Der Tod stickt mit - Tatjana Kruse - E-Book

Der Tod stickt mit E-Book

Tatjana Kruse

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Beschreibung

Kommissar a. D. Siggi Seifferheld beobachtet verdächtige Gestalten in der Kunsthalle Würth zu Schwäbisch Hall. Sofort wittert er Kunstraub! Der Galerist, den er im Verdacht hat, wird allerdings kurz darauf ermordet. Während alle Welt an eine Beziehungstat glaubt und die Geliebte des Galeristen ins Visier der Polizei gerät, ermittelt Seifferheld auf eigene Faust, was ihn arg in die Bredouille bringt. Und das alles, während er erneut Großonkel wird, er fleißig an seinem Aufstieg zum bekanntesten stickenden Mann Deutschlands arbeitet und zusammen mit einer rassigen Ghostwriterin seine Autobiographie schreiben soll.

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Seitenzahl: 313

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Tatjana Kruse

Der Tod stickt mit

Kommissar Seifferheld ermittelt

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungDas Who is Who im Seifferheld-UniversumPrologFreitagSamstagSonntagMontagDienstagMittwochEpilogNachwortDanksagung
[home]

 

 

 

 

This one’s for Damian and Paris

 

Und für alle, die sich immer schon gefragt haben,

ob ich über sie schreibe.

Ja!

 

 

 

 

 

Dieser Roman spielt zwar in einer realen Stadt, nämlich Schwäbisch Hall, aber alle Personen sind frei erfunden, und der Plot ist fiktiv. Allerdings gab es tatsächlich einen Hovawart namens Onis, und das ist auch gut so.

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Das Who is Who im Seifferheld-Universum

Die Familie

Der Held: Siegfried »Siggi« Seifferheld, Kommissar im Unruhestand, Sticker, Kocher, Schnüffler, Stammtischbruder

Sein Hund: Aeonis »Onis« vom Entenfall, viriler Hovawart-Rüde mit Knickrute

Seine Schwester: Irmgard Seifferheld-Hölderlein (Spitzname »die Generalin«, Gattin von Pfarrer Helmerich Hölderlein)

Seine Tochter: Susanne Seifferheld (Managerin der Bausparkasse Schwäbisch Hall, Mutter von Ola-Sanne, Gefährtin von Pferdeschwanz-Physiotherapeut Olaf Schmüller)

Seine Nichte: Karina Seifferheld (Aktivistin [weiß], mittlerweile Ehefrau von Haller Tagblatt-Fotograf Fela Seifferheld, früher Nneka [schwarz], Mutter von Fela junior [gelb])

 

Die Schwäbisch Haller Mischpoke

Marianne Cramlowski: Journalistin (Kürzel MaC); sie ist zwar die Herzensdame von Siggi Seifferheld, aber bei Facebook würde stehen: It’s complicated

Olga Pfleiderer: kettenrauchende, kasachische Nicht-Putzfrau

Mord-zwo-Stammtisch: Rogier van der Weyden (aus dem Geburtsland der Pommes), Wurster (der Bärenmarkenbär), Dombrowski (von der Sitte), Bauer zwo (Trottel in lila Lederkluft)

Die VHS-Männerköche: Bocuse (Franzose), Klaus (liiert mit Fake-Frau-Gummipuppe Mimi), Gotthelf (dominant verheiratet mit einer Echt-Frau), Eduard (Buchhändler), Günther (Pfarrer), Horst (Mathelehrer), Arndt (Klempner), Schmälzle (Wanderführerautor)

Gesine Bauer: Polizeichefin von Schwäbisch Hall

Die Männertrommler: Reimer, Tobias, Klaus, Bernhard und Arno

 

Auch dabei

Erich von Seick: Galerist

Sissy von Seick: Ehefrau des Galeristen

Herr Honeff: Hundepsychiater

Nele Wissmann: Bildhauerin

Gunda Selund: Ghostwriterin

Usch Meck: weitgehend rosa Frauchen von Lady

Lady: sexy Berner Sennenhündin

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Prolog

Aus dem Polizeibericht

Am späten Samstagabend wurde die Polizei von einem Senior zu Hilfe gerufen. Vor Ort teilte der Mann den Beamten mit, sie mögen doch bitte den Einkaufswagen, in dem er seine Wochenendeinkäufe nach Hause gefahren hatte, zurück zum Supermarkt bringen. Die Beamten hätten dem Greis diesen Wunsch gerne erfüllt, aber der Einkaufswagen passte nicht in den Streifenwagen. Eine Nachbarin erklärte sich bereit, den Wagen am Montagmorgen zum Supermarkt zu bringen, wenn sie dafür das Pfand für das darin enthaltene Leergut (zwei Bierflaschen, eine Flasche Cointreau) sowie die Einkaufswagenmarke behalten dürfe.

Beyoncé und Madonna rangelten auf dem Rasen, Adele rupfte Gänseblümchen, Shakira schmiegte sich an ihre Schwester Miley, und Cher kniff ihre Mutter in den Schwanz. Wie bei der Grammy-Verleihung, nur eben im Freien und nicht in Los Angeles, sondern im Stadtpark von Schwäbisch Hall, den sogenannten Ackeranlagen.

Hovawart Onis betrachtete die wilde Rasselbande mit Milde. Er war ein schöner Hund, bis auf seine Knickrute sogar ein ausnehmend prachtvoller Vertreter seiner Rasse, aber seine Stärke war die Loyalität, nicht die Intelligenz. Wer genau wer war in diesem wilden Haufen aus rein weiblichen, beige-schwarzen Bernerwarts oder Howasennern – für die Mischung aus Berner Sennenhunden und Hovawarten hatte sich noch kein offizieller Name eingebürgert –, das war ihm nicht ganz klar und weitgehend auch egal. Er freute sich einfach, wenn er auf einer der Wiesen in den Anlagen ausgiebig mit aufgeweckten Welpen herumtollen und sich danach glücklich und erschöpft ablegen konnte. Er schnaufte beseelt, wenn auch ahnungslos, legte den schweren Hovawartkopf auf die Vorderpfoten ab und hielt ein ultrakurzes Nickerchen. Schon nach weniger als einer Minute schreckte er hoch und fing an, sich zu lecken.

Sein Herrchen schaute voller Freude auf seinen schlafenden Hund und dessen rein weiblichen Nachwuchs. Ex-Kommissar Siggi Seifferheld fühlte sich ein klitzekleines bisschen stolz, auch wenn er nichts dazu beigetragen hatte und sämtliche Bälger ungeplant und sogar gegen den Willen der jeweiligen Elternbesitzer gezeugt worden waren. Doch neues Leben war immer herzerwärmend, fand Seifferheld.

Wenn Onis nur nicht ständig seinen Schniedelwutz lecken würde. So, wie Onis es machte – mit hochkonzentrierter Hingabe –, war es mehr als nur tendenziell peinlich. Es war schlichtweg pornös.

Wie jetzt auch gerade wieder. Seifferheld schaute besorgt. Der Tierarzt hatte Hundetripper diagnostiziert (er hatte es jedoch nicht Hundetripper genannt, sondern Praeputialkatarrh) – den handelte sich der Vierbeiner ein, wenn er mit vielen anderen gemeinsam immer an derselben Stelle das Bein hob. Und das verschriebene Mittel schien nicht anschlagen zu wollen.

Nicht nur Seifferheld schaute besorgt auf die in unaussprechlichen Regionen schleckende Hundezunge, auch Usch Meck, das Frauchen von Berner Sennenhündin Lady, mit der zusammen Onis diesen süßen, quirligen Mischlingswurf gezeugt hatte. Wie immer war Frau Meck von Kopf bis Fuß ein Traum in Rosa: pinkfarbener Hosenanzug mit farblich abgestimmten Sneakers und Umhängetasche.

»Das ist doch hoffentlich nichts Ansteckendes?«, wollte sie wissen. Schon bereute sie es, zu diesem gemeinsamen Familienausflug eingeladen zu haben. Aber sie hatte unbedingt Fotos für ihre ebenfalls ganz in Rosa gehaltene Züchterhomepage schießen wollen, bevor sie die zwölf Wochen alten Racker in ihre neuen Familien entlassen würde. »Ist das etwa Hundeherpes?« Sie trat einen Schritt zurück, nur für den Fall, dass die potenziellen Herpesviren von Onis wie Zirkusflöhe im Weitsprung von ihm auf sie überhüpften.

Seifferheld zählte innerlich bis zehn. Er kam aber nur bis drei, dann hielt er es nicht länger aus. »Aber nein, liebe Frau Meck! Es ist eine Männerkrankheit, die sich die Mädels gar nicht einfangen können, weil ihnen dazu die Ausrüstung fehlt.« Er redete sich in Fahrt. Jetzt, wo er dank der Polizeichefin Besitzer eines iPads war, hatte er alles rund um den Hundetripper gegoogelt. Dieser Hechtsprung in die Welt des Wissens sollte nicht umsonst gewesen sein. »Wissen Sie, liebe Frau Meck, was Onis da hat, wird auch als Balanoposthitis bezeichnet. Eine entzündliche Reaktion bei geschlechtsreifen Rüden, bei der sich vermehrt Smegma bildet und aus dem Hundepenis tropft, und deshalb …«

»Großer Gott, Herr Seifferheld!« Usch Meck lief knallrot an. »Es sind Kinder anwesend!«

Seifferheld sah sich irritiert um. Weit und breit nur Bäume und Sträucher und in der Ferne das – um diese Zeit leere – Anlagencafé. Nur ganz hinten auf der Brücke, die zur anderen Seite des Kochers führte, stand der mittlerweile auch schon betagte Asiate, der hier jeden Morgen Tai-Chi machte. Sie meinte doch wohl nicht die Hundebabys?

»Was ich sagen wollte …«, fuhr Seifferheld fort.

»Wenn die Kleinen nicht in Gefahr sind, brauche ich die Details nicht zu wissen«, wehrte Usch Meck ab. »Was ich Sie aber fragen wollte …«

Sie setzte sich neben ihn auf die Bank. Etwas zu nah für seinen Geschmack. Also, eigentlich nicht für seinen Geschmack, mehr für den Geschmack seiner Freundin Marianne. Er persönlich fand ja, dass Frau Meck sehr apart und feminin duftete. Aber er wollte nicht in Versuchung geführt werden. In Zeitlupe, um nicht unhöflich oder ungentlemanlike zu wirken, rutschte er minimillimeterweise von Usch Meck weg.

»Siggi …«, hauchte sie.

Sie waren beim Du gewesen. Bevor seine Marianne sich eifersuchtsbedingt jedes Mal in ein Monster verwandelte, sobald der Name Usch Meck fiel oder sie auch nur die Farbe Rosa sah. Dennoch oder gerade deshalb legte Frau Meck jetzt ihre Rechte auf seine Linke.

»… wir hatten ja ausgemacht, dass die Einnahmen für die kleinen Lieblinge bei der Mutter verbleiben … und vielleicht könnten wir das auch bei künftigen … äh … Kindern so beibehalten?« Sie ließ den Satz in der Luft hängen. Der Ball war nun in seinem Feld.

Die Liebe zwischen Lady, der rassigen Berner Sennenhündin, und Onis, dem galanten Hovawart, war mit Fug und Recht rauschhaft zu nennen. Die beiden waren wie Magnethunde, nicht mehr voneinander zu trennen, wenn sie sich erst einmal nahe genug kamen. Und jede Begegnung endete fruchtbar. Im biblischen Sinne fruchtbar.

Den ersten Wurf musste Siggi Seifferheld noch mühsam an Freunde und Bekannte verschenken. Nicht jeder wollte einen so großen Hund sein Eigen nennen. Aber seit Onis als singender Hovawart in die SWR-Geschichte eingegangen und ein veritabler Fernseh- und YouTube-Promi geworden war, ließ sich mit seinen Nachkommen richtig Kohle machen. Die Welpen wurden Usch Meck förmlich aus der Hand gerissen. Nicht aus den guten Gründen, dass Hovasenner erwiesenermaßen Gemütshunde waren, die das Wasser liebten und das Apportieren, dass sie Fremden gegenüber freundlich waren und gut mit Kindern konnten, nein, nur aus dem Grund, dass sie die Nachfahren eines Promi-Hundes waren. Die Welpen von Kommissar Rex, Lassie und Beethoven, dem Bernhardiner, waren bestimmt ebenso gefragt gewesen.

Seifferheld betrachtete die übermütig herumtollende Welpenschar. Er schwamm zwar nicht im Geld, konnte nicht wie Dagobert Duck gewissermaßen Duschbäder in seinem Sparstrumpf nehmen, aber er wollte sich an den Kindern seines vierbeinigen Freundes nicht auf Gedeih und Verderb bereichern. Und schließlich hatte ja immer die Mutter die meiste Arbeit. Lady sollte es gut haben.

»Aber natürlich, liebe … äh … Frau Meck. Wenn sich unsere beiden Lieblinge noch ein weiteres Mal fortpflanzen sollten, dann halten wir es selbstverständlich wie bisher auch. Was immer Sie für die Welpen bekommen, gehört selbstverständlich Ihnen und Ihrer Hündin.«

Er sah zu Lady. Die Berner Sennenhündin, ein wahres Prachtexemplar ihrer Rasse, räkelte sich in der Sonne.

Usch Meck lächelte fein. Die Einnahmen waren beträchtlich. Die genaue Summe hatte sie Siegfried Seifferheld nie mitgeteilt. Um ihn gar nicht erst in Versuchung zu führen. Aber ihr war – pro Welpe! – bis zum Zehnfachen des üblichen Preises geboten worden. Das Zehnfache!

Sie zweifelte auch keine Sekunde daran, dass es weitere süße, kleine Hovasenner geben würde. Onis brauchte Lady nur anzuschauen, da wurde sie schon schwanger.

Gedankenverloren tätschelte sie Siegfried Seifferheld die Hand. Der entzog sie ihr mit einem Lächeln des Bedauerns. Seine Marianne war zwar vermutlich in der Redaktion des Haller Tagblatts zugange, aber sicher war sicher. Der Teufel war ein Eichhörnchen, und womöglich sollte sie ausgerechnet heute den Tai-Chi-Chinesen für die Leute-Seite interviewen …

Usch Meck konnte Seifferhelds Flirtresistenz nicht die Laune verderben. Sie lehnte sich beglückt gegen die Lehne der Holzbank, blickte hinauf ins Blau des Himmels über dem Kochertal und dachte an künftige Hovasenner-Welpen, deren Gewicht in Gold aufgewogen wurde. Und daran, was sie mit dem vielen Geld alles an rosafarbenen Freuden kaufen konnte: rosa Designerwebpelzmantel, rosa Himmelbett, rosa Elektroauto. Ein wohliges »Hach!« entschlüpfte ihrer Kehle.

Und da ihr Blick in die weite Ferne der monetären Glückseligkeit gerichtet war, bekam sie nicht mit, wie seitlich von ihr, dort wo Lady lag, ein schwarzer Mops hechelnd angelaufen kam und verzückt an Ladys bereits wieder läufigem Hinterteil schnupperte, und wie der Mops sein Glück kaum fassen konnte und sie mit seinen verdrehten, pechschwarzen Knopfaugen – noch heftiger hechelnd als ohnehin schon – beseelt besprang.

Und Lady …

… ließ es geschehen.

Wie in dem Frank-Sinatra-Klassiker The Lady is a Tramp!

Stick-Tipp

Als Erstes

Fangen Sie immer mit der Vorbereitung des Stoffes an. Säubern Sie die Schnittkanten mit einer Zickzacknaht, und spannen Sie den Stoff anschließend in den Stickrahmen. Dadurch bekommt das Gewebe eine gleichmäßige Spannung – unerlässlich, vor allem, wenn Sie noch am Anfang stehen. Führen Sie den Stickfaden grundsätzlich senkrecht durch den Stoff, dann rauht er nicht auf. Und nicht zu fest anziehen!

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Kapitel 1

Freitag

(Frühstück für Fortgeschrittene – Gobelin-Ausstellung in der Kunsthalle Würth – Sonnenbrillenalarm: Siegfried Seifferheld nimmt Witterung auf – Von Brangelina zu Sulaf – Vom Mörderjäger zum Stickerkönig)

Aus dem Polizeibericht

Die Polizei konnte in der Nacht auf Donnerstag zwei Kunsträuber dingfest machen, die vor kurzem aus einem Wintergarten in Steinbach drei Gartenzwerge entwendet hatten. Die 120 Kilo schweren Gartenzwerge im Wert von 50000 Euro wurden in der Wohnung eines der Täter sichergestellt. Der Mann fiel durch sein Verhalten einer Verkehrskontrolle auf, die in seinem Kofferraum nicht nur diverses Diebesgut fand, sondern auch einen handschriftlichen, signierten Zettel mit den WortenIch schulde XY zehn Riesen für seinen Anteil an den Goldzwergen. Sowohl er als auch XY sitzen in Untersuchungshaft.

»Kunst ist für uns eine abenteuerliche Reisein eine unbekannte Welt, die nur von denjenigen erforscht werden kann, die bereit sind, die Risiken auf sich zu nehmen.«

(Adolph Gottlieb)

Schwäbisch Hall. Perle an den Ufern des Kochers. Nebelperle, um genau zu sein. Durch die Hanglage am Fluss stiegen besonders im Herbst die Morgennebel nach oben, so auch an diesem Tag. Anders ausgedrückt, die Wolken hingen tief. Gut, dass keine alten Gallier anwesend waren, die ja bekanntlich nichts mehr fürchteten, als dass ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Zugegeben, irgendwo da draußen im Gewirr der mittelalterlichen Gassen befand sich Bocuse – Koch und Franzose, somit immerhin Nachfahre der Gallier –, aber der schlief den Schlaf der Gerechten und bekam von der potenziellen Gefahr für seinen Gallierschädel nichts mit.

Es war kurz nach halb sieben. Die Glocken von Sankt Michael hatten soeben den Tag eingeläutet. Ex-Kommissar Siegfried Seifferheld, der wie jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen und dem raschen, ersten Gang ins Badezimmer den Polizeibericht ans Haller Tagblatt geschickt hatte – er bekam vom Hauptrevier die kriminell relevanten Fakten vom Vortag geschickt, bündelte sie, formulierte sie neu, tippte sie in sein iPad und mailte seinen Bericht anschließend an das Haller Tagblatt –, stand nun am Fenster seines ererbten Fachwerkhauses in der Unteren Herrngasse und sah auf die andere Kocherseite hinüber. Aus dem wabernden Grau stach nur ein einziger Lichtfleck hervor: die beleuchtete Fassade der Kunsthalle Würth.

Von seiner Warte aus, auf der rechten Kocherseite, sah er nicht die Feinheiten, wie die hochmoderne, verglaste Sandsteinmauer, die seinerzeit der dänische Architekt Henning Larsen mit viel Feingefühl in die Skyline der Umgebungshäuser eingebettet hatte. Nein, im diesigen Dunst war es einfach nur ein helles Quadrat, in dem er linker Hand eine Bierflasche zu erkennen meinte. Mit Goldpapierrand um den Flaschenhals. Ja, schon klar, es war nur eine lichtinduzierte Sinnestäuschung, bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass der vermeintliche Flaschenkörper der Eingang zu der Ausstellungshalle im Untergeschoss war und der vermeintlich goldummantelte Flaschenhals die Tür zum darüber liegenden Adolf-Würth-Saal. Siggi Seifferheld war jedoch zufrieden damit, morgens beim Blick quer über den Kocher eine überdimensionierte Bierflasche zu sehen. Da wusste er doch gleich, worauf er sich am Abend freuen konnte!

An diesem Abend fand der Mord-zwo-Stammtisch mit seinen ehemaligen Kollegen von der Mordkommission statt, bei dem er den Tag feierlich verabschieden konnte. So wie er es fast jeden Abend tat. Sonst allerdings immer mit seinen Kumpels vom ehemaligen Männerkochkurs der Volkshochschule Schwäbisch Hall im Chez Klaus. Das war einer der Vorzüge des Rentnerdaseins. Wobei er auch schon damals, als er noch im aktiven Dienst stand, bevor er bei einem Banküberfall eine Kugel in die Hüfte bekam und in den Invalidenvorruhestand geschickt wurde, fest von der Kontinuität eines Feierabendbieres im Freundeskreis überzeugt gewesen war. Solche Rituale gaben dem Leben Struktur. Und der Leber was zu tun.

Und an diesem Tag würde er sich sein Bier zur Abwechslung auch wieder einmal redlich verdient haben!

In jenem Adolf-Würth-Saal, der jetzt noch verlassen im Morgennebel lag, fand heute eine Dernière statt, die Schließung der Ausstellung von Gobelins aus fünf Jahrhunderten, und er, Siegfried »Siggi« Seifferheld, nach seinem abrupten Ausscheiden aus dem aktiven Polizeidienst zum bekanntesten Männersticker der Region mutiert (wenn nicht gar zum einzigen – zumindest der einzige, der sich bislang öffentlich unter Klarnamen geoutet hatte), sollte einführende Worte sprechen. Besser gesagt, ausleitende Worte, es war ja Ausstellungsende. Wie auch immer, er sollte etwas sagen. Irgendetwas Erbauliches zum Thema Handarbeit mit der Nadel.

Seine gewissenhaft erarbeitete Rede hatte er Sticken ist Yoga für die Seele tituliert; sie kulminierte in der Erkenntnis, dass der Stolz auf Dinge, die man mit den eigenen Händen geschaffen hatte, das Leben erst mit Sinn erfüllte. Gespickt hatte er sie mit zahlreichen jugendfreien Witzen aus seinem Buch Humor für jede Lebenslage. Rhetorisch wie inhaltlich ein ganz großer Wurf. Vom legendären Wandteppich von Bayeux bis zu den Zierkissen, die er in seinem Schlafzimmer in Schwäbisch Hall immer mit Sinnsprüchen zu besticken pflegte. Eine wirklich gelungene Rede, fand zumindest Siggi Seifferheld. Im Grunde müsste er nervös sein. Früher – zu seiner Zeit als Kommissar – hätte er sich eher vierteilen lassen, als eine Rede vor Publikum zu halten, aber seit er jede Woche im Frankenradio eine interaktive Sendung für Männersticker moderierte, ging ihm das freie Sprechen leicht über die Lippen. Falls er nachher – vor echten Menschen und nicht nur vor einem Mikro – ins Stocken geraten sollte, würde er einfach die Augen schließen und sich vorstellen, er sei im Aufnahmestudio des SWR drüben in der Gelbinger Gasse.

Siggi Seifferheld war also die Ruhe in Person, als er an diesem Morgen die Kunsthalle mit einem letzten Blick bedachte. Wird schon alles werden, dachte er sich. Ist ja keine der großen Ausstellungseröffnungen von Würth, bei der üblicherweise Hunderte von Menschen kommen und Berühmtheiten wie Ex-Kanzler Schröder geistreiche Worte sprechen und sogar das Unternehmer-Ehepaar Würth anwesend ist. Nein, es ist der letzte Tag der Ausstellung. Es wird Pianomusik geben, ein paar versprengte Besucher von der Hauptausstellung im anderen Gebäudeteil werden herüberkommen und neugierig schauen, was da los ist, aber ansonsten wird diese kleine, aber sehr feine Ausstellung ganz beschaulich von mir ausgeläutet werden. Das wird ein Klacks.

Hätte er diesen Gedanken nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen, so wäre er in die Kategorie Berühmte letzte Worte gefallen. Denn das, was in den nächsten sechs Tagen geschah, war alles andere als ein Klacks!

»Wenn man einen Legostein sucht, muss man anfangen, wie ein Fuß zu denken.«

(Hasenfurz)

»Auf, Frühstück!«, forderte Seifferheld Onis auf.

Die beiden nicht mehr ganz jungen Herren, einer zweibeinig, der andere vierbeinig, stiegen die knarzende Holztreppe ins Erdgeschoss zur Küche hinunter. Für Seifferheld würde es die obligatorische Frühstücksbutterbrezel und ein Glas Most geben, für Onis erst mal nichts, der durfte üblicherweise erst nach der Morgenrunde fressen.

Seifferheld schlurfte langsamer als sonst, mit einer dunklen Vorahnung im Schritt. Er wusste, was ihn gleich erwarten würde. Womöglich blieb er wegen seiner Rede vor Publikum auch deshalb so gelassen, weil er sich unbändig darauf freute, das Haus zu verlassen. Sein Haus. Das nicht länger nur sein Haus war.

Zugegeben, dass seine Nichte Karina und ihr Mann Fela mit Söhnchen Fela junior im Dachgeschoss wohnten, bis sie sich was Eigenes leisten konnten, gehörte ja mittlerweile schon dazu.

Dass seine Tochter Susanne und ihr Mann Olaf mit der gemeinsamen Tochter neuerdings in der Einliegerwohnung im Keller logierten, solange ihr eigenes kleines Häuschen im Vorort Tullau generalsaniert wurde – nach dem Frühjahrshochwasser hatten die Statiker Alarm geschlagen –, nun gut, daran hatte er sich gewöhnt. Zumal es ja nur vorübergehend war.

Nur sehr schwer konnte er sich dagegen damit abfinden, dass jetzt auch noch seine Schwester Irmgard (Spitzname an guten Tagen Irmi, an schlechten die Generalin) mit ihrem Gatten wieder in ihrem alten Mädchenzimmer hauste, weil … ja, warum eigentlich? Mit Sack und Pack und Ehemann hatte Irmi vor der Tür gestanden und erklärt, Helmerich und sie müssten ein paar Tage bei ihm unterschlüpfen. Auf der Flucht vor balkanesischen Mörderbanden? Weil der Kammerjäger das Pfarrhaus begiftete? Weil sie Heimweh nach ihren alten Schlummerle-Puppen hegte? Siggi wusste es nicht. Und eine Irmgard Seifferheld-Hölderlein fragte man nicht nach ihren Beweggründen. Wenn sie in Stimmung war, dieselben der Welt mitzuteilen, tat sie das auch. Wenn nicht, hielt man besser den Mund und nahm ihre Anwesenheit als gegeben hin. Jedenfalls waren aus diesen ein paar Tage mittlerweile schon ein paar Wochen geworden, und die Nerven aller Seifferhelds lagen blank.

Vor der Tür zur Küche blieb Seifferheld stehen und holte tief Luft.

Dummerweise vertrugen sich seine Herzensdame Marianne und seine Schwester nicht besonders gut. Eigentlich vertrugen sie sich überhaupt nicht. Zwei Alpha-Wölfinnen, die sich dasselbe Territorium teilen mussten. Weil die Frauen aber nicht zur Familie des Canis lupus gehörten, fochten sie ihre Streitigkeiten nicht dadurch aus, dass sie sich gegenseitig zu zerfleischen trachteten, sondern verhielten sich zivilisiert. Will heißen, sie zerfleischten sich nur verbal. Selbst, wenn sie sich einmal nicht stritten, lief Irmi in Gegenwart von Marianne immer mit hochgezogener Augenbraue herum, was Marianne dazu veranlasste, kaum noch bei Siggi zu übernachten, sondern sich wieder mehr in ihrer Wohnung im Lindach aufzuhalten. Eine Wohnung im oberen Stock, die für Seifferhelds invalide Hüfte wegen des fehlenden Aufzugs nur enorm beschwerlich über das Treppenhaus zu erklimmen war, weswegen er ungern bei ihr übernachtete. Kurzum, seine Libido musste schon viel, viel zu lange durch Kaltwasserduschen gedämpft werden. Als Gesamtsituation war das unbefriedigend.

Doch wie lautete schon eine alte chinesische Weisheit? Überquere erst den Fluss, bevor du dem Krokodil sagst, dass es Mundgeruch hat. Zuerst einmal musste er seine Schwester loswerden, dann würde er weitersehen. Siggi hatte bereits bei einem Gewinnspiel des Haller Tagblatts mitgemacht (Hauptgewinn: zwei Wochen Strandurlaub für zwei Personen im ägyptischen Hurghada), und er hatte dem Büro des Landesbischofs – unter falschem Namen – einen euphorischen Brief geschrieben, in dem er sich in epischer Breite über die seelsorgerischen Fähigkeiten von Pfarrer Helmerich Hölderlein ausließ, in der Hoffnung, der Bischof würde den Mann seiner Schwester zu Höherem berufen, genauer gesagt zu Weiterem – vielleicht in eine größere Pfarrgemeinde am weit entfernten anderen Ende von Baden-Württemberg? Aber bislang hatten seine Bemühungen nicht gefruchtet.

Seifferheld seufzte und sah zu Onis hinunter, der sich auf den Steinboden im Flur gelegt hatte und sich an den Weichteilen leckte, als seien sie Langnese-Eis-am-Stiel in der Geschmacksrichtung Saitenwürstle. Seifferheld schüttelte den Kopf, seufzte erneut, drückte die Türklinke nach unten und betrat die Küche.

Dort braute Irmi gerade Kaffee. Ein dickflüssiges, pechschwarzes Gebräu, das niemand außer ihrem Mann Helmerich freiwillig trank. Liebe machte offenbar nicht nur blind, sondern auch den Magen geschmacksunempfindlich.

Helmerich saß am Küchentisch und übte sich in Multitasking: Einerseits las er die Tagesandacht in seinem Andachtsbüchlein, andererseits trommelte er mit den Fingerspitzen eine Melodie, die selbst für Seifferhelds unmusikalische Ohren definitiv nicht religiös-hymnisch klang. Mehr wie Phil Collins, als er noch für Genesis trommelte.

»Kaffee, Bruderherz?«, erkundigte sich Irmi. Sie schaute ihn dabei nicht an, ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Speck und den Eiern in der gusseisernen Pfanne auf dem Herd.

»Danke, nein.« Seifferheld wies sie nicht darauf hin, dass er schon immer und ewig und auf jeden Fall seit dreißig Jahren zum Frühstück nur Apfelmost trank. Grundsätzlich und ausnahmslos. Eine Tatsache, die sensibleren Beobachtern als seiner Schwester in diesen drei Jahrzehnten, die sie vor ihrer Eheschließung mehrheitlich unter einem Dach wohnend verbracht hatten, womöglich aufgefallen wäre. Statt diesen Umstand hervorzuheben, sagte er nur: »Für mich bitte keine Eier mit Speck, ich will nur eine Brezel, das reicht mir.« Er setzte sich ebenfalls an den Küchentisch. Onis, der seinem Herrchen wie immer dicht auf den Fersen folgte, legte sich unter den Tisch und schleckte weiter die hovawartschen Kronjuwelen.

Auf der Treppe hörte er Schritte von oben. Das war sicher seine Nichte Karina. Ihr Großer durfte seit neuestem schon in den Kindergarten, da war frühes Aufstehen angesagt. Zumal sie hochschwanger war, und der Fötus auf die Blase drückte und sie geschätzte hundert Mal am Tag auf die Toilette musste. Oben im Dachgeschoss, wo sie mit ihren beiden Männern wohnte, gab es aber nur ein Klo, weswegen sie auch öfters einmal die Toiletten in den unteren Stockwerken aufsuchte.

Die Tür ging auf.

»Guten Morgen!« Es war tatsächlich Karina. Aber auch wieder nicht.

Seifferheld starrte. Onis hielt ebenfalls in seiner Körperpflege inne und starrte. Sogar Irmi starrte. Nur Helmerich war noch vollständig in seine Andacht und in sein Tischplattenfingertrommeln versunken.

»Ist was?«, fragte Karina und machte sich daran, wie jeden Morgen ein veganes, laktose-, milcheiweiß-, gluten- und cholesterinfreies und weitgehend geschmackfreies Müsli zuzubereiten. Dazu grünen Tee mit Wasser, das exakt siebzig Grad heiß war. So weit, so gut.

Aber … das war nicht Karina, seine durchgeknallte Aktivistennichte, die sich bisweilen die Haare blau färbte und Springerstiefel zu selbstgebatikten Latzhosen trug, wenn sie sich nicht gerade gegen Pelztierhaltung oder Fleischverzehr protestierend nackt an das Treppengeländer der Sankt Michaelskirche kettete. Die junge Frau, die da an der Küchentheke stand und routiniert mit verschiedenen Vorratsdosen hantierte, schien einem Modemagazin entsprungen. Einem hochklassigen Magazin, also eher Vogue als Brigitte. Da sie hochschwanger war, wäre es dann jedoch die Vogue-Sonderausgabe Stilvoll schwanger sein.

Karina trug ein auf den ballonartig aufgeblähten Schwangerschaftskörper geschnittenes, flaschengrünes Etuikleid zu farblich passenden Pumps. Die Haare hatte sie hochgesteckt, so dass die funkelnden Diamantohrstecker zum Vorschein kamen.

»Karina?«, fragte Seifferheld staunend.

»Großer Gott, wie siehst du denn aus?« Irmi nahm die Pfanne mit den Eiern vom Herd.

»Ich dachte, gerade dir würde es gefallen, wenn ich angepasst und bieder herumlaufe.« Karina ärgerte sich nicht wirklich, sie kannte ihre Tante und wusste sie zu nehmen.

»Du siehst aus, als wolltest du in die Oper.« Irmi musterte missbilligend das hautenge Kleid. »Seide! Am helllichten Tag! Außerdem sollten Hochschwangere keine hautengen Sachen tragen. Das Baby braucht Platz zum Atmen!«

Es klang, als sei es nur einen Hauch schlimmer, Seide zu tragen, als nackt herumzulaufen, als würde Karina nichts weiter als einen Seiden-String tragen, der dem Kind in ihrem Bauch die Luft abschnürte. Eine Folter am Ungeborenen! Irmgard hatte sehr eng gefasste Vorstellungen davon, was ging und was nicht. Das war weder ihrem Alter noch ihrer Erziehung geschuldet – Siggi war fast so alt wie sie und war exakt gleich erzogen worden –, das war einfach Irmis Schwarz-weiß-Charakter, in dem es kein Grau gab und natürlich schon gar kein Bunt. Wobei sie allein die Farbzugehörigkeit definierte.

»Ist alles Secondhand«, erläuterte Karina und setzte sich an den Küchentisch. »Susanne hat mir die Sachen überlassen. Wir haben dieselbe Schuhgröße, und das Kleid ist eine Nummer größer und aus einem Stretchstoff.«

Karina sah jetzt zwar elegant aus, aber das damenhafte Sitzen musste sie noch üben.

»Beine zusammen«, tadelte ihre Tante. »Man sieht ja bis an den Südpol!«

»Hoppla.« Karina grinste und blieb exakt so sitzen, wie sie saß, weil das für sie in ihrem Zustand am bequemsten war. Es sprach viel dafür, dass Hochschwangere bevorzugt Latzhosen oder zeltartige Kaftane tragen sollten.

Seifferheld goss sich Most in seinen Keramikbecher, brach die Brezel mittig auseinander und tunkte einen Teil in die hellbraune Flüssigkeit. Die Erziehung seiner Tochter hatte er damals weitgehend seiner verstorbenen Frau überlassen, darum war er unsicher im Umgang mit jungen Menschen. Sollte er fragen? Wenn ja, wie? Und überhaupt war Karina zwar erst knapp über zwanzig, aber bereits Mutter und somit eine erwachsene Frau, die ihm keinerlei Erklärung schuldete.

Irmi kannte solche Vorbehalte nicht. »Wieso um alles in der Welt hast du dich so herausgeputzt?«, fragte sie und musterte Karina, die sich tatsächlich auch geschminkt hatte. Vor vierundzwanzig Stunden hatte sie das noch kategorisch abgelehnt, weil sie damit die Diktatur des Kapitalismus unterstützt oder den Klimawandel forciert hätte oder beides. Seifferheld hatte das nie so recht verstanden. Jedenfalls war seine Nicht bis eben noch durch und durch Natur gewesen. Jetzt war sie ein ästhetisches Gesamtkunstwerk, das nach einem französischen Parfum duftete.

»Ich bringe Fela junior in den Kindergarten und habe anschließend einen Termin bei der Volksbank.« Karina löffelte lächelnd ihre Müslimischung. Mit vollem Mund fuhr sie fort: »Ich will einen Kredit beantragen. Für ein Start-up-Unternehmen.«

Seifferheld kaute stumm. Helmerich trommelte andächtig respektive andachtete trommelnd.

Die Konversation im Seifferheldhaus lag weitgehend in Frauenhand. Immer schon. Irmi stemmte die Hände auf die kantigen Hüften. »Ein Start-was? Ein Unternehmen? Was für ein Unternehmen?«

Karina ignorierte ihre Tante geflissentlich, wohl wissend, dass es Irmi zur Weißglut brachte. Stattdessen beugte sie sich, soweit es ging, nach vorn und lugte unter den riesigen Küchentisch in die Hunde-Etage. »Das mit Onis ist immer noch nicht besser, oder?«

»Es ist ekelerregend. Und das beim Frühstück!«, ereiferte sich Irmi, um gleich darauf nachzuhaken: »Was für ein Unternehmen?«

»Der Arzt sagt, die Medikamente schlagen in ein, zwei Tagen an«, erklärte Seifferheld, der in über sechzig Lebensjahren zwar gelernt hatte, dass man seine Schwester nur auf eigene Gefahr ignorieren konnte, aber manchmal ritt ihn der Teufel, und er fand es den Einsatz wert.

Karina schaute diagnostizierend. »Ich finde ja, es wirkt psychosomatisch. Wir sollten Dr. Honeff konsultieren.«

Dr. Honeff war der auf Tiere spezialisierte Psychologe aus der Oberen Herrngasse, der in Seifferhelds Familie und Freundeskreis nicht nur bei Vierbeinern seine Spuren hinterlassen hatte.

»Honeff? Guter Mann!« Susanne Seifferheld trat in die Küche.

Aus unerfindlichen Gründen – oder vielleicht um zu beweisen, dass sie mit ihrer fast zwanzig Jahre jüngeren Cousine mithalten konnte – trug sie an diesem Morgen ebenfalls ein eng geschnittenes Etuikleid, wenn auch in dezentem Anthrazitgrau, und hatte die Haare hochgesteckt. Die Ähnlichkeit war frappierend. Nur, dass Susanne nicht schwanger war.

Ihr Vater tat ihr dann auch den Gefallen. »Unglaublich«, rief er, »ihr seht aus wie Schwestern!«

Karina prustete in ihr Müsli, Susanne lächelte huldvoll – und einen Tick geschmeichelt.

»Was. Für. Ein. Unternehmen?«, posaunte Irmi wie die Trompeten von Jericho.

Onis sah auf und schien zu überlegen, ob er mitjaulen oder weiterlecken sollte. Er entschied sich fürs Lecken.

Helmerich hielt im Fingerspitzentrommeln inne und sah ebenfalls auf. Als er merkte, dass die Nebelstimme seiner Frau nicht ihm galt, versenkte er seinen Blick rasch wieder in sein Andachtsbüchlein.

Karina zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich als Bloggerin selbständig machen. Für die professionelle Erstellung meiner Internetseite brauche ich Kapital. Ergo: ein Kredit. Und ihr kennt ja diese Banker-Typen. Wer nicht ins Raster passt, bekommt kein Geld. Nochmal ergo: die Klamotten von Susanne. Außerdem wird es sicher nicht schaden, wenn ich meinen Bauch zur Schau stelle – das weckt Mitgefühl.«

»Lachhaft!«, rief Irmi empört, die wusste, was Blogger waren, seit Frau Senff von der Blumenschmuckgruppe der Kirchengemeinde ihre floristischen Arrangements zusammen mit Gießtipps auf ihrer Seite Ikebana zur Ehre des Höchsten bloggte. Sie wandte sich wieder der Eierpfanne zu. »Ich bitte dich, Karina, worüber willst du bloggen? Und wie willst du davon leben?« Frau Senff verdiente keinen Cent, im Gegenteil – es kostete etwas, so eine Seite zu unterhalten.

Karina lehnte sich zurück. »Ich schreibe darüber, wie wir die Welt für unsere Kinder retten können. Und ich lasse Firmen auf meiner Seite werben. Kleinanbieter, die für geringes Geld auf meiner Seite auf sich aufmerksam machen können. Natürlich nur Betriebe aus der Region, damit es nachhaltig ist: Demeter-Höfe, Selbstversorgerinitiativen, so in der Art.« Karina legte beide Hände auf ihren Heißluftballonbauch. »Und wenn alle Stricke reißen, kann ich immer noch meinen Bauch als Werbefläche feilbieten!«

Irmi, die keine Antenne für Ironie besaß, hmpfte skeptisch.

Seifferheld kannte sich mit Internetsachen nicht aus, es überforderte ihn schon beinahe, den täglichen Polizeibericht auf dem iPad zu schreiben und per Mail an die Lokalzeitung zu schicken, doch er wusste immerhin auch, was ein Blogger war. Jemand, der – ähnlich wie seine Marianne – eine Kolumne schrieb. Nur eben im Netz und nicht in einer Zeitung.

»Großartige Idee«, meinte er, »dann kannst du von zu Hause arbeiten.« Er persönlich war noch durch und durch alte Schule und fand, dass Frauen sich um die Kinder kümmern sollten. Oder Männer, wie sein Schwiegersohn Olaf. Es sollte einfach einen geben, der rund um die Uhr und mit ganzer Konzentration und in aller Ausschließlichkeit für den Nachwuchs da war. Einer aus der Familie sollte eben nichts anderes tun, als die kleinen Racker zu formen. Und da Fela einen bezahlten Job als Fotograf beim Haller Tagblatt hatte, war dieser einer eben Karina. Immer diese Selbstverwirklichungstrips!

»Das ist nicht der springende Punkt«, widersprach Karina. »Es geht darum, dass ich wegen der Knirpse nicht mehr an den Aktionen meiner Brüder und Schwestern im Geiste teilnehmen kann. Deswegen werde ich unsere Anliegen auf meinem Blog der Welt mitteilen.« Sie pustete sich energisch eine Locke aus dem Gesicht, die dem Knoten auf ihrem Kopf entflohen war. Da sie schwanger war, war die Locke nicht gefärbt und glänzte dunkelbraun anstatt lila, blau oder grün. Karina führte in jeder Hinsicht ein buntes Leben – nicht nur im Kopf, auch darauf.

In ihren Augen blitzte es jetzt aufmüpfig. Vielleicht sogar gefährlich. Seifferheld war sich nie ganz sicher, wie viel terroristisches Potenzial in seiner Nichte steckte. Sie hatte schon Parolen an Häuserwände gesprüht und für die gute Sache – nämlich gegen Massentierhaltung – Schweine mitten in der Nacht befreit und sich dafür auch noch von der Polizei verhaften lassen. Was für ein Glück, dass Fela und sie die Feinheiten der Verhütung nie ganz begriffen hatten, und Karina aufgrund von Windelwechselpflichten und Stillzeiten nicht dazu kam, die Welt auf gewaltvollere Art zu einem friedvolleren, veganen, stromsparenden, müllgetrennten Miteinander zu zwingen.

»Ich will dem stummen Leid der Welt eine Stimme geben!« Karina hob nur den Blick zur Decke, nicht die Faust, aber ihre Entschlossenheit war deutlich zu spüren.

»Gut«, sagte Seifferheld, der zum Frühstück keine weltanschaulichen Diskussionen wollte. Und prinzipiell war Karinas Idee ja rein theoretisch eine gute Idee – er zweifelte nur an der Umsetzung. Seifferheld schob sich den Rest seiner Brezel in den Mund.

»Gut? Na, ich weiß nicht.« Irmi blieb skeptisch. Sie stellte ihrem immer noch versonnen trommelmeditierenden Mann einen Teller mit Eiern und Speck neben das Andachtsbuch.

Susanne, die in der Küche immer ein wenig fehl am Platz wirkte, ihr Reich waren die Zahlenkolonnen und Statistiken in der Vorstandsetage der Bausparkasse Schwäbisch Hall, häufte Gemüse in den Blender, um sich ihren täglichen Frühstücks-Smoothie zuzubereiten. »Dafür hast du mir also das Kleid abgeschwatzt? Du willst damit den Kreditmanager der Bank täuschen und professionelle Bloggerin werden? Du?«, höhnte sie in Richtung ihrer Cousine und lästerte: »Das wird doch nie was. Dein Sternzeichen ist Faultier, Aszendent Tofuburger.«

»Entschuldige mal!«, empörte sich Karina und pustete heftiger. Die freiheitsliebende Locke drehte eine Pirouette.

»Kinder …«, wollte Seifferheld beschwichtigen. Vergeblich.

»Hast du überhaupt ein Unternehmenskonzept? Einen Finanzierungsplan? Eine wirtschaftliche Prognose für die ersten fünf Jahre? Irgendwas außer einem vagen Ich will die Welt retten?« Susanne schaltete den Mixer ein. Auch eine Möglichkeit, Widerworte zu unterbinden.

Karina stand auf, zeigte ihrer Cousine über den Lärm des Mixers hinweg den ausgestreckten Mittelfinger und verließ die Küche.

Helmerich schlug sein Andachtsbüchlein zu. »Amen!«, rief er. Und mit Blick auf seinen dampfenden Teller: »Guten Appetit!«

»Wahre Freunde erstechen dich von vorne.«

(Oscar Wilde)

»In der Kunstgeschichte ist die Tapisserie ein Symbol für Aristokratie, Reichtum, Macht und Bildung, als künstlerisches Zitat hinterfragt sie die Wirkungsmacht der Bildkommunikation in der heutigen Zeit.«

Ein brillanter Satz, den natürlich nicht Siggi Seifferheld in das ausgestreckte Mikro der Journalistin sprach, sondern seine Nemesis, der Stricker: Arno Siegmann.

Ein Sticker kann mit einem Stricker nicht befreundet sein, fand Seifferheld. Bei allem Wohlwollen, sie gehörten zu verschiedenen Universen, die kein Wurmloch miteinander verband.

Arno Siegmann sah das anders. Für ihn war Seifferheld ein Vorbild, ein handarbeitender Bruder im Geiste. Er hatte sich nicht mediengeil an die Journalistin, die gerade Seifferheld interviewen wollte, herangerobbt, sondern nur dem frommen Wunsche folgend, seinem Idol die schuldige Ehrerbietung zu erweisen. So albern das klang, Seifferheld glaubte ihm. Arno Siegmann vergötterte ihn. Dennoch hätte Seifferheld ihn in diesem Moment am liebsten zum Schweigen gebracht – mit welchen Mitteln auch immer.

Die Finissage war gut verlaufen, er hatte seine Rede – mitsamt Witzen – launig vorgetragen, und alles in allem war es für Seifferheld sehr beglückend gewesen. Bis jetzt.

»Herr Seifferheld ist ein solcher Bildungskommunikator. Er ist ein Künstler, ein großer Künstler«, schwärmte Siegmann in höchsten Tönen, will heißen, auch eine Stimmlage höher als sonst. »Er ist gewissermaßen ein Nadelmaler!«

»Das haben Sie sehr schön gesagt.« Die Journalistin, sie hieß übrigens Siebenschön, freute sich.

Sie standen zu dritt vor der Glasfront, die den Adolf-Würth-Saal zum Innenhof der Kunsthalle begrenzte. Im Saal selbst war es für das abschließende Interview zu laut. Die Besucher plauderten angeregt, und ein Pianist jazzte am schwarzen Flügel. Durch die Scheibe sahen sie direkt auf einen Wandteppich aus der Wartburg, der aus dem 16. Jahrhundert stammte. Die Ausstellung Gobelins und Tapisserien aus fünf Jahrhunderten wurde dem Anspruch der Kunsthalle gerecht, nur das Beste vom Besten zu zeigen, auch wenn es sich hierbei nicht um die Haupt-, sondern nur um eine zeitlich sehr beschränkte Nebenausstellung handelte. Bestückt von Werken aus der hauseigenen Sammlung Würth und aus Leihgaben, waren in der kleinen, aber feinen Ausstellung auch ein gotischer Bildteppich aus dem Kloster Weinhausen zu sehen, Die Jagd des Einhorns aus dem Metropolitan Museum of Art und eine moderne Arbeit von Margret Eicher.

»Von Ihnen, Herr Seifferheld, ist kein Werk dabei, oder?« Die Journalistin, eine nur mäßig hübsche Frau, weswegen Marianne auch fast völlig uneifersüchtig drinnen am Flügel stand und mit dem Jazzpianisten einen Augenflirt betrieb, zeigte in den großen Saal, auf die Wände und Paravents mit den diversen Ausstellungsstücken. Sie kannte die Antwort natürlich schon, wusste aber, was sich gehörte. Und wollte im O-Ton womöglich einen Hauch Enttäuschung einfangen.

Seifferheld wehrte bescheiden ab. »Nein, nein, es wäre absolut unangemessen, meine Amateurstickereien neben echte Gobelins zu hängen.« Insgeheim fand er ja, dass es durchaus angemessen gewesen wäre, aber die Ausstellungsleitung hatte nicht bei ihm nachgefragt. Der Prophet im eigenen Lande …

»Das ist ein Skandal«, warf Arno Siegmann ein. »Die Arbeiten von Herrn Seifferheld müssen sich hinter keinem Gobelin verstecken! Sagte ich schon, dass er ein erstklassiger Vertreter der Nadelmalerei ist?«

Siggi hatte seine Gehhilfe zu Hause gelassen. Er hatte nicht am Stock zum Stehpult humpeln wollen, an dem er seine Rede hielt, und hatte sich deshalb von seinem derzeitigen Mitbewohner-Schwiegersohn-Schrägstrich-Physiotherapeuten schon seit Tagen extra geschmeidig massieren lassen, und folglich konnte er Siegmann nicht damit erschlagen. Nur in Gedanken.