Maria. Frau. Mutter. Heilige. - Karl-Heinz Knacksterdt - E-Book

Maria. Frau. Mutter. Heilige. E-Book

Karl-Heinz Knacksterdt

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Beschreibung

Eine Darstellung des Lebensweges der Maria von Nazareth, der Mutter Jesu. Zwölf alte Männer, die Jünger Jesu, versammeln sich am Sterbebett der Maria, die ihnen ihre Lebensgeschichte erzählt. Reflexionen der Jünger auf das Gehörte, Sachhinweise und freie Erzählung sind komponiert zu einer spannenden Geschichte, die Sie beim Lesen nicht aus der Hand legen werden. Die enthaltenen Bilder sind im Ganzseiten- Format enthalten.

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Dieses Buch ist meiner lieben Frau Annelie Knacksterdt gewidmet, die mich mit ihren Bildern zu dieser Arbeit motiviert hat.

Titelgestaltung: Karl-Heinz Knacksterdt

Inhaltsverzeichnis

-Vorwort

-

Prolog

-

Ein kleines Dorf in Galiläa

-

Maria berichtet

-

Begrüssung

-

Der Anfang des Weges

-

Verkündigung

-

Elisabeth

-

Gespräche der Jünger

-

Am Nachmittag des ersten Tages

-

Maria berichtet

-

Zurück in Nazareth

-

Bethlehem

-

Marias Traum

-

Die erste Nacht in Nazareth

-

Der zweite Tag in Nazareth

-

Maria berichtet

-

Heimweg

-

In Jerusalem

-

Brit Mila

-

Zuhause

-

Der dritte Tag in Nazareth

-

Maria berichtet

-

Kindertage

-

Der vermisste Sohn

-

Am Abend des dritten Tages

-

Der vierte Tag in Nazareth

-

Maria berichtet

-

Familienleben

-

Ankunft in Kapernaum

-

Josefs Tod

-

Thomas Erschrecken

-

Die Aufzeichnungen

-

Maria berichtet

-

Marias Zeit ohne Josef

-

Vorbereitungen für den Feiertag

-

Maria berichtet

- Suchen und Finden

- - Der Feiertag

-

Der erste Tag der letzten Woche

-

Maria berichtet

-

Am Vorabend des Passahfestes

-

Der zweite Tag der letzten Woche

-

-

Maria berichtet

– - Verrat -

-

Der dritte Tag der letzten Woche -

-

Maria berichtet

- Jesu Tod

- Auferstehung

-

Der vierte Tag der letzten Woche

- Maria berichtet

-

Die Zeit nach Jesu Tod

-

Der letzte Tag

-

Das Ende des Weges

-

Marias Tod

-

Epilog

-

Anhang

Vorwort

Maria. Leicht ist es nicht, die Spuren deines Lebens nachzuzeichnen!

Dieses Buch will aus einer ungewöhnlichen Perspektive vom Leben und Sterben der Maria von Nazareth erzählten:

Zwölf alte Männer, vom Leben und ihrer Arbeit gezeichnet, bisher verstreut in alle Welt, versammeln sich am Sterbelager einer alten Frau. Niemand weiß, wie sie den Ruf, an diesen Ort zu kommen, erhalten haben. Aber diesen Männern ist es wichtig, hier zu sein.

Es sind die zwölf, die Jünger Jesu, die von Maria in deren letzten Lebenstagen berichtet bekommen, wie ihr Leben verlaufen ist, was sie erlebt und erlitten hat, wie ihre Beziehung zu Jesus war und bis zur letzten Minute ist.

In einem Wechsel der Erzählung zwischen den Jüngern und Maria, ergänzt um Fakten und Zitate ist ein spannendes Buch entstanden, das Sie nicht vorzeitig aus der Hand legen werden.

 

Oldenburg, im Oktober 2014

Prolog

Ja, ich fühle mich als Christ, als evangelischer Christ.

Nicht gerade besonders aktiv, aber durchaus interessiert an meinem Glauben, an der christlichen Botschaft allgemein und im Besonderen. Ich gehe, ich muss gestehen, leider viel zu selten in den Gottesdienst, höre und lese aber gern Gottes Wort, singe fröhlich, meistens jedenfalls, die Lieder mit, bete.

Gott spielt eine Rolle in meinem Leben, und ich versuche, auch leider viel zu selten, mich an Christus zu orientieren, ohne dass ich von mir den Eindruck hätte, ein frommer Mensch zu sein.

Allein aber schon die Tatsache, dass ich nicht fest im katholischen Glauben verwurzelt, sondern evangelisch bin und Maria für mich primär die Mutter des Herrn ist und nicht eine anbetungswürdige Heilige - diese Fakten allein hätten eigentlich schon verhindern müssen, dass mir das widerfahren ist, von dem ich erzählen möchte.

Fremde Städte zu besuchen, Neues zu sehen und zu erleben: Das ist eine kleine Passion von mir. Ich wandere gern durch die Straßen und Gassen, sitze hin und wieder in einem kleinen Café am Rande der Straßen, sehe die Menschen vorbeiflanieren.

Und hin und wieder besuche ich, meist aus touristischem Interesse, eine Kirche, die mich anspricht und einlädt, in ihr einige stille Momente zu verbringen.

Aber lassen Sie mich von Anfang an erzählen, was ich gerade angedeutet habe.

Es war im Sommer des letzten Jahres in einer großen Stadt im Süden unseres schönen Landes. Die Sonne schien, die Menschen waren fröhlich nach all den Regentagen der letzten Wochen, und in den Straßencafés war kaum noch ein freier Platz zu bekommen.

Eigentlich wollte ich auch irgendwo einen Kaffee trinken und in der Zeitung lesen, die ich am Kiosk, gleich am Anfang der Fußgängerzone, gekauft hatte. Nun, ein Tisch für mich allein, wie ich es so gern mag, war nicht in Sicht. So änderte ich meinen Plan, wenn man das denn so nennen kann, und betrat die Kirche vis-a-vis durch das große, mit schön verzierten mehrstufigen gotischen Bögen versehene Hauptportal an der Westseite der Kirche. Das Motiv des Reliefs unter den Bögen ließ sich erst mit dem zweiten Blick deuten: Es handelte sich um eine sehr moderne Darstellung der Apokalypse, die allein schon eine ausführliche Betrachtung wert wäre.

Die eichene, mit massiven eisernen Beschlägen versehene Tür ließ sich nur unter ziemlichem Krafteinsatz öffnen. Ich trat ein in den Vorraum. Hinter mir schwang die schwere Tür lautlos zurück und fiel schwer ins Schloss.

Der Vorraum war durch ein mit floralen Elementen und wenigen goldenen Verzierungen versehenes schmiedeeisernes Gitter abgetrennt; ein breiter Durchlass lud mich ein, das Mittelschiff zu betreten.

Die Kühle der Kirche und die große Stille waren sehr angenehm nach der quirligen, lauten Stimmung draußen in und vor den Straßencafés, und ich begann, mich umzusehen. Meinem Eindruck nach war ich allein in dem großen, mit gotischen Bögen versehenen Hauptschiff, als ich die Zwischentür durchschritten hatte. Eine Doppelreihe von Säulen links und rechts führte zum Chor hin, weiter vorn von meinem augenblicklichen Standpunkt aus war das Querschiff, ebenfalls von Säulen gestützt, zu finden.

Eine wunderbare Kirche, dachte ich. Weiß die Wände und die Flächen des Kreuzrippengewölbes, Gold die Verzierungen, ganz dezent, nur die Gründung der Säulen mit Blattgold belegt und die Kapitelle, dazu eine schmale Goldkante an den Rippen des Gewölbes. Keine barocke Üppigkeit, keine Engel und Putten. Eine wunderbare Schlichtheit zeichnete den Raum aus.

Die schönen, mit biblischen Motiven modern gestalteten Glasfenster hüllten den Kirchenraum in ein etwas gedämpftes Licht, das dem Charakter des Gotteshauses entsprach und schon ohne eigenes Zutun eine meditative Grundstimmung hervorrief.

Der Altar war ebenfalls äußerst schlicht gestaltet, aber er beeindruckte mit einer wunderbaren Ästhetik. Gerade Linien, vier schlichte goldene Leuchter mit brennenden Kerzen, eine alte Bibel. Das Antependium in grün mit weißer Stickerei. Ein großes, goldenes Kreuz schwebte, unsichtbar gehalten, wie schwerelos über dem Altartisch. Das Lesepult mit seinem Behang und der Taufstein waren in Stil und Ausführung dem Altar angepasst.

Ich ging weiter nach vorn auf den Chor mit seinem Altar zu.

In den Seitenschiffen gab es zwei weitere, schön gestaltete Altäre, die zum Beten und Meditieren einluden: auf der linken, der Nordseite der Kirche einen mit einem wunderbaren, ganz in violett gehaltenem Bild der Abendmahlsszene, im rechten Seitenschiff, zum Süden hin, einen Marienaltar. Hier war als Motiv eine wunderschöne, modern gestaltete Pièta gewählt worden.

Dieser Altar zog mich an, und so ging ich vom Mittelgang hinüber in das Seitenschiff und setze mich in die letzte der fünf Bankreihen, die davor aufgestellt waren.

Die Gestalt der Maria war mit einem blauen Gewand gekleidet dargestellt, kein Heiligenschein, kein Strahlenkranz, keine Glorie in der Darstellung. Nur eine Frau, die entsetzt, traurig, weinend ihren toten erwachsenen Sohn in den Armen hält; mir schien es, als wolle, könne sie seinen Tod nicht glauben. Der Ausdruck in ihren Augen - so viel, so intensive Trauer hatte ich bisher noch nie gesehen.

Der Organist dieser für mich so wunderschönen Kirche, sicher wollte er für den Sonntagsgottesdienst üben, intonierte eine leise, wie hingetupft erscheinende Melodie von einer musikalischen Transparenz, die mich in ihren Bann schlug. Vom letzten Gottesdienst lag noch ein Hauch von Weihrauch in der Luft. Die ganze Situation erschien mir von Minute zu Minute, die ich hier die Pièta in dieser Kirche betrachtete, unwirklicher. Eigentlich hätte ich längst gehen wollen, aber irgendetwas veranlasste mich, ganz still und den Blick nicht von dem Marienbild wendend in der Kirchenbank zu verweilen.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich hier auf meinem Platz verbracht hatte, tief beeindruckt von der Szene der weinenden Mutter mit ihrem toten Sohn, umhüllt von Weihrauchduft und melodischen Klängen. Und irgendwann sagte in meinem tiefsten Innern etwas (oder jemand?) zu mir, ich solle bleiben.

Meine Gedanken begannen, sich mit dieser Frau zu beschäftigen, ganz eigene Wege zu gehen, nicht mehr meinem Willen unterworfen, so spürte ich.

Ein kleines Dorf in Galiläa

Es ist ein sehr kleines Dorf in Galiläa, Nazareth, in dem sich der Kreis wieder schließt, der Kreis von der Kindheit bis zum letzten Atemzug einer Frau, die alle Höhen und Tiefen des Lebens durchschritten, Staunen und Freuen, Lieben, Reden und Weinen erlebt hat, einer Frau, die uns vertraut und doch so fremd geblieben ist. Maria, die Mutter des Jesus von Nazareth.

Die Nacht hat ein wenig Kühle in die Häuser gebracht, ein leichter Wind streicht über die karge Sommerlandschaft und um die Häuser des Dorfes.

Die Häuser, aus Lehm und Stroh erbaut, wenige nur, mit angrenzenden Höfen, in denen sich das Vieh lagert, einige Hühner, ein paar Ziegen, vielleicht ein Esel. Olivenbäume auf der leicht ansteigenden Ebene, knorrig, wie für die Ewigkeit geschaffen, der mittags vom Himmel unbarmherzig herab strahlenden Sonne trotzend, und auch einige Getreidefelder und Weinstöcke. Eine unwirklich erscheinende Stille und ein geheimnisvolles Licht liegen über dem Land. Im noch darüber liegenden Dunst sind die Hügel des Berges Tabor zu erkennen.

In dem erstaunlich geräumigen Hauptraum eines der Häuser aber hat sich schon jetzt in den frühen Morgenstunden eine Anzahl Menschen versammelt. Eine Gruppe von Männern, nicht mehr jung. Sie alle haben schon vor Tagen einen inneren Ruf vernommen und sind ohne Zögern hierher gekommen, haben ihre derzeitigen Aufgaben und Arbeiten auf später verschoben.

Vier Frauen wohnen hier in diesem Haus am Rande des Dorfes. Frauen im hohen Alter, Witwen. Sie haben schon vor vielen Jahren ihre Männer verloren, Sara, die Älteste, Johanna, Rebecca und Maria.

Alle hier versammelten Männer und Frauen wissen: jetzt, in dieser Stunde, ist hier der Platz, an den sie gehören.

In der Mitte des Raumes, auf dem dort stehenden Lager, liegt sie:

Maria, die Mutter Jesu, Witwe des Josef von Nazareth.

Das Lager: eine sorgfältig geflochtene Matte aus Schilfstroh, mit Tierfellen und Decken gepolstert, mit feinem Tuch bedeckt. Unter dem Kopf Kissen, auch aus feinem Tuch, mit weichen Gänsefedern gestopft.

Maria: schwach, vom Leben gezeichnet, müde.

Leise Gespräche der an ihrem Lager Versammelten über ihr Leben, ihre augenblickliche Situation, vergangene Zeiten schwingen durch den Raum.

Begrüßung

Plötzlich verstummt das gedämpfte Gemurmel, als sie mit brüchiger Stimme zu sprechen beginnt. Ihre Augen sind hellwach, wenn auch ihre Worte zunächst nur zögernd kommen.

Lasst ein wenig Sonne herein. Ein wenig von der Morgensonne, die ich nun bald in ihrem Strahlen nicht mehr sehen werde.

Lasst ein wenig frische Luft herein. Ein wenig von der frischen Luft, von der Kühle der Nacht, die ich nun bald nicht mehr werde atmen und fühlen können. Lasst gute Gedanken herein. Einige von den guten Gedanken, die ich nun bald nicht mehr werde denken können.

Lasst ein wenig Liebe herein in dieses Haus zu dieser Stunde. Ein wenig von der Liebe, die mich mein Leben lang begleitet hat, die ich empfangen und verschenkt habe und die ich nun bald nicht mehr werde spüren und schenken können.

Eure Tränen aber, die lasst draußen vor der Tür, bei den Ziegen, den Hühnern. Sie sollen nicht unsere Herzen bedrücken.

So spricht die Frau auf dem Lager zu den Menschen um sie herum, zu den Menschen, die sie so lange begleitet haben, die ihr lieb geworden sind, und die nun ihren Worten schweigend und betroffen lauschen.

Zwei gehen hinaus, ein wenig das Dach zu öffnen. Licht und ein wenig Wind sollen hereinströmen, den Wunsch der alten Frau auf dem Lager erfüllend.

Maria, wissend um den letzten Schritt, den sie bald gehen wird, mit tief liegenden Augen und einem schmalen, aber kaum faltigen, immer noch fast jugendlich wirkenden Gesicht, atmet tief durch.

Die Legende erzählt, und Künstler haben uns das Bild der sterbenden Jungfrau gezeichnet1:

Sie liegt auf einem prächtigen Lager, um sie herum die Apostel versammelt, durch Engel von den entferntesten Enden der Welt herbeigebracht.

Engel halten auch im Hintergrund Wacht über die zeitlos schöne Jungfrau in ihrem blauen Gewand, die hier und jetzt, in einer wunderschönen, prächtigen Umgebung ihren Tod erwartet.

Ihr seid gekommen, sagt sie leise.

Ich habe nach euch gerufen, und nun seid ihr hier, wie ich es mir erhofft hatte. Hierher bin ich zurückgekehrt, um mein Leben zu beenden, hierher in das Dorf aus meinen Kindertagen.

Freunde und Wegbegleiter wart ihr mir mein Leben lang. Auch wenn nicht alle hier sein können wie der greise Simeon, der mir auf dem Tempelberg geweissagt hat, und mein guter alter Josef, der schon lange Zeit bei Gott ist. Aber du, Johannes, der du mich nach dem Tod meines lieben Sohnes wie eine Mutter zu sich genommen hast, du bist hier. Und manche der Freunde sind hier, mit denen wir Frauen damals im Garten Gethsemane waren und alles mit erleben mussten. Und die lieben Freundinnen, mit denen ich die letzten Jahre verbracht habe, hier, in diesem Witwenhaus.

Jetzt steht bald mein letzter Weg bevor. Nein, sagt nichts, ich weiß es ganz sicher. Es ist ein Weg, den ich gern gehen werde…

Es sind jetzt 22 Jahre vergangen, seit mein geliebtes Kind, euer Bruder, zu Gott aufgefahren ist. Ich habe noch manche Erinnerung, von der ich euch berichten möchte, darum öffnet eure Ohren, seid wach, wenn ihr hier bei mir weilt.

Es muss doch darüber gesprochen werden, bevor mich mein Gott zu sich ruft! Betet mit mir und für mich. Lasst uns den Herrn über Zeit und Ewigkeit gemeinsam bitten, dass ich euch noch sagen kann, was ich euch sagen möchte

Ihre Stimme ist ein wenig fester geworden.

Gebt mir einen Becher mit Wasser, bittet sie, trinkt einen ganz winzigen Schluck, spricht weiter.

Ich will am Anfang beginnen, am Anfang meines Lebens, in dem ich so vieles erlebt habe, und ihr sollt alles bewahren für eure Kinder und Kindeskinder, für alle Menschen, die nach euch kommen werden; ihr sollt es den Schreibern im Tempel erzählen, damit sie es auf feines Pergament schreiben können, oder, besser noch, Andreas soll jetzt hier alles aufschreiben, was ich euch sage. Das wird mein Vermächtnis sein!

Andreas, der von diesem Auftrag völlig überrascht wird, kann nur antworten: “Ja, das will ich gern tun!“

 

1 Beispiele: Andrea Mantegna (1430–1606) "Tod der Madonna", André Beauneveu (1330–1403/13) 'Mehrere Stationen' des Todes der Madonna, Relief am Westportal der Kathedrale von Senlis (um 1170) u.a.

Der Anfang des Weges

Hier, in diesem kleinen Dorf in Galiläa, bin ich aufgewachsen, nachdem meine Eltern wegen der Zerstörung unserer Heimat Sepphoris durch die Römer von dort fliehen mussten, als ich noch sehr klein war2.

Ach, Sepphoris! Meine Eltern haben mich erst in ganz hohem Alter bekommen, als sie sich schon nicht mehr vorstellen konnten, ein Kind zu haben.

Schon nach nur sieben Monaten Schwangerschaft brachte mich meine Mutter zur Welt!

Als ich ein wenig älter war, hat mir meine Mutter Anna erzählt, wie sehr sich sie und mein Vater über mich gefreut und Gott immer wieder für dieses Wunder gedankt haben; ein großes Dankopfer hat mein Vater Joachim im Tempel nach meiner Geburt gebracht. Das Glück meiner Eltern war vollkommen.

Die Zeit im Elternhaus hier in Nazareth, an die ich mich erinnern kann, war wunderschön. Wir waren nicht arm, und ich hatte ein Leben, das für ein kleines Mädchen schöner nicht hätte sein können.

Ein niedliches, hübsches kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, spielt im Garten des kleinen Anwesens am Rande des Dorfes. Lange, fast schwarze Haare, große dunkle Augen, aber eine helle Haut…

Ein fröhliches Lachen kommt aus seinem Mund: gerade hat der kleine Hund, sein liebster Spielgeselle, das Stöckchen wiedergebracht, das es geworfen hatte, ein Spiel, das Kind und Hund immer wieder viel Freude macht.

Aus dem wegen der heißen Mittagssonne nur mit wenigen, ganz kleinen Fensteröffnungen versehenen Haus kommt eine Stimme: "Mirjam, komm herein, wir wollen zu Abend essen". Das kleine Mädchen befielt dem kleinen Hund: "Du musst jetzt hier bleiben, du darfst nicht mit ins Haus, sonst schimpft die Mutter mit uns". Folgsam trollt sich das Tier in eine schon schattige Ecke des Hofes, und das Mädchen läuft in das Haus zu seinen Eltern…

Ich war noch recht klein, als meine Eltern starben. Verwandte nahmen mich auf und haben mich großgezogen. Und als meine Pflegemutter am Fieber verstarb, ich war wohl ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, gab mich mein Pflegevater in die Obhut eines schon betagten Witwers3, Josef von Nazareth. Er hatte vier erwachsene Söhne und zwei Töchter, aber niemanden mehr, der ihm den Haushalt führte. Eigentlich war es eine unmögliche Sache, ein so junges Mädchen im Hause eines alten Mannes, aber die Priester im Tempel haben es so bestimmt, und Gott hat es meinem Pflegevater und auch dem Josef, so hieß mein neuer Herr und Gebieter, so befohlen.

Sie lächelt ein wenig bei dem Gedanken daran…

Nun, Josef, der alte, erfahrene Zimmermann, war ein Nachkomme aus Davids Stamm, wie man sagte. Er erzählte allen Leuten in unserem Dorf, dass er mit mir verlobt sei, damit gar nicht erst ein großes Gerede aufkommen konnte, und das stimmte ja irgendwie auch. Die Leute redeten trotzdem, denn ein so alter Mann mit einem so jungen Ding im Haus…

Maria legt sich ermüdet auf ihr Lager zurück und schweigt. Man kann ihr ansehen, wie sehr sie die Erinnerung beschäftigt. Eine Mitbewohnerin des Hauses stützt sie ein wenig, gibt ihr einen Schluck Wasser zu trinken. Maria schließt die Augen vor Erschöpfung. Die Umstehenden schweigen, stehen und sitzen bewegungslos. Hoffentlich kann sie uns alles sagen, was sie möchte, denkt so mancher, so manche.

Thomas, einer der Männer, die von weither gekommen sind, beginnt zu beten.

Herr Jesus, sei du jetzt, in dieser Stunde, bei uns, wie du schon so oft bei uns gewesen bist. Sie hat uns DICH gebracht, dich großgezogen, versorgt, geliebt, dich am Kreuz verloren und dennoch behalten in ihrem Herzen.

Lass sie dir jetzt ganz nahe sein, dich spüren. Gib ihr die Kraft, noch zu berichten aus ihrem Leben für alle Menschen, die nach uns sein werden, damit auch sie von dieser einmaligen Frau wissen können.

Einigen der versammelten Freundinnen und Freunde, Weggefährten und Betreuer, waren schon bei Marias Worten Tränen in die Augen getreten, und auch jetzt bei dem Gebet.

Maria winkt ihrer Freundin, die ihr wieder aufhilft.

Josef, mein guter Josef. Er hat es nicht leicht mit mir gehabt. Aber ich will der Reihe nach berichten.

Ach, liebe Freundinnen und Freunde, wie viel Leben liegt hinter mir, Freude und Lachen. Aber auch viele Tränen, die ich weinen musste. Vieles davon habt ihr ja auch erleben dürfen oder erleben müssen.

Kaum hatte Josef mich in sein Haus aufgenommen, da rief ihn die Arbeit zusammen mit seinen Söhnen auf mehrere Baustellen in Galiläa und in der großen Stadt Jerusalem. Seine Töchter, längst verheiratet, blieben mit mir in Nazareth zurück, und sie mochten mich zunächst überhaupt nicht. Sie gingen hinaus auf den Markt, wenn es galt, Einkäufe zu machen, oder wenn einmal ein Magier oder Gaukler in unser Dorf kam, und ich saß manchmal ganz allein in unserem Haus, um das ich mich zu kümmern hatte. Das war meine Pflicht. Nur gut, dass Josef und seine unverheirateten Söhne Simon und Judas, die ich auch versorgen musste, häufig unterwegs waren, da konnte ich meine Arbeit etwas leichter schaffen.

Fegen und schrubben, das Vieh versorgen, einkaufen, nähen und kochen, alles das waren meine Aufgaben. Und wenn ich alles dann fertig hatte, kam vielleicht einmal Lydia oder Lysia, eine der Zwillinge Josefs, vorbei, um Neues von mir zu erfahren, und dann tuschelten sie wieder im Dorf hinter meinem Rücken: "Was will die denn überhaupt hier? Konnte sich der Vater nicht etwas Richtiges als Frau nehmen statt dieses Kindes? Die passt doch überhaupt nicht hierher, ist doch viel zu jung für Vater!"

Dieses Alleinsein und auch das Gerede machten mir so manches Mal schwer zu schaffen!

 

2 Sepphoris ist unbewiesen, aber tradiert als Geburtsort

3 Josef von Nazareth, Bauhandwerker, Zimmermann, Architekt (möglicherweise ausgebildeter Priester) wurde um 50 v. Chr geboren und starb vor 30 n. Chr. (nach Wikipedia, Stichwort "Josef von Nazareth"); andere Quellen sagen, dass er bereits etwa 80 Jahre alt war, als er Maria verlobt war.

Verkündigung

Ich war immer froh, wenn ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte, wo ich aus edler Wolle schönes Garn spinnen konnte; spinnen war meine liebste Beschäftigung, wenn die Hausarbeit fertig war. Josef hatte mir vor einiger Zeit Wolle, in einem wunderschönen dunklen Blau eingefärbt, vom Markt in Jerusalem mitgebracht. Er hatte viele Tage gemeinsam mit seinen Söhnen dort gearbeitet, und sie waren gut bezahlt worden.

Auf das fertige Garn war ich richtig stolz, so gut war mir die Arbeit noch nie gelungen, und ich hatte schon viele Spindeln gesponnen; ein neues, schönes Kleid wollte ich später aus dem gewebten Stoff nähen.

Heute aber, an diesem zweiten Tag im Monat Nisan des Jahres 37544war vieles anders. Ich werde dieses Datum nie vergessen…