von Felsen und Bäumen und Flüssen und Beton und Autos und anderen Menschen. Was ich sage, ist somit auf keine Weise eine Leugnung gemeinsamer Erfahrung, was man als Realität oder gesunden Menschenverstand bezeichnet, sondern eher eine ziemlich schlichte Beobachtung im Hinblick auf den Ort unseres Wissens. Es ist ein Plädoyer für die Verwurzelung in unserer Existenz als subjektive Wesen in der Welt.

Künstler – Sänger, Maler, Schriftsteller – waren es, die mich am meisten mit einem Gespür für das subjektive und intersubjektive Wesen der Erfahrung erfüllt haben; die zu mir davon sprechen, wie wir nicht anders können, als wir selbst zu sein, wenn wir nur das Selbstvertrauen dazu finden könnten; und wie wir nicht anders können, als von anderen beeinflusst zu werden, von denen, die vor uns waren, und denen, die mit uns leben – auf eine Weise, die wir erst allmählich erfassen können.

Die Kunst, die ich liebe, scheint mir Folgendes zu sagen: »Sieh, was um dich herum geschieht – in all dem Reichtum und der Detailliertheit und Farbigkeit, in der Schönheit und Hässlichkeit; hör nicht auf zu schauen und darüber nachzudenken, was du siehst; aber vergiss auch nicht, dass du die Schauende bist, dass du eine Position und einen Standort hast, von wo aus du schaust – und dasselbe gilt für andere Menschen. Bewohne diesen Ort zur Gänze.«

Diese letztere Einladung, die Einladung, seine Perspektive einzunehmen – sie trotz all ihrer Schwierigkeit und Komplexität auf möglichst achtsame Weise zu verstehen und zu besitzen – scheint mir von zentraler Bedeutung für die Praxis der postmodernen Psychoanalyse des 21. Jahrhunderts zu sein. Der springende Punkt ist hier, dass wir alle eine Perspektive haben – die natürlich nicht statisch ist, sondern sich ändert und entwickelt – und dass wir uns entscheiden können, ihr bei den Geschichten, die wir uns über unser Leben erzählen, mehr oder weniger treu zu sein. Wir können nicht einfach auf die selbstbestimmte Art und Weise, die Sie beschreiben, eine Perspektive durch eine andere ersetzen; oder wenn wir es tun, hat das einen beträchtlichen Preis.

Ich erinnere mich an einen Mann, der an einem Kindheitstrauma litt, in diesem Fall war es das Verlassenwerden von einem Elternteil, und der zum großen Teil damit fertigwurde, indem er die unangenehme Erfahrung aus dem Gedächtnis tilgte. Auf einer Ebene wusste er, was ihm zugestoßen war, weil er sich auf eine Lebensgeschichte festgelegt hatte, die das Trauma einschloss und die schlüssig war, wenn auch beschränkt in Tiefe und Umfang. Doch er kämpfte weiter mit dem Trauma als einer emotionalen Erfahrung, in Bezug auf seine volle Auswirkung auf ihn und das Ausmaß, in dem es ihn auf verschiedenen Stufen seiner Entwicklung beeinträchtigt hatte. Das