Der Tod kommt mit Linie 304 - Karl-Heinz Knacksterdt - E-Book

Der Tod kommt mit Linie 304 E-Book

Karl-Heinz Knacksterdt

0,0

Beschreibung

Es ist ein lebens- und liebenswerter Teil der schönen Stadt Oldenburg, dieses Ofenerdiek, das durch die Buslinie 304 mit der City und dem Stadtsüden verbunden ist. Es geht hier ruhig und beschaulich zu, bis der Stadtteil an einem schönen Spätsommerabend von einer gewaltigen Explosion erschüttert wird - war es ein Unfall, ein technisches Versagen oder gar ein Anschlag? Zwei Tote, einer sofort und einer später an einem anderen Ort werden aufgefunden - gibt es hier Zusammenhänge? Die Mordkommission um Linda Barowski steht vor einer schwierigen Aufgabe!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 324

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Personen

Gunnar Gunnarson, Leiter Elektronikabteilung eines Energiemanagement-Unernehmens, wohnhaft in Geisenfleet Melanie, seine Frau mit Mat und Mia, ihren Kindern Tjark und Ulrike Mommsen, Melanies Eltern

Berend Tammena, genannt „Birne“, Unternehmer Adriana Ferlucci, seine ‚leibeigene‘ Geliebte

Björn Meister, Unternehmer Jessica Meister geb. Wolter, seine Frau Gabriela Porter, seine Zweitfrau in USA mit Klein-Eduardo

Christian Wagenknecht, ev. Pfarrer in Geisenfleet

Pit Heber, Ehemann von Linda Barowski

Linda Barowski, Kriminalhauptkommissarin (KHK) Daniel von Stetten, Kriminaloberkommissar (KOK) Claudia Doms, Kriminalkommissarin (KK) Dietmar Becker, Kriminalkommissar (KK) Biggi (Anwärterin), Timo (Anwärter) Walter Dierssen (KK), Mitarbeiter Spusi Gerlind Winkler (KK) Enno, Mitarbeiter Spusi

Dr. jur. Martina Wenzel, Staatsanwältin Dr. med. Bohlen, Leiter Gerichtsmedizin

Frau Baldner, Herr Bruns, Herr Walutschek, Nachbarn

Tina Manshold, Geliebte Nadja Kurcheva, Besitzerin Internetcafé

Inhalt

Kapitel 1 Das Ereignis

Kapitel 2 Lindas großer Tag

Kapitel 3 Berend Tammena, Unternehmer

Kapitel 4 Gunnar Gunnarson

Kapitel 5 Der Einsatz

Kapitel 6 Erledigt

Kapitel 7 Daniel allein im Haus

Kapitel 8 Nach getaner Arbeit …

Kapitel 9 Außer Gefecht

Kapitel 10 Pit ist sauer

Kapitel 11 Start der Ermittlungen

Kapitel 12 Albträume

Kapitel 13 Linda und die Ruine

Kapitel 14 Björn Meister

Kapitel 15 Wer ist das Opfer?

Kapitel 16 Ein Herbsttag mit Folgen

Kapitel 17 Ein zufriedener Mensch

Kapitel 18 Erste kleine Erfolge

Kapitel 19 Jessica Meister

Kapitel 20 Reaktionen

Kapitel 21 Björn Meister „Back in Town“

Kapitel 22 Daniel

Kapitel 23 Zwei Besucher in Geisenfleet

Kapitel 24 Berend Tammena

Kapitel 25 Der Mann am See

Kapitel 26 Was geblieben ist

Kapitel 27 Geisenfleet

Kapitel 28 Befragungen

Kapitel 29 Adriana

Kapitel 30 Fortschritte

Kapitel 31 Eine spannende Woche

Kapitel 32 Festnahmen

Kapitel 33 Frust und Hoffnung

Kapitel 34 Endspurt

Kapitel 35 Finale

Kapitel 1 Das Ereignis

Freitag, 10. 9. 2021 Oldenburg

Um den geplanten Job auftragsgemäß ausführen zu können, hatte er an diesem Freitag noch zwei Stunden länger als bei ihm ohnehin üblich gearbeitet. Die flexiblen Arbeitszeiten und seine Position im Hause eines Energiemanagement-Unternehmens machten dies möglich und oftmals auch erforderlich. Seine Frau war informiert, dass er heute leider nicht pünktlich zu Hause sein könne – eine wichtige Konferenz sei noch überraschend angesetzt worden.

Fast alle Mitarbeiter hatten an diesem schönen Tag schon ihre Büros verlassen und gaben sich jetzt mit ihren Familien, Freunden oder auch nur allein dem herrlichen Nachmittag hin, freuten sich auf ein warmes sonniges Wochenende.

Die Bürotasche unter dem Arm, ging er zu seinem unauffälligen Wagen, jede Art von Protzerei war ihm zuwider. Die Tasche verstaute er im Kofferraum, nahm eine andere heraus und legte sie auf den Rücksitz – es war eine ziemlich schäbig anzusehende lederne Aktentasche, anscheinend uralt und vom vielen Gebrauch abgewetzt. Er startete den Wagen, fuhr in die Stadt und parkte im Parkhaus auf der Nordseite des Bahnhofs, das Ticket verwahrte er sorgfältig in seiner Geldbörse. Er nahm seine Aktentasche und ging die wenigen Gehminuten hinüber zum Lappan. Mit dem Bus der Linie 304, der am Bussteig schon auf ihn gewartet zu haben schien, setzte er den Weg zu seinem Ziel fort. Die Fahrt dauerte nicht lange, vielleicht etwa 25 bis 30 Minuten.

***

Es war an diesem sonnigen, fast zu warmen Spätsommertag völlig still in der Seitenstraße, einer Sackgasse abseits der durch den Ortsteil führenden Hauptstrecke. Er erreichte sie nach einem recht kurzen ‚Spaziergang‘ und fand leicht das Haus Nummer dreizehn. Das riesige, nach seiner Schätzung etwa zweitausend Quadratmeter große Grundstück wurde von einer mannshohen Hecke umgeben. War es Kirschlorbeer oder Rhododendron? Er konnte es nie richtig unterscheiden. Lediglich die Einfahrt zur Doppelgarage und der Weg zum Hauseingang waren ausgelassen worden. Ein Blick über die Hecke, bei dem er sich ausrecken musste, zeigte eine große anscheinend von einem Roboter regelmäßig gemähte Rasenfläche, an deren Rand ein Blockhaus zu sehen war, anscheinend für Gerätschaften. Ziemlich in der Mitte des gepflegten Grüns war ein weiß gestrichener Pavillon zu erkennen, der an den nicht dem Haus zugewandten Seiten verglast und zum Haus hin offen war. Eine kleine Einfriedung dieses Gartenpavillons wurde von strahlend blühenden Pflanzen geschmückt, deren Art er von seinem Standort nicht erkennen konnte.

Das Haus war ein L-förmiges Gebäude in einem modernen Baustil. Weiße Klinkersteine und blaue Fensterrahmen machten auf Betrachter und Passanten einen etwas kühlen Eindruck – ein deutlicher Gegensatz zu den übrigen, aus roten Steinen gebauten mehr oder weniger luxuriösen Häusern in der Straße. Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, wegen der sommerlichen Temperaturen dauerhaft? Nach seinen Informationen waren die Bewohner auf Reisen und die Jalousien wurden per App geschlossen und geöffnet.

Seine Schritte wurden langsamer, als er sich der Eingangstür näherte. Noch im Gehen fingerte er aus der linken Tasche seines Jacketts ein paar schwarze Latex-Handschuhe heraus, denn schließlich wollte er keine Fingerabdrücke hinterlassen, man konnte ja nie wissen …

Wie gern säße er jetzt zuhause in seinem Garten, seine Frau und die Kinder um sich herum, ein kühles Ol‘s-Bier auf dem Gartentischchen neben seiner bequemen Liege. Die Kinder würden ihn zum Spielen motivieren, er würde mit ihnen über den Rasen toben, Fangen oder ein anderes Spiel spielen, Melanies Lachen würde herüberschallen, wenn ihn die Kinder an den Marterpfahl fesselten.

Er hatte die Tür erreicht, nahm aus der rechten Tasche seines Jacketts ein kleines Werkzeug, mit dem er problemlos auch komplizierte Türschlösser öffnen konnte. Seine Aktentasche, die schon manchen Einsatz erlebt hatte, stellte er rechts neben sich auf das marmorne Podest.

Er sah sich noch einmal kurz um. Die Straße war, wie erwartet, menschenleer geblieben, nur ganz am Ende spazierte anscheinend ein Mann mit einem größeren Hund. Wenige Sekunden später war die Tür offen. Er nahm seine Tasche auf und trat leise ein, das hatte er sich zur Angewohnheit gemacht, zog sie geräuschlos hinter sich zu und warf einen ersten Blick ins Haus.

Bei der Erteilung des Auftrages hatte man ihm mitgeteilt, dass sich die Bewohner des Hauses für mehrere Tage außerhalb Oldenburgs aufhalten würden, er hatte also keinerlei Probleme zu erwarten. Aus der Tasche entnahm er einen Plan mit dem Grundriss, der ihm zugesandt worden war, sah sich zunächst von seinem augenblicklichen Standort aus in Ruhe um.

Es war sein Grundsatz, sich als Erstes ganz allgemein im Haus zu orientieren. Gemäß dem Plan befanden sich die Hausanschlüsse – das war für seinen Job besonders wichtig – in einem separaten Raum direkt neben dem Hauseingang, sehr praktisch für alle Service-Techniker. Die geräumige Diele – „Sehr unüblich bei modernen Gebäuden“, dachte er – die nicht über einen Windfang verfügte, was ihn verwunderte und zugleich erfreute, war quadratisch. An jeder Seite befanden sich großzügig bemessene Türen, weiß lackiert, die zum Wohnzimmer bestand aus Glas.

Er betrachte sehr genau diesen ersten Raum, sozusagen die Visitenkarte des Hauses. Es gefiel ihm, was er hier sah, die Gestaltung zeugte von gutem Geschmack und ebensolchen finanziellen Möglichkeiten. Von außen betrachtet waren ihm Haus und Grundstück etwas zu protzig erschienen, aber hier im Innern zeugte es von einer gewissen Eleganz. Die Türen waren jeweils in einem kleinen Abstand mit blauen Zierleisten eingefasst, der Boden bestand aus hellen, fast weißen Fliesen. Zwischen der gläsernen Tür zum Wohnzimmer und der benachbarten Tür stand ein kleines goldfarbenes Tischchen mit einer sehr gut ausgearbeiteten Buddha-Figur. Die Wand zur nächsten rechts davon liegenden Tür war mit einem sehr modernen großformatigen Gemälde gestaltet, er kannte den Maler nicht, was aber nicht verwunderlich war – Kunst war nicht seine Welt. Ein weiterer Teil der Dielenwand war mit einer edlen Vase, die in der Höhe wohl einen Meter maß, dekoriert.

Er beendete seine Betrachtungen und lenkte seine Gedanken wieder in Richtung Arbeit, zu seinem hier und heute durchzuführenden Job; hoffentlich waren die Dekorationsobjekte und die Bilder nicht allzu wertvoll, er würde ihre Zerstörung bedauern.

***

Neben dem Hausanschlussraum lag die Küche. Durch die offenstehende Tür blickte er in einen Raum, dessen Möbel in einem glänzenden Weiß gestaltet waren, selbst die teuren Elektrogeräte. Das Ganze wirkte sehr aufgeräumt und fast steril – die Bewohner hatten ihre Küche sehr nüchtern gestaltet, sie war ein echter Gegensatz zu der eindrucksvollen Diele. Die hellen Küchenmöbel wirkten fast wie in einer Möbelpräsentation oder einem Labor. Das viele Weiß im Haus war zwar modern, für ihn persönlich aber keine Gestaltungsalternative. Er liebte Möbel im schwedischen Design, wie sie auch in seinem Haus zu finden waren, aber verbunden mit deutscher Gemütlichkeit.

Auf der Flurseite gegenüber der Küche befand sich eine Tür, die in die Kellerräume führte. Soweit seine Pläne zeigten, waren diese auch durch die Doppelgarage erreichbar.

Gegenüber der Eingangstür war durch die Glasscheibe das Wohnzimmer zu erkennen, die Tür rechts daneben führte anscheinend in ein Büro, links waren über einen Seitenflur die Schlaf- und Sanitärräume zu erreichen. Der Zugang dorthin war nicht verschlossen. Er ging langsam auf die Glastür zu, als er ein Geräusch bemerkte – es schien das Plätschern von herabprasselndem Duschwasser zu sein und schon Augenblicke später ertönte eine helle, klare Frauenstimme, die ein ihm unbekanntes Lied trällerte. Er stoppte seine Bewegung, ging langsam und leise auf die Tür zum Seitentrakt zu und trat in den Flur. Nach wenigen Schritten schon hatte er den Raum entdeckt, in dem anscheinend eine Frau unter der Dusche ihr Liedchen sang.

„Das war nicht im Plan vorgesehen, Menschen seien nicht im Haus, war mir gesagt worden“, dachte er, denn das war eine Voraussetzung für die Übernahme des Auftrages. Er blieb stehen, überlegte kurz.

‚Jetzt aufgeben? Nein, Job ist Job, ich habe das Geld genommen, also mache ich auch meine Arbeit, sorgfältig und ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn ich mich jetzt zurückziehe, bekomme ich mit Sicherheit Ärger mit den Auftraggebern. Mir wird zur Lösung dieses Problems schon etwas einfallen.‘

Er wartete, bis das Geräusch der Dusche und das Singen verstummten, dann öffnete er die Tür zum Bad, nicht ohne sofort den Finger auf seine Lippen zu legen zum Zeichen, dass sein verdutztes, natürlich erschrecktes Gegenüber nicht schreien solle. Die junge, attraktive Frau hatte sich nach dem Duschen in ein weißes flauschiges Badetuch gehüllt, war also nicht ganz nackt, was ihm sehr entgegenkam – schließlich hatte er nicht vor, sich durch irgendwelche sexuellen Spielereien von seinem Auftrag abhalten zu lassen.

„Bleiben Sie ganz ruhig. Ist außer Ihnen noch jemand im Haus?“

Sie antwortete nicht direkt auf seine Frage. „Wer sind Sie, was wollen Sie?“, fragte sie angstvoll, weiterhin ihren Körper vor dem Fremden verhüllend. „Bitte gehen Sie wieder! Wenn Sie Geld suchen oder Schmuck, das ist alles im Tresor und den Code kenne ich nicht!“

In ihren kurzen blonden Haaren schimmerten noch diverse Wassertropfen, die sie mit der freien Hand abzustreifen versuchte. Anschließend wollte sie in ihre Badelatschen treten, dabei verrutschte ihr Badetuch und gab den Blick auf eine überaus attraktive Figur frei, die sie natürlich sofort wieder bedeckte: „Bitte, tun Sie mir nichts, bitte!“, flehte sie.

„Ich habe nicht vor, Sie zu vergewaltigen oder mit Ihnen eine Liebesnacht zu verbringen, falls Sie das meinen! Bitte kleiden Sie sich an, anschließend gehen wir ins Wohnzimmer.“

Die junge Frau, sie war so etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt nach seiner Schätzung, versuchte, sich vollständig abzutrocknen und wollte sich dann anziehen: „Bitte verlassen Sie das Bad, ich ziehe ich mich an und komme heraus“, meinte sie jetzt etwas weniger ängstlich, ihr Selbstbewusstsein schien zurückzukehren, „so geht das nicht!“

Ihre Kleidungsstücke lagen auf einem Hocker neben der Dusche, nichts besonders Edles, eher im Trash-Look, was ihn sehr verwunderte, hatte er doch dem Haus entsprechend gediegenere Kleidung erwartet.

Er sah sich noch einmal aufmerksam im Bad um. Die Frau konnte den Raum nicht verlassen, es sei denn durch die Tür. Seine anerzogene Höflichkeit ließ ihn das Bad verlassen und auf dem Flur warten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Frau tatsächlich herauskam.

„Was wollen Sie von mir? Kein Geld, keinen Schmuck, keinen Sex? Sie sind ein komischer Vogel, der hier hereinflattert und anscheinend nicht weiß, was er will!“ Ihr letzter Satz kam schon ziemlich energisch aus ihrem schönen ungeschminkten Mund – sie schien wieder Mut geschöpft zu haben, den Eindringling zum Verlassen des Hauses bewegen zu können.

„Nun, junge Frau“, er sah sie mitfühlend und nachdenklich an, das Kommende vorhersehend. „Ich habe mit Ihnen nichts vor, werde Sie fast nicht beachten, es sei denn, Sie stören mein Vorhaben. Ich bin nur das ausführende Organ meines Auftraggebers. Kommen Sie“, er nahm sie am Arm, „wir gehen jetzt hinüber. Sie sollten nicht versuchen, zu fliehen oder um Hilfe zu rufen! Erstens hört Sie ohnehin niemand und zweitens kann ich sehr unangenehm werden!“

Seine Aktentasche hatte er noch in der Diele neben der Tür zum Seitenflur stehen und nahm sie im Vorbeigehen auf, als er nach der Frau das Wohnzimmer betrat. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie anscheinend dachte, in Richtung Haustür flüchten zu können.

„Versuchen Sie es nicht, ich bin schneller und stärker als Sie! Bitte holen Sie jetzt den Stuhl von dort drüben, stellen ihn in die Mitte des Raumes und setzen Sie sich darauf. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Mein Name ist Jessica, wissen Sie das nicht? Und wer sind Sie?“

Er hatte kein Problem damit, ihr seinen Namen zu nennen: „Ich bin Gunnar Gunnarson, nennen Sie mich einfach Gunnar und sagen Sie ‚du‘ zu mir, in meiner Heimat Schweden ist das üblich. Ich werde dich ab sofort auch duzen und mit Jessica anreden, wenn’s recht ist.“

Sie sah ihn erstaunt an, nickte, setzte sich auf den Polsterstuhl, den sie in die Mitte des Raumes gezogen hatte. „Und nun?“, war ihre Frage, die jetzt wieder verunsichert kam. Dieser Mensch, was hatte er vor? Warum dieser Stuhl, auf den sie sich setzen musste? Irgendwie fand sie ihn ganz attraktiv, ein Mann wie er hätte auch in ein Haus wie dieses gepasst … Wieso diese Freundlichkeit, diese Höflichkeit, wenn er Böses geplant hatte? Sie war irritiert von seinen Worten und seinem Verhalten.

„Wenn du ruhig bleibst und nicht schreist, brauche ich dir nicht den Mund zukleben“, sagte er ganz ruhig, während er hinter sie trat, „bleib bitte ganz ruhig sitzen, ohne herumzuhampeln. Ich muss dich leider auf diesem Stuhl fixieren!“

Ganz leise fragte sie: „Gunnar, warum tust du das?“, überlegte erneut, wie sie davonlaufen könnte und sah ihn mit angstvollen Augen an. Er umfasste sie mit eisernem Griff seiner Linken (sein Fitness-Training hatte sich schon häufig ausgezahlt) von der Rückseite des schönen, sicher einmal sehr teuren Polsterstuhls (Biedermeier-Stil, vielleicht sogar antik, jedenfalls edel), nahm mit der rechten Hand eine große Rolle Klebestreifen aus seiner Aktentasche. Blitzschnell, sie hatte keine Chance, sich gegen ihn zu wehren, hielt er sie fest umklammert und fesselte zunächst ihre Arme samt ihres Oberkörpers mit dem Klebestreifen an die Lehne des Stuhles.

Sie wollte aufspringen, davonrennen, Hilfe holen, aber mit dem Stuhl? Er presste sie auf den Sitz. „Bitte, Jessica, es muss sein!“ Ihr Name ging ihm im Hinblick auf das Kommende schwer über die Lippen. Wieder dieser mitleidige, mitfühlende Blick von ihm. Er fixierte auch ihre Beine, schöne Beine, wie er für sich feststellte – ein Jammer …

„Glaubst du, es macht mir Spaß? Aber wenn du nicht kooperierst, kann ich meinen Auftrag nicht durchführen! Ich könnte dich auch erwürgen, um ungestört arbeiten zu können, aber das widerstrebt meiner Natur.“

Er sah sich im Wohnzimmer um, von dem eine etwa vier Meter breite Schiebe-Hebe-Tür anscheinend auf die Terrasse führte, genau konnte er es nicht feststellen wegen der heruntergelassenen Rollläden.

„Hast du die Rollläden heruntergelassen oder war das die Automatik?“ fragte er seine Gefangene, um ihr Gespräch auf ein anderes Thema als das ‚Gefesseltsein‘ zu bringen.

Jessica schwieg.

Der Raum war sehr edel eingerichtet: Eine teure Sitzgarnitur aus weißem Leder, ergänzt um ein dreisitziges Longchair an der Wand, zwei großformatige Gemälde eines anscheinend zeitgenössischen Künstlers, einige wenige, wirkungsvoll angeordnete schlichte Velourteppiche in gedeckten Farbtönen, der Boden mit hellem Parkett gestaltet. Hier waren Leute mit Geschmack und Geld am Werk gewesen, konstatierte er für sich, das war wahrscheinlich Jessicas Aufgabe …

„Dein Mann und du, ihr habt einen sehr guten Geschmack, euer Haus gefällt mir sehr gut“, wandte er sich wieder seiner Gefangenen zu, die ihm erneut nicht antwortete.

Sein Weg aus dem Wohnzimmer hinaus führte ihn jetzt zum Sicherungsschrank, in dem er die meisten der FI’s und Sicherungen ausschaltete, allerdings nicht die des Kellers. Nächstes Ziel war der Keller selbst, in dem er kontrollierte, ob alle Öffnungen nach draußen fest und dicht verschlossen waren. Zu seinem Erstaunen fand er in einem der großzügig bemessenen Kellerräume ein top ausgestattetes Chemielabor, was an den vielen Gerätschaften, Glaskolben, Behältern mit irgendwelchen Substanzen und anderen technischen Gegenständen zu erkennen war. In einem der Nebenräume standen Papiersäcke mit für ihn geheimnisvollen Kennzeichnungen. Der Keller war für die Durchführung seines Auftrages in Ordnung, Näheres wollte er gar nicht wissen, deshalb machte er sich wieder auf den Weg ins Erdgeschoß und hier erneut in den Hausanschlussraum.

Dort löste er anschließend die restlichen Sicherungen und FI‘s, nahm das mitgebrachte Klebeband und begann mit dem Abdichten aller Fenster und Türen mit Ausnahme der Haustür, soweit dies überhaupt nötig war – die Tatsache, dass es anscheinend ein Null-Energie-Haus war, erleichterte ihm diese Maßnahmen.

„Jessica, erzähl mir etwas von dir, von deinen Plänen, deinen Träumen, von deinem Mann, ich will alles wissen!“ Er versuchte, die Wartezeit bis zum Ereignis zu überbrücken.

Jessica schwieg minutenlang, sah ihn durchdringend an, dann brach es aus ihr heraus: „Meine Pläne, Träume, mein Mann, das geht dich überhaupt nichts an!“ Dann brach es aus ihr heraus: „ DU BIST EIN SCHWEIN! Ich werde jetzt schreien, irgendwer wird es hören! Du wirst nicht ungeschoren davonkommen, wahrscheinlich willst du das Haus in die Luft sprengen oder etwas Ähnliches tun, aber dann sterben wir gemeinsam!“

Einer plötzlichen Eingebung folgend machte sie einen weiteren Versuch, ihr Schicksal abzuwenden: „Gunnar“, sie versuchte, soviel Erotik wie möglich in ihre Stimme zu legen, „was hältst du davon, wenn wir miteinander …“

Er unterbrach sie schroff, schroffer, als es sonst seine Art war: „Spinnst du jetzt, Jessica? Was denkst du von mir? Dass ich mit jeder jungen schönen Frau in die Kiste steige, nur weil sie gerade verfügbar ist? Oder sich nicht wehren kann? Ich bin glücklich verheiratet und habe zwei ganz wunderbare Kinder!“ Die Situation war für ihn nicht leicht, die Explosion unter den Blicken der Frau so lange hinauszögern zu müssen, aber aktiv einen Mord begehen – nein, das wollte und konnte er nicht!

„Hilfe!“, schrie sie plötzlich, als er sie so zurückgewiesen hatte, „Hilfe, Hilfe!“ Bevor sie weitere Hilferufe von sich geben konnte, hatte Gunnar ihr schon den Mund mit dem Klebestreifen verschlossen: „Tut mir leid, Jessica, so geht das nicht, du bringst alles durcheinander, wenn du schreist. Sei doch nicht so unfreundlich zu mir, ich bin doch auch höflich und beschimpfe dich nicht. Ich will dir jetzt etwas von mir erzählen, vielleicht wirst du dann etwas freundlicher und aufgeschlossener. Wir werden ja noch etwas Zeit miteinander hier verbringen müssen!“

Jessica schüttelte wütend den Kopf, sie wollte keinen Erzählungen ihres Mörders lauschen. Denn dass er ihr Mörder sein würde, auch wenn er jetzt nicht direkt Hand an sie legte, war ihr inzwischen klar. ‚Warum kommt denn heute niemand zu Besuch hierher, kein Nachbar, kein Paketzusteller, warum ruft niemand an, warum, warum …‘, tausend Fragen, auf die sie keine Antworten wusste, gingen ihr durch den Kopf.

***

Ein Blick auf die Uhr veranlasste ihn, im Hausanschlussraum aktiv zu werden, die Helligkeit dort war wegen des bevorstehenden Sonnenuntergangs und der Rollläden vor allen Fenstern schon stark reduziert. Er schloss zunächst das Ventil unterhalb des Druckminderers, dann löste er geübt (er hätte diese Tätigkeit mit verbundenen Augen durchführen können) oberhalb davon mit dem Maulschlüssel die Gasleitung, die zur Heizungsanlage führte und normalerweise nur reduzierten Druck führte. Der letzte Arbeitsschritt bei dieser Aktion war jetzt das Öffnen des Absperrventils, aus dem sofort mit hohem Druck zischend das Gas ins Haus strömte und im Haus zunächst das Erdgeschoß von der Decke her und dann auch den Keller füllen würde - nach seinen Berechnungen, die er heute schon während seines Bürojobs vorgenommen hatte, müsste er zur Kontrolle eine Stunde und zehn Minuten abwarten, bevor er das Haus verlassen konnte.

Ihre Augen verfolgten jede seiner Aktivitäten, soweit das bei ihrer Körperhaltung möglich war. Sie hörte das zischend ausströmende Gas, sah ihn mit ihren großen tränenerfüllten Augen an, in denen er ihre Todesangst erkennen konnte.

Er reagierte nicht, sah zu Boden. Sein Handy klingelte, es war Melanie. Er nahm das Gespräch nicht an, ließ sie auf die Mailbox sprechen, hörte jedoch mit. Zurückrufen würde er irgendwann, wenn es nicht zu spät würde.

„Gunnar Liebling, wann kommst du heute nach Haus? Es ist schon halb neun und Fernsehen langweilt mich. Die Kinder sind schon im Bett. Bitte ruf an, wenn du kannst.“

Er sparte sich eine Antwort auf diese Frage seiner geliebten Melanie, der Job war durch Jessicas Anwesenheit schon schwer genug geworden – bisher hatte er solche Kollateralschäden wie Todesfälle vermeiden können. Schweigend, sie nicht aus dem Blick verlierend, saß er in einem Sessel und wartete. Jessica begann zu husten, es war jetzt nötig, sich zu schützen. Die Zeit verging zäh wie das Herabtropfen von Honig aus einem umgefallenen Glas. Das Gas hatte den oberen Teil des Raumes schon gefüllt, er setzte seine mitgebrachte Atemschutzmaske auf.

Noch dreißig Minuten bis zum Verlassen des Hauses, fünfzig bis zum Erreichen des „Soll-Füllungsgrades“ – 350 m3Keller plus etwa 600 m3Haus einschließlich des Seitenflügels, das brauchte seine Zeit zum Füllen mit dem Gas. Er hatte sich zuvor im Unternehmen genau informiert: Gasdruck im Verteilernetz etwa 16 bar, Querschnitt des Rohres 3 Zoll – das ergab eine hohe Füllgeschwindigkeit, hoffentlich würde der hohe plötzliche Verbrauch im Gasnetz nicht so bald bemerkt werden! Jessica hatte erneut einen Hustenanfall, versuchte immer wieder, wenn auch vergeblich, sich von der Fesselung zu befreien. Ihre Augen flehten ihn an, sie zu befreien, gehen, leben zu lassen. Er konnte diese Blicke nicht mehr ertragen, sie berührten ihn in seiner Seele, aber ‚Job ist Job‘, sagte sein Verstand! Es war zu spät zum Abbruch der Unternehmung, zu spät, die Frau freizulassen, es blieb ihm keine andere Wahl, als sie durch Injektion eines mitgebrachten starken Barbiturates aus dem Verkehr zu ziehen. Das war das Einzige, was er noch für sie tun konnte, ihr Ersticken beobachten zu müssen, war für ihn keine Option.

Sekunden nach dem Injizieren hing Jessica bewegungslos und mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl, sodass er die Klebestreifen lösen und sie auf den Longchair an der Wand legen konnte – er war sich sicher, dass ihre Betäubung halten würde bis zum für sie bitteren Schluss und schließlich sorgte auch das Gas, auch wenn es ungiftig war, für ein baldiges Ende.

Im Haus wurde es langsam dämmerig, die Sonne war hinter den Häusern und Bäumen der Siedlung verschwunden. Er sah sich noch einmal im Wohnzimmer um, die schöne Einrichtung, die edlen Dekorationsstücke, die wertvollen Bilder – in kurzer Zeit würde alles Vergangenheit sein. Es wurde Zeit, die letzte Vorbereitung für den „Bigbang“ zu treffen und dann das Haus und Jessica zu verlassen, die ruhig auf dem schönen Leder bezogenen Sofa schlief, dabei allerdings immer wieder von Hustenanfällen gequält. Der Raum füllte sich immer weiter mit Gas, in etwa zwanzig Minuten würde das Ereignis geschehen. ‚Wie gut, dass sie vom großen Knall und dem Feuer nichts mitbekommen wird. Rest in Peace, Jessica.‘

Kapitel 2 Lindas großer Tag

Freitag, 10. 9. 2021 Oldenburg

Schon fast zehn Wochen vor dem mit dem Standesamt vereinbarten Termin begann Charlotte, Lindas Mama, zu rotieren und kurze Zeit später hatte das Hochzeitsfieber sowohl Lindas als auch Pits Familie ergriffen. Die beiden hatten sich vorgenommen, nur eine ‚ganz kleine‘ Hochzeit zu feiern – in dieser Hinsicht hatten sie jedoch nicht mit den Eltern, besonders den Müttern, gerechnet. Deren ganzer Ehrgeiz zeigte sich im Organisieren dieses besonderen Anlasses, eine Mitsprache oder gar Mitentscheidung der beiden Hauptbetroffenen war nicht notwendig und anscheinend auch nicht erwünscht!

„Bitte, liebe Mütter, macht euch doch nicht so viel Arbeit, wir wollen doch nur ganz klein feiern!“ Alles Flehen half nichts, der Zug in ihre Ehe fuhr nach dem Fahrplan der Mütter …

Linda war inzwischen fast sechsunddreißig Jahre alt, eine sehr aktive, umtriebige junge Frau, die beruflich schon auf einige Erfolge zurückblicken konnte. Als Kriminalhauptkommissarin in Oldenburg hatte sie in der Vergangenheit mehrere spektakuläre Fälle durch ihr akribisches, manchmal auch unkonventionelles Vorgehen gelöst. Sie hatte sich zwei Wochen Urlaub genommen – schließlich heiratete man ja nicht alle Tage. Besonders Daniel von Stetten, ihr ehemaliger Konkurrent um den Posten der Ermittlungsgruppen-Leitung, ermunterte sie. Ihr Pit hatte für die Flitterzeit natürlich ebenfalls Urlaub genommen und freute sich wie sie selbst auf diese besondere Zeit.

„Du kannst ganz beruhigt heiraten, liebe Linda, ich habe den Laden hier zu einhundert Prozent im Griff“, war Daniels Mut machender Spruch an sie, der bei ihr allerdings mehr Nervosität als Beruhigung hervorrief. Noch immer hatte sie seine ‚besondere Art‘ zu ermitteln aus dem letzten Fall in der Erinnerung.

Nachdem sie ihre dienstlichen Angelegenheiten ordnungsgemäß an ihren Vertreter und die Kolleginnen und Kollegen übergeben hatte, ging sie am Freitag, eine Woche vor dem Trautermin, mit einer gewissen Unruhe in den Urlaub. „Aber was soll schon passieren in dieser Zeit, schließlich sind es doch nur zwei Wochen und nicht zwei Jahre!“

Das folgende Wochenende und die Woche vor dem „Tag der Tage“, wie ihr Pit zu sagen pflegte, vergingen wie im Fluge. Es war unglaublich, was alles zu bedenken und zu regeln war, schließlich wollte das Paar gleich am Tag nach der Feier für eine kurze Zeit auf die Insel, „Flittertage“ machen, wenn schon keine Flitterwochen möglich waren.

Am nächsten Freitagmorgen schließlich, nach einer Nacht mit wenig Schlaf aus unterschiedlichen Gründen, war es so weit und Linda schwebte auf Wolke Sieben! Heute wurde der Traum von ihr und ihrem Pit endlich wahr – der Tag der Heirat war gekommen.

„Wann kommt Beate?“, fragte Linda nervös bereits um sieben Uhr beim Frühstücken, „hoffentlich springt ihr Wagen an, der streikt nämlich manchmal.“

Pit strich die Heidelbeermarmelade auf seiner Brötchenhälfte glatt. Er sah wenig beeindruckt zu seiner Liebsten, war wie immer die Ruhe selbst: „Linda, Schatz, es ist jetzt sieben Uhr in der Frühe, der Termin beim Standesamt ist um elf-dreißig, bitte bleibt ruhig und iss dein Croissant.“

Die Freundin kam um kurz vor neun Uhr und machte sich sofort ans Werk, schließlich sollte Lindas Frisur an diesem besonderen Tag auch besonders schön sein – auch das dezente Make-up gehörte zu ihren Aufgaben.

Beate war selbstständige Frisörin und auch Visagistin, hatte häufig Einsätze bei den Schauspielerinnen des Staatstheaters, wenn dort viel Arbeit anfiel, ein Job, über den sie sich immer wieder freute.

Jetzt aber konzentrierte sie sich voll auf Linda. Bereits nach etwas mehr als neunzig Minuten hatte sie aus der sonst häufig streng wirkenden Linda eine Braut gezaubert, bei deren Anblick die Menschen in „Ah“ und „Oh“ ausbrechen würden.

Linda war begeistert: „Beate, du bist eine Künstlerin, lass dich umarmen!“ Sie hätte vor Begeisterung fast die schöne Frisur wieder zerstört, Beate wusste das geschickt zu verhindern.

„So, jetzt ist es 10:30 Uhr, wann ist die Trauung?“

Pit antwortete an Lindas Stelle: „Um halb zwölf, wenn ich mich erinnere“, grinste er herüber, „aber ich fürchte, das wird knapp, du musst dich noch anziehen, liebste Linda!“

Allen Befürchtungen Lindas zum Trotz war das glückliche Paar zur rechten Zeit in Begleitung von Eltern, Trauzeugen und einer großen Gruppe von Gästen im Hofgärtnerhaus des Schlossgartens eingetroffen. Es wurde eine sehr feierliche Zeremonie, die von der mit Linda fast gleichaltrigen Standesbeamtin durchgeführt wurde – die Mütter hatten Tränen des Glücks in den Augen, die Väter mussten sich mehrmals schnäuzen und auch die anderen Gäste waren gerührt.

„Wollen Sie, Pit Heber, die hier anwesende Linda Barowski zur Ehefrau nehmen? So antworten Sie mit ‚Ja‘“. Die Standesbeamtin sah Pit intensiv an. „Ja, ich will!“

„Wollen Sie, Linda Barowski, den hier anwesenden Pit Heber zum Ehemann nehmen, so antworten Sie bitte mit ‚ja‘.“ Ihr Blick ging zur Angesprochenen. „Ja, ja, ja, ich will!“ Linda war überglücklich, strahlte ihren Pit an.

„Bitte tauschen Sie jetzt die Ringe!“ Sie hielt dem Paar ein Samttablett entgegen, auf dem die schlichten Eheringe schimmerten – das frischgebackene Paar war fast synchron, als sie sich gegenseitig die Ringe an die Ringfinger steckten.

„Dann erkläre ich Sie beide hiermit vor dem Gesetz und den anwesenden Zeugen zu Mann und Frau! Sie dürfen einander jetzt küssen!“, was das frischgebackene Ehepaar unter dem Beifall der Gäste und Zeugen ausgiebig tat.

Linda in ihrem dezenten blauen Kostüm, das ihre blonden aufgesteckten Haare besonders gut zur Geltung kommen ließ und Pit im eleganten taubenblauen Smoking waren ein wirklich schönes Paar, das im Anschluss an die Trauung die Glückwünsche aller entgegennahm und noch für eine längere Zeit auf der Terrasse mit seinen Gästen verbrachte.

Die Feier in dem für solche besonderen Veranstaltungen vorgesehenen Landhaus am Rande der Stadt war perfekt organisiert – die Mütter, natürlich mit Unterstützung ihrer Männer, hatten ganze Arbeit geleistet. Die Gäste waren an den festlich gedeckten runden Tischen, an denen jeweils zehn Personen sitzen konnten, platziert.

Auf einem Podium an der Seite des Saales hatte schon beim Eintreffen der Gäste eine fünfköpfige Band ihr Equipment aufgebaut und technisch getestet, sodass einer das Essen begleitenden dezenten Musik nichts im Wege stand, später war natürlich Tanzmusik eingeplant.

Es war eine sehr heterogene Gästeschar, die Linda und Pit eingeladen hatte. Kolleginnen und Kollegen aus dem Dezernat, die mit Pit befreundeten Kolleginnen und Kollegen aus der Firma sowie Freunde und Verwandte der Familien waren gekommen, dem Paar zu gratulieren und mit ihm zu feiern.

Das mehrgängige Essen war wie erwartet hervorragend, die Gespräche zwischen den Gästen, die einander zum Teil unbekannt waren, liefen gut, der angebotene Wein war, wie konnte es in einem solchen Hause anders sein, ausgezeichnet.

Zu fortgeschrittener Stunde, es mag gegen dreiundzwanzig Uhr gewesen sein, sollte zur Krönung des Festmahles die dreistöckige Hochzeitstorte angeschnitten werden, die eine liebe Freundin der Familie Barowski für Linda und Pit als Geschenk mitgebracht hatte.

Bräutigam Pit und Braut Linda nahmen gerade das Messer zur Hand, um zur Tat zu schreiten, als ein ohrenbetäubender Explosionsdonner die Festgesellschaft aufschreckte. Man ließ die Torte zunächst Torte sein und lief in den Garten des Lokals, um die Ursache zu ergründen – ein heller, andauernder Feuerschein war entfernt im Westen zu erkennen. Die Vermutungen der Gäste gingen von der Explosion einer Ferngasleitung bis zum Detonieren einer Weltkrieg-Zwei-Fliegerbombe auf dem ehemaligen Flughafen… Nur wenige Minuten später waren von Ferne die Signalhörner von Feuerwehr, Rettungswagen und Polizei zu hören.

„Es wird frisch hier, lasst uns wieder hineingehen, morgen steht der Grund ohnehin in der NWZ“, meinte Pit – er hatte großen Appetit auf ein Stück von der Marzipantorte, „wir werden die Ursache heute nicht mehr ergründen!“ Sprach‘s, nahm seine Linda bei der Hand, betrat den Festsaal und steuerte direkt auf die Torte zu.

Schon nach wenigen Minuten war die festlich gekleidete Gesellschaft ebenfalls zurück, um etwas Süßes zu bekommen.

Es dauerte keine Viertelstunde, als Dietmar und Claudia, Freunde und Kollegen Lindas, gleichlautende Nachrichten auf ihre Handys bekamen: „Du wirst gebraucht“ war der Tenor der Information von der Leitstelle der Polizei.

Kapitel 3 Berend Tammena, Unternehmer

Freitag, 10. 9. 2021 Oldenburg

Für das Vorhaben hätte er keine Besseren finden können! Berend Tammena, Geschäftsführer und Mehrheitsbesitzer des Unternehmens, war geradezu euphorisch, als er nach langen Recherchen schließlich aber im Darknet fündig geworden war, nachdem alle Versuche im normalen Internet nicht erfolgreich gewesen waren. An diesem Abend vor drei Wochen lehnte er sich zufrieden in seinem Bürosessel zurück. Nach einigen Minuten ging er zu der kleinen Hausbar, die er sich im Büro gegönnt hatte, schenkte sich ein Glas von dem guten französischen Cognac ein und setzte sich erneut in seinen Schreibtischsessel: „Alles wird gut, die Leute werden es erledigen und ich bin meine Hauptsorge los!“

Er betrieb ein Handelsunternehmen, „Waren und Dienstleistungen aller Art“ hätte man auf den Briefbogen schreiben können, aber dort stand etwas anderes, nämlich „Fernost-Transfer“.

In den letzten Jahren war sein Geschäft exponentiell gewachsen, wie eigentlich überall der Handel mit Staaten in dieser Region – China, Singapur, Indien, Korea, dort machte er seine Geschäfte.

Fast einhundert Frauen und Männer waren für ihn tätig, die überwiegende Zahl davon hier im ortsansässigen Betrieb, ein Teil in den Auslands-Niederlassungen.

Berend war ein Mensch mit großem Körperumfang unter einem schlanken Hals, manche Menschen verwendeten in vertraulichen Gesprächen den Spitznahmen „Birne“ für ihn – sollte er jedoch davon erfahren, würde das ganz sicher zu einer hektischen Reaktion bei ihm führen …

Ein ziemlich kleiner Kopf saß wie falsch platziert auf dem massigen Körper, dadurch wirkte er etwas unbeholfen und einfältig, aber über seine geistigen Fähigkeiten und seine Kenntnisse auf vielen Gebieten sollte man sich keinen Illusionen hingeben, er war den meisten seiner gelegentlichen oder regelmäßigen Gesprächspartner weit überlegen.

Seine geschäftlichen Erfolge verdankte er seinem Ideenreichtum, seinem Spürsinn für ‚Occasionen‘ und einer sehr ausgeprägten, allerdings negativen Eigenschaft, er war ein skrupelloser Mensch.

Zum Erreichen einmal gesetzter Ziele ging er „über Leichen“, wie manche von ihm behaupteten. Für seine Freunde jedoch war er stets erreichbar, zuverlässig und half, wann immer ihm seine Hilfe erforderlich schien, dadurch hatte er sich eine treue Gefolgschaft geschaffen.

Für seine körperlichen Bedürfnisse sorgte Adriana, eine etwa fünfunddreißigjährige wohlgeformte Blondine, die ihn in jeder Hinsicht, Tag und Nacht, soweit möglich umsorgte. Er hatte sie in einem Edel-Bordell in Hannover kennengelernt und dem Besitzer für einen fünfstelligen Betrag abgekauft, ein gutes Geschäft, wie er zu sagen pflegte. Mit ihr wohnte er in einem uralten reetgedeckten ehemaligen Bauerhaus im Nordosten der Stadt, in dessen Stall ein silberner Porsche 911 und ein schicker roter Ferrari untergebracht waren. Damit erfüllte er eigentlich schon fast alle Klischees des neureichen, hemdsärmeligen Erfolgsmenschen.

Ach ja, es gilt noch zu erwähnen, dass neben der „Groot Döör“, der großen verglasten Eingangstür, in Nähe der erst vor Kurzem montierten Wallbox, sein neuer weißer Tesla parkte, den er überwiegend für Fahrten in die Stadt nutzte.

***

„Wir sind eine Gruppe von zehn Spezialisten, die jede Art von Auftrag sauber, wertfrei und pünktlich erledigt. Bitte nehmen Sie Kontakt mit uns auf.“

So lautete der Text auf der Internetseite. Es folgten eine Reihe von „Geschäftsbedingungen“ und eine Preisliste. Hier waren Aktionen für Bedrohungen, Einschüchterungen, Körperverletzungen und selbst „Durchführung von Unfällen“, dies in zwei Kategorien, nämlich mit und ohne Todesrisiko für die Ziele, aufgeführt.

Der Katalog der Leistungen könne, darauf wurde ausdrücklich hingewiesen, individuell den Erfordernissen der Mandanten angepasst werden – selbstverständlich gegen Aufpreis.

Diesen Leuten hatte er sein Anliegen anvertraut, natürlich völlig anonym, schließlich wollte er nicht später von ihnen erpressbar sein! Es war ein sehr spezieller Auftrag, den Berend zu vergeben hatte: Es galt, die private und wirtschaftliche Basis seines ärgsten Konkurrenten zu vernichten und ihn so in den Ruin zu treiben.

Den Transfer des geforderten Honorars, natürlich Vorkasse, hatte er über seine Bank auf den Cayman Islands realisiert, die Zahlung der fünfzigtausend US-Dollar fiel ihm nicht schwer, denn das dortige Konto hatte einen Stand im Millionenbereich – der Ertrag aus seinen „Occasionen“, wie er den nicht ganz sauberen Teil seiner Geschäfte zu nennen pflegte.

***

Heute nun, an diesem lauen Sommerabend, saß er mit Adriana auf der Terrasse hinter dem Haus und genoss den Rotwein und die Zärtlichkeiten seiner Geliebten, als er in der Ferne einen Feuerschein wahrnahm, gefolgt von einem lautstarken Donnern. Er wies seine Freundin kurz von sich, nahm sein Handy und gab eine kurze Nachricht ein, die er nach dem Absenden sofort wieder löschte. Ein tiefer Zug von Befriedigung zog über sein Gesicht: „Liebste, komm zu mir, wir haben etwas zu feiern!“

Adriana kam selbstverständlich sofort, hatte noch ihr Glas Rotwein in der Hand, als sie sich auf seinen Schoß setzte. Sie kannte ihren ‚Besitzer‘ ganz genau, wusste, was jetzt folgen würde. Er war ihr zutiefst zuwider, aber die Abhängigkeit von ihm schien ihr zurzeit unabänderbar.

„Zieh dich aus!“

„Hier? Jetzt? Ganz?“ Er nickte ihr mit lüsternem Blick zu.

„Frag nicht so blöd, du dumme Gans. Komm her und hilf mir mit beim Ausziehen.“

Sie stand auf, zog sich aus, die wenigen Sachen warf sie achtlos auf den Boden. Sie zögerte ein wenig mit dem letzten knappen Kleidungsstück.

„Ausziehen, alles, sofort!“, kam sein Kommando, „vergiss nicht, dass du MIR gehörst, ich kann dich jederzeit wieder verkaufen, wenn du nicht funktionierst.“

Adriana gehorchte lächelnd.

„Du Schwein, irgendwann bringe ich dich um und dann verschwinde ich mit dem Ferrari nach Italien“, dachte sie in solchen Momenten. Sicher, sie hatte als seine im wahrsten Sinne des Wortes ‚Leibeigene‘ zumeist ein Luxusleben, inzwischen konnte sie jedoch seine fast täglichen Perversionen nicht mehr ertragen – ein Problem für sie war allerdings, dass er ihre Papiere in seinem Tresor verwahrte.

Eine starke Erregung stieg in Berend auf, als sie ihn ebenfalls entkleidete. Sein Puls beschleunigte sich – er hatte noch keine derartige Gelegenheit mit Adriana bereut, sie war beim Sex einfach unschlagbar. Manchmal musste sie allerdings vorher entsprechend motiviert werden, wenn sie ihm seit ihrer Rettung aus dem Bordell auch treu ergeben war, wie er meinte.

Kapitel 4 Gunnar Gunnarson

Sommer 2009 Stockholm / Schweden

Gunnar Gunnarson, geboren am 14. Mai 1965 in Stockholm im historischen Stadtteil „Gamla Stan“, der Altstadt der schwedischen Hauptstadt, hatte eine schöne abwechslungsreiche Kindheit im Kreise einer großen Familie: Mit seinen Eltern und den Geschwistern wohnten in zwei unmittelbar benachbarten historischen Gebäuden in der Straße „Tyskabrinken“ ebenfalls die Großeltern väterlicherseits und die Oma mütterlicherseits.

Seine Jugend im Kreise der großen Familie war rückblickend betrachtet ebenfalls ganz wunderbar. Die schmalen, aber weit in die Grundstücke hineinragenden unmittelbar nebeneinanderstehenden Häuser waren nahezu identisch. Eine schmale Eingangstür, links und rechts von je einem Fenster gesäumt, vier Stockwerke, ein Dach aus roten Ziegeln.

Hier, in der Nummer 18, war er zu Hause, zusammen mit seinen Eltern und den beiden Geschwistern. Haus Nummer 20 wurde von den Großeltern und der zweiten Mormor (Oma) bewohnt. Nach der Schule lief er, so oft es möglich war, die kurze Strecke zum Königsschloss hinüber und wartete, bis die für ihn immer wieder spannende Wachablösung zelebriert wurde – hunderte Touristen taten es ihm gleich. Besonders spannend fand er immer den Aufzug der berittenen Gardisten, Pferde hatten es ihm angetan.

Was kann für einen Jungen schöner sein als einen Opa direkt nebenan? Es waren echte Highlights sowohl für den kleinen Jungen auch für den Jugendlichen, wenn der Morfal (Opa) fragte: „Wer will mit zum Angeln?“ Dann konnte er gar nicht so schnell „ICH“ rufen und seine Sachen zusammensuchen, wie er wollte, aber Opa wartete natürlich immer auf ihn. Er genoss die Fahrt mit dem alten Holzboot, das noch älter erschien als Opa, den Geruch des alten Diesel und die Stille, wenn sie den Platz zum Angeln erreicht hatten. Das Boot schaukelte dann zumeist sanft in den kleinen Wellen zwischen den vielen Schären, sodass er manchmal sogar einschlief.