Der Tote mit dem Silberzeichen - Robert Galbraith - E-Book

Der Tote mit dem Silberzeichen E-Book

Robert Galbraith

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Beschreibung

Ein brutaler Mord und eine mysteriöse Freimaurerloge – Der hochspannende achte Kriminalroman von SPIEGEL-Bestsellerautor Robert Galbraith, dem Pseudonym von J. K. Rowling!

Im Tresorraum eines Silberhändlers wird eine verstümmelte Leiche gefunden. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen verurteilten Einbrecher handelt. Doch Decima Mullins, die Privatdetektiv Comoran Strike um Hilfe bittet, ist überzeugt davon, dass es sich bei der Leiche um ihren Freund handelt, der unter mysteriösen Umständen verschwand. Je tiefer Strike und seine Geschäftspartnerin Robin Ellacott in den Fall eintauchen, desto undurchsichtiger wird er. Denn der Silberladen neben der Freemasons' Hall ist kein gewöhnliches Geschäft: Er hat sich auf Freimaurersilber spezialisiert. Und es werden noch weitere Männer vermisst, die auf das Profil der Leiche passen könnten. Neben dem komplizierten Fall steht Strike vor einem weiteren Dilemma. Robins Beziehung zu ihrem Freund Ryan scheint immer ernster zu werden. Doch Strikes Wunsch, ihr endlich seine Gefühle zu gestehen, ist größer denn je ...

Lesen Sie auch die anderen packenden Fälle von Cormoran Strike und Robin Ellacott!

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Seitenzahl: 1461

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Im Tresorraum eines Silberhändlers wird eine verstümmelte Leiche gefunden. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen verurteilten Einbrecher handelt. Doch Decima Mullins, die Privatdetektiv Cormoran Strike um Hilfe bittet, ist überzeugt davon, dass es sich bei der Leiche um ihren Freund handelt, der unter mysteriösen Umständen verschwand. Je tiefer Strike und seine Geschäftspartnerin Robin Ellacott in den Fall eintauchen, desto undurchsichtiger wird er. Denn der Silberladen neben der Freemasons’ Hall ist kein gewöhnliches Geschäft: Er hat sich auf Freimaurersilber spezialisiert. Und es werden noch weitere Männer vermisst, die auf das Profil der Leiche passen könnten. Neben dem komplizierten Fall steht Strike vor einem weiteren Dilemma. Robins Beziehung zu ihrem Freund Ryan scheint immer ernster zu werden. Doch Strikes Wunsch, ihr endlich seine Gefühle zu gestehen, ist größer denn je …

Autor

Robert Galbraith ist das Pseudonym von J.K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Reihe und des Romans »Ein plötzlicher Todesfall«. Die Cormoran-Strike-Romane erklommen die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten, eroberten die Top 10 der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurden als große TV-Serie verfilmt.

Von Robert Galbraith bereits erschienen:

Der Ruf des Kuckucks · Der Seidenspinner · Die Ernte des Bösen · Weißer Tod · Böses Blut · Das tiefschwarze Herz · Das strömende Grab

Robert Galbraith

Der Tote mit dem Silberzeichen

Ein Fall für Cormoran Strike

Deutsch von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Hallmarked Man« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, London.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © J.K. Rowling 2025

The moral right of the author has been asserted.

All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.

All rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Tobias Schumacher-Hernández

Umschlaggestaltung: bürosüd nach einer Vorlage von Little, Brown Book Group Ltd 2025 / Duncan Spilling unter Verwendung von Bildmaterial von Duncan Spilling und iStock and Shutterstock

JaB · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-33269-3V002

www.blanvalet.de

Für Séan und Nadine Harris – ihr habt mir zurückgegeben, was ich für immer verloren glaubte.

Ich kannte sie wohl, des Lebens Last,

Ihre Spuren war’n deutlich zu sehen,

Als meinen Schwan ich fand und die Heilung fast,

Vertrieb dein Weiß das Grau um den Preis

Deines Unglücks – denn den du gerettet hast,

Du könntest durch ihn vergehen.

Robert BrowningThe Worst of It

Teil eins

Was die Minen an sich anging, so fragte ihn niemand nach seiner Meinung … er hatte lediglich den Adern zu folgen und das gewinnbringende Erz zu fördern …

John OxenhamA Maid of the Silver Sea

1

So oft die Leichenwäsche ichvollzogen, doch was blieb von all der Qual?Des Bettes Ruhe kannt’ ich nicht.Noch einmal muss ich tun, was meine Pflichtgewesen wohl zehntausend Mal.

A. E. HousmanXI, Last Poems

Die Scheibenwischer des BMW arbeiteten auf Hochtouren, seit Cormoran Strike die Grenze zur Grafschaft Kent überquert hatte, und während er durch den dichten Regen auf die verlassene, schwarz glänzende Straße starrte, machte ihr einschläferndes Quietschen und Klacken ihn noch müder, als er sowieso schon war.

Kurz nachdem er am vergangenen Abend in den Nachtzug von Cornwall nach London gestiegen war, hatte ihn der Freund seiner Geschäftspartnerin – von Strike insgeheim »der beschissene Ryan Murphy« bezeichnet – telefonisch davon unterrichtet, dass Robin hohes Fieber und Halsschmerzen habe und es ihr daher unmöglich sei, heute zusammen mit Strike ihrer neuesten potenziellen Klientin einen Besuch abzustatten.

Strike war dieser Anruf höchst ungelegen gekommen, und dass er sich seiner unfairen Reaktion darauf bewusst war – in den vergangenen sechs Jahren hatte sich Robin nicht einen Tag krankgemeldet, und es war völlig legitim, mit vierzig Grad Fieber und Halsschmerzen ihren Freund zu bitten, Strike anzurufen und sie krankzumelden –, vermieste ihm die Laune nur noch mehr. Eigentlich war geplant gewesen, dass Robin ihn in ihrem alten Land Rover nach Kent fahren würde, und die Aussicht auf mehrere gemeinsame Stunden war der einzige Lichtblick gewesen. Eine Kombination aus Pflichtbewusstsein und einem gewissen Masochismus hatte ihn davon abgehalten, den Termin abzusagen, und so hatte er sich nach der Ankunft in seiner Dachwohnung in der Denmark Street schnell geduscht und umgezogen und dann auf den Weg in die kleine Ortschaft Temple Ewell in Kent gemacht.

Dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich selbst hinters Steuer zu setzen, schlug ihm nicht nur aufs Gemüt, sondern bereitete ihm auch körperliche Schmerzen. Die Kniesehne seines rechten Beines, an dem eine Prothese den Unterschenkel ersetzte, pulsierte schmerzhaft: eine Folge seines Aufenthalts in Cornwall, bei dem er des Öfteren schwer hatte heben müssen.

Er war vor zehn Tagen nach Truro geeilt, da sein Onkel Ted einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte. Strikes Schwester Lucy war bereits vor Ort gewesen, und sie hatte dem alten Mann gerade dabei geholfen, seine Sachen für den bevorstehenden Umzug in ein Pflegeheim in London zu packen, als er – wie sie es ausdrückte – »ein komisches Gesicht gemacht und nicht mehr reagiert« hatte. Zwölf Stunden nach Strikes Ankunft im Krankenhaus war Ted im Beisein von Nichte und Neffe, die ihm die Hand gehalten hatten, gestorben.

Anschließend hatten Strike und Lucy in Teds Haus in St. Mawes, das er beiden zu gleichen Teilen vererbt hatte, die Beerdigung vorbereitet und beratschlagt, was mit dem Hausrat geschehen sollte. Wie vorauszusehen, war Lucy einigermaßen entsetzt über den Vorschlag ihres Bruders gewesen, alle Gegenstände mitzunehmen, die für die Familie von sentimentalem Wert waren, und die Auflösung des restlichen Haushalts einer darauf spezialisierten Firma zu überlassen. Ihr war die Vorstellung unerträglich, dass fremde Personen die bei vielen Strandpicknicks zum Einsatz gekommene alte Tupperware in die Finger bekamen, die fadenscheinige Hose, die Ted bei der Gartenarbeit getragen hatte, oder den Krug mit den Knöpfen, die ihre verstorbene Tante gesammelt hatte, auch wenn so manches dazugehörige Kleidungsstück längst für einen guten Zweck gespendet worden war. Da Strike Gewissensbisse verspürte, weil nur Lucy in Teds letzten klaren Momenten bei ihm gewesen war, fügte er sich ihren Wünschen und blieb in St. Mawes, um beinahe ausschließlich mit »Lucy« beschriftete Kartons aus dem Haus in einen gemieteten Lieferwagen zu tragen, Müll in einen dafür bestellten Container zu werfen und seiner Schwester – deren Augen von Staub und Tränen beständig gerötet waren – in regelmäßigen Abständen Tee zu kochen und Trost zu spenden.

Lucy war der Ansicht, dass jener verhängnisvolle Schlaganfall seine Ursache in der Aufregung über den bevorstehenden Umzug in das Pflegeheim gehabt hatte. Strike musste sich wiederholt zur Geduld mahnen, wenn sie sich deshalb Vorwürfe machte. Er bemühte sich, auf ihre Gereiztheit nicht ungeduldig oder gar wütend zu reagieren und ihr in Ruhe zu erklären, dass er nicht weniger um den Mann trauerte, der die einzige brauchbare Vaterfigur in ihrem Leben gewesen war, nur weil er keine weiteren Gegenstände bei sich aufbewahren wollte, die an die beständigsten Phasen ihrer Kindheit erinnerten. Tatsächlich hatte Strike nur Teds rotes Barett der Royal Military Police, seinen uralten Fischerhut, einen Fischtöter (einen Holzknüppel, mit dem man seinen Fang vom Leben zum Tod beförderte) sowie einen Stapel vergilbter Fotos an sich genommen. Diese Gegenstände ruhten gegenwärtig in einem Schuhkarton in der Reisetasche, die auszupacken Strike noch nicht die Zeit gefunden hatte.

Mit jeder Meile, die er allein mit der schmerzenden Kniesehne und den emotionalen Nachwirkungen der letzten zehn Tage verbrachte, wuchs Strikes bereits vorhandene Abneigung gegen die zu treffende potenzielle Klientin. Decima Mullins’ Akzent hatte ihn an die vielen reichen, betrogenen Ehefrauen denken lassen, die seine Detektei in der Hoffnung beauftragten, ihrem Mann Untreue oder irgendwelche kriminellen Aktivitäten nachzuweisen und so eine vorteilhaftere Scheidungsvereinbarung herauszuschlagen. Ihrem bisher einzigen Telefonat nach zu urteilen, schien sie über einen Hang zur Melodramatik sowie eine gewisse Anspruchshaltung zu verfügen. Aus Gründen, die sie nur unter vier Augen erläutern könne, sei es ihr unmöglich, Strikes Detektei in der Denmark Street aufzusuchen, weshalb sie darauf bestanden hatte, ihm ihr Problem ausschließlich persönlich in ihrem Haus in Kent darzulegen. Sie hatte ihm vorab lediglich mitzuteilen geruht, dass sie eine bestimmte Angelegenheit bewiesen haben wollte, und da sich Strike keine Ermittlungstätigkeit denken konnte, die nicht einen wie auch immer gearteten Beweis zum Ziel hatte, empfand er diesen Hinweis als wenig hilfreich.

Derart schlecht gelaunt fuhr er die zwischen kahlen Bäumen und schlammigen Äckern verlaufende Canterbury Road entlang. Endlich – die Scheibenwischer quietschten und klackten unermüdlich weiter – wies ihm ein Schild den Weg zur Delamore Lodge, und er bog in einen schmalen, mit Pfützen übersäten Weg zu seiner Linken ab.

2

Ich habe ihn verloren, er kommt nicht mehr

Und wie betäubt bleib ich zurück … O Himmel, nimm von mir,

Ganz gleich durch welches Mittel, welchen Boten,

Die übergroße Angst, des Untätigen Wahn!

Robert BrowningBells and Pomegranates No. 5A Blot in the ’Scutcheon

Strike hatte sich das Ziel seiner Fahrt anders vorgestellt: Delamore Lodge war kein herrschaftlicher Landsitz, sondern ein kleiner heruntergekommener Bau aus dunklem Stein, der Ähnlichkeit mit einer aufgegebenen Kapelle hatte, umgeben von einem verwilderten Garten, um den sich seit Jahren niemand zu kümmern schien. Als Strike den Wagen abstellte, bemerkte er mehrere zerbrochene Scheiben in einem der gotischen Fenster, und es sah ganz danach aus, als hätte man sie von innen mit einem schwarzen Müllsack abgeklebt. Mehrere Dachziegel fehlten, und vor dem unheilvollen Novemberhimmel und im strömenden Regen wirkte Delamore Lodge wie ein Spukhaus, von dem sich Kinder erzählten, dass dort eine Hexe wohne.

Ein glitschiger Belag aus dem feuchten Laub der wenigen, inzwischen kahlen Bäume bedeckte den unebenen Pfad, sodass Strike seine Schritte mit Bedacht setzen musste. Als er das Haus erreicht hatte, klopfte er an die Eichentür, die nur Sekunden später geöffnet wurde.

Auch seine Vorstellung von Decima Mullins – als gepflegte Blondine in maßgeschneidertem Tweed – hätte nicht weiter von der Wirklichkeit entfernt sein können: Vor ihm stand eine blasse, gedrungene Frau mit langem, strähnigem braunem Haar, das einen grauen Ansatz hatte und ganz offensichtlich seit geraumer Zeit nicht geschnitten worden war. Sie trug eine schwarze Jogginghose und einen dicken schwarzen Wollponcho. Angesichts dieser Erscheinung, des verwilderten Gartens und des baufälligen Hauses fragte sich Strike, ob er es womöglich mit einer jener exzentrischen Vertreterinnen der Oberschicht zu tun hatte, die sich von der Gesellschaft losgesagt hatten, um hässliche Bilder zu malen oder windschiefe Vasen zu töpfern – eine Spezies, die er ganz und gar nicht leiden konnte.

»Miss Mullins?«

»Ja. Sind Sie Cormoran?«

»Der bin ich«, sagte Strike, dem nicht entgangen war, dass sie seinen Vornamen korrekt ausgesprochen hatte. Die meisten Menschen sagten »Cameron«.

»Können Sie sich ausweisen?«

Strike durchforstete nur widerwillig im strömenden Regen stehend die Taschen nach seinem Führerschein. Immerhin war es recht unwahrscheinlich, dass ein Räuber am helllichten Tag in einem BMW bei ihr vorfuhr – noch dazu zu genau der Uhrzeit, zu der sie einen Privatdetektiv zu sich nach Kent bestellt hatte. Sobald er ihr den Ausweis gezeigt hatte, machte sie ihm Platz, und er trat in den engen Flur, der mit einer ungewöhnlich großen Anzahl an Schirmständern und Schuhregalen vollgestellt war – als hätten die wechselnden Besitzer des Anwesens im Laufe der Zeit jeweils ihre dazugestellt, ohne die der Vorgänger wegzuräumen. Strike hatte in seiner Kindheit viel Elend ertragen müssen und daher nur wenig Verständnis für Unordnung und Schmutz jener, die in der Lage waren, beides zu vermeiden. Sein Eindruck von dieser heruntergekommenen, aber eindeutig der Oberschicht angehörenden Dame verschlechterte sich zusehends.

Offenbar war ihm seine Abscheu anzusehen. »Das ist das Haus meiner Großtante«, erklärte Decima. »Es war bis vor Kurzem noch vermietet, und die letzten Bewohner haben es einfach verfallen lassen. Ich plane, es zu renovieren und dann zu verkaufen.«

Allerdings waren nirgendwo Anzeichen für eine Instandsetzung zu erkennen. Die Tapete im Flur hatte Risse, und in einer der Deckenlampen steckte eine zerbrochene Glühbirne.

Strike folgte Decima in eine winzige Küche mit altmodischem Herd und abgenutztem, allem Anschein nach mehrere Jahrhunderte altem Steinboden. Einige nicht zueinanderpassende Stühle standen um einen Holztisch, auf dem ein rotes, ledergebundenes Notizbuch lag. Vielleicht, dachte Strike, war seine Gastgeberin eine angehende Dichterin, was in seinen Augen sogar noch schlimmer war als Töpferei.

Decima drehte sich um und blickte zu Strike auf. »Bevor wir anfangen, möchte ich, dass Sie mir etwas versprechen.«

»Okay«, sagte Strike.

Das Licht der antiquierten Deckenlampe schmeichelte ihrem runden, eher flachen Gesicht nicht besonders, dabei ließ es sich durchaus als hübsch bezeichnen. Doch der Eindruck, dass Decima ihrem Äußeren keine große Beachtung schenkte, war stärker. Sie hatte nicht versucht, die violetten Augenringe oder die von einer üblen Rosazea verursachten Flecken auf Nase und Wangen zu kaschieren.

»Sie behandeln die Angelegenheiten Ihrer Klienten doch vertraulich, nicht wahr?«

»Wir haben einen Standardvertrag«, sagte Strike, der vermutete, dass sie auf etwas Bestimmtes hinauswollte.

»Das ist mir bewusst, aber das meine ich nicht. Ich will nicht, dass jemand erfährt, wo ich wohne.«

»Ich wüsste nicht, weshalb ich …«

»Sie müssen mir garantieren, dass Sie es niemandem verraten.«

»Okay«, wiederholte Strike. Er ahnte, dass es nicht viel brauchte, damit Decima Mullins anfing zu schreien oder (was ihm nach den letzten zehn Tagen noch unerträglicher gewesen wäre) zu weinen.

»Also gut«, sagte sie. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Das wäre sehr nett, vielen Dank.«

»Setzen Sie sich doch.«

Sie ging zum Herd hinüber, auf dem ein Zinntopf stand.

Der Stuhl ächzte unter Strikes Gewicht, der Regen prasselte gegen die noch intakten Fenster. Der vor den zerbrochenen Scheiben mit Gewebeband befestigte Müllsack raschelte im Wind. Außer ihnen schien niemand im Haus zu sein. Strike bemerkte mehrere Flecken auf Decimas Poncho, den sie offenbar schon seit mehreren Tagen trug, und auch ihr Haar war verfilzt. Sie machte umständlich Kaffee, öffnete und schloss Schranktüren, als hätte sie vergessen, wo sie ihre Sachen aufbewahrte, und Strike revidierte seine Einschätzung abermals. Es gab drei Menschentypen, die er normalerweise sofort erkannte: Lügner, Süchtige und psychisch Kranke, und er ahnte, dass Decima Mullins zur dritten Kategorie gehörte. Dies mochte zwar ihre ungepflegte Erscheinung entschuldigen, machte es aber nicht verlockender, ihren Fall zu übernehmen.

Schließlich brachte sie zwei Kaffeebecher und ein Milchkännchen zum Tisch, dann ließ sie sich ohne ersichtlichen Grund so langsam und vorsichtig nieder, als hätte sie Angst, sich zu verletzen.

»Also«, sagte Strike und nahm Notizbuch und Stift heraus, um das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. »Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie eine bestimmte Angelegenheit bewiesen haben möchten.«

»Ja, aber zuerst möchte ich noch etwas loswerden.«

»Okay«, sagte Strike zum dritten Mal und bemühte sich um eine interessierte Miene.

»Ich will Sie engagieren, weil Sie der Beste sind«, sagte Decima Mullins, »aber mich dazu durchzuringen, fiel mir nicht leicht, da wir mehrere gemeinsame Bekannte haben.«

»Wirklich?«

»Ja. Valentine Longcaster ist mein Bruder, und ich weiß, dass Sie ihn nicht ausstehen können und umgekehrt.«

Das kam so unerwartet, dass es Strike vorübergehend die Sprache verschlug. Es hatte eine Phase in seinem Leben gegeben, in der er Valentine häufiger, aber nur widerwillig getroffen hatte. Der gut aussehende, schnittlauchhaarige und stets makellos gekleidete Valentine arbeitete nicht nur als Stylist für mehrere prätentiöse Hochglanzmagazine, sondern war auch einer der besten Freunde von Charlotte Campbell gewesen, Strikes Ex-Verlobter, die sich vor wenigen Monaten das Leben genommen hatte.

»Und ›Mullins‹ ist …?«

»Ich war in meinen Zwanzigern verheiratet.«

»Ah«, sagte Strike. »Verstehe.«

War das möglich? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Valentine jemals eine Schwester erwähnt hätte – andererseits hatte er Valentine meistens nicht zugehört. Wenn sie die Wahrheit sagte, dann waren Strike noch nie Geschwister untergekommen, die sich so wenig ähnlich sahen. Andererseits erhöhte gerade dieser Umstand Decimas Glaubwürdigkeit: Eine pummelige, verwahrloste Schwester zu verschweigen, sah Valentine durchaus ähnlich, immerhin legte er höchsten Wert auf Aussehen und Stil.

»Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie Valentine weder meinen Aufenthaltsort noch sonst etwas Vertrauliches über mich erzählen«, sagte Decima.

»Okay«, sagte Strike zum vierten Mal.

»Sacha Legard kennen Sie doch auch, oder?«

Allmählich kam es Strike so vor, als hätte ein allein für ihn zuständiger Teufel beschlossen, ihm heute einen Tritt nach dem anderen in die Eier zu verpassen: Sacha war Charlottes Halbbruder. »Sind Sie mit dem etwa auch verwandt?«

»Nein«, sagte Decima. »Aber er ist in die … Angelegenheit verwickelt, in der Sie für mich ermitteln sollen. Charlotte Campbell kannte ich übrigens kaum. Ich habe sie nur ein paarmal getroffen.«

Strike konnte auf neugierige Fragen und geheucheltes Beileid gut verzichten, weshalb er an ihrem wenig Anteil nehmenden Ton angesichts der Tatsache, dass Charlotte vor nicht allzu langer Zeit in einer Badewanne verblutet war, keinen Anstoß nahm.

»Verstehe. Aber wollen Sie mir nicht verraten, was ich für Sie tun kann?«

»Sie müssen die Identität eines Leichnams feststellen«, sagte Decima und bedachte ihn mit einem verlegenen, aber auch trotzigen Blick.

»Eines Leichnams«, wiederholte Strike.

»Genau. Sie haben davon sicher in der Zeitung gelesen. Es geht um den Mann, der im Juni im Tresorraum eines Silberhändlers gefunden wurde.«

Vor fünf Monaten hatte ein hochkomplexer Fall Strikes Aufmerksamkeit mehr oder weniger vollständig in Beschlag genommen, sodass er wenig anderes mitbekommen hatte. Dennoch konnte er sich an die Nachricht erinnern, die kurzzeitig für ein großes Medienecho gesorgt hatte.

»Ja, ich glaube, ich weiß, welchen Vorfall Sie meinen.« (Er war sich selbst nicht sicher, warum er das sagte; wie viele Männer wurden wohl im Durchschnitt jeden Monat tot in den Tresorräumen Londoner Silberhändler aufgefunden?) »Die Polizei hat ihn doch ziemlich schnell identifiziert.«

»Nein, hat sie nicht«, sagte Decima in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Ich dachte«, sagte Strike, obwohl er sich in Wahrheit genau daran erinnerte, »dass es sich dabei um einen vorbestraften Kriminellen handelte.«

»Nein«, sagte Decima und schüttelte den Kopf. »Der war es nicht. Jedenfalls ist das nicht hundertprozentig erwiesen.«

»Aber das habe ich gelesen, da bin ich mir ziemlich sicher«, erwiderte Strike. Zuversichtlich, sich in höchstens zehn Minuten wieder verabschieden zu können, nahm er das Handy aus der Tasche. Sie hatte ihm ein schlagendes Argument dafür geliefert, diesen Fall, den er unter keinen Umständen annehmen wollte, abzulehnen. »Genau, sehen Sie?«, sagte er, nachdem er ein paar Wörter in die Google-Suche eingegeben hatte. »›… der Tote, der sich während seiner zweiwöchigen Tätigkeit für Ramsay Silver als William Wright ausgab, konnte inzwischen identifiziert werden: Es handelt sich um den wegen bewaffneten Raubes vorbestraften Jason Knowles (28) aus Haringey.‹«

»Aber hundertprozentig sicher ist es nicht«, wiederholte Decima beharrlich. »Ein Polizeibeamter hat mir das bestätigt.«

»Welcher Polizeibeamte?«, fragte Strike, dem der Versuch, die Glaubwürdigkeit irgendeiner verrückten Theorie durch angebliche Verbindungen zur Polizei zu untermauern, nicht neu war.

»Sir Daniel Gayle, Commissioner im Ruhestand. Seine Tochter arbeitet für mich, und ich habe sie um die Hilfe ihres Vaters gebeten. Der hat sich umgehört und mir dann mitgeteilt, dass kein DNA-Nachweis erfolgt ist. Die Polizei konnte also nicht beweisen, dass es Knowles war. Nicht eindeutig.«

»Weshalb sind Sie an der Identität dieses Mannes interessiert?«, fragte Strike.

»Ich muss es wissen«, sagte Decima mit nun zitternder Stimme. »Ich muss es einfach wissen.«

Strike nahm einen Schluck Kaffee, um sich Bedenkzeit zu verschaffen. Nun erinnerte er sich auch an mehrere merkwürdige Einzelheiten, diesen Fall betreffend. Unter anderem war der Leichnam nackt und stark verstümmelt aufgefunden worden. Ein gefundenes Fressen für die Medien – bis sich der Tote selbst als Gewaltverbrecher herausstellte, woraufhin die öffentliche Anteilnahme merklich nachließ. Den Presseberichten zufolge hatte Knowles bei einem Überfall auf eine Bankfiliale eine Angestellte so brutal geschlagen, dass sie eine Schädelfraktur davongetragen hatte und seitdem unter Krampfanfällen litt. Nun war man ganz allgemein der Ansicht gewesen, dass Jason Knowles womöglich nicht völlig unschuldig an seinem zugegebenermaßen grässlichen Ende war.

»Haben Sie die Befürchtung, dass Sie den Mann kannten?«, fragte Strike.

»Ja. Ich glaube … nein«, sagte Decima mit plötzlicher Leidenschaft. Tränen traten in ihre Augen. »Ich weiß, dass er es war, und … ich will einen Beweis dafür, weil … ich will einen Beweis. Ich will, dass es bewiesen wird.«

»Und wer genau …«

»Jemand, der mir sehr nahestand und auf den die Beschreibung haargenau zutrifft. Alles passt zusammen: das Silber, dass er ermordet wurde, der Zeitpunkt seines Verschwindens – er war es. Dessen bin ich mir sicher.«

Ein leeres Haus, eine weinende Frau: Strike fühlte sich nach Cornwall zurückversetzt, wäre da nicht dieser merkwürdige Beiklang gewesen. Da ihm nichts anderes einfiel, schlug er sein Notizbuch auf.

»Welche Gemeinsamkeiten gab es zwischen der Leiche und Ihrem Bekannten?«

»Habe ich alles aufgeschrieben.« Decimas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Sie griff nach dem roten Notizbuch, das sich als Tagebuch mit Wocheneinteilung entpuppte, und blätterte zu einigen eng beschriebenen Seiten am Ende. »Mein Bekannter war sechsundzwanzig Jahre alt, und in den Zeitungen stand, dass der Tote zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig war. William Wright war Linkshänder und hatte Blutgruppe A positiv – das trifft ebenfalls auf meinen Bekannten zu. Und auch die Größe – zwischen eins fünfundsechzig und eins siebzig – stimmt überein. Wright hatte sein Vorstellungsgespräch am neunzehnten Mai – an diesem Tag habe ich meinen Bekannten nicht gesehen. Wright hat am einundzwanzigsten Mai eine Mietwohnung bezogen – also an genau dem Wochenende, an dem mein Bekannter seine bisherige Wohnung räumen musste. Ich habe ihm angeboten, seine Sachen bei mir unterzustellen, aber das wollte er nicht. Damals habe ich mich noch gefragt, wo er das alles wohl hingebracht hat. Wahrscheinlich in diese Wohnung.«

»Und warum hat Ihr Bekannter seinen Namen geändert und sich von einem Silberhändler einstellen lassen?«, fragte Strike direkt, weil ihm keine taktvollere Formulierung einfallen wollte.

»Weil er … ach, das ist kompliziert.«

»Haben Sie ihn als vermisst gemeldet?«

»Selbstverständlich, aber die Beamten tun überhaupt nichts, sie glauben seiner Tante, dass …« Sie unterbrach sich. »Ich weiß, dass er es war. Ich weiß es, verstehen Sie?«, fügte sie mit sich leicht überschlagender Stimme hinzu.

Mit der wachsenden Bekanntheit der Detektei stieg auch die Zahl derjenigen, die Strike, Robin und ihre Angestellten per Mail oder Telefon verzweifelt davon zu überzeugen versuchten, dass sie von Haushaltsgeräten ausspioniert wurden, Westminster eine Brutstätte satanistischer Aktivitäten sei oder gewisse Prominente, mit denen sie eigentlich eine Beziehung pflegten, ihre Liebe aus unerklärlichen Gründen und auf Betreiben übelwollender Mächte nicht erwiderten. Für solche Menschen gab es einen Detektei-internen Ausdruck: Gateshead. Ein Gateshead zeichnete sich durch irrationale Überzeugungen, eine Abneigung gegen den gesunden Menschenverstand und die Unfähigkeit aus, andere Erklärungen für sein Dilemma auch nur in Betracht zu ziehen. Die Frau, der Strike in diesem Augenblick gegenübersaß, schien diese Kriterien auf geradezu klassische Weise zu erfüllen.

»Sie haben gesagt, dass Sir Daniel Gayles Tochter für Sie arbeitet«, sagte Strike in der Hoffnung, das Problem zu entwirren, indem er an einem anderen Faden zog. »Was genau …«

»Ich besitze ein Restaurant«, sagte Decima. »Das Happy Carrot in der Sloane Street. Sie arbeitet bei mir als Oberkellnerin.«

Zufällig kannte Strike das Happy Carrot – bei dem es sich trotz seines Namens nicht um ein veganes Lokal handelte, sondern um ein von der Kritik wohlwollend besprochenes Bio-Edelrestaurant –, weil er dort vor nicht allzu langer Zeit einen untreuen Piloten mit seiner Geliebten beschattet hatte. Wenn Decima tatsächlich Valentines Schwester war, so stammte sie aus einer sehr wohlhabenden Familie. Strike hatte ihren und Valentines Vater niemals persönlich getroffen, aber mehr über ihn gehört, als ihm lieb war. Er war der Besitzer des exklusivsten und teuersten Privatclubs der Stadt.

Strike versuchte es einmal mehr mit einer anderen Strategie. »Wie gut kannten Sie den Mann, den Sie für die Leiche im Tresorraum halten?«

»Sehr gut«, sagte Decima. »Ich …«

Zu Strikes Bestürzung regte sich etwas unter Decimas Poncho, als hätten ihre Brüste plötzlich ein Eigenleben entwickelt. Dann zuckte er vor Schreck zusammen, als ein ohrenbetäubender Schrei durch die Küche hallte.

»O Gott«, rief Decima panisch und sprang auf. »Ich hatte gehofft, dass er weiterschläft …« Sie schlüpfte aus dem Poncho, wobei ihr aufgrund der statischen Entladung das dünne Haar zu Berge stand. Darunter kam ein sehr kleines Baby zum Vorschein, das in einer Tragehilfe aus Fleece steckte.

»Sie dürfen es niemandem sagen!«, rief die völlig aufgelöste Decima Strike über das Heulen des Babys hinweg zu. »Sie dürfen niemandem verraten, dass ich ein Kind habe!«

Strikes fassungslose Miene verstärkte Decimas Panik nur noch. »Es ist meins! Ich kann Ihnen die Geburtsurkunde zeigen! Ich habe ihn vor drei Wochen bekommen, aber niemand weiß davon. Siedürfen es ihnen nicht sagen!«

Da hatte sich Robin ja genau den richtigen Tag für ihre verdammten Halsschmerzen ausgesucht, dachte Strike, während Decima vergeblich versuchte, sich aus dem Geschirr zu befreien, mit dem das schreiende Baby an ihr befestigt war. Schließlich ging er ihr – hauptsächlich deshalb, damit der Lärm ein Ende hatte – zur Hand und öffnete eine Schließe, in der sich der Poncho verfangen hatte.

»Vielen Dank – wahrscheinlich hat er Hunger – ich stille ihn …«

»Da will ich Sie keinesfalls stören«, sagte Strike umgehend, dem es überhaupt nichts ausmachte, währenddessen im Auto zu warten, solange er nur nicht dabei zusehen musste.

»Nein, ich … wenn Sie sich umdrehen würden …«

Bereitwillig tat er wie geheißen und starrte durch das nicht von Müllsäcken verhängte Fenster.

Die Schreie des Babys verstummten. Strike hörte, wie ein Stuhl über den Boden schleifte, dann gab Decima ein leises, schmerzerfülltes Wimmern von sich. Er wollte sich nicht vorstellen, was gerade hinter ihm geschah, und hoffte inständig, dass sie nicht zu jenen Frauen gehörte, die vor einem Fremden unbeschwert die Brust entblößten.

»Okay, Sie können sich wieder umdrehen«, sagte sie mit zitternder Stimme nach einigen Minuten, die sich weitaus länger angefühlt hatten.

Decima hatte den Poncho wieder übergeworfen und das Baby erneut darunter verborgen. »Sie dürfen niemandem verraten, dass ich ihn habe, ich bitte Sie! Nur die Leute im Krankenhaus wissen davon«, flehte sie bebend, sobald sich Strike wieder gesetzt hatte.

Auch wenn er zuerst geglaubt hatte, sie würde allein hier leben, und trotz seines Verdachts, dass sie nicht bei vollständiger geistiger Gesundheit war, hatte Strike keinen Grund, ihr Geheimnis nicht für sich zu behalten. Sie hatte Familie, nichts deutete darauf hin, dass sie selbstmordgefährdet war, und dass sie sich in dieser geerbten Bruchbude versteckte, war allein ihre Sache. Andererseits wollte Strike, abgesehen von den Klinikmitarbeitern, nicht die einzige Person sein, die von der Existenz des Kindes wusste.

»Haben Sie denn keine …« – er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer sich um frischgebackene Mütter kümmerte – »… Krankenschwester oder …«

»Die brauche ich nicht. Sie dürfen niemandem etwas von Lion sagen. Das müssen Sie mir garantieren.«

Wenn sich Strike nicht verhört hatte, lautete der Name des Jungen »Lion«, was seine Bedenken ihre geistige Gesundheit betreffend nicht gerade zerstreute. »Warum darf niemand von dem Kind erfahren?«, fragte er.

Decima brach in Tränen aus. Sobald Strike begriff, dass sie nicht so bald damit aufhören würde, sah er sich nach Taschentüchern um. Als er nichts dergleichen finden konnte, stand er auf und machte sich auf die Suche nach Toilettenpapier.

Das kleine Badezimmer, das vom Flur abging, verfügte noch über eine altmodische Spülung mit Kettenzug. Auf dem Fensterbrett stand eine vertrocknete Grünlilie. Er nahm die ganze Toilettenpapierrolle aus dem Halter, kehrte in die Küche zurück und stellte sie vor die weinende Decima. Die bedankte sich schluchzend und griff mit einer Hand danach. Strike setzte sich wieder vor sein aufgeschlagenes Notizbuch.

»Ist der Mann, der Ihrer Meinung nach in diesem Tresorraum ermordet wurde, der Vater Ihres Kindes?«, fragte er.

Decima schluchzte noch lauter und presste das Toilettenpapier gegen die Augen, was Strike als ein Ja deutete.

»Er hat mich nicht verlassen!«

Sie hatte gesagt, dass ihr »Bekannter« sechsundzwanzig Jahre alt sei. Strike schätzte, dass sie selbst auf die vierzig zuging. Seine eigene Mutter hatte einen siebzehn Jahre jüngeren Mann geheiratet, durch dessen Hand sie nach Überzeugung Strikes – aber nicht der Geschworenen – schließlich auch den Tod gefunden hatte. Jeff Whittaker hatte Leda Strike in der irrtümlichen Annahme, sie hätte Geld, zur Frau genommen und schließlich zu seiner großen Empörung erfahren, dass er an dieses Geld nicht herankam. Aus diesem Grund hielt Cormoran Strike nicht viel von jungen Männern, die sich mit deutlich älteren, reichen Frauen einließen.

»Alle sagen, dass er mich verlassen hat!«, schluchzte Decima. »Valentine war von Anfang an so gemein zu mir und Rupe. ›Sieh zu, dass er dich nicht schwängert.‹ Das hat er tatsächlich gesagt! Da war ich bereits schwanger! Als Rupe verschwunden ist, hat er sich g-gefreut. Und mein V-Vater hat gesagt, dass Rupe nur hinter meinem Geld her war – was nicht stimmt! Es war Liebe auf den ersten Blick, so etwas hatte ich noch nie erlebt – es war, als hätte ich ihn schon immer gekannt, und Rupe g-ging es ganz genauso, das hat er gesagt – die Verbindung zwischen uns war unglaublich! Als hätten wir uns gegenseitig … wiedererkannt, weil wir schon« – nun sag bloß nicht »in einem früheren Leben« – »in einem früheren Leben zusammen gewesen waren!«

»Er heißt also Rupert, ja?«, erwiderte Strike lediglich und nahm den Stift wieder zur Hand.

»J-ja … Rupert Fleetwood.« Decima rang sichtlich um Fassung und schluckte mehrmals. »Rupert Peter Bernard Christian Fleetwood … geboren am achten März 1990 und au-aufgewachsen in Zürich.«

»Ein Schweizer?«

»Nein … seine Tante hat einen Schweizer geheiratet, und … als Rupe zwei Jahre alt war … haben ihn seine Eltern dorthin mitgenommen … sie sind Skifahren gegangen … und in einer Lawine u-umgekommen … daher ist er bei seiner Tante und seinem Onkel aufgewachsen. Aber er hat es dort gehasst, er hatte eine wirklich unglückliche Kindheit und wollte einfach nur zurück nach England, und als er sch-schließlich nach London gekommen ist, hat Sacha – Sacha ist Rupes Vetter – vorgeschlagen, er soll meinen Vater nach einem Job in seinem Club fragen, schließlich ist Daddy Rupes Patenonkel … und so h-haben wir uns kennengelernt. Ich habe abwechselnd in meinem Restaurant und in Daddys Club gearbeitet, weil Daddys Chefkoch gefeuert wurde …«

Dass Rupert der Vetter von Sacha Legard war, einem gefeierten und außergewöhnlich gut aussehenden Schauspieler, erhärtete Strikes Verdacht, dass Fleetwood weniger an Decima selbst als vielmehr an ihrem Geld interessiert gewesen war. Wenn er Sacha ähnlich sah, hätte ihm sicher eine ganze Palette jüngerer und attraktiverer Frauen zur Auswahl gestanden.

»Wie lange waren Sie und Rupert zusammen?«

»Ein J-Jahr.«

»Wusste Fleetwood, dass Sie schwanger sind?«

»Ja, und er war ganz aus dem Häuschen, er war überglücklich!«, schluchzte Decima. »Leider hatte er ein paar Probleme – und weil er so stolz ist, wollte er sie auf eigene Faust lösen –, aber er hätte mich niemals verlassen, wir waren so verliebt – n-niemand hat das verstanden!«

»Sie sagten, dass er umgezogen ist. Haben Sie denn nicht zusammengewohnt?«

»Hatten wir ja auch vor, irgendwann, aber zuerst wollte er noch ein paar Angelegenheiten k-klären – er wollte mich beschützen!«

»Wovor?«

»Jemand war hinter ihm her. Ein gefährlicher Mann!«

»Nämlich?«

»Ein Drogenhändler! Und mein V-Vater hat … hat Rupe auch noch die Polizei auf den Hals gehetzt …«

»Warum das?«

»Weil Rupert … aber ich bin immer noch der Meinung, dass es sein gutes Recht war!«, verkündete Decima mit schriller Stimme.

»Was war sein gutes Recht?«

»Das … Nef.«

»Das was?« Strike blickte auf, da er dieses Wort noch nie gehört hatte.

»Ein großer Tafelaufsatz aus Silber«, sagte Decima und zeichnete mit der freien Hand ein Objekt von etwa sechzig mal sechzig Zentimeter Größe in die Luft. »S-Siebzehntes Jahrhundert, in Form eines Schiffes … das Schiff gehörte Rupes Eltern. D-Daddy und Peter Fleetwood haben oft Backgammon gespielt, um hohe Einsätze, und eines Abends waren sie betrunken, und Peter hat das Schiff gesetzt, und Daddy hat es gewonnen …«

»Und Rupert war der Ansicht, er hätte Anspruch darauf, weil es früher einmal seinen Eltern gehört hat?«

»J… Nein. Das war so: Kurz nachdem es Peter an Daddy verloren hatte, sind Peter und Veronica gestorben! Da hätte Daddy das Nef doch Rupe zurückgeben können. Vielleicht nicht unbedingt, als er noch ein Kind war, aber später, als er so dringend Geld gebraucht hat! Immerhin ist er sein Patenkind! Wie konnte er ihm nur die Polizei auf den Hals hetzen?«

Weil er ihm sein verdammtes Silber gestohlen hat, dachte Strike wenig mitfühlend, sprach es aber nicht aus.

»Und ein Dealer war auch hinter ihm her?«, fragte er stattdessen.

»Ja, aber das war alles Zacs Schuld!«

»Zac?«

»Rupes Mitbewohner – er hat Drogen genommen, Koks, und irgendwann war ein richtiger, echter Gangster hinter ihm her, weil Zac seine Schulden nicht bezahlt hat oder so, und Zac ist abgehauen, und seine Eltern haben ihm einen Job in Kenia besorgt, und Rupe ist auf Zacs Miete sitzen geblieben, und dann wollte dieser fürchterliche Dealer, dass Rupe Zacs Schulden bezahlt, und hat ihn bedroht …«

»Wissen Sie, wie dieser Dealer heißt?«

»Sie haben ihn immer Dredge genannt, seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Er hat Rupe damit gedroht, ihn umzubringen, wenn er sein Geld nicht bekommt, weil er dachte, dass Rupe so reich wäre wie Zac, ist er aber nicht. Sein Treuhandfonds ist so gut wie aufgebraucht, er konnte ja kaum Zacs unbezahlte Rechnungen begleichen, weil seine Tante und sein Onkel fast alles, was Rupe von seinen Eltern geerbt hat, für dieses Internat in der Nähe von Zürich ausgegeben haben, das er so gehasst hat – und dann hat ihm mein Vater gekündigt, und da hat er das Nef gestohlen, weil er so verzweifelt war! Ich wollte ihm finanziell unter die Arme greifen, aber das hat er abgelehnt, weil er ja wusste, dass die Leute sagen, er wäre nur hinter meinem G-Geld her.«

Strike vermutete, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Fleetwood hatte nicht vor einem dreisten Diebstahl zurückgeschreckt, warum hätte er da ein Darlehen oder ein Geldgeschenk seiner Partnerin ablehnen sollen? Viel wahrscheinlicher war es doch, dass der junge Mann nur so getan hatte, als habe er Bedenken, Geld von Decima anzunehmen, um sie weiterhin im Glauben zu lassen, er liebe sie um ihrer selbst willen. Insgeheim hatte er natürlich damit gerechnet, dass sie ihm aushelfen würde, doch als sie ihr Angebot tatsächlich nicht erneuerte, hatte er versucht, sich auf andere Art und Weise an den wohlhabenden Longcasters zu bereichern.

»Okay«, sagte Strike und schlug die nächste Seite seines Notizbuchs auf. »Wann haben Sie Rupert zum letzten Mal gesehen?«

»Am S-Sonntag, den fünfzehnten Mai«, sagte Decima mit belegter Stimme und konsultierte ein weiteres Mal ihr rotes Tagebuch. »Ich h-habe Abendessen für ihn gemacht. Er hatte große A-Angst davor, dass Dredge seine Schulden eintreiben würde, außerdem hatte er keine Arbeit mehr, und das Baby war unterwegs. Das können Sie doch verstehen, oder?«, sagte Decima mit flehendem Blick. »Er hat das Nef zu diesem Laden gebracht, Ramsay Silver, und die haben es genommen, wollten ihm a-aber erst Geld dafür geben, wenn sie einen Käufer gefunden hatten. Und zufällig war bei Ramsay Silver eine Stelle frei, und die hat Rupe angenommen, um überhaupt irgendetwas zu verdienen. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass er Dredge ausbezahlen kann, wenn das Schiff erst mal verkauft ist. Dann hätte er auch nicht mehr William Wright sein müssen und zu mir zurückkommen können! A-Aber dann hat ihn Dredge irgendwie gefunden und u-umgebracht!«

Noch nie zuvor war Strike von jemandem um den Beweis gebeten worden, dass ein Angehöriger nicht etwa noch lebte, sondern tot war. Offenbar war dies die extreme Manifestation eines ihm nur allzu vertrauten Phänomens: die Weigerung einer Frau, zu glauben, dass ihr Partner nicht der ist, für den sie ihn hält.

»Wann haben Sie zum letzten Mal etwas von Rupert gehört?«

»Am z-zweiundzwanzigsten Mai … Wir haben telefoniert. Es war das Wochenende, an dem er umgezogen ist, daher h-haben wir nicht lange miteinander gesprochen. Wir … wir …«

Einmal mehr fing sie an zu schluchzen. Strike trank seinen inzwischen kalten Kaffee.

»Wir haben uns gestritten«, sagte Decima schließlich. »Ich wollte, dass Rupe D-Daddy das Nef zurückgibt, aber er hat sich geweigert, und das war völlig untypisch für ihn, normalerweise war er ganz anders. Er hat nur gesagt, dass es ihm gehört und dass er es behalten würde! Deshalb« – ihre Stimme hob sich zu einem Heulen – »ist alles meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass er zu Ramsay Silver gegangen ist! Er hat gedacht, dass niemand auf seiner Seite ist, er war verzweifelt … und dann hat man ihn u-umgebracht! Er ging nicht mehr ans Telefon, und online war er auch nicht mehr aktiv. Ich war krank vor Sorge und bin zur Polizei gegangen, aber die hat sich wochenlang nicht gemeldet und mir schließlich erzählt, Rupe wäre in New York, was völlig lächerlich ist, weil das nicht sein kann, das weiß ich genau!«

»Warum glaubt die Polizei, dass er in New York ist?«

»Weil seine Tante das gesagt hat! Die behauptet, dass Rupe sie am fünfundzwanzigsten Mai angerufen und ihr erzählt hat, dass er einen Job dort hat, aber das ist lächerlich, er kennt doch niemanden in New York, was sollte er denn dort?«

»Wie heißt Ruperts Tante?«

»Anjelica Wallner. Eine grässliche Frau. Rupe hasst sie. Das ist ja das Lächerliche an der ganzen Geschichte – er würde Anjelica überhaupt nichts erzählen!«

»Haben Sie persönlich mit Mrs. Wallner gesprochen?«

»Ja, aber die hat nur ›Er ist in Amerika!‹ geschrien und mir gesagt, dass ich sie nicht länger b-belästigen soll. Rupe … er hat ihr nicht gesagt, dass wir zusammen sind … Sie kann meinen Vater aus irgendeinem Grund nicht ausstehen …«

»Und was ist mit Ruperts anderen Verwandten? Seinen Freunden?«

»Seit dem zweiundzwanzigsten Mai hat ihn niemand mehr gesehen. Sacha geht schon gar nicht mehr ans Telefon, wenn ich ihn anrufe. ›Wenn Anjelica sagt, dass er in New York ist, dann ist er auch in New York!‹, mehr hat er nicht dazu gesagt.

Niemand nimmt mich ernst! Ruperts Freund Albie glaubt, dass Rupe irgendwo hin ist, um ›in sich zu gehen‹, und jetzt nimmt selbst Albie meine Anrufe nicht mehr an! Sacha redet auch nicht mehr mit mir. Valentine war ständig so gemein zu mir, dass ich hierhergekommen bin, um das Baby in Ruhe zur Welt zu bringen …

Lion soll wissen, dass sein Daddy nur weggegangen ist, um alles in Ordnung zu bringen, und dass er uns niemals verlassen würde! Dafür will ich den Beweis, und dann kann Rupe ein ordentliches B-Begräbnis bekommen … damit wir wenigstens … ein G-Grab haben, das wir besuchen können. Ich kann so nicht weitermachen – Sie müssen beweisen, dass die Leiche im Tresorraum Rupe war!«, heulte Decima Mullins, mit Augen so rot und geschwollen wie die eines Ferkels und dem Kind ihres diebischen Freundes unter dem schmutzigen Poncho.

3

Zu plötzlich kam die Nachricht des Verlusts.

Matthew ArnoldMerope: A Tragedy

Dass Robin Ellacott Halsschmerzen und hohes Fieber hatte, war gelogen, tatsächlich lag sie in diesem Augenblick in einem Krankenhausbett und hing an einem Morphiumtropf. Doch sie war bestrebt, dass so wenige Personen wie möglich den Grund ihres Klinikaufenthalts erfuhren.

Am vorigen Abend hatte Robin bei der Beschattung einer Zielperson die Bahnhofshalle der Victoria Station durchquert, als sie plötzlich ein Schmerz durchfuhr, als hätte jemand ein rot glühendes Messer in die rechte Seite ihres Unterleibs gebohrt. Sie hatte weiche Knie bekommen und sich übergeben müssen. Zwei Damen mittleren Alters waren ihr zu Hilfe geeilt, hatten einen geplatzten Blinddarm vermutet und panisch einen Bahnhofsangestellten herbeigerufen. Bemerkenswert kurze Zeit später hatte man Robin auf einer Trage aus dem Bahnhof und in einen wartenden Krankenwagen gerollt. An die Gesichter der Sanitäter und weiteren sengenden Schmerz, an das Schaukeln der Trage auf dem Weg ins Krankenhaus, die eiskalte Ultraschallsonde und den unter einer Maske verborgenen Anästhesisten konnte sie sich nur undeutlich erinnern. Glasklar hingegen war die Erinnerung daran, dass man ihr beim Aufwachen gesagt hatte, sie habe soeben eine Eileiterschwangerschaft überlebt und dass der Eileiter geplatzt sei.

Sobald Robin an ihr Handy gekommen war, hatte sie ihren Freund Ryan Murphy vom CID angerufen, doch der war am anderen Ende der Stadt gewesen und hätte es vor Ende der Besuchszeit nicht zu ihr geschafft. Sie hatte dem entsetzten Murphy alles erzählt und ihn dann gebeten, Strike telefonisch mitzuteilen, dass sie wegen Fieber und Halsschmerzen nicht mit ihm nach Kent fahren könne. Außerdem hatte sie Murphy eingeschärft, dass ihre Eltern unter keinen Umständen erfahren durften, was geschehen war. Dass ihre Mutter sie umsorgte und – völlig ungerechtfertigterweise – ihre Arbeit für diesen Vorfall verantwortlich machte, war das Letzte, was Robin gerade gebrauchen konnte.

Der Schock über die schlagartige Einweisung ins Krankenhaus und der Grund dafür waren so groß, dass Robin sich auch vierundzwanzig Stunden später noch so fühlte, als wäre sie durch ein Portal in eine andere Realität getreten. In der vergangenen Nacht hatte die alte Frau im Nachbarbett sie durch ihr tiefes Stöhnen vom Schlafen abgehalten, sodass sie dankbar dafür war, dass man sie am nächsten Tag in ein soeben geräumtes Zimmer brachte – wenn sie auch nicht wusste, womit sie das verdient hatte. Eine der älteren Krankenpflegerinnen hatte wohl Mitleid mit ihr gehabt, weil niemand sie besuchen kam.

Den Großteil des folgenden Vormittags über versuchte sie, belämmert von Schlaflosigkeit und Morphium, den Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren und anhand des wahrscheinlichen Empfängnisdatums, das ihr der Chirurg mitgeteilt hatte, auszurechnen, wann das Verhütungsmittel versagt hatte. Ihr graute davor, mit Murphy darüber zu sprechen, wenn er nachmittags zu Besuch kommen würde. Doch in erster Linie machte sie sich bittere Vorwürfe, dass sie nicht besser auf ihren Körper geachtet und diese ihrer Meinung nach vermeidbare Katastrophe zugelassen hatte.

Während sie von ihrem Bett aus einen Starenschwarm beobachtete, der über den bleigrauen Himmel vor dem Fenster zog, klingelte ihr Handy. Sie sah aufs Display: ihre Mutter. Da sie keine Nerven für dieses Gespräch hatte, ließ sie das Telefon weiterklingeln. Linda legte in genau dem Augenblick auf, in dem sich die Tür zu Robins Krankenzimmer öffnete. Sie drehte sich um und blickte in das breite, liebenswürdige Gesicht ihres Chirurgen.

»Guten Tag«, sagte Dr. Butler lächelnd.

»Hallo«, sagte Robin.

»Wie geht’s uns denn heute?«, fragte er, nahm das Klemmbrett vom Fuß des Bettes und überflog das Krankenblatt.

»Gut«, sagte Robin. Butler zog einen Stuhl heran und setzte sich.

»Keine Schmerzen?«

»Nein«, sagte Robin.

»Sehr gut. Also … wussten Sie, dass Sie schwanger waren?«

»Nein«, sagte Robin. »Ich musste die Pille eine Zeit lang aussetzen, aber wir haben Kondome benutzt. Anscheinend ist eines geplatzt, ohne dass wir es bemerkt haben«, fügte sie hinzu, um nicht völlig unbedarft zu wirken.

»Das war wohl ein ziemlicher Schock für Sie«, sagte Butler.

»In der Tat, ja«, sagte Robin mit höflicher Untertreibung.

»Wie ich Ihnen schon gestern mitgeteilt habe, blieb uns keine andere Wahl, als den geplatzten Eileiter zu entfernen. Sie hatten Glück, dass Sie so schnell hierhergekommen sind. So etwas kann lebensbedrohlich sein. Allerdings muss ich Sie noch von einem weiteren Sachverhalt in Kenntnis setzen, von dem Sie wahrscheinlich ebenfalls nichts wussten«, sagte Dr. Butler. Er lächelte nicht mehr.

»Von welchem denn?«, fragte Robin.

»Auf dem entfernten Eileiter war eine erhebliche Menge an Narbengewebe, deshalb haben wir einen kurzen Blick auf den anderen geworfen. Der sieht genauso aus.«

»Oh«, sagte Robin.

»Wurde bei Ihnen irgendwann einmal eine Unterleibsentzündung diagnostiziert?«

»Nein.«

»Hatten Sie, soweit Sie wissen, jemals eine Chlamydiose?«

Das Grauen, das Robin bei dieser Frage beschlich, wurde durch das Morphium kaum gemildert. »Ja, mit neunzehn. Aber da habe ich Antibiotika bekommen.«

»Verstehe.« Butler nickte langsam. »Wie es aussieht, haben diese Antibiotika nicht gewirkt. Hatten Sie danach immer noch Symptome?«

»Eigentlich nicht«, sagte Robin. In den Monaten nach der Vergewaltigung, die ihrem Studium ein Ende gesetzt hatte, hatte sie natürlich Schmerzen gehabt, diese jedoch stets als psychosomatisch abgetan – nicht zuletzt, weil sie weitere Untersuchungen ihres Intimbereichs um jeden Preis hatte vermeiden wollen. »Nein, ich hatte gedacht, das wäre vorbeigegangen.«

»Es gibt eine große Bandbreite von Symptomen, die leicht übersehen werden können. Wissen Sie noch, wann Sie das nächste Antibiotikum danach erhalten haben?«

»Ich glaube … so etwa ein Jahr später.« Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. »Man hat es mir gegen eine Angina verschrieben.«

»Ja, das scheint dann auch gewirkt zu haben, da momentan keine Infektion vorliegt. Bedauerlicherweise ist der Schaden aber ziemlich groß. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie höchstwahrscheinlich nicht auf natürliche Weise empfangen können.«

Robin starrte ihn nur an, was in Butler wohl den Eindruck erweckte, sie habe ihn nicht richtig verstanden, und er setzte zu einer genaueren Erklärung an: »Der Embryo konnte den vernarbten Eileiter nicht durchwandern, deshalb hat er sich dort eingenistet, wodurch dieser geplatzt ist. Und auf der anderen Seite sieht es wie erwähnt nicht besser aus.«

»Aha«, sagte Robin.

»Sie sind wie alt?«, fragte er und warf einen Blick auf das Blatt.

»Zweiunddreißig«, sagte Robin.

»Ihre Eierstöcke sind völlig in Ordnung. Wenn Sie Kinder haben wollen, würde ich Ihnen allerdings empfehlen, Ihre Eizellen so früh wie möglich einfrieren zu lassen, da eine IVF bei Ihnen wohl am ehesten zum Erfolg führen wird.«

»Okay«, sagte Robin.

»Außerdem sollten Sie von jetzt an Ihre Empfängnisverhütung konsequenter betreiben. Wenn Sie erneut unbeabsichtigt schwanger werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich das auf der anderen Seite wiederholt.«

»Ich werde vorsichtig sein«, sagte Robin.

»Gut.«

Butler stand auf und befestigte das Klemmbrett wieder am Fuß des Bettes. »Wir werden Sie noch eine Nacht hierbehalten. Wenn sich Ihr Zustand nicht verschlechtert, dürfen Sie morgen nach Hause.«

»Toll«, sagte Robin. »Danke.«

Der Arzt ging.

Robin wandte sich wieder dem Fenster zu, doch die Stare waren längst weg und der zinnfarbene Himmel so leer wie ihr Verstand. Robin hätte unmöglich sagen können, was sie gerade empfand. Sie war wie betäubt.

Natürlich hätte sie sofort wieder mit der Pille anfangen müssen. Sie war gezwungen gewesen, sie abzusetzen, als sie vor nicht allzu langer Zeit vier Monate lang verdeckt bei einer Sekte ermittelt hatte, in der Verhütungsmittel verboten gewesen waren. Die Konsequenzen von Robins Aufenthalt bei der Universal Humanitarian Church hallten noch durch die Medien, und inzwischen hatten die Ermittler alle in nicht gekennzeichneten Gräbern verscharrten Leichen auf dem Grundstück der Sekte gefunden. Die Gründer der UHC, ein Ehepaar namens Wace, befanden sich ebenso wie die übrige Führungsriege der Organisation im Gefängnis, und man versuchte, die vielen von ihnen verschleppten Kinder aufzuspüren. Die prominenten Fürsprecher des Kults versuchten mit unterschiedlichem Erfolg, sich zu distanzieren: Ein bekannter Schriftsteller war untergetaucht, eine junge Schauspielerin hatte die Rolle in ihrem neuesten Film verloren, als herauskam, dass sie eine der »Seelenfrauen« des Sektenanführers gewesen war.

Der Beitrag, den die Detektei zum Sturz der UHC geleistet hatte, war von den Strafverfolgungsbehörden sowie der Detektei selbst viel kleiner dargestellt worden, als er tatsächlich gewesen war. Robin hatte bei der Polizei vollständig und detailliert zu allem ausgesagt, was sie auf der Chapman Farm erlebt hatte, und zu ihrer unendlichen Erleichterung hatte man nicht von ihr verlangt, vor Gericht zu erscheinen. Ermutigt davon, dass die Methoden der UHC – das Vorgaukeln übernatürlicher Phänomene, anstrengende Arbeitsdienste und Gehirnwäsche – ans Licht gekommen waren, hatten sich Hunderte ehemaliger Mitglieder gemeldet und meldeten sich immer noch, um ebenfalls auszusagen. Jahrzehntelang hatte die UHC ihre Kritiker mit Macht und Geld mundtot gemacht: Jetzt erschien alle paar Tage ein Fernseh- oder Online-Interview mit einem weiteren Opfer der Sekte. Schon zwei Monate nach der Stürmung der Chapman Farm waren die ersten Memoiren eines ehemaligen Mitglieds erschienen und hatten sofort die Bestsellerlisten gestürmt.

Für Robin hätte all dies Grund zu Genugtuung und Freude sein müssen, und sie empfand tatsächlich eine tiefe Erleichterung darüber, dass dieser sogenannten Kirche der Todesstoß versetzt worden war. Andererseits war die endlose Berichterstattung darüber traumatisierender als gedacht. Sie konnte gut darauf verzichten, an die Rückzugsräume erinnert zu werden, wo die Sektenmitglieder ihre spirituelle Reinheit durch ungeschützten Sex mit jedem, der danach verlangte, unter Beweis stellen mussten. Gerne hätte sie jegliche Erinnerung an den fünfeckigen Tempel, in dem man sie beinahe ertränkt hatte, aus dem Gedächtnis gelöscht und den die Chapman Farm umgebenden dunklen Wald, der ständig in den Zeitungen abgebildet wurde, nie wieder gesehen.

Aber selbstverständlich war es unmöglich, den Beitrag der Detektei zur Zerschlagung der Sekte restlos zu tilgen. Während auf der Chapman Farm genug schlimme Dinge vorgefallen waren, um die Journalisten auf Monate hin mit reißerischem Material zu versorgen, wusste außer den unmittelbar an der Ermittlung Beteiligten niemand, was Robin durchgemacht hatte. Ein übereifriger Reporter der Regenbogenpresse hatte sie einmal auf der Straße so sehr bedrängt, dass ihn Midge, eine Mitarbeiterin der Detektei, regelrecht hatte davonjagen müssen. »Verpiss dich, du Arschloch, sie hat dir Schwanzgesicht nichts zu sagen«, hatte ihr Rat an den jungen Mann gelautet.

Währenddessen hatte Robin durchgehend gearbeitet, fest entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das Ganze erschüttert hatte. Auf eigenen Wunsch hin hatte sie nur eine Woche freigenommen, um sich von den anstrengenden Monaten des Undercover-Einsatzes zu erholen. Insgeheim jedoch musste sie sich eingestehen, dass sie sich in einem äußerst prekären psychischen Zustand befand, weshalb sie vorsichtshalber auf zusätzliche Hormone verzichtet und die Pille vorerst in der Schublade gelassen hatte. Bevor sie sich jedoch ganz auf Kondome verließ, hatte sie sich (um so wenig wie möglich dem Zufall zu überlassen) über die Effektivität dieser Verhütungsmethode informiert: Bei ordnungsgemäßem Gebrauch betrug ihre Wirksamkeit achtundneunzig Prozent.

Bei ordnungsgemäßem Gebrauch.

Robins Handy klingelte erneut. Es war Strike. Sie warf einen Blick durch das Fenster in der Zimmertür, um sich zu vergewissern, dass kein weiteres Pflegepersonal im Begriff war, nach ihr zu sehen. Dann nahm sie den Anruf an, froh, über etwas anderes sprechen zu können als ihre Eileiter.

4

Ist ein Mann engagiert in seinen Taten und großmütig in seiner Meinung über seine Mitmenschen und betrachtet die Beweggründe ihrer Handlungen wohlwollend, so ist dies Einspruch genug gegen den Ausschluss aus der Bruderschaft der Freimaurer.

Albert PikeLiturgy of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry

»Hi«, sagte Strike. »Wie geht’s dem Hals? Kannst du reden? Wenn nicht, schreib ich dir später eine Mail.«

»Es geht schon«, sagte Robin. Da es im Krankenzimmer so warm war, lag eine leichte Heiserkeit in ihrer Stimme, was einen willkommenen Umstand zur Aufrechterhaltung ihrer Notlüge darstellte. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich nicht fahren konnte. Wo bist du gerade?«

»Ich stehe vor einem Pub namens The Fox«, sagte Strike und betrachtete den auf die Windschutzscheibe prasselnden Regen. »Gerade habe ich mich von Decima Mullins verabschiedet.«

»Und? Was für einen Eindruck hat sie gemacht?«

»Das lässt sich nicht mit einem Satz beantworten«, sagte Strike. »Aber ich würde gerne deine Meinung dazu hören.«

Er schilderte ihr die Unterhaltung mit Decima und gab ihre Theorie wieder, dass es sich bei dem im Tresorraum eines Silberhändlers in Holborn gefundenen Leichnam um ihren Freund handelte.

»Ach, Gott«, sagte Robin, nachdem Strike geendet hatte. »Die arme Frau. Also sollen wir Rupert Fleetwood für sie ausfindig machen?«

»Nein«, sagte Strike.

»Sondern?«

»Sie hat kein Interesse daran, dass er lebend gefunden wird, das hat sie deutlich zum Ausdruck gebracht. Jedes Mal, wenn ich auch nur angedeutet habe, dass er sich womöglich vom Acker gemacht hat, weil ihm seine Situation zu heikel wurde, hat sie wieder angefangen zu heulen. Eine Gateshead, wie sie im Buche steht. Sie will, dass die Leiche in ihrem Sinne identifiziert wird, sonst nichts.«

»Was war das für ein Mord?«, fragte Robin, die im Juni undercover bei der Sekte gewesen war und deshalb nichts davon mitbekommen hatte.

»Ein gewisser William Wright wurde bei Ramsay Silver als Verkäufer eingestellt und zwei Wochen später tot im Tresorraum des Geschäfts gefunden. Die Polizei glaubt, dass er nachts mit ein paar Komplizen aufgekreuzt ist, um den Laden auszuräumen. Dabei sind sie in Streit geraten, und er wurde getötet. Ich weiß noch, dass mir das irgendwie merkwürdig vorkam, als ich das damals gelesen habe …«

»Inwiefern merkwürdig?«, fragte Robin.

»Na ja, bei einem Einbruch geht es doch in erster Linie um Schnelligkeit, oder nicht? Wenn sie clever genug waren, um in den Tresorraum zu gelangen, sollten sie doch auch schlau genug sein, nicht während der Tat aufeinander loszugehen. Da in jener Nacht eine Menge wertvolles Silber gestohlen wurde, wird man sich schwertun, eine andere Erklärung dafür zu finden als einen Einbruch, der eskaliert ist und einen Toten gefordert hat. Bevor die Identität des Leichnams bekannt wurde, haben die Medien intensiv darüber berichtet, weil dieser schwer verstümmelt war – eben um eine Identifikation zu verhindern, hat die Polizei vermutet. Außerdem handelt der Laden mit Freimaurerkram und befindet sich direkt neben der Großloge von ganz England oder wie das heißt …«

»Da gab es sicher Verschwörungstheorien, oder?«

»Jede Menge, aber sobald die Presse erfahren hat, dass es kein freimaurerischer Ritualmord war, hat sie das Interesse verloren.«

»Und der Tote war definitiv William Wright?«

»Nun ja«, begann Strike zögerlich, »Mullins behauptet, dass die Leiche nie zweifelsfrei identifiziert wurde, und da könnte sie unter Umständen sogar recht haben. Ich habe nachgesehen, und in jedem Bericht, der den für die Ermittlungen zuständigen Beamten wörtlich zitiert, sagt er, dass er ›zu neunundneunzig Prozent‹ sicher ist, dass es sich um den vorbestraften Jason Knowles handelt, der sich unter jenem Namen eingeschlichen hat, bittet aber gleichzeitig um Hinweise aus der Bevölkerung. Bei einer kurzen Google-Suche konnte ich keine weiterführenden Meldungen mehr finden, jedenfalls kein ›DNA ist bestätigt‹, ›eindeutiger Beweis‹ oder so. Außerdem wurden weder die Mörder gefasst noch das Silber gefunden. Und Sir Daniel Gayle, den pensionierten Police Commissioner, den Decima zu kennen behauptet, gibt es wirklich.

Doch das alles heißt noch lange nicht, dass das im Tresorraum Fleetwood war. Sie hat sich um die Tatsache, dass er das alte Silberding verkaufen wollte, eine Geschichte konstruiert, aber falls die wahr sein sollte, müsste der Dealer, der Fleetwood töten wollte, wenn er die Schulden seines Mitbewohners nicht bezahlt, herausgefunden haben, dass Fleetwood sich als Wright ausgibt und im Laden dort arbeitet. Dann wäre er mitten in der Nacht mit ein paar Kumpels dort aufgekreuzt, hätte den Tresor geöffnet, Fleetwood – der sich praktischerweise um ein Uhr nachts allein dort aufgehalten hat – ermordet und verstümmelt, das Silber abtransportiert, den Tresoralarm wieder eingeschaltet, den Laden verlassen und abgeschlossen und sich mit einem großen Sack voller Freimaurerkerzenständer oder was auch immer aus dem Staub gemacht, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Und wenn er das alles geschafft hat, dann besitzt er übernatürliche Kräfte und braucht kein Geld aus irgendwelchen Drogendeals.«

Robins Lachen endete in einem leisen Schmerzenslaut, als sie einen heftigen Stich an der operierten Seite spürte.

»Alles klar?«, fragte Strike.

»Ja, nur mein wunder Hals.«

»Also wenn du mich fragst, hat diese Tante aus der Schweiz ein paar Beziehungen spielen lassen, damit er seiner viel zu alten Freundin entkommt, und es ist genauso, wie sie behauptet: Er ist in New York.«

»Was meinst du mit ›viel zu alt‹?«

»Decima ist achtunddreißig. Ich hab’s gerade gegoogelt.«

»Männer mit zwanzig Jahre jüngeren Frauen haben wir ja wohl auch schon oft genug beschattet, oder nicht?«, sagte Robin leicht unterkühlt.

Zu spät fiel Strike ein, dass er Robin gegenüber auf keinen Fall den Eindruck erwecken wollte, Probleme mit einem gewissen Altersunterschied in einer Beziehung zu haben.

»Ich meine nur … das ist keine Achtunddreißigjährige, in die sich ein durchschnittlicher Sechsundzwanzigjähriger verknallen würde.«

»Na ja, wenn er tatsächlich in New York ist, sollte das leicht nachzuprüfen sein.«

»Nur dass sie nicht will, dass wir das nachprüfen. Ehrlich, bevor sie akzeptieren muss, dass er sie verlassen hat, will sie lieber glauben, dass er tot ist. Sie hat das Baby ›Lion‹ genannt«, fügte Strike etwas zusammenhanglos hinzu.

»Lion wie Löwe?«, sagte Robin grinsend, da sie genau wusste, wie albern Strike solche Namen fand.

»Ja.«

»Viele Blaublüter geben ihren Kindern komische Namen«, sagte Robin.

»Das tun Spinner auch«, sagte Strike. »Jedenfalls wollte ich dich um deine Meinung bitten, weil ich es für unmoralisch halte, Geld von ihr anzunehmen.«

»Ja … aber es klingt so, als würde sie dann einfach jemand anderen engagieren.«

»Ganz zweifellos«, sagte Strike. »Wenn man keine Skrupel hat, ist so eine Klientin eine Goldgrube.«

In der darauffolgenden Gesprächspause starrte Robin an die Decke des Krankenzimmers, während Strike den Weg des ausgeatmeten Vape-Pen-Dampfs verfolgte, der an der von Regentropfen übersäten Windschutzscheibe entlangkroch.

»Ich werde mich bei meinen Polizeikontakten umhören. Mal sehen, wie sicher sie sich sind, dass der Tote Knowles ist. Sollten es irgendwann seit den letzten Presseberichten hundert Prozent geworden sein, teile ich Decima frei Haus mit, dass es nicht Fleetwood war. Vielleicht stellt sie sich ja dann der Realität.«

»Und wenn sie sich immer noch nur zu neunundneunzig Prozent sicher sind?«, fragte Robin und blickte auf ihr Handydisplay. Bald war Besuchszeit.

»Ich würde sagen, bevor wir sie hinhalten und endlos zur Kasse bitten, ermitteln wir, nur um ihren Fantasien ein Ende zu setzen.« Strike hatte sich per Google vergewissert, dass Decima auch war, wer sie zu sein behauptete. »Übrigens möchte ich im Sinne der maximalen Transparenz hinzufügen, dass sowohl Decima als auch Fleetwood Verbindungen zu bestimmten Personen haben, mit denen ich nie wieder auch nur ein Wort wechseln wollte.«

»Wer denn?«

»Valentine Longcaster und Sacha Legard.«

»Sacha Legard? Der Schauspieler?«, fragte Robin. »Warum d…? Oh.« Durch das Morphium dauerte es etwas länger, bis der Groschen fiel.

»Genau«, sagte Strike. »Sacha ist Rupert Fleetwoods Vetter, und Valentine, Decimas Bruder, war einer von Charlottes besten Freunden.«

Sofort dachten Strike und Robin an die letzte Gelegenheit, bei der Strikes verstorbene Ex-Verlobte Thema zwischen ihnen gewesen war: Vor über einem Monat hatte Strike Robin erzählt, dass Charlotte davon überzeugt gewesen war, er sei in seine Geschäftspartnerin verliebt. Trotz des Morphiums erfasste Robin eine merkwürdige Mischung aus Vorfreude und Panik.

»Strike, bitte entschuldige, aber ich muss auflegen«, sagte sie plötzlich.

Und das tat sie auch, ohne seine Reaktion abzuwarten.

5

Doch ach, mein Freund, in Trümmern liegt das Haus

Das niemand neu zu bau’n vermag …

A. E. HousmanXVIII, Last Poems

Robin hatte gerade ein paar Besucher vor der Scheibe in ihrer Tür vorbeigehen sehen, und tatsächlich, schon betrat ihr Freund – groß, gut aussehend, mit einer äußerst besorgten Miene, einem Strauß roter Rosen, mehreren Zeitschriften und einer großen Schachtel Maltesers in der Hand – das Zimmer.

»Oh, Robin«, flüsterte Murphy, als er den Tropf und ihr Krankenhaushemd sah.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Mir geht’s gut.«

Murphy legte die Mitbringsel ab und beugte sich vor, um sie behutsam zu umarmen.

»Mir geht’s gut«, wiederholte Robin, auch wenn ihr bereits eine so einfache Tätigkeit wie die Erwiderung der Umarmung Schmerzen bereitete.

Murphy zog einen Stuhl ans Bett. »Was hat der Arzt gesagt?«

Zu Robins Entsetzen hatte sie mit einem Mal einen Kloß im Hals. Seit sie im Krankenhaus war, hatte sie noch nicht einmal geweint und wollte auch jetzt nicht damit anfangen – doch wenn sie das, was ihr der Chirurg mitgeteilt hatte, laut aussprach, würde es Wirklichkeit werden. Dann konnte sie sich nicht länger einreden, dass diese merkwürdige Episode nur ein Albtraum gewesen war.

Es gelang ihr, Murphy eine Zusammenfassung dessen zu geben, was der Arzt gesagt hatte, ohne in Tränen auszubrechen. Sie schämte sich und fühlte sich schmutzig, als sie über die Infektion sprach, die so still und heimlich ihre Eileiter zerstört hatte, und hasste sich dafür.

Als sie schließlich fertig war, hatte er das Gesicht in den Händen vergraben.

»Scheiße«, murmelte er. »Das … anscheinend ist ein Kondom geplatzt.«

»Ja«, sagte Robin. »Oder es ist abgegangen oder so.«

Er blickte zu ihr auf.

»Und jetzt glaubst du, dass es an dem Abend passiert ist, an dem wir uns gestritten haben.«

»Es ist auf jeden Fall an diesem Abend passiert«, sagte Robin mit zugeschnürter Kehle. »Dem Datum nach kommt nur diese Nacht infrage.«

»Glaubst du immer noch, dass ich betrunken war?«, fragte er mit leiser Stimme.

»Aber nein, natürlich nicht«, sagte Robin schnell. »Es war ein Unfall, ganz bestimmt.«

An besagtem Abend war Murphy spät, gereizt und kratzbürstig bei ihr aufgetaucht. Er war mit einem grässlichen Fall betraut worden (in dem er immer noch ermittelte): Ein sechsjähriger Junge hatte sein Leben und sein neunjähriger Bruder das Augenlicht verloren, als sie in das Kreuzfeuer einer, wie man vermutete, Schießerei zwischen verfeindeten Gangs in East London geraten waren. Die Met hatte keinerlei Hinweise, denen sie nachgehen konnte, und die Presse hatte sich äußerst kritisch über die Art und Weise geäußert, in der die Ermittlungen geführt wurden.