16,00 €
Der Frankfurter Bundestagsabgeordnete Florian Ronnekämper wird tot in seinem Haus aufgefunden. Kein leichter Fall für Joachim Holtkotte und seine neue Kollegin Catalina Tiburtius, denn es gibt eine Vielzahl von Spuren und Hinweisen in das private Umfeld von Ronnekämper, die Frankfurter und Berliner Politik. Spuren, die mit Nebentätigkeiten des Abgeordneten ebenso zu tun haben wie mit der Welt der Geheimdienste. Ein sensibles Terrain also, das den beiden Frankfurter Ermittlern alles abverlangt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 307
Veröffentlichungsjahr: 2022
Matthias Zimmer
Der tote Bundestagsabgeordnete – Ein Frankfurter Polit-Krimi
ISBN 978-3-96320-070-0
© 2022 Henrich Editionen, Frankfurt am Main
eBook, 1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titelbild: Caracal F pistol by commons.wikimedia.org
Cover: jessie kopietz, dtp & grafikLayout und eBook: Saskia Burghardt, www.burghardt-grafik.de
www.henrich.de
Alle im Buch vorkommenden Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Mit einem Schlag landete die Wasserflasche auf dem Boden. Langsam suppte das Wasser aus der nicht vollständig verschlossenen Öffnung und bildete eine Wasserlache auf dem Boden. Holtkotte fluchte. Beim Versuch, den Wecker auszustellen, der auftragsgemäß um 7 Uhr klingelte, hatte er die neben dem Wecker stehende Flasche mitgerissen. Er sprang aus dem Bett und richtete die Flasche wieder auf, bevor sie sich vollständig auf seinen Boden entleerte. Der Tag fing nicht gut an. Wieder einmal war er mitten in der Nacht aufgewacht und hatte nicht mehr zurück in den Schlaf gefunden. Erst gegen 5 Uhr am Morgen war er wieder eingeschlafen, und nun war es 7 Uhr, die übliche Zeit aufzustehen und sich für den Tag zu rüsten. Es war schon hell, wie es im September um diese Uhrzeit noch üblich ist, aber es war auch ein wenig regnerisch, grau, ein Tag, an dem die Versuchung, noch etwas länger im Bett zu bleiben, besonders ausgeprägt war. Holtkotte brummelte, rieb seine Augen und strich sich durch seine noch immer vollen kurzen, braunen Haare und starrte auf die Wasserlache. Das Malheur würde er beseitigen müssen. Ein Handtuch aus dem Bad tat den notwendigen Dienst. Er wischte nicht gründlich, sondern nur notdürftig auf, warf das Handtuch im Badezimmer über die Badewanne. Er würde sich heute nicht rasieren, so viel stand fest; das machte er unregelmäßig und nach Laune. Heute jedenfalls war ihm nicht danach. Ein schneller Kaffee mit dem ökologisch unsinnigen, aber praktischen Kapselautomaten, duschen, anziehen, dann ging es los. Sein Magen war morgens nur bedingt aufnahmebereit, deswegen gab es Frühstück immer erst etwas später, meist auf der Arbeit. Ein belegtes Brötchen, unterwegs gekauft oder in der Cafeteria. Dann verließ er das Haus und ging die wenigen Minuten zur U-Bahnstation Enkheim, um zum Polizeipräsidium zu kommen. Umsteigen an der Hauptwache, dauerte insgesamt nicht mehr als 25 Minuten, sodass er in aller Regel um 8:30 Uhr dort in seiner Dienststelle ankam.
Kriminalhauptkommissar Holtkotte war seit einigen Jahren der Kriminaldirektion 11 zugeteilt, die sich mit Kapitaldelikten beschäftigte. Dazu gehörte auch Mord. Holtkotte hatte in den letzten Jahren an einigen sehr aufsehenerregenden Fällen gearbeitet und zu ihrer Aufklärung beigetragen. Nicht so spektakulär wie der Serienkiller, der 1990 mehrere Obdachlose umgebracht hatte, aber immerhin, es waren Fälle, die zumindest auch überregional in der Presse erwähnt wurden. Holtkotte sah sich als erfahrenen Ermittler mit einer gewissen Spürnase für menschliche Schwächen und Leidenschaften. Die meisten Morde geschahen als Beziehungstaten oder wegen Geldgier, und schon allein die Frage, wer davon profitierte, engte den Kreis der Verdächtigen schnell und effektiv ein. Mit dieser Grundphilosophie hatte es Holtkotte geschafft, fast alle seine Fälle zu lösen. Fast, einen Ausreißer gab es, der Fall eines tot aufgefundenen Jugendlichen vor vier Jahren war ein Cold Case geworden, ein nicht gelöster Fall, bei dem alle Ermittlungen im Sande verlaufen waren. Sonst aber galt: Jeder hinterlässt Spuren, jedes Motiv führt zum Täter, da war sich Holtkotte ganz sicher. Das und ein wenig Menschenkenntnis und man konnte jeden Täter überführen. Die meisten Täter waren Männer. Das war eine der prägenden Erfahrungen von Holtkotte. In den vergangenen zehn Jahren, in denen er Dienst bei der Mordkommission geleistet hatte, war ihm keine Frau als Täterin untergekommen.
Die augenblickliche Coronasituation schien eine dämpfende Wirkung auf die Verbrechensintensität zu haben. Die Anzahl der Tötungsdelikte war rückläufig. Holtkotte fand das einerseits beruhigend, denn Frankfurt kämpfte schon seit Jahren und Jahrzehnten mit einem zweifelhaften Ruf, was die Verbrechensstatistik anging. Andererseits liebte er es, sich in Fälle zu verbeißen und nicht locker zu lassen, bis ein Fall aufgeklärt war. In solchen Phasen der Ermittlung fühlte er sich in besonderer Weise lebendig, wie in einem tage- oder wochenlang andauernden Adrenalinschub. Dann bekam er einen Tunnelblick, blendete alles aus, was nicht zum Fall gehörte. Das hatte ihn vor vier Jahren auch seine Ehe gekostet und er hatte sich geschworen, dass er jetzt mit etwas mehr Abstand arbeiten würde, dass er versuchen wolle, die Balance zwischen Arbeit und Freizeit besser zu halten. Im Moment aber, das gestand er sich ein, langweilte er sich ein wenig, aber diese Form der Befindlichkeit konnte man vermutlich nicht ernsthaft thematisieren.
Zu seinem Verdruss trug bei, dass sein langjähriger Partner vor Kurzem nach Darmstadt gewechselt war, auf eine höher besoldete Planstelle. Felix Sauer und er hatten viele Fälle gemeinsam aufgeklärt, waren miteinander befreundet und häufig nach Feierabend noch miteinander unterwegs gewesen, vornehmlich in Bornheim, wo Sauer eine kleine Wohnung hatte. Die dortige Kneipenszene bot alles, was das Herz begehrte, von den hippen Kneipen der Schlipsträger bis zu den einfachen Kneipen, die keiner Szene zugeordnet werden können. Von Bornheim war es nicht weit bis zu Holtkottes kleiner Wohnung in Enkheim, die er eher mied, als behaglich in ihr zu wohnen. Es war mehr eine Schlafstätte, die er nach seiner Scheidung bezogen hatte, als ein Platz, über dessen Eingangstür das Motto „Home, sweet home“ hätte stehen können. Zu weit weg von Kneipen, vom wirklichen Leben, aber günstig sowohl finanziell als auch von der Verkehrsanbindung her. Die karge Einrichtung deutete nur auf Notwendigkeiten hin und die kreative Unordnung, die er seinem Junggesellenstatus schuldig zu sein schien, reduzierte den Aufenthaltswert der Wohnung weiter. Holtkotte verbrachte viel Zeit in einem nahe gelegenen Fitnessstudio, teils zum Trainieren, teils auch wegen der Leute, die er dort kannte. Es hatte sich eine Art informeller Stammtisch dort gebildet, Leute seines Alters, die dort zwar auch trainierten, aber auch bisweilen nur mal so vorbeikamen. Im Studio konnte man gemütlich ein Bier trinken, ein wenig reden und dabei dem Spinning-Kurs zuschauen. Sauer war ebenfalls häufig dort gewesen und sie hatten sich dann und wann auch verabredet, dort Squash oder Badminton zu spielen. Das war nun vorbei.
Sauer war nicht nur wegen der besseren Planstelle gegangen, sondern auch, weil er vor einem Jahr geheiratet hatte und seine neue Frau südlich von Darmstadt wohnte, auf dem Land, aber in einem großen Haus. Das war nun Sauers Schicksal, um das ihn Holtkotte nicht beneidete. Lebendig begraben im malerischen Zwingenberg an der Bergstraße. Wem es gefiel, dachte sich Holtkotte häufig, sagte sich dann aber auch immer, dass er selbst dafür nicht infrage käme. Seit Sauers Abwanderung vor vier Wochen hatte er mit sich gehadert, denn es war ein Einschnitt, ein Ende einer guten Partnerschaft. Sie hatten sich in die Hand versprochen, den Faden nicht abreißen zu lassen, doch Holtkotte kannte nur zu gut den alten Spruch: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Er würde in den nächsten Tagen einen neuen Partner zugeteilt bekommen, vielleicht schon heute. Sein Vorgesetzter, Kriminalrat Koch, war hier mit zusätzlichen Informationen sehr sparsam, sodass er nichts über seinen neuen Kollegen wusste, auch nicht, wann er in der K11 anfangen würde. Aber da die Kriminalitätslage im Augenblick ohnehin entspannt war, konnten ein paar Tage mehr oder weniger keinen Unterschied machen.
Umso überraschter war er, als er wenige Minuten nach seinem Eintreffen im Präsidium zu Koch gerufen wurde. Koch war einige Jahre jünger, Volljurist, ein etwas undurchdringlicher Mann, der seine Mitarbeiter gut behandelte, aber ansonsten ohne großen Ehrgeiz schien, ganz so, als hätte er mit der Position als Polizeirat schon die Endstufe der Beförderungsmöglichkeiten erreicht. Aber vielleicht war das auch unfair und unter der phlegmatischen Erscheinung des Polizeirats verbarg sich mehr, als es sein Vorurteil wahrhaben wollte. Holtkotte hatte instinktiv eine professionelle Distanz zu Koch gewahrt und war damit gut gefahren. In den Ermittlungen hatte Koch jedenfalls häufig ein gutes analytisches Vermögen an den Tag gelegt, das bei der Aufklärung durchaus hilfreich war. Nicht, dass Koch sich selbst an einen Tatort begeben hätte, aber er ließ sich regelmäßig berichten und hatte die schon beinahe unheimliche Fähigkeit, rein nach der Aktenlage und dem mündlichen Vortrag Struktur in einen Fall zu bringen. „Man muss den Wald sehen, nicht nur die Bäume“, sagte er dann häufig. Und da war auch ein Körnchen Wahrheit enthalten, denn allzu häufig steckte Holtkotte tief in den Details eines Falles und hatte Mühe, Distanz zu schaffen, um das größere Bild zu sehen.
Als er das Büro des Polizeirats betrat, sah er dort eine junge Frau, Mitte dreißig, schwarze, kurze Haare, Jeans, Lederjacke, Turnschuhe, ein etwas herbes Gesicht, aber, wie er feststellte, eine ziemlich umwerfende Figur. Ein wenig wie die Tatort-Kommissarin – wie hieß sie gleich – Lena Odenthal in den ersten frühen Folgen Ende der Neunzigerjahre. Nach seiner Scheidung hatte Holtkotte an einsamen Abenden alte Krimis geschaut. Er war kein eingefleischter Fan der Tatort-Serie, vor allem war er kein Fan weiblicher Kommissare, weil es Frauen seiner Meinung nach an analytischem Denken fehlte, das eine Aufklärung eines Kapitalverbrechens erforderte. Aber bei dieser Tatort-Kommissarin hatte er immer eine Ausnahme gemacht. Gleichwohl, im wirklichen Leben konnte er sich das weniger vorstellen. Frauen würden sich in diesem Bereich nie durchsetzen. Zumal ja die meisten Täter auch Männer waren, und wer konnte besser das Denken eines männlichen Täters nachvollziehen als ein anderer Mann?
Politisch völlig aus der Zeit gefallen diese Einstellung, das wusste er, aber er blieb davon überzeugt. Schon in seiner Ehe hatte er seine Frau nicht verstanden und sie ihn offensichtlich auch nicht. Männliches Denken gegen weibliche Intuition, hatte er das für sich benannt. Es passte einfach nicht zusammen, er hatte dazu nie einen Zugang gefunden. Die plötzlichen Zickigkeiten, dieses emotionale Auf und Ab, Beziehungsarbeit; und Karin war immer empört, ja abgestoßen, wenn er die Beziehungsprobleme nüchtern und klar analysierte. „Du bist hier nicht bei der Mordkommission“, hatte sie ihm häufig vorgeworfen, und er hatte, offen gesagt, nie verstanden, was sie damit meinte. Wenn einem der Herr oder sonst irgendjemand einen klaren Verstand zur Lösung von Problemen mitgegeben hatte, warum sollte man den nicht nutzen? Egal. Das war seit vier Jahren Geschichte, eine saubere Trennung nach sieben Jahren Ehe, die kleine Nelly war noch zu klein, um das überhaupt erfassen zu können. Einmal im Monat konnte er sie sehen, musste dafür nach Marburg fahren, wo Karin mit der Tochter mittlerweile lebte, in einer neuen Beziehung. Nelly würde im nächsten Sommer eingeschult und Karin hatte ihn ermuntert, die Kleine ruhig auch mal öfter zu sehen, wenn er es wolle. Eine offizielle Regelung gab es nicht, die Scheidung war einvernehmlich und ohne Rosenkrieg abgelaufen, und seither verstand er sich mit Karin besser als in den Jahren seiner Ehe. Das würde ihm eine Warnung sein, hatte er sich häufiger geschworen, aber außer einigen kurzen Affären hatte er keine Beziehung mehr in den letzten Jahren auf die Beine bekommen. Das fand er auch in Ordnung und experimentierte bisweilen mit Dating-Apps, hatte aber den Eindruck: Wenn es eine Frau ernst meinte, war sie nicht auf einer Dating-App. Zumindest war das seine Erfahrung der dadurch zustande gekommenen Dates, die sich häufig nach zwei oder drei Nächten auflösten wie der Frühnebel im Sonnenschein. Holtkotte hatte sich eingestehen müssen, dass diese Form von Affären ihn gleichgültig ließ. Dass er etwas anderes suchte, eine feste Partnerin, eine Beziehung, eine Frau, bei der er sich aufgehoben fühlte. Das Alleinsein, es belastete ihn, gestand er sich ein. Und das entsprach eigentlich nicht seinem Selbstbild als unabhängiger, eigenständiger Mann in den besten Jahren. Bevor er Karin kennengelernt hatte, war dieses Selbstbild noch intakt. Nun aber – vielleicht war es schon das Alter, dass seinen Tribut forderte? Oder hatte ihn nur das Eheleben verändert, trotz allem? Er wusste es nicht und war auch selten genug in der Stimmung, um sich mit dieser Frage auseinandersetzen zu wollen.
Koch kam gleich zur Sache.
„Ich darf Ihnen Frau Tiburtius vorstellen, Ihre neue Kollegin und Partnerin.“
Holtkotte schluckte merklich und nickte dann begrüßend der jungen Frau zu, denn noch galten Abstandsgebot und die mögliche Vermeidung körperlicher Kontakte, einschließlich des Handschüttelns.
„Setzen Sie sich beide bitte“, fuhr Koch fort. „Frau Tiburtius ist Kriminaloberkommissarin und hat das vergangene Jahr in den Vereinigten Staaten verbracht. Sie hat ihre polizeiliche Ausbildung in Wiesbaden gemacht und war dort zunächst im Bereich Wirtschaftskriminalität eingesetzt. Sie hat im letzten Jahr bei der FBI Academy ein Fortbildungsprogramm absolviert und dann noch einige Monate bei der Criminal Investigative Division hospitiert. Sie ist auf eigenen Wunsch an unsere Kriminaldirektion versetzt worden. Sie sind jetzt für sie zuständig, Holtkotte.“
Holtkotte nickte und fixierte Tiburtius. FBI? Was sollte das nun schon wieder? War Tiburtius irgendein verwöhntes Gör, das protegiert wurde? Zumindest sah sie nicht so aus. Holtkotte tadelte sich selbst für diesen Gedanken. Er wusste, das war sein großer Fehler: zu schnell mit Urteilen, gerade, was Frauen anbetraf. Das hatte ihm seine Ex-Frau auch immer vorgeworfen. Gut, er war eher traditionell eingestellt, vielleicht auch ein wenig machohaft veranlagt, aber im Großen und Ganzen fand er das auch nicht falsch. Männer müssen so sein, sagte er sich mitunter, und das war auch die Erfahrung aus seinem Elternhaus. Leider waren die heutigen Frauen meist irgendwie anders, wollten Karriere machen, sich verwirklichen. Lachhaft. Seine Mutter hatte das nie gewollt und war damit glücklich gewesen; sie hatte als Krankenschwester gearbeitet, aber nie Vollzeit. Sie hatte ihn immer unterstützt, war immer für ihn da. Er hatte eine glückliche Kindheit, nicht zuletzt ihretwegen. Sein Vater war der Patriarch im Haus. Manchmal etwas unbeholfen und bisweilen musste seine Mutter auch eingreifen, aber die Rollenverteilung war klar und hatte sich als Erwartungshorizont einer Beziehung bei Holtkotte auch gefestigt. Gut, Karin hatte auch gearbeitet, aber mit festen Zeiten. Sie war keine Karrierefrau. Familie war ihr wichtig. Wohl wichtiger als mir, dachte er bedauernd.
„Freue mich, Frau Tiburtius“, hörte er sich mit floskelhafter Höflichkeit sagen, ganz so, als sei es für ihn das Natürlichste, das Selbstverständlichste der Welt.
Das war es aber nicht und er würde Mühe haben, es zu verbergen. Das wusste er und Koch wusste es vermutlich auch. Hatte er nicht eben bei Koch ein verstecktes Grinsen entdeckt? Machte der Polizeirat sich über ihn lustig, war das gar eine Bewährungsprobe für ihn? Holtkotte beschloss, die Rolle weiterzuspielen, aber bei erster Gelegenheit der neuen Kollegin etwas auf den Zahn zu fühlen.
„Herr Kriminalrat, ich will dann die neue Kollegin einmal im Haus rumführen, um ihr alles zu zeigen“, sagte er mit souveräner Gelassenheit und nickte Tiburtius zu.
„Wollen wir?“
Tiburtius nickte dankbar und beide verließen Kochs Arbeitszimmer. Erst das Malheur mit der Wasserflasche und nun das. Der Tag fing ja gut an.
„Herr Hauptkommissar, wollen wir vielleicht erst einmal eine Tasse Kaffee trinken?“
Holtkotte nickte.
„Aber den Hauptkommissar lassen wir mal schön weg. Mich nennen sie hier nur Holtkotte. Mein schöner Vorname Joachim hat sich nie durchgesetzt. Und eines machen wir auch direkt klar: Siezen ist nicht. Nicht bei uns.“
Tiburtius nickte dankbar.
„Catalina ist mein Vorname. Hat sich auch nie so richtig durchgesetzt. In den USA hieß ich nur Catta. Daran habe ich mich mittlerweile fast schon gewöhnt.“
Tiburtius lächelte einnehmend, aber Holtkotte verhielt sich absichtlich spröde. „Keine gute Zeit zum Flirten“, dachte er. Wollen der jungen Frau aber mal ein wenig auf den Zahn fühlen.
„Also, Catta, warum Frankfurt? Und was ist so deine Geschichte?“
Mittlerweile waren sie in der Cafeteria angekommen und hatten sich mit einer Tasse Kaffee an einen der freien Tische gesetzt. Holtkotte fixierte sie erneut, diesmal mit den Augen eines professionellen Ermittlers. Gepflegte Hände, kein Ring an der Hand. Die Lederjacke schien ein Unikat, vermutlich sehr teuer; das T-Shirt darunter trug die Aufschrift Max Mara, ein Label, das Holtkotte nicht kannte. Sie trug keinen Schmuck, keine Ohrringe, kein Armband, keine Kette, die Ohrläppchen verrieten aber, dass sie nicht grundsätzlich Ohrringe ablehnte. Die Fingernägel waren kurz und farblos lackiert; ihr ganzes Auftreten hatte einen Hauch von Männlichkeit. War sie, fragte sich Holtkotte unwillkürlich, lesbisch? Oder mischte sich da die Tatort-Figur Odenthal in seine Einschätzung hinein?
„Also“, begann Tiburtius, „ich komme aus Trier. Nach dem Abitur wollte ich zur Polizei, aber nicht in Rheinland-Pfalz. Zu langweilig. Was will man in einem Bundesland, dessen aufregendste Stadt Mainz ist? Nicht für mich. Frankfurt war schon immer mein Ziel. Und wie es dann so läuft: erst Ausbildung, erste Station in Wiesbaden, auch nicht schlecht. Dann bot sich die Chance, in die USA zu gehen, bezahlt, um neue Techniken kennenzulernen, um auch ein wenig die amerikanische Mentalität zu studieren. Und jetzt bin ich hier.“
Tiburtius lehnte sich auf dem Cafeteria-Stuhl zurück und ergänzte dann:
„Und nein, ich bin nicht lesbisch. Ich habe deinen Blick jedenfalls so gedeutet, als ob du dich das gefragt hast. Ich stehe ganz normal auf Männer, bin nicht verheiratet, habe im Moment keine Beziehung und bin auch nicht interessiert daran. Schon gar nicht auf der Arbeit. Das wollte ich noch ergänzen, denn ich habe mich im Vorfeld auch ein wenig über dich umgehört. Du hast, was Frauen angeht, keinen guten Ruf.“
„Wow, wow“, hörte sich Holtkotte sagen. „Das ist ja eine starke Eröffnung. Aber gut, wenn wir offen miteinander sind, das brauchen wir, wenn wir zusammenarbeiten.“
Er wischte sich den Mund, packte die beiden Kaffeebecher zusammen und warf sie in einen Abfalleimer. Ein wenig hatte ihn die unerwartete Konfrontation verärgert und er beschloss, sich nicht den Schneid abkaufen zu lassen. Das hatte noch keine Frau geschafft und Tiburtius würde nicht die erste sein, so viel stand fest.
„Zur Kenntnis genommen. Nicht lesbisch, ungebunden. Kein Interesse an Männern. Ist das in etwa so richtig?“
„Nein, ich habe Interesse an Männern. Nur nicht hier und jetzt. Nur nicht auf der Arbeit. Ansonsten ja“, erwiderte Tiburtius lächelnd.
„Kinderwunsch?“
„Nein.“
„Aber du willst sicher irgendwann mal heiraten, dich von einem Mann aushalten lassen und ein stilles, glückliches Leben ohne Arbeit führen, ein wenig den Garten pflegen und dich mit wohligem Grausen an die Zeit erinnern, in der du hier in Frankfurt gearbeitet hast?“
„Nein, eher Karriere machen, deine Vorgesetzte werden und dir dann kräftig in den Hintern treten“, erwiderte Tiburtius mit ernsthaftem Gesichtsausdruck.
Holtkotte war sich unsicher. Meinte sie das wirklich ernst? Er konnte es zumindest nicht ausschließen und beschloss, noch ein wenig mehr Druck zu machen. Er würde Tiburtius provozieren, um zu sehen, was sie draufhatte.
„Darauf kannst du lange warten. Ich habe bisher noch jede Schlampe überlebt“, sagte er, wohl wissend, dass diese Provokation gegen alle Formen des Respekts und der Anerkennung verstieß, aber das waren ohnehin nicht seine Stärken.
Er war ein oder zwei Schritte vor Tiburtius gelaufen auf den langen Fluren des Polizeipräsidiums und reagierte etwas unwirsch, als Tiburtius seinen Namen rief.
„Holtkotte?“
Er drehte sich um und sah noch eine Bewegung aus den Augenwinkeln, dann hatte ihn der Fußtritt erwischt. „Voll in die Eier“, dachte er nur, als er zu Boden ging und vernehmlich röchelte. Scheiße, das tut weh. Ihm wurde für einen Moment schwarz vor Augen, er krümmte sich auf dem Boden; zum Glück war der Flur sonst menschenleer und keiner hatte diesen Zwischenfall beobachtet.
„Tief durchatmen“, sagte Tiburtius und beugte sich über Holtkotte. „Tief durchatmen, gleich ist es vorbei. Sei froh, dass es nur die Turnschuhe waren und nicht die Boots. Und damit wir uns richtig verstehen: Nennst du mich noch einmal eine Schlampe, mache ich dich zu Fräulein Holtkotte, verstanden?“
Sie nahm seine Hand und half ihm wieder auf.
„Mach das nie wieder“, röchelte er nur und stützte sich für den weiteren Weg auf Tiburtius.
Er war dankbar, dass sie nicht nachfragte, was er denn dagegen tun wolle, denn dieser Tritt in die Hoden hatte ihm eine tiefere Verletzung zugefügt, als er es sich eingestehen wollte: Sein Selbstwertgefühl war verletzt, zum ersten Mal, von einer Frau. Breitbeinig, leicht humpelnd und auf Tiburtius gestützt erreichte er sein Büro.
„Hast du noch alle Gurken im Glas?“, fragte Holtkotte etwas lauter, als es sich gehörte.
Er beugte sich stöhnend auf den Schreibtisch und atmete tief durch.
„Und was, wenn ich das jetzt melde?“
„Der große Holtkotte meldet, dass eine zarte Frau ihm in die Nüsse getreten hat? Unwahrscheinlich. Ich will von vorneherein eines klarstellen. Du kannst abfällige Bemerkungen über Frauen machen, wie du willst. Das ist dein Bier und fällt auf dich zurück. Machst du eine solche Bemerkung über mich, hast du ein Problem. Das ist meine einzige sensible Seite.“
Holtkotte konnte sich das Lachen nicht verkneifen und es tat höllisch weh.
„Das nennst du deine sensible Seite? Dann will ich deine unsensible Seite nicht kennenlernen.“
Er deutete auf den zweiten Stuhl.
„Setz dich.“ Dann schaute er Tiburtius lange an, schweigend. Schließlich sagte er:
„Wir sind auf dem falschen Fuß gestartet. Oder besser: Ich bin mit dir auf dem falschen Fuß gestartet. Meine Schuld. Also noch mal: Mein Name ist Holtkotte, ich bin 40 Jahre alt, geschieden, mit Leidenschaft Kriminalbeamter, ein Macho. Ich trinke manchmal zu viel, mache dumme Witze über Frauen, bin politisch nicht korrekt, meist ziemlich gerade raus. Ich fahre gerne mit meinem Motorrad durch die Gegend und manchmal habe ich auch seltsame Anwandlungen, was das Kochen angeht. Jetzt du.“
Tiburtius strich sich über ihre kurzen Haare, dann schaute sie Holtkotte in die Augen.
„Ich bin Catalina Tiburtius, geboren in Trier vor 35 Jahren. Ich bin nicht verheiratet und nicht auf der Suche, gehe gerne in die Oper, bin seit einer Woche stolze Besitzerin einer Dreizimmerwohnung im Nordend, die meine Eltern mir gekauft haben. Ich liebe gute Weine, spiele Cello zur Entspannung, lese mit Vorliebe französische Krimis im Original und wähle Grün und hätte gerne einen Hund, wie ich zu Hause einen hatte. Geht hier aber nicht. Reicht das aus?“
„Es reicht erst einmal für ein erstes Bild“, grummelte Holtkotte. „Französische Krimis? Und wieso sprichst du so gut die Sprache?“
„Von Trier aus war es nicht weit nach Frankreich. Da bin ich häufig gewesen. Simenon, Leblanc, Lagrange: Das sind so meine Lieblingsautoren. Gefällt mir einfach. Ach ja, und eine Vorliebe für französische Chansons habe ich auch. Macht einfach gute Laune.“
Sie schaute ihn an und pfiff nur leise die Melodie eines Chansons, den Holtkotte sofort erkannte: Je ne regrette rien, ich bedaure nichts. Das war wohl die subtile Seite der neuen Kollegin.
Holtkotte seufzte und lehnte sich zurück. Der Schmerz ließ langsam nach.
„Willkommen im Team, Catta. Jetzt wollen wir dich mal den anderen Kollegen und Kolleginnen hier vorstellen. Komm mit.“
Sie gingen aus dem Büro, Holtkotte trommelte die K11 im Besprechungsraum zusammen. Tiburtius würde sich schnell im Team eingliedern, da war sich Holtkotte sicher. Wenn ihr nur keiner blöd kommen würde. Das war, wie er bezeugen konnte, nicht ohne Risiko. Aber die Frau machte sonst einen guten Eindruck und konnte auf sich aufpassen, das alleine war schon viel wert. Holtkotte verließ das Präsidium am frühen Nachmittag. Überstunden abfeiern. Und vielleicht noch ein wenig im Garten der Pizzeria um die Ecke sitzen, Bier trinken, die Sonne noch ein wenig genießen. Wer konnte schon sagen, wie das mit der Pandemie weitergehen würde und ob nicht irgendwann wieder alle Kneipen schließen würden wie schon im Frühjahr. Morgen würde er mit Tiburtius durch das Präsidium gehen, damit sie andere Kollegen kennenlernte und sich im Haus zurechtfand.
Kaum war Holtkotte am nächsten Tag im Präsidium angekommen, wurde er bei Koch einbestellt. Tiburtius war schon dort. Koch kam ohne Umschweife zur Sache.
„Wir haben einen Todesfall in Bergen, der Bundestagsabgeordnete Florian Ronnekämper. Er ist heute früh tot von seinem Mitarbeiter aufgefunden worden, einem gewissen Paul Bärlach. Spurensicherung ist bereits am Ort. Ihr beide habt den Fall. Und eines noch, das geht vor allem an Sie, Holtkotte: Ihr müsst diskret sein. Ronnekämper war nicht irgendwer, sondern ein politisches Schwergewicht. Vielleicht müssen wir auch den Staatsschutz hinzuziehen. Also bitte, geht damit sensibel um. Kein Wort zur Presse, das wird von ganz oben besorgt. Und bitte jeden Tag einen Lagebericht über den Fortgang der Ermittlungen.“
Holtkotte und Tiburtius nickten und auf dem Weg zum Wagen merkte Holtkotte, dass Tiburtius schon ein kleines Dossier vorbereitet hatte.
„Ich bring dich während der Fahrt auf meinen Informationsstand“, sagte sie nüchtern.
Sie trug wieder die Lederjacke, Jeans, T-Shirt, heute aber Boots mit einer Stahlkappe, und Holtkotte verspürte ein leichtes Ziehen in seinen Hoden.
Holtkotte startete den Wagen, fuhr vom Parkplatz des Präsidiums und in die Escherheimer Landstraße Richtung Heddernheim, um von dort auf die Autobahn zu fahren. Dann würde er die Abfahrt nach Bergen nehmen, die Friedberger Landstraße hoch, um den Stadtverkehr zu umgehen.
„Also“, begann Tiburtius, „das Opfer heißt Florian Ronnekämper, verheiratet, zwei Kinder, 58 Jahre alt. Er wurde erschossen in seinem Haus aufgefunden. Sein Mitarbeiter Bärlach sollte um 7:30 bei ihm sein, klingelte, keiner öffnete. Er ging um das Haus herum und fand die rückwärtige Tür aufgebrochen. Ronnekämper saß in einem Sessel, Schusswunde im Kopf. Bärlach hat sofort die Polizei benachrichtigt und ist dortgeblieben, um das Haus zu sichern.“
„So weit, so gut“, erwiderte Holtkotte. „Ich bin jetzt allerdings nicht so tief in der Politik. Gib mir mal ein wenig Hintergrund.“
„Ronnekämper war seit 1998 Mitglied des Bundestages, ein CDU-Politiker. Er war Jurist, hat nach dem Studium mit zwei Freunden eine eigene Kanzlei gegründet. Die Kanzlei gibt es heute noch mit Sitz in Bornheim, und Ronnekämper hat auch während seiner Zeit im Bundestag immer wieder Mandate angenommen. Genaueres findet man auf der Website des Bundestages, wo die Mandate und der damit erzielte Verdienst aufgeführt werden, jedenfalls in der Theorie.“
„Was meinst du damit?“
„Es werden keine genauen Beträge genannt, sondern nur Korridore. Daraus kann man zumindest ablesen, wie viel er mindestens verdient hat. Pro Jahr mindestens eine halbe Million.“
„Und von wem?“
„Das ist es ja. Mandanten werden keine genannt und dürfen auch nicht genannt werden. Wir wissen also nicht, welche Mandanten er hatte und um was es ging. Übrigens stammten seine Nebeneinkünfte nicht nur aus der Tätigkeit als Anwalt, er hat auch noch eine eigene Beratungsfirma am Start gehabt.“
„Und sonst?“
„Ronnekämper war Mitglied im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages und hat den Ausschuss über zwei Legislaturperioden geleitet. Er war Mitglied im Fraktionsvorstand der CDU/CSU und Vorsitzender der Parlamentariergruppe arabischsprachige Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Er galt als Vertreter des rechten Flügels der Union und ist deswegen immer wieder einmal von den Linken angegangen worden. In seiner Partei war er nicht unumstritten, weil er sich für ein entspanntes Verhältnis zur AfD eingesetzt hat; er hatte aus früherer Zeit zu einigen der Spitzenleute der AfD ein freundschaftliches Verhältnis. In der CDU Frankfurt war er wohl wenig präsent, zumindest hat er keine Leitungsfunktion innegehabt.“
„Ist mir noch nie untergekommen“, murmelte Holtkotte, „aber mit der Politik habe ich es nicht so.“
Tiburtius schien das überhört zu haben und fuhrt fort:
„In der CDU Hessen spielte er keine Rolle, war aber im Vorstand des Wirtschaftsrats, einer CDU-nahen Vereinigung, und war auf Bundesebene auch für die Mittelstandsvereinigung der CDU tätig. Und er hatte eine Reihe von Nebenjobs, so beispielsweise im Aufsichtsrat der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, im Beirat der Bundesnetzagentur und als Vorstandsmitglied der deutsch-arabischen Kammer für Handel und Industrie. Mehr habe ich auf die Schnelle nicht herausfinden können.“
„Ein umtriebiger Mann“, kommentierte Holtkotte und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Kein Wunder, dass er sich eine solche Bude leisten kann.“
Sie fuhren auf eine große Villa zu, vor der bereits Polizeiwagen parkten. Holtkotte stellte das Auto am Straßenrand ab und sah sich das Haus genauer an. Es war wohl keine 10 Jahre alt, nicht wirklich protzig, aber doch repräsentativ mit hochwertiger Ausstattung. In der Garagenauffahrt stand ein Audi A6 mit dem Kennzeichen F-FR 1998. Initialen und Jahr der ersten Wahl in den Bundestag, vermerkte Holtkotte sofort. Ein offenbar sehr von sich selbst eingenommener Mann, eitel. An der Eingangstür stand Müller-Riehm von der Spurensicherung.
„Was hast du für mich?“, begrüßte ihn Holtkotte. „Und ja, das ist Tiburtius, meine neue Partnerin.“
Tiburtius und Müller-Riehm nickten einander zu und Müller-Riehm gab einen Kurzbericht, während sie das Haus betraten. „Männliche Leiche, Kopfschuss. Die Tatwaffe liegt fein säuberlich auf dem Esszimmertisch, eine Caracal-Pistole aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Abfrage hat ergeben: Pistole gehörte nicht dem Opfer. Der hatte keine Waffenbesitzkarte, Ehefrau auch nicht. Einbruchsspuren hinterer Eingang. Todeszeitpunkt vermutlich gestern gegen 21 Uhr. Keine Zeugen. Gefunden wurde Ronnekämper von seinem Mitarbeiter Bärlach, der da draußen sitzt.“
Müller-Riehm wies auf einen schlanken Mann, der in einem Gartenstuhl auf der Veranda saß und eine Zigarette rauchte.
„Zu dem kommen wir später“, sagte Holtkotte. „Der soll sich bereithalten. Ich will erst einmal ein Gefühl für den Tatort bekommen. Bereit, Catta?“
Tiburtius nickte, obwohl sie nicht genau wusste, für was sie bereit sein sollte. Aber Holtkotte hatte über die Jahre eine Angewohnheit entwickelt, sich sehr genau das Umfeld eines Mordes anzuschauen und so etwas über das Opfer zu lernen – und vielleicht auch etwas über den Täter.
„Lass uns ein wenig einmal laut denken“, sagte Holtkotte, „und zieh dir Handschuhe über. Wir beginnen mit dem Opfer und arbeiten uns dann durch das Haus durch. Das sollte uns einige Informationen über das Opfer geben. Dein erster Eindruck?“
„Sehr gediegen bis luxuriös, würde ich sagen. Hier ist viel Geld zu Hause.“
„Woran siehst du das?“, fragte Holtkotte.
„Der Sessel, in dem Ronnekämper sitzt, ist ein Ray-Eames-Lounge-Sessel, nicht die billige Kopie, sondern ein teures Original. Kostet so um die 6.000 Euro. Die Bilder an den Wänden sind keine Reproduktionen. Dieses da“ – Tiburtius zeigte auf das Porträt eines Mannes – „das ist aus dem Umfeld von Max Beckmann.“ Sie ging ein wenig näher an das Bild heran, um die Signatur zu entziffern. „Rudolf Heinisch. Sagt mir jetzt nicht viel, kann ich aber gleich mal googeln.“
„Und die Leiche?“, fragte Holtkotte.
„Sauberer Kopfschuss, war vermutlich sofort tot. Gepflegtes Äußeres, manikürte Fingernägel. Er kam wohl entweder gerade von der Arbeit oder hat noch jemanden erwartet, denn in einem Businesshemd mit Manschetten und einer teuren Windsor-Krawatte macht man sich keinen gemütlichen Abend.“
„Ich schlage vor, du schaust mal, was du so alles findest, und ich ebenfalls. Dann nehmen wir uns den Herrn Bärlach vor, einverstanden?“
Tiburtius nickte und Holtkotte ging auf Expedition. Das Haus war penibel sauber. Die Ehefrau und die beiden Kinder waren nicht da. Da Ronnekämper ein viel beschäftigter Mann war, lag die Vermutung nahe, dass er eine Haushaltshilfe hatte. Das musste er erfragen und machte sich eine kurze Notiz. Im oberen Stockwerk interessierte ihn besonders das Schlafzimmer von Ronnekämper mit dem sich anschließenden Badezimmer. Er öffnete die Schränke, bis er gefunden hatte, was er suchte: den Medizinschrank. Nur das Übliche: Aspirin, Ibuprofen, Salben, eine normale Hausapotheke. Da war das Arbeitszimmer von Ronnekämper schon ergiebiger. Das war mit viel Sorgfalt eingerichtet, getäfelt, mit teuren Lampen und in Leder eingebundenen Büchern ausgestattet. Holtkotte nahm einige von ihnen in die Hand, es waren eher repräsentative Exemplare, Sachaustücke; gelesen sahen sie nicht aus. Nun gut. In der Schreibtischschublade fand sich eine Batterie von Medikamenten: vor allem gegen Bluthochdruck, aber auch eine halb volle Packung Cialis, die Holtkotte ein Grinsen ins Gesicht zauberte. Nicht, dass er dieses Mittel selbst schon gebraucht hätte, aber es lag doch etwas Beruhigendes in der Aussicht, mit den Mitteln der modernen Wissenschaft das Sexualleben deutlich zu verlängern. In der Schreibtischschublade fand sich auch ein kleines durchsichtiges Päckchen mit weißem Pulver. Kokain, wie Holtkotte schnell feststellte, etwa 10 Gramm. Holtkotte war überrascht, dass er nicht überrascht war, ganz so, als habe er diesen Fund erwartet. Die Reichen, Schönen, Bedeutenden – die nehmen halt Kokain.
Der Schreibtisch selbst war wenig aufgeräumt, hier zeigte sich vermutlich der wahre Ronnekämper, der eher im Chaos lebte als in der vollkommenen Ordnung des Wohnzimmers. Auf dem Schreibtisch lag auch Ronnekämpers Handy; Holtkotte verpackte es in einer mitgebrachten Plastiktüte und verstaute sie dann in seinem Sakko.
Die Papiere auf dem Schreibtisch zu studieren, hatte er nicht die Zeit, es schien auch völlig vereinbar mit dem zu sein, was Holtkotte über Ronnekämper bisher wusste: Drucksachen aus dem Deutschen Bundestag, eine Korrespondenz mit dem saudischen Botschafter in Berlin, die Kopie einer Rechnung, die Ronnekämper im Auftrag der Ronnekämper Global Consult GmbH geschrieben hatte: Beratungsleistung im Wert von 25.000 Euro. Holtkotte beschloss, dieses Schreiben einmal mitzunehmen, allein um zu prüfen, in welchem Verhältnis denn diese Global Consult zu der gemeinsamen Rechtsanwaltskanzlei in Bornheim stand. Als er weiter die Papiere durchblätterte, fand sich auch ein Drohbrief. „Ronnekämper, Du Faschistenschwein. Wir kriegen dich.“ Darunter nur ein großes stilisiertes „A“, was entweder auf die autonome oder die antifaschistische Szene hinweisen konnte. „Schau an“, dachte Holtkotte, „ein anonymes Schreiben, eine Drohung. Und die liegt hier einfach unter anderen Papieren, ganz so, als ob der Empfänger das nicht ernst genommen hatte. Warum war da nicht der Staatsschutz eingeschaltet worden? Das war doch das übliche Vorgehen? Oder hatte Ronnekämper das als Scherz aufgefasst?“ Holtkotte beschloss, auch dieses Schreiben mitzunehmen und suchte einen Briefumschlag, um es zu verstauen. Als er dabei den Laptop anhob, fand er darunter festgeklebt eine 17-stellige Nummer, vermutlich ein Zugangscode, aber Holtkotte hatte nicht die leiseste Idee, zu was dieser Code den Zugang gewährte. Vielleicht der WLAN-Schlüssel? Sollte sich die Spurensicherung doch einmal genauer ansehen, sagte er sich und machte sich einen entsprechenden Vermerk in seinem Notizblock. Die übrigen Zimmer im Obergeschoss waren unspektakulär, zwei Kinderzimmer, die von der offensichtlichen Existenz zweier pubertierender Teenager zeugten, die aber offensichtlich schon länger abwesend waren. Dazu sahen die Kinderzimmer zu aufgeräumt aus, zu organisiert. Dann ein Gästezimmer, spärlich möbliert, ohne weitere Gebrauchsspuren. Dann ging er wieder nach unten, um Tiburtius zu treffen.
„Na, was gefunden?“, fragte er neugierig.
„Ich bin noch nicht ganz durch“, sagte Tiburtius, „aber mein erster Eindruck war schon richtig. Viel edles, teures Zeug, alles mal schnell überprüft. Wenn du das Wohnzimmer alleine siehst, schauen dich über einhunderttausend Euro an.“
Holtkotte pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Nicht schlecht. Und wo warst du noch nicht?“
Tiburtius nahm Holtkotte an den Arm und führte ihn in ein kleines Arbeitszimmer, das offenbar Frau Ronnekämper zuzuordnen war. Es war deutlich aufgeräumter als das Arbeitszimmer ihres Mannes, auf dem Schreibtisch fanden sich lediglich ein Schreibtischsekretär aus Nussbaumholz, ein Laptop und eine Berliner Tischleuchte aus Messing. Die Bücher in den Regalen machten einen eher gebrauchten Eindruck, viel Belletristik, Lyrik, einige Sachbücher; und auch die Chaiselongue in der Ecke wies darauf hin, dass hier eher ein Rückzugsraum als ein Arbeitsraum eingerichtet war. Mehr aus Gewohnheit denn mit der Absicht etwas zu finden, öffnete Holtkotte den Schreibtischsekretär und fand im obersten Fach einen kleinen Zettel. Darauf stand nur: „Freue mich auf unsere gemeinsame Zeit in Andratx. In Liebe, S.“
„Tiburtius? Was hältst du davon?“, fragte er und zeigte ihr den Zettel.
„Ungewöhnlich“, antwortete sie. „Warum hebt man einen solchen Zettel auf? Warum vernichtet man den nicht sofort? Als Beweisstück irritierend und kompromittierend, als Erinnerungsstück nicht tauglich.“
Tiburtius nahm den Papierkorb zur Hand, in der Hoffnung, dort noch etwas zu finden, aber der war leer. Die Haushälterin hatte ganze Arbeit geleistet. Holtkotte nahm den Laptop in die Hand, um zu sehen, ob dieser auch einen Zugangscode bereithielt, dem war aber nicht so. Auch sonst fanden sich keine weiteren Hinweise mehr, zumindest auf den ersten Blick. Holtkotte gab Tiburtius zu verstehen, dass sie hier nun fertig seien.
„Lass uns mal den glücklichen Leichenfinder befragen. Der sitzt draußen.“
„Meine erste Leiche“, erwiderte Tiburtius, „da kann ich schon einmal eine Zigarette gebrauchen.“
„Flaues Gefühl im Magen?“, fragte Holtkotte.
Tiburtius nickte betreten.
„Hatte ich so nicht erwartet. Eine echte Leiche ist schon etwas anderes.“
„Das wird auch nie ganz verschwinden“, erwiderte Holtkotte. „Wenn uns die Opfer egal werden, hören wir auf, gute Kriminalisten zu sein.“
Bärlach saß noch draußen im Gartenstuhl, in Gedanken versunken. Er war ein attraktiver Mittdreißiger, etwa eins fünfundachtzig groß, drahtig, kurzer Bürstenhaarschnitt und Dreitagebart; ein Anzug von der Stange, wie Tiburtius schnell feststellte, aber er saß gut, keine Krawatte, schwarze, nicht billige, aber auch nicht übermäßig teure Lederschuhe. Bärlach erhob sich und deutete eine Begrüßung an, während sich Tiburtius und Holtkotte vorstellten.
„Was für ein Scheißtag“, murmelte Bärlach nur. „Was für ein Scheißtag.“
„Fangen wir mal von vorne an. Wer sind Sie und in welchem Verhältnis haben Sie zu Ronnenkämper gestanden?“ Holtkotte wirkte fokussiert, bestimmend, vielleicht auch ein wenig autoritär und einschüchternd, aber das war auch seine Befragungsstrategie. Nie einen Zweifel daran lassen, wer der Chef im Ring ist; keine Befragung auf gleicher Augenhöhe, mit ihm, Holtkotte, sprach der Staat, die Autorität; keine Gefühlsduselei, keine persönlichen Beziehungen aufbauen. Und es schien auch bei Bärlach zu wirken.
„Ich heiße Paul Bärlach, ich arbeite seit fünf Jahren … arbeitete seit fünf Jahren für Ronnekämper, bin … war … sein Wahlkreisbetreuer.“
„Was macht man da so?“, unterbrach Holtkotte.
„Ich halte Kontakt zu der Basis, bereite Veranstaltungen vor, Firmenbesuche, Kontakte zu Vereinen und Initiativen. Ich bin gewissermaßen Augen und Ohren von Ronnekämper im Wahlkreis … gewesen“, fügte er seufzend hinzu. „Ich bin wohl ab sofort arbeitslos.“
„Wieso das?“, fragte Tiburtius und fing sich einen strengen Blick von Holtkotte ein, der es nicht mochte, wenn sich andere in seine Befragung von Zeugen einbrachten.
