Der treue Spion - Uta Seeburg - E-Book
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Der treue Spion E-Book

Uta Seeburg

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Beschreibung

Ein französischer Diplomat verschwindet 1896 spurlos aus dem Münchner Hotel Vier Jahreszeiten.Vermutlich hat er Informationen zu einer neuen Erfindung besessen, die es ermöglicht, telegrafische Falschmeldungen zu produzieren. In den unruhigen Zeiten, auf die Europa zusteuert, birgt diese Technik eine zerstörerische Macht. Die Ermittlungen führen Gryszinski auf eine verhängnisvolle Reise mit düsterem Ausgang.

Zwanzig Jahre später hält ein grausamer Krieg die Welt im Klammergriff. Gryszinskis Sohn Fritz ist mittlerweile erwachsen und wird als Meldegänger an der Front in Verdun eingesetzt. Unverhofft gerät er an neue Indizien zum Fall des verschwundenen Diplomaten.Fritz begibt sich auf eine geheime Mission durch Europa, in der Hoffnung, zu Ende zu führen, was sein Vater begonnen hat.

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Seitenzahl: 456

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Originalausgabe © 2023 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von wilhelm typo grafisch Coverabbildung von Kriengsuk Prasroetsung / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749905546www.harpercollins.de

Widmung

Für Dirk. Lass uns immer weiterreisen.

Motto

»Falsche Berichte haben schon Massen bewegt. Die Menschheitsgeschichte ist voll von Falschmeldungen in der ganzen Vielfalt ihrer Formen.«

(MARC BLOCH: FALSCHMELDUNGEN IM KRIEG, 1921)

Erster Teil: Der Anfang

1.

München, 1896

»Das ist sicherlich keine große Sache, Gryszinski.«

Im Laufe einer Erzählung fallen zuweilen Sätze, die schwerer wiegen als andere. Die in wenigen Worten verdichten, was geschah oder noch geschehen würde. Die die Summe der Ereignisse bilden. Oder, wie in diesem Fall, im Nachhinein unbarmherzig auf den Punkt bringen, mit welch kolossalem Irrtum diese Geschichte begann: Das ist sicherlich keine große Sache.

Dieser Satz, an den Gryszinski immer wieder mit bitteren Gefühlen zurückdenken sollte, fiel an einem der kleineren Bistrotische im Café Luitpold, untermalt vom Gluckern heißen Kaffees, der aus einer großen Nickelkanne eingeschenkt wurde, und dem klirrenden Kratzen ihrer Gabeln, mit welchen die letzten Krümelchen Prinzregententorte von den Tellern geklaubt wurden. Ausgesprochen wurde der unselige Satz vom Münchner Polizeidirektor Ludwig von Welser. Der lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück, seine in der Regel von zwei grimmigen Falten zerknitterte Stirn in ungewöhnlicher Sorglosigkeit geglättet, und ließ seine Blicke in dem großen Saal umherwandern. Es war ein später Nachmittag im Mai, und das gesamte Kaffeehaus mit seiner Flucht aus hohen Räumen voller Spiegel, Palmen, Kuppeln und Wandmalereien wurde von einem verheißungsvollen Wind erfüllt, der warm durch die weit geöffneten Türen und Fenster strömte. Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski saß Welser gegenüber, nicht minder entspannt und ganz erfüllt von all den hereinsickernden Frühlingsdüften und dem wuchtigen Gebäck in seinem Bauch. Der Polizeidirektor und sein nunmehr wichtigster Ermittler Gryszinski – Preuße, Jurist, Reserveoffizier und vor allen Dingen Spezialist für die noch junge Wissenschaft der Kriminalistik – pflegten seit einigen Monaten einen nahezu freundschaftlichen Umgang. Eine angenehme Folge dieser neuen Kollegialität war ihr wöchentlich in dem eleganten Kaffeehaus in der Brienner Straße abgehaltener jour fixe, der der Besprechung aktueller Fälle sowie der Einverleibung jener dem Prinzregenten verehrten Torte und des einen oder anderen Gläschens Cognac diente.

»Das ist sicherlich keine große Sache, Gryszinski«, erklärte Welser also, lehnte sich zurück, blickte umher und winkte schließlich eine der Servierdamen heran, die bereits mit einer zierlichen Karaffe, gut gefüllt mit ihrem bevorzugten digestif, bewaffnet war. Nachdem die Kellnerin ihnen eingeschenkt hatte, hielten sie ihre Gläser ins Licht. Sie waren aus Kristall gefertigt, das schwer in der Hand lag.

»Ich wiederhole also«, sagte Gryszinski und schnüffelte zufrieden an seinem Cognac. »Ein französischer Diplomat, persönlicher Gast des Prinzregenten selbst, ist letzte Nacht nicht in seine Suite im Vier Jahreszeiten zurückgekehrt. Und wurde auch heute noch nicht gesehen, zumindest nicht von jenen Herren der preußischen Gesandtschaft, mit denen er am frühen Nachmittag eigentlich verabredet gewesen wäre.«

»Korrekt.« Welser nickte und nahm einen Schluck. »Unser Franzose heißt Henri Fouqué. Gebürtiger Pariser. Wirkt aber schon seit einigen Jahren an der französischen Botschaft in Berlin, er arbeitet wohl direkt unter dem Botschafter selbst. Ein bedeutender Gast Münchens also. Allerdings auch ein Lebemann, so heißt es.«

Gryszinski lächelte. »Sprich, er hat möglicherweise die eine oder andere Lokalität aufgesucht und vielleicht ein paar neue Freundschaften geschlossen, die ihn von seinem Hotelzimmer fernhielten.«

Derlei Dinge waren in München nicht allzu schwierig, und wer einmal den strengen Sitten Preußens entkommen konnte, nutzte die sich bietenden Gelegenheiten sicherlich auch gern, wie Gryszinski aus eigener Erfahrung wusste. Auch wenn er zu dem Schlag Mann gehörte, der immer und ausschließlich nur mit einer einzigen Person das Bett teilte, und das war seine Gattin Sophie.

»Ja, das ist schließlich denkbar.« Welser lächelte ebenfalls. »Der Münchner Frühling … Jedenfalls soll da jetzt keine große Angelegenheit daraus werden. Fouqué wird vermutlich in den nächsten Stunden wiederauftauchen, um sich umzukleiden, denn nachher findet ein großer Empfang bei Lenbach statt, und Fouqué ist als Ehrengast geladen.«

»Natürlich, was sonst.«

Der große Malerfürst Franz von Lenbach ließ es sich selten nehmen, wichtige Personen in seine prunkvolle Villa am Lenbachplatz zu laden. Vor allem nicht, wenn sie auf Einladung Luitpolds in die Stadt kamen, der selbst ein enger Freund des Portraitmalers war.

»Man hat mich also lediglich gebeten, ein Auge auf diese kleine affaire zu haben«, erklärte Welser abschließend. »Nur um sicherzugehen, dass unser französischer Gast auch wirklich wohlauf ist. Ich habe daher dem Concierge des Hotels Anweisung gegeben, eine kurze Meldung per Telephon zu machen, sobald Fouqué wieder gesichtet wird. Er soll sich direkt mit Ihrem Anschluss verbinden lassen.«

»Gut.« Gryszinski nahm einen letzten Schluck aus seinem Glas und stellte es mit einem dumpfen Klopfen auf dem Tisch ab.

Welser tat es ihm nach und erhob sich. »Also dann. Erstatten Sie mir doch morgen früh kurz Bericht, ob sich alles geklärt hat. Ansonsten liegt ja nicht allzu viel an, ich entlasse Sie also gern in diesen schönen Frühlingsabend.«

Vor dem Ausgang des Kaffeehauses nickten sie einander herzlich zu, woraufhin Welser in seine wartende Droschke stieg. Gryszinski blieb einen Moment stehen und sah der Kutsche nach, wie sie im Durcheinander aus Pferden, Fuhrwerken, Trambahnen und Fußgängern verschwand. Über dem Lärm des Boulevards lag ein Licht, das die Szenerie in den träge dahinrollenden Schimmer von Quecksilber tauchte. Wie üblich vergaß er seine eigene Dienstdroschke und machte sich auf, um einen kleinen Spaziergang nach Hause zu unternehmen. Sein Kutscher Gustav Apfelböck quittierte diese Tatsache lediglich mit einem Grinsen und ließ die Pferde seinem Dienstherrn in gemächlichem Tempo folgen.

Das ist sicherlich keine große Sache, Gryszinski.

Eine knappe halbe Stunde später – der Major war ständig stehen geblieben, um einige kleine Wunder zu goutieren, wie die sich sonnenden Semmeln in der Auslage einer Bäckerei oder eine Krähe, die mit der Würde eines adeligen Monokelträgers auf einer Bank im Hofgarten Platz nahm – erreichte er die Liebigstraße im gutbürgerlichen Stadtteil Lehel. Die Gryszinskis lebten hier in einer weitläufigen Wohnung im ersten Stock eines mit Erkern und Stuck verzierten Mietshauses. Er drehte den Schlüssel und stand kurz darauf in ihrer eigenen Welt, deren Mischung aus ruhiger Intimität und der Geschäftigkeit ihrer Haushälterin Frau Brunner ihm tief vertraut war. Auch heute tönten das Klappern der Topfdeckel und das rasante Stakkato eines vermutlich köstliche Dinge schneidenden Messers durch den langen Flur. Gryszinski warf Schlüssel und Hut auf die kleine Ablage neben der Tür, dann ertönte bereits das fröhliche Kreischen, auf das er nur gewartet hatte.

»Papa!«, erklang eine quäkende Stimme, wobei die zweite Silbe stark betont wurde, wie in gebildeten Haushalten, in denen man auch mal auf Französisch parlierte, üblich.

Fritzi, mittlerweile zweijährig, stürmte vom Wohnzimmer aus auf den Korridor, dabei nur ganz kurz den Türrahmen touchierend, und rannte auf Gryszinski zu, mit der den ganzen Tag über aufgestauten Liebe, die kleine Kinder jenem Elternteil entgegenfeuern, der morgens das Haus verlässt und erst am Abend wiederkommt. Wobei, das war Gryszinski durchaus bewusst, der kleine Friedrich keine Spur der Scheu zeigte, mit der andere Kinder aus ihrem Bekanntenkreis ihren Vätern begegneten. Väter, die streng und humorlos ihre Söhne zu künftigen Untertanen des Kaisers drillten und nicht selten die Rute einsetzten. Gryszinski fehlte diese Härte, und so enttarnte Fritzis ungebremste Zärtlichkeit ihn als recht unkonventionelles Familienoberhaupt. Eine Tatsache, über die Gryszinski sich den Kopf zu zerbrechen schlichtweg keine Lust hatte.

»Papa!«, rief Fritzi erneut und ruderte mit den Armen, den kurzen Zusammenstoß mit dem Türrahmen ausgleichend. »Topfrunde! Los, komm!«

Gryszinski lachte und hob ihn auf seinen Arm. Dann machten sie sich auf den Weg, um das allabendliche Ritual von Vater und Sohn zu begehen. Dieses pflegte Fritzi, seitdem er die ersten Worte sprechen konnte, mit einer für einen Zweijährigen erstaunlichen Eloquenz einzufordern, welche sich nur mit einem vom Vater geerbten Hang zur Gefräßigkeit erklären ließ: Sie gingen in die Küche und machten die Runde zwischen Frau Brunners Töpfen. Sie inspizierten deren brodelnden Inhalt, sahen der Haushälterin beim Kneten, Entbeinen und Hacken über die Schulter und lugten zum Abschluss in den riesigen heißen Ofen, wobei Gryszinski sich jedes Mal unter großem Getue mit dicken Topflappen armierte.

»Wir müssen nur eben der Mama einen guten Abend wünschen«, erklärte Gryszinski seinem Sohn und blieb auf halbem Wege an der geöffneten Tür zum Salon stehen.

Sophie saß im Schein der elektrischen Stehleuchte auf dem ausladenden Diwan. Sie hatte ein farbenfrohes Tuch um ihre Schultern geschlungen, das sie seit einigen Monaten immer beim Schreiben trug. Das Sitzmöbel war bis zum letzten Fleck bedeckt mit den Druckfahnen ihres ersten Romans, der in Kürze endlich erscheinen sollte. Völlig versunken studierte sie den Text, einen spitzen Crayon gezückt, als würde sie sich bereithalten, um jeden unliebsamen Buchstaben sofort aufspießen zu können.

»Mienchen«, rief Gryszinski leise.

Sie blickte auf und lächelte warm. »Willi! Ich habe dich gar nicht gehört. Ich bin fast fertig. Macht ihr doch noch eure Topfrunde, dann können wir essen.«

»Sehr gut. Es riecht schon ganz vortrefflich.«

Sie lachte. »Ja, allerdings ist das meiste, was Frau Brunner in ihrer Zauberküche zusammenbraut, erst für morgen. Wir werden uns wohl mit einer Suppe und etwas kaltem Braten mit Apfelkren zufriedengeben müssen, da wir doch nachher noch erwartet werden.«

»Richtig.« Kalter Braten mit Frau Brunners speziellem Apfelkren war ja auch keine schlechte Aussicht. »Also bis gleich.«

Sophie nickte und vertiefte sich wieder in ihr Werk.

Die zwei männlichen Gryszinskis stromerten daraufhin in die Küche, die sie wie ein schwelendes Hexenlabor umfing. Die dunkle Meisterin der Töpfe brummte etwas, als sie den Raum betraten, sie war keine Frau vieler Worte. In unheimlicher Geräuschlosigkeit huschte sie zwischen Herd, Ofen und dem lang gezogenen Holztisch umher, auf dem lauter in Tücher eingeschlagene Teige und Quarkmassen auf ihre Behandlung warteten. Dann griff die Brunner einen frisch geschlachteten Fasan und begann damit, den noch warmen Körper von seinem prachtvollen Federkleid zu befreien. Gryszinski setzte sich auf seinen Stuhl, ein etwas wackliges Exemplar, das bei den Mehlsäcken stand, weil er dort am wenigsten im Weg war. Von dort aus sah er gebannt den sonst so plumpen Fingern zu, wie sie geschmeidig und gegen den Strich die Daunen ausrupften. Fritzi dagegen postierte sich direkt vor dem Tisch und fing mit steigender Begeisterung den feinen Flaum auf, der langsam durch die Luft taumelte.

Bis Anneliese, das Kindermädchen, plötzlich in der Tür stand. »Friedrich, Zeit fürs Bett!«, erklärte sie streng.

Schuldbewusst, weil er wieder einmal alle häuslichen Abläufe durcheinanderbrachte, nahm Gryszinski Fritzi bei der Hand und zog ihn langsam, aber doch bestimmt aus der Küche und geleitete ihn und Anneliese zum Salon, wo Fritzi den Gutenachtkuss der Eltern empfing. Anneliese nahm den Jungen mit und machte ihn für die Nacht fertig, dann rief sie nach Sophie, die noch einmal ins Kinderzimmer ging, um Fritzi zuzudecken. Währenddessen begab sich der Major in sein kleines Ankleidezimmer.

Und dann begann Gryszinskis wundersame Verwandlung.

Er fing mit der Krawatte an. Gryszinski löste deren engen Knoten und zog sie auf, während er erleichtert ausatmete, als hätte jemand die Schlinge um seinen Hals gelockert. Der Major trug im Dienst nie Uniform, sondern maßgeschneiderte Anzüge aus steifen, dunklen Stoffen, darunter ein stets perfekt gestärktes Hemd. Die Brunner verwendete dafür Kartoffelstärke und ein wenig weißes Wachs, eine Mischung, die dafür sorgte, dass seine Hemden wie Bretter im Schrank hingen. Gryszinski entledigte sich all der Kleider, die seinen Körper den Tag über aufrecht hielten wie eine ausgehärtete Hülle aus Gips. Dann schob er die Hohlräume seiner öffentlichen Person zur Seite und griff stattdessen ein weiches Hemd, zwar auch gewaschen und geplättet, aber verstohlen der Brunner’schen Stärkeprozedur entzogen. Es schmiegte sich weich um seine Arme. Jetzt stieg er in die Hosen eines anderen Anzugs, der weiter und lässiger geschnitten war als seine üblichen. Zuletzt band er sich locker eine Schleife um den Hals. Fertig war Gryszinski, der Teilzeit-Bohemien.

Denn was sie vor einem guten Jahr als eine vage Idee formuliert hatten, war Tatsache geworden. Seitdem Sophie ganz offiziell und ohne verschleierndes Pseudonym als Schriftstellerin auftrat, deren Erstling, ein Kriminalroman, bald gedruckt in jedem Buchgeschäft ausliegen würde, waren sie plötzlich Teil der international bekannten Künstlerszene Münchens geworden. Sie gingen in den einschlägigen Kaffeehäusern der Dichter und Maler ein und aus, diskutierten an den Stammtischen, besuchten die Atelierfeste Schwabings. Gryszinski begleitete seine Gattin immer treu. Ihn umhauchte eine gewisse Dramatik ob seiner Position als Mordermittler, außerdem kaufte er hin und wieder mal ein Bild. Das alles ließ ihn als liquiden Mäzen gelten, dessen Spleen eben ein dunkler Hang zu Leichen war.

Einmal in der Woche, so war es auch wieder für den folgenden Abend geplant, lud Sophie in ihre Wohnung zum poetischen Salon, an dem hauptsächlich junge Schriftsteller teilnahmen. Diese schlugen sich erst die Bäuche mit Frau Brunners Braten voll, bevor sie aus unveröffentlichten Texten lasen – nicht selten war das schwer verdauliche lyrische Kost. Im Hintergrund saßen dabei in der Regel ihre Hausfreunde Franziska von Wurmbrand sowie Otto von Grabow, die mittlerweile zum Inventar gehörten wie zwei Sessel, die stets in der dämmrigsten Ecke des Salons stehen und mit der ganzen freundlichen Milde ihrer plüschigen Gestalten die Geschicke ihrer Umgebung bezeugen. Wobei die Wurmbrand als steinreiche Wiener Gräfin vielleicht doch eher einer vor Gold strotzenden neobarocken Tischuhr glich, aus deren exaltiertem Porzellangehäuse mit schöner Regelmäßigkeit eine wunderliche Melodie herausbrach.

Gryszinskis Eltern hatten auf all diese Neuerungen hin ihre Drohungen wahr gemacht und den gesellschaftlichen Verkehr zu ihrem Sohn abgebrochen. Dies bedeutete praktisch, dass sie nicht mehr nach München zu Besuch kamen, was auch vorher schon selten vorgekommen war, und ihn auch nicht, sollte er nach Berlin reisen, dort empfangen würden. Ganz war der Faden aber dennoch nicht abgerissen, man schrieb einander weiterhin, wohl auch, weil die alten Gryszinskis die Verbindung zu ihrem Enkel nicht verlieren wollten. Es waren distanzierte Zeilen voller leerer Phrasen. Also eigentlich alles beim Alten.

Sophie und Wilhelm nahmen ihr kleines Abendbrot zu sich und plauderten dabei vertraut. Dann ließ Gryszinski Gustav ausrichten, dass er mit der Kutsche vorfahren solle. Bevor sie die Wohnung verließen, wandte Gryszinski sich an seine Haushälterin: »Frau Brunner, eine wichtige Sache noch: Ich erwarte einen Anruf aus dem Vier Jahreszeiten. Sollte dieser hier eingehen, notieren Sie die Nachricht und lassen Sie sich bitte mit dem Café Stefanie verbinden, die sollen mich dann an den Apparat holen.«

Die Brunner nickte majestätisch zum Zeichen ihres Einverständnisses. Sie waren bislang der einzige Hausstand in ihrer Straße, der über einen Anschluss verfügte, aber sie hatten sich nach anfänglichem Fremdeln an das Telephon gewöhnt. Es thronte neben der Garderobe im Flur auf einem eigenen kleinen Tischchen, daneben nur ein Schreibblock und ein Crayon, um etwaige Botschaften notieren zu können. Dort hüllte es sich in beredtes Schweigen, das jede Sekunde in ein brutales Schrillen umschlagen und jedweden beliebigen Fremden durch ein nebulöses Kabel direkt in ihre Wohnung pressen konnte. Gryszinski wurde immer noch von einem Schwindel des Unglaubens erfasst, wenn er sich klarmachte, dass er mit jemandem sprach, der doch im selben Moment ganz woanders war. Die Welt in ihrer unfassbaren Größe schrumpfte in diesem Augenblick so jäh und lautstark zusammen, als würde jemand zwei Becken scheppernd aufeinanderschlagen.

Doch jetzt schrillte es nicht. Es schrillte auch nicht, als die Gryszinskis ihre Kutsche bestiegen, die, kaum hatten sie den Verschlag geschlossen, mit einem Ruck losraste – es war mittlerweile stadtbekannt, dass Gryszinskis Kutscher die Pferde durch die Straßen trieb, als ob der Teufel hinter ihm her sei, weshalb viele Droschken von vornherein auswichen, wenn der königliche Sonderermittler herangerauscht kam. Nur Litfaßsäulen konnten leider nicht zur Seite treten, wie Gryszinski bereits schmerzlich hatte feststellen müssen.

Das Telephon im Korridor in der Liebigstraße blieb weiterhin stumm, während sie das Café Stefanie betraten und von dem vertrauten modrigen Geruch nach Kaffee und Zigaretten umfangen wurden. Frank Wedekind, dessen gelbe Pepitahose sich leuchtend von der braunen Holzvertäfelung abhob, winkte ihnen von dem runden Tischchen neben dem Kohleofen zu. Dieser blieb heute erstmalig kalt, dafür blies der Frühlingswind auch hier herein, dieses Mal vom Vorraum her, in dem die Maler Lovis Corinth und Anton Ažbe, Letzterer bereits deutlich derangiert eine Flasche Korn umklammernd, wie in einem hell erleuchteten Schaufenster saßen und Schach spielten. Auch als Kellner Arthur mit den Getränken an ihren Tisch trat, diese stumm abstellte und anschließend ungefragt die fälligen Pfennigsummen in seinem zerfledderten Büchlein anschrieb, ließ sich niemand mit Gryszinskis Anschluss verbinden. Und als sie schließlich einige Stunden später wieder in ihrer Wohnung eintrafen, erklärte eine müde Frau Brunner, die sich sofort auf den Weg in ihr Bett machte, dass keine einzige Person angerufen habe.

»Danke. Und gute Nacht.« Verwundert betrachtete Gryszinski den schweigenden Apparat. Er trat näher und ruckelte vorsichtig an dem mit dickem Garn umflochtenen Kabel, aber alles schien seine Richtigkeit zu haben. Nachdenklich öffnete er die Tür zum Kinderzimmer und trat leise ans Fritzis Bettchen. Das Kind schlief ruhig, im Arm seinen ramponierten Stoffelefanten. Die Nähte des Spielzeugs waren abgerieben, der gesamte zottelige Filz mit roten Flecken übersät, da Fritzi kürzlich versucht hatte, das Kuscheltier mit eingemachten Preiselbeeren zu füttern. Gerührt betrachtete Gryszinski seinen kleinen Sohn. Wie er da so lag, mit seinen Locken und dem friedlichen Kindergesicht, verbreitete sein gleichmäßiger Atem eine absolute Ruhe, als müsse die ganze Welt solch ein geborgener Ort wie sein Zuhause sein.

Vorsichtig schloss Gryszinski wieder die Tür. Das Telephon blickte ihm unverändert stumm entgegen. Entschlossen trat er zu ihm, hob den Hörer an und betätigte die kleine Kurbel. Als sich die Vermittlung meldete, ließ er sich mit der Rezeption des Vier Jahreszeiten verbinden. Eine Männerstimme, wohl von dem Klingeln aus einem leichten Dämmerzustand gerissen, meldete sich.

»Hier Major von Gryszinski, Königlich Bayerische Polizeidirektion. Sie hatten Weisung, mich zu unterrichten, sobald ein bestimmter Gast eintreffen würde.«

»Ja, Herr Major. Monsieur Fouqué, ich weiß Bescheid.«

»Nun, und?«

»Nein, Major.«

»Wie meinen?«, gab Gryszinski etwas ungeduldig zurück.

»Ich meine, nein, bisher ist Monsieur Fouqué nicht wieder hier erschienen. Sein Zimmerschlüssel hängt am Brett, seine Post liegt unangetastet in seinem Fach. Niemand hat ihn gesehen.«

»So. Also gut.« Gryszinski zog seine Taschenuhr, es war bereits nach Mitternacht. »Hören Sie, ich rufe morgen früh wieder an. Dann sehen wir weiter. Gute Nacht.«

Damit legte er auf. Er war noch nicht beunruhigt, eher verwundert. Dann schüttelte er den Kopf. Wo auch immer dieser Fouqué war, er würde schon wiederauftauchen. So dachte er.

2.

Verdun, 1916

Wieder blickt er nach oben. Der Fesselballon hängt immer noch im bleigrauen Himmel. Er hat die Form einer Wurst, mit vier geschwungenen Flossen an einem Ende: ein französisches Feldluftschiff. Fritz von Gryszinski erinnern diese Ballons an Kalmare, die schlafend im Ozean treiben, unter sich den zerklüfteten Meeresboden, voller langer Bodenspalten und Trichter, in denen er und seine Kameraden hocken und auf ihre Chance warten herauszukommen. Doch die schlafenden Kalmare sind wachsam. Unter ihren plumpen Körpern baumelt ein kleiner Korb, und in dem sitzt ein Mann mit einer Kamera und einem Telephon. Er photographiert jeden Meter der weiten Ebene, die sich unter ihm auftut. Und sobald er eine Bewegung sieht, greift er zum Telephon, dessen Kabel wie eine Angelschnur aus seinem Korb nach unten hängt. Ein verlorenes Summen am anderen Ende, irgendwo in einem stillen Schützengraben. Gemurmelte Sätze, ein Seufzer aus einer der Erdspalten. Und dann bricht ein Krach los, wie ihn Fritz sich niemals zuvor hat vorstellen können. Der Beschuss, das Trommelfeuer. Erst vor einigen Wochen hat die deutsche Artillerie den Feind hundert Stunden lang ohne Pause unter Feuer genommen, mit der monotonen Effizienz eines Fließbands. Ein Prasseln auf einer stählernen Pauke, das sich schließlich zu einem einzigen Ton verdichtet, der so laut ist, dass es einen schüttelt und an einem zerrt, bis man nichts mehr weiß und nichts mehr ist.

Fritz ist froh, dass er nicht tagelang im Graben sitzen muss, auch wenn seine Aufgabe oftmals noch gefährlicher ist. Dafür bleibt er in Bewegung. Er ist Meldegänger. Ein menschlicher Ersatz für das Telephon, das für ihn bisher nur der schwarze Apparat mit der lustigen Kurbel war, der im Flur seiner Eltern steht und mit einem fordernden Klingeln den Vater von der Abendtafel wegholt. Erst spät hat er begriffen, dass dieses spezielle Telephon in seinem Zuhause eigentlich nur dann läutet, wenn irgendwo in München jemand außerhalb der Bureauzeiten ermordet wurde. In den Schützengräben hängen weitaus tödlichere Feldtelephone an den Leitungen, als wären sie bereit zur Verabreichung einer Infusion. Doch die Kabel sind nur oberflächlich verlegt, hastig aufgehängt oder irgendwie eingebuddelt und werden ständig zerschossen. In einem solchen Fall müssen Meldegänger die Nachrichten zwischen den einzelnen Frontabschnitten verbreiten. Die meisten arbeiten sich schnell zu Fuß durch das Geäst der Gräben. Doch manchmal ist jegliche Kommunikation gestört, dann müssen die Gräben verlassen werden, um eine Botschaft in die Außenwelt zu bringen. Das ist Fritzens Spezialität. Denn Friedrich von Gryszinski ist schnell, sagenhaft schnell. Sobald er auf seinem Fahrrad sitzt.

Wieder sieht er nach oben zu dem aufmerksamen Kalmar. Unmöglich zu wissen, worauf sein aufmerksames Auge sich jetzt richtet. Das Gelände liegt nur unter leichtem Beschuss, kaum einer lässt sich blicken, wie die Krebse liegen alle unterm Sand. Es ist ein kühler Frühlingsabend, die leichte Decke einer blauen Dämmerung breitet sich allmählich über das zerfurchte Land. Bald werden die Raketen aufsteigen, um das Schlachtfeld zu erhellen. Die Leuchtkugeln der Franzosen hängen an seidenen Fallschirmen und taumeln sacht zu Boden, fluoreszierende Quallen im schwarzen Wasser. Fritz streicht über seine Meldetasche, prüft noch einmal deren Inhalt. Karten der Umgebung, ein Kompass, ein Feldstecher. Eine Taschenlampe, bei deren Gebrauch allerdings Vorsicht geboten ist, zu schnell wird der Feind auf ein kleines Licht in der Dunkelheit aufmerksam. Die Tasche lässt ihn an den Tatortkoffer des Vaters denken, sein Markenzeichen bei der Münchner Polizeidirektion. Die Dinge, die Fritz bei sich trägt, finden sich auch in dem väterlichen Koffer. Dort gibt es natürlich noch viel mehr: Pinzetten, Tütchen für Indizien und allerlei geheimnisvolle Pastillen, Tinkturen und Pülverchen. Einen Blick in die Vergangenheit tut sein Vater damit, in die dunkle Mitte eines Mordes, einen Abgrund, in den er sich mithilfe der Spuren fallen lässt. Die Dinge in Fritzens Tasche dagegen, die haben nur mit der Zukunft zu tun, denn sie sollen ihm beim Überleben helfen.

Unwillkürlich muss Fritz grinsen, als er an das Röhrchen mit dem Rußpulver denkt, das man benutzt, um Fingerabdrücke zu nehmen. Als Schuljunge hatte ihm einmal einer das Pausenbrot geklaut, da ist Fritz mit dem Pulver, einem weichen Pinsel und sogar einem amtlichen daktyloskopischen Formular aus dem Tatortkoffer in die Schule marschiert, um eine forensische Untersuchung des Vorfalls vorzunehmen. Sehr wütend ist sein sonst so gutmütiger Vater geworden, als er das Fehlen der Ausrüstung bemerkt hat. Doch er wurde etwas milder gestimmt, als Fritz erklärte, dass es sich bei dem entwendeten Objekt um eine von Frau Brunners speziellen Semmeln gehandelt hatte, für die sie die beiden Hälften des Gebäcks in Schmalz röstet und das Knochenmark eines geschmorten Schweins in die Einkerbungen des knusprigen Teigs gibt. Sein Magen zieht sich zusammen. Seit einiger Zeit sitzt er in einem Trichter fest, und letztendlich ist es der Hunger, der ihm den Mut eingibt, es nun endlich zu wagen, egal, wohin das Auge des Kalmars gerade blickt.

Fritz greift sein Fahrrad, ein Militärrad des Modells Diana 30. Kurz hinter ihm ist ein längerer deutscher Laufgraben, da muss er rein und ein Stück hindurch, dann wieder hoch auf freies Land, so schnell aus der Schusslinie raus wie möglich. Die Nachricht soll er einem Stabschef überbringen, der sich in einem Lager wenige Kilometer hinter der Front befindet.

Er holt tief Luft, wuchtet sein Rad über den Rand des Trichters, klettert hinterher. In diesem Teil des Geländes sollte man besser nur am Boden kriechen, aber Fritz kann sein Fahrrad nicht aufgeben, drum springt er auf den Sattel – mit einer so oft geübten fließenden Bewegung, dass sein ganzer Körper manchmal im Schlaf zuckt, wenn er sie in seinen Träumen vollführt – und rast los, kracht irgendwie mit dem Rad unter sich in einen Graben, wirft sich zu Boden. Ein paar Geschosse pfeifen über den Graben hinweg, er merkt es kaum.

»Da biste ja«, sagt ein Kamerad freundlich und löffelt sein Gulasch aus einer Blechschüssel. »Dachten schon, du seist verloren gegangen.«

Der Rest seiner Fahrt besteht nur noch aus der ewig kreisenden Bewegung seiner Beine und einem wirren Muster aus Erinnerungen, das ungefiltert durch seinen Kopf rauscht. Hauptsächlich Szenen aus seiner Kindheit. Fritz lässt sie zu, lädt sie sogar ein. Die unwiederbringlichen Schnipsel helfen ihm, bei sich selbst zu bleiben. Der Vater, der seine Hand nimmt und mit ihm in die Küche läuft. Das väterliche Gesicht verschwindet hinter eine Dampfwolke, als er den Deckel über einem gewaltigen Topf anhebt. Die Mutter, wie sie auf dem Diwan sitzt und stirnrunzelnd in einem Buch liest. Das Stehpult in der Küche, an dem sie schreibt, ihr buntes Tuch um die Schultern geschlungen. Fritz und sein Schulfreund Max knien mit Lupen auf dem Boden und suchen die dicken Teppiche im Salon nach Spuren ab. Die Brunner, wie sie heiße Buchteln aus dem Ofen holt. Er und Max werfen Steine in die Isar, die übervoll vom geschmolzenen Schnee in wilden Strömen unter den Brücken hindurchfließt. Die Spaziergänge mit seinem Vater über den Victualienmarkt, beide mit einer Bratensemmel in der Hand. Die Lesungen gesichtsloser Lyriker in ihrem Salon; er sieht nur ihre nervös wippenden Beine in knittrigen Hosen, weil er unter dem Tischchen im Erker sitzt. Der vertrocknete Erntekranz im Atelier von Onkel Lovis, der diesen an seine Heimat erinnert. Der Stoffelefant auf seinem Kinderbett. Gläser mit eingemachten Beeren auf dem Fensterbrett; konservierte süße Erinnerungen.

Er überbringt seine Nachricht und kehrt dann zu seiner Kompanie zurück, die schon in den Baracken ist. Es herrscht eine milde alltägliche Stimmung, man muss erst in zwölf Tagen wieder in den Graben, viele schlafen schon auf ihren Pritschen. Fritz setzt sich still auf sein Lager. Er hat Post bekommen, zwei Briefe und ein kleines Paket. In dem Päckchen findet er, dick eingepackt in ein paar selbst gestrickten Socken, ein Weckglas, das zu seiner unaussprechlichen Freude mit eingekochten Bratäpfeln gefüllt ist. Er lächelt. Bei der Brunner hat er einen noch größeren Stein im Brett als sein Vater. Der eine Brief stammt von seiner Mutter, er enthält die Abschrift einer italienischen Erzählung für Kinder, die eine ihrer Dichterfreundinnen kürzlich grob ins Deutsche übertragen hat und von der sie glaubt, dass sie ihm gefallen würde, weil sie wunderlich und phantastisch sei. Er faltet die Geschichte zusammen und steckt sie ein, um sie morgen bei Tageslicht zu lesen.

Den anderen Brief hat sein Vater ihm geschickt. Es sind ein paar recht unpersönliche Zeilen, die dort in der etwas fahrigen Handschrift seines Vaters niedergeschrieben sind. Seine Mutter und er hofften, dass Friedrich wohlauf sei und sich weiterhin tapfer für das Wohl seines Vaterlands einsetzen würde. München im Frühling sei schön wie immer, Gott behüte dich, herzliche Grüße aus der Liebigstraße. Fritz dreht das Schreiben hin und her. Zwischen den Zeilen klaffen große Abstände. Jetzt muss er sich ein lautes Lachen verkneifen. Das kann doch nicht sein? Leise tastet er nach seiner Meldetasche, in der er auch eine kleine Schachtel mit Streichhölzern aufbewahrt. Er entzündet eines der Hölzchen und hält es vorsichtig unter den Brief. Sofort erscheint, wie von Geisterhand, ein Schriftzug auf dem frei gelassenen Papier. In Fritz steigt Zärtlichkeit auf. Sein Papa hat ihm doch tatsächlich einige Zeilen mit Geheimtinte geschrieben, vermutlich hat er Zitronensaft verwendet, wie er es ihm gezeigt hat, als er ein Junge war.

Fritzi, wir sind in Gedanken bei dir, steht es dort in der zauberartig hervortretenden Schrift, als er sein Streichholz langsam unter dem Brief kreisen lässt. Versprich uns, dass du keine unnötigen Risiken eingehst! Und jetzt noch ein kleines Rätsel für dich:HUXDQ. Dein Papa.

3.

München, 1896

Am nächsten Morgen weckte Gryszinski ein Duft nach frisch aufgebrühtem Mokka und heißem Gebäck, vermischt mit diesem lockenden Frühlingswind, der durch das halb geöffnete Fenster drang und die Vorhänge blähte. Er hielt noch ein wenig die Augen geschlossen und atmete tief ein. Dann drehte er sich auf die andere Seite und streckte den Arm nach Sophie aus, doch seine Hand ertastete nicht den dünnen Stoff ihres Nachthemds und das Gewusel ihrer offenen Locken, sondern eine deutlich kleinere Person, die da bereits eingekuschelt lag, wo er sich gerade hatte hinwälzen wollen. Er blinzelte erstaunt, um dann direkt in die weit aufgerissenen Augen seines Sohnes zu blicken, der ihn erwartungsvoll anstarrte. Fritzis Gesicht befand sich unmittelbar vor seinem, offenbar hatte der Junge schon länger geduldig darauf gewartet, dass sein Vater endlich aufwachen würde.

»Papa! Topfrunde!«, flüsterte das Kind, griff nach seinem Ohr und drückte und zog interessiert daran herum.

»Fritzi.« Gryszinski rieb sich übers Gesicht. »Es ist früh am Morgen. Die Topfrunde begehen wir nur abends.«

Fritzis Blick verfinsterte sich in bodenloser Enttäuschung. »Topfrunde, jetzt! Mit dir!«, erklärte er im diktatorischen Tonfall.

Jetzt ertönte ein leises Lachen. Sophie war ebenfalls aufgewacht, ihr zerzauster Kopf tauchte hinter dem von Fritzi auf. In diesem Augenblick sahen Mutter und Sohn sich ähnlich wie noch nie, registrierte Gryszinski. »Guten Morgen«, sagte sie gähnend und zeigte dann entschuldigend auf das Kind. »Anneliese konnte ihn letzte Nacht gar nicht beruhigen, er hatte einen Albtraum. Sie hat mich geholt, und dann habe ich ihn kurzerhand mit ins Bett genommen. Du hast so fest geschlafen, dass du es gar nicht bemerkt hast.«

»Verstehe.« Gryszinski sah Fritzi an, der ihn immer noch gespannt beobachtete. Er musste lächeln. »Nun gut. Man kann ja eigentlich auch morgens eine kleine Topfrunde machen. Komm mal mit.«

Gryszinski angelte nach seinem Morgenmantel. Fritzi kletterte derweil strahlend aus dem Bett und griff nach seiner Hand, woraufhin die beiden einträchtig durch den langen Flur zur Küche spazierten. In seinem roten Morgenmantel mit den orientalischen Ornamenten, wie ihn der Major nach der aktuellen Mode trug, wirkte Gryszinski auf Fritzi mehr denn je wie ein Zauberer aus einem der arabischen Märchen, die seine Mutter ihm manchmal vorlas – typisch, sie wollte stets etwas unkonventioneller als andere sein, auch in der Wahl der Lektüre ihres Sohnes. In Fritzis kindlicher Wahrnehmung verwandelte sich der bayerische Haushalt in eine exotische Szenerie. Frau Brunner polierte die Zauberlampen, die auf dem Herd dampften, die Küche wurde ein Laden voller fremder Gewürze, und sein Vater in seinem roten Magierumhang sprang eben in Pantoffeln vom fliegenden Teppich, um mit den Topflappen, die wie die Flossen einer Kreatur der sieben Meere aussahen, den Ofen zu öffnen. Ein heißer Schlund gähnte ihnen entgegen, die Räuberhöhle, in der sich ein Schatz aus, nun, frischen Semmeln ihren staunenden Blicken darbot.

Der Major setzte sich auf seinen Stuhl bei den Mehlsäcken und nippte an dem heißen Mokka, den die Brunner ihm reichte. Am liebsten hätte er es sich hier mit den Morgenzeitungen, die ihnen täglich geliefert wurden, bequem gemacht, aber nun fiel Gryszinski wieder ein, dass er sich nach Fouqués Verbleib erkundigen musste. Wieder ging er also nun zum Telephon und ließ sich mit dem Vier Jahreszeiten verbinden. Ein Concierge mit einer deutlich raueren Stimme als der vom Vorabend nahm das Gespräch an.

»Monsieur Fouqué ist immer noch nicht hier erschienen, es ist ein Rätsel«, erklärte die Stimme, deren Klangfarbe auf eine gesteigerte Vorliebe für Tabak hinwies. Gryszinski stellte sich einen Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart und einem spanischen Zigarillo zwischen den Lippen vor.

»In der Tat.« Gryszinski überlegte kurz. »Ich werde wohl heute im Laufe des Vormittags im Hotel vorbeischauen und einmal Fouqués Suite besichtigen.« Vorher würde er noch den Polizeidirektor unterrichten müssen.

»Wir stehen zu Ihrer Verfügung, Herr Major.«

»Schön. Ach, eins noch«, fiel Gryszinski ein. »Wurde das Zimmer eigentlich seit seinem Verschwinden hergerichtet?«

»Natürlich.« Die brüchige Stimme klang gekränkt in ihrer Berufsehre, was einen recht dissonanten Effekt hatte. »Sobald ein Gast sein Zimmer verlässt, wird immer sofort aufgeräumt und sauber gemacht. Wir konnten ja nicht ahnen, dass Monsieur Fouqué nicht zurückkommen und die Polizei ein Interesse an der Suite haben würde.«

»Schon gut, schon gut, es war nur eine Frage. Bis später also.«

»Auf Wiederschauen, Herr Major.«

Gryszinski hatte telephonisch angekündigt, dass er in Welsers Bureau vorsprechen würde. Dieses befand sich in der weitläufigen Zentrale der Polizeidirektion, schräg gegenüber dem Dienstgebäude in der Schrammerstraße gelegen, in dem sein eigenes Bureau war und das eine schmerzhaft lockende Aussicht auf einen Delikatessenladen namens Dallmayr bot.

Als Gryszinski bei Welser eintraf, musste er nun überrascht feststellen, dass er nicht nur vom Polizeidirektor selbst, sondern noch von drei weiteren Herren erwartet wurde. Sie saßen wie ein finsteres Tribunal in der Sitzecke aus reichlich verschnörkelten Sesseln, die sich unter ein hohes Podest mit einem wuchtigen Sekretär duckten, der Gryszinski immer an eine Dampfmaschine erinnerte. Einen der anwesenden missmutigen gentilshommes kannte er persönlich, es war Anton Graf von Monts, der preußische Gesandte in München. Gryszinski hatte im letzten Jahr inoffiziell für ihn ermittelt und erfahren müssen, wie ausgesucht höflich und gleichzeitig unerbittlich der Berliner Diplomat sein konnte. Neben Monts saß ein weiterer Herr von traditionsreicher Herkunft, ein Spross der Familie Dichtl – ein gemütlicher bayerischer Graf, der zu Luitpolds engerem Kreis gehörte und wohl hier war, um dem Prinzregenten danach direkt Bericht zu erstatten. Gryszinski schluckte. Offenbar wuchs sich die kleine affaire um den verschwundenen Franzosen zu einem diplomatischen Dilemma aus. Den dritten Herrn hatte Gryszinski noch nie gesehen, aber er war ganz offensichtlich preußischer Militär, trug er doch die Uniform der Alexandriner, eines der glänzendsten Regimenter Preußens – einer seiner eigenen Jugendfreunde diente ebenfalls bei dem stolzen Gardekorps. Der blaue Waffenrock mit dem ponceauroten Kragen und den weißen Schulterklappen, auf die eine rote Zarenkrone nebst einem verschlungenen A und der Zahl 1 gestickt war, stach unübersehbar hervor. Genauso wie die leuchtend roten Haare des Offiziers, die dieser raspelkurz trug, vermutlich, um die auffällige Farbe so weit wie möglich zu kaschieren, was allerdings in keinster Weise gelungen war.

»Major Georg von Bocksnick«, stellte Welser eben den Rothaarigen vor, dessen wenig ansprechendes Gesicht zudem noch mit Sommersprossen übersät war, deren zierliche Verspieltheit überhaupt nicht zu dem arroganten Gesichtsausdruck und der betont maskulinen Körperhaltung Bocksnicks passte. »Der Major wurde eigens aus Berlin entsandt, um Monsieur Fouqué zu begleiten.« Da die vier Sessel der Sitzecke bereits besetzt waren, hatte man einen unbequemen Stuhl aus einem der Verhörräume dazugestellt, auf den Welser nun einladend wies. »Nehmen Sie doch Platz, Gryszinski.«

Er setzte sich in dem unangenehmen Bewusstsein, dass alle ihn anstarrten. Als hätte er persönlich den Franzosen verschwinden lassen.

Graf Monts verlor, typisch für ihn, keine Zeit. »Nun, Major, was konnten Sie in Erfahrung bringen?«

»Noch nicht viel. Wie gestern besprochen …«, Gryszinski nickte Welser zu, »… hatte das Vier Jahreszeiten Order, sich mit mir in Verbindung zu setzen, sollte Monsieur Fouqué wieder dort eintreffen. Ich habe, da sich niemand meldete, dann persönlich dort nachgefragt, gestern Abend und auch heute Morgen. Doch er bleibt verschwunden.« Er holte kurz Luft. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er noch mehr hätte tun müssen, dabei hielt er sich an das gewöhnliche Procedere. »Ich würde nun im nächsten Schritt im Vier Jahreszeiten vorstellig werden und die Suite Fouqués durchsuchen. Möglicherweise finden sich ja Spuren, die darauf schließen lassen, warum er fort ist und wohin er gegangen sein könnte.«

Ein seltsamer Laut ertönte. Irritiert sah Gryszinski sich um und begriff im selben Moment, dass es sich bei dem Geräusch um ein Schnauben handelte, das der Nase Bocksnicks entwich. Es drückte gleichzeitig Missbilligung und Hochmut aus, obwohl es ein ziemlich uneleganter, deplatzierter Körperton war.

Der bayerische Graf bedachte Bocksnick mit einem tadelnden Blick. Vermutlich waren es ihm eh viel zu viele Preußen auf diesem engen Raum. »Verehrter Major«, wandte er sich nun jovial an Gryszinski, wobei er seinen recht fülligen Körper umständlich in seinem Sessel neu austarierte, um ihn direkt ansehen zu können. »Ich bin mir sicher, dass Sie als brillanter Kriminalist da schnell Licht ins Dunkel bringen werden.«

Wieder dieses Schnauben. Dichtl ignorierte es, aber die nasale Rüge stand zwischen ihnen allen wie ein unangenehmer Geruch.

»Das Allerwichtigste bei dieser ganzen Geschichte«, fuhr der bayerische Graf fort, »ist Ihre unbedingte Diskretion. Wir wissen ja nicht, wohin unser Gast entschwunden ist. Es ist also von überragender Wichtigkeit, dass so wenig Personen wie möglich mitbekommen, dass wir nach ihm suchen.«

»Ich stimme Ihnen darin zu«, meldete sich nun wieder Monts zu Wort. »Allerdings muss ich sagen, dass die Tatsache, dass man von vornherein das Hotelpersonal instruiert hat, nach Fouqué Ausschau zu halten, von einer gewissen Ungeschicklichkeit zeugt. Damit wird die Sache doch sofort Stadtgespräch werden.«

Welsers Stirnfalte vertiefte sich auf diesen offenen Angriff hin bedenklich. »Auf die Diskretion der Concierges des Vier Jahreszeiten – immerhin eines der besten Häuser unserer Stadt – kann man sich bedingungslos verlassen«, knurrte er.

»Und ein paar Scheine zur Belohnung, gell, die können ja auch nicht schaden«, erklärte Dichtl pragmatisch.

Die Münder der Preußen verzogen sich sofort spöttisch ob dieses Zeugnisses bayerischer Gschaftlhuber-Mentalität. Nur Gryszinski enthielt sich und nickte lieber Welser zu. Der nahm die kleine Geste als Zeichen und erklärte die Unterredung für beendet. Alle erhoben sich, es folgte eine reservierte Verabschiedung.

»Auf ein Wort noch, Gryszinski«, bat Welser. Als sie allein waren, blickte der Polizeidirektor seinen Ermittler fest an. »Ich weiß, ich sagte, das Ganze ist sicherlich keine große Sache. Sollte Fouqué aber tatsächlich verschwunden sein, sollte ihm etwas zugestoßen sein … nun, das wäre wirklich sehr unangenehm, wie Ihnen die angespannte Runde eben ja bereits deutlich vor Augen geführt hat.«

»Ja, das ist nachvollziehbar. Schließlich ist Monsieur Fouqué in offizieller Mission hier in München.«

»So ist es. Verstehen Sie, ein wirklicher, nun, Vorfall um Fouqués Person würde jeden der soeben Anwesenden inkommodieren: Graf Monts, der täglich mit den Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich jongliert, müsste eine erneute politische Krise fürchten. Der Prinzregent, auf dessen Einladung Fouqué in München weilt, kann sich wiederum keine schlechte Stimmung zwischen Bayern und Preußen leisten. Dieser Bocksnick, nun, der war zur Begleitung des Franzosen hier, und nun ist genau jener Herr verschwunden, eine ziemliche Blamage. Und nicht zuletzt wird man mir, Gryszinski, von allen Seiten her Druck machen, wenn wir diesen Fouqué nicht ganz schnell wieder herbeizaubern. Heikel, wirklich heikel.« Welser atmete tief durch. »Ich kann Sie also nur nochmals bitten, die Situation so schnell und diskret wie möglich zu klären.«

4.

Verdun, 1916

Blätter rascheln, Lichtflecken huschen über alte Stämme. Ein milder Frühlingsmorgen in einem Wald jenseits der kleinen französischen Festung, um die nun schon seit vielen Wochen erbittert gekämpft wird. Nachts ist die Erde noch gefroren, tagsüber regnet es fast ununterbrochen. Der unverhoffte Sonnenschein wirkt wie ein Ausbruch, eine Kunde aus einem anderen Leben. Das Bild eines nach warmer Luft duftenden Tags im Biergarten zieht in Fritz auf, die umherfliegenden Stimmen, die sich unter dem Zelt der Baumkronen verdichten, die kühle Schwere des Steinkrugs in der Hand. Ihm schaudert. Das ist keine zwei Jahre her. Der Wald erstickt den Lärm der Front. Nur noch ein Brummen in der Ferne ist es, ein metallenes Hornissennest in irgendeiner Regenrinne, die einen nichts angeht. Er wandert durch den Wald, in dem sich das Lager der Deutschen versteckt. Hütten aus Beton, nicht mehr als Schlafschachteln. Als junger Offizier von Adel bekleidet Fritz den Rang eines Leutnants. Das bedeutet: etwas besseres Essen, besserer Schnaps. Außerdem putzt ihm ein achtzehnjähriger Bursche namens Josef Köhler abends seine Stiefel. Ansonsten schläft er in den Baracken wie jeder andere Soldat und darf sich auch sonst für nichts zu schade sein. Die Unterkünfte lassen Fritz an Haidhausen mit seinen Herbergen denken, nur wirken die kleinen Häuser der Handwerker wie Knusperhäuschen, als seien sie schon ewig da, märchenhaft. Diese Betonklötze hier sind nicht mehr als Papierschiffe im Strom der Zeit, ohne Fundament auf porösen, rieselnden Sand gesetzt.

Fritz ist an seinem Lieblingsplatz angekommen. Eine kleine Baumgruppe, die sich nicht für die Geschicke der Menschen interessiert, ihn aber gnädig in ihrer Mitte aufnimmt. Er entfaltet den Brief seines Vaters mit der bräunlich verfärbten Zaubertinte. Dann sieht er sich sorgfältig um, bevor er ein kleines Heft aus der Innentasche seiner feldgrauen Jacke zieht. Auf den ersten Blick sieht es aus wie eines der Schlüsselbücher, die vom Heer genutzt werden, um geheime Nachrichten zu chiffrieren: seitenweise Tabellen auf Papier, das dünn und durchscheinend ist, damit es rasch zerrissen, im Wind verstreut oder sogar gegessen werden kann, bevor es in falsche Hände gerät. Manchmal sind die Seiten mit einer speziellen Tinte bedruckt, die bei Kontakt mit Wasser besonders schnell zerläuft. In den Tabellen reihen sich Funkcodes und ihre Entschlüsselungen. 151: Gegner greift an.169: Feindliche Gräben sind stark besetzt.190: Wir greifen an.194: Erbitten Verstärkung. Diese kleinen Lebensbücher werden alle paar Tage ausgetauscht, neue Chiffren ersonnen. Denn Funkgeräte und Telephone werden permanent abgehört, von beiden Seiten. Ein verwirrender, ständiger Strom aus Geheimnissen, Lauschern, Verschwörungen, fluide wie die Tinte, die rasch in schwarze Tränen zerfließt.

Von dem Büchlein, das Fritz bei sich trägt, gibt es nur zwei Exemplare. Sein Vater besitzt eines, das andere überreichte er seinem Sohn am Bahnhof, als Fritz in den Krieg zog. Es enthält ebenfalls Tabellen in Spezialtinte auf dünnem Papier, doch die hier verzeichneten Chiffren bestehen aus Buchstaben, und sie werden anhand einer weiteren Tabelle verschlüsselt, die auf der Vigenère-Methode basiert. Danach wird den einzelnen Buchstaben keine festgelegte Bedeutung zugeschrieben, vielmehr verschiebt sie sich jedes Mal wieder und muss mithilfe der Tabelle mühsam ermittelt werden. Sein Vater hat die Methode weiterentwickelt – oder verkompliziert, je nachdem, wie man es sehen möchte – und weitere Faktoren in die Verschlüsselung einbezogen, wie das Datum des Absendetags oder die Menge der Konsonanten. Fritz braucht fast eine Stunde, in der ihm immer wieder die Buchstaben und ihre Botschaften entgleiten, bis er endlich den Sinn des väterlichen HUXDQ enträtselt hat. Als es so weit ist, muss er laut auflachen. Dort steht: Was hängt an der Wand? Fritz weiß, wie es weitergeht. Es ist ein Kinderrätsel, das die Brunner ihm einst beibrachte und das er eines Abends seinen Eltern entgegenschmetterte, als diese von irgendeiner Matinee zurückkehrten:

»Was hängt an der Wand und hat den Rücken verbrannt?«

»Die Bratpfanne!«, dröhnte sein Vater zurück.

Fritz lächelt immer noch leise vor sich hin, als er die Geschichte liest, die seine Mutter ihm geschickt hat. Sie heißt Pinocchio und handelt von einem hölzernen Bengel, der sich wünscht, ein Junge aus Fleisch und Blut zu werden. Doch dafür soll er sich erst brav benehmen, und das fällt ihm schwer. Nach allerlei Abenteuern muss er mit ansehen, wie sein Vater, jener Holzschnitzer, der ihn erschaffen hat und nun verzweifelt nach ihm sucht, im Ozean versinkt. Schließlich treibt Pinocchio selbst auf dem Meer wie eine verirrte Flaschenpost. Bis ein Riesenhai ihn verschluckt. Er verschwindet im Bauch des gigantischen Fischs. Und trifft dort unten, in der warmen Dunkelheit der kreatürlichen Magenhöhle, seinen Vater wieder. Die beiden entkommen, und die Holzpuppe verwandelt sich endlich in einen echten Jungen.

Unwillkürlich stößt Fritz einen tiefen Seufzer aus und lässt den Blick über die rohen Kuben wandern, in denen sie leben, dicht gestapelt wie Brennholz. Jungen aus Fleisch und Blut, das waren sie einmal.

5.

München, 1896

Nach der Unterredung mit Welser nahm Gryszinski seinen Hut und trat den kurzen Weg zum Vier Jahreszeiten an. Die Erbauung des Grand Hotels war ehemals von König Maximilian selbst angeregt worden, es sollte ein Glanzpunkt der nach ihm benannten Prachtstraße werden – wobei der Architekt fortan mit der schwierigen Vorgabe zu kämpfen hatte, ein Haus von erhabener Schönheit zu schaffen, das dennoch nicht der benachbarten königlichen Residenz den Rang ablaufen durfte.

Gryszinski näherte sich dem Gebäude von der Oper her. Flaneure wandelten über den Boulevard, nicht wenige in ihren besten Kleidern, die man hier wie in einer Theaterkulisse präsentierte. Schon von Weitem leuchteten ihm die gestreiften Markisen vor den Fenstern entgegen. Die Fassade des Vier Jahreszeiten nahm einen gesamten Straßenblock ein, und dahinter entfaltete sich ein kleiner Binnenstaat aus weiten Treppenaufgängen, langen Korridoren mit dicken Teppichen und überdimensionierten Ballsälen, unter deren hohen Decken schwere Kronleuchter hingen. In den Zimmern fanden sich neben dem erlesenen Mobiliar eigene Telephone und elektrische Zigarrenanzünder, die mit dem Strom aus dem neuen hauseigenen Kraftwerk betrieben wurden. Auch hatte man jüngst die Gasbeleuchtung gegen eine wahnwitzige Menge an Glühlampen eingetauscht – es waren eintausend, um genau zu sein, während das gesamte München mit viertausend auskam –, die das Hotel an den Abenden in eine elektrifizierte Sonne verwandelte, bei deren Anblick man sich die Augen mit der Hand beschatten musste. Seine Kutschpferde konnte der Gast in einem der sechzig Ställe unterstellen, wo die braven Gäule im Pferdedampfbad ausruhen durften.

Diesen Ausbund gastgewerblicher Ausrufungszeichen betrat man durch eine Drehtür, eine weitere Innovation ihrer Zeit. Gryszinski begab sich ins Innere der gläsernen Konstruktion und drehte sich hinein in das Hotel, welches mit seinen fremdländischen Gästen, den unzähligen Koffern, die auf Gepäckwagen herumgeschoben wurden, und dem ständigen Wechsel von Ankommenden und Abreisenden als Ort erschien, der dem Zeitlauf der Stadt enthoben war. Er sah sich im Vestibül um. Eine weiße Kassettendecke über persischen Teppichen, dahinter eröffnete sich ein lichtes Gewölbe mit Spitzbogen wie in einer gotischen Kirche. Palmen und kleinere Laubbäume standen überall in Kübeln und leiteten den Blick zu einem von Säulen flankierten Treppenaufgang. Der Empfangstresen drückte sich da vergleichsweise bescheiden in einer Ecke direkt neben dem Eingang herum. Gryszinski hielt darauf zu. Zwei Männer in mit Goldknöpfen besetzten Uniformen taten hier Dienst, ein Schild über ihren Köpfen wies darauf hin, dass man an der Rezeption auch telephonieren, telegraphieren und Zugfahrten buchen konnte. Hinter ihnen befand sich ein Regal mit lauter kleinen Fächern, in denen Telegramme, Briefe und Depeschen für die Gäste gesammelt wurden. Ein Fach quoll deutlich über vor Korrespondenzen. Der Major ging davon aus, dass es sich um die Post ihres verschwundenen Franzosen handelte.

»Der Herr wünschen?«, fragte der Zartere der beiden Concierges, dessen Stimme Gryszinski sofort als diejenige identifizierte, deren herbes Timbre er bereits am Telephon hatte goutieren dürfen. Da er sich eine Art südländischen Hasardeur vorgestellt hatte, staunte der Major nicht schlecht, einem blondgelockten Jüngling mit lieblichen Gesichtszügen gegenüberzustehen. Eine Putte in Hoteluniform mit der Stimme einer gefallenen Bardame.

Gryszinski stellte sich vor und bat darum, die Suite des französischen Diplomaten besichtigen zu dürfen. »Außerdem wird gleich noch ein Wachtmeister Eberle eintreffen«, fügte er hinzu. »Den schicken Sie dann auch zu mir.«

»Selbstverständlich. Folgen Sie mir bitte.«

Die blonde Basstuba geleitete Gryszinski durch die Eingangshalle zum Paternoster. Schweigend stiegen sie in den beständig rotierenden Kasten, um diesen im zweiten Stock wieder zu verlassen. Ein flüchtiger Schwindel erfasste einen, sobald die Füße wieder auf unbewegtem Boden standen. Sie fanden sich in einem langen Gang wieder, der wie jeder andere Winkel des Hotels in gleißender Helligkeit lag. Dicke Teppiche und seidene Tapeten schluckten jegliches Geräusch der Außenwelt.

»Hier entlang, bitte.« Der Concierge wies den Weg, bis sie vor einer der vielen verschlossenen Türen haltmachten. Der Angestellte klopfte mehrmals und rief »Pardon, Monsieur« in seiner rostigen Stimme, bis er ganz sicher war, dass sich niemand in dem Zimmer befand. Dann zog er umständlich einen Generalschlüssel hervor, öffnete die Tür und ließ dem Major mit einer höflichen Geste den Vortritt.

Die Suite war – Gryszinski hatte es nicht anders erwartet – ausnehmend elegant. Der Salon, der sich vor ihm auftat, lag in gelbem Licht, das die Sonne durch den Stoff der gestreiften Markisen warf. Vis-à-vis zum Eingang stand eine von stilisierten Lorbeerkränzen und Akanthusblättern umrankte Konsole, über der ein riesiger Spiegel hing. Beide Stücke waren mit Blattgold überzogen, das in dem gedämpften Licht warm schimmerte. Ein Sekretär aus Palisander stand direkt am Fenster. In der Mitte des Raums hatten sich einige mit Tapisserien bezogene Sessel zu einer Sitzgruppe zusammengefunden, ihre breiten Lehnen öffneten sich wie zur Umarmung. Gryszinski sah sich um. Alles war penibel aufgeräumt und geputzt. Keine einzige Spur wies darauf hin, dass hier überhaupt jemand gewohnt hatte. Er trat an den Schreibtisch. Immerhin lag dort ein halb fertiger Brief. Er war in Französisch verfasst und begann mit Chère Anne! Ein zugeschraubter blauer Füllfederhalter der Firma Soennecken lag obenauf. In den Schubladen des Sekretärs fanden sich keine weiteren persönlichen Gegenstände.

»Ich möchte mit dem Zimmermädchen sprechen, das diese Räume in Ordnung brachte, nachdem Fouqué das Hotel zum letzten Mal verlassen hat«, erklärte Gryszinski.

Die Basstuba zuckte, aus ihren Gedanken gerissen, kurz zusammen, nickte dann aber eilfertig. »Wie Sie wünschen.«

»Könnte Fouqué noch an einem anderen Ort im Hotel etwas aufbewahrt haben?«

Der Concierge nickte. »Wir haben einen Hoteltresor. Ich kann gerne in Erfahrung bringen, ob Monsieur Fouqué dort etwas hinterlegt hat, Herr Major.«

Gryszinski nickte, woraufhin der blonde Concierge zum Telephon schritt, das in seiner beredten Stummheit auf einem eigenen Tischchen thronte, und bei der Rezeption anrief. Der Major riskierte derweil einen Blick ins Badezimmer. Es war komplett mit Marmor ausgekleidet. Auf dem Waschtisch lag eine Zahnbürste mit einem Griff aus Elfenbein. Ein weiterer großer Spiegel zeigte sein eigenes Bild im kaskadenhaften Strahlen der Glühlampen.

»Herr Major?« Die Basstuba tauchte im Spiegel hinter ihm auf. »Monsieur Fouqué hat offenbar eine Taschenuhr zur Aufbewahrung abgegeben. Mein Kollege wird sie gleich hochbringen.«

»Ausgezeichnet. Danke.«

Er wandte sich zum Schlafzimmer: Seidentapeten, ein wuchtiges Bett aus Mahagoni, das Betthaupt war mit reichlichen Schnitzereien versehen. In einer Ecke stand ein großer aufgeklappter Kofferschrank.

»Ich nehme an, der gehört Monsieur Fouqué?«, fragte Gryszinski und wies auf das mannshohe Gepäckstück.

Der Concierge nickte.

Das Innere des Schranks war mit festem Leinen ausgekleidet. In der rechten Seite befanden sich mehrere Schubladen, während in der linken Hälfte eine Kleiderstange aus Messing angebracht war, an der einige Hemden an Bügeln baumelten. Gryszinskis Blick ging zu dem Schrank, der in der Ecke des Boudoirs stand.

»Dort hinein wurden seine Anzüge geräumt«, erklärte der Concierge. »Sie befanden sich in einer weiteren Reisetruhe.« Dabei öffnete er den Schrank. Besagte Truhe war dort ebenfalls untergebracht worden. Sie war leer, während vier saubere Anzüge ordentlich aufgehängt waren, einer davon ein frisch gebürsteter Frack für den Abend. Es fanden sich hier auch zwei Hutschachteln, eine kleinere mit einer Melone und einem Homburg, in der größeren Schachtel wartete ein Zylinder auf seinen feierlichen Einsatz.

»Verstehe.« Gryszinski beäugte noch ein wenig den Schrankkoffer, bevor er seine Handschuhe überstreifte und sich anschickte, die erste Schublade herauszuziehen. In diesem Moment klopfte jemand an die Tür im Nachbarzimmer und rief. Gryszinski erkannte Stimme und Dialekt seines schwäbischen Wachtmeisters. »Wir sind hier, Eberle«, rief er, während er die oberste Schublade öffnete. Säuberlich zusammengefaltete Taschentücher mit eingesticktem Monogramm, einige nicht minder akkurat gefaltete modische Ascotkrawatten und seidene Halsbinden. Eine Schatulle mit mehreren Manschettenknöpfen.

»Grüß Gott, Chef.« Eberles farblose Gestalt erschien im Türrahmen. Er besaß die seltene Gabe, vollkommen mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Nach wenigen Sätzen konnte er die Sprechart seines Gegenübers nachahmen, und sein Äußeres war so spektakulär unscheinbar, dass man ihn leicht vergaß, wenn er einfach gleichmäßig atmend neben einer ruhig tickenden Pendeluhr stand. Allerdings gab es doch dunkle Tiefen in den ruhigen Gewässern des Wachtmeisters Eberle, und das war seine glühende Leidenschaft für alles, was irgendwie exotisch war. Zudem hielt sich das hartnäckige Gerücht, dass er eine Verlobte habe, die alles andere als günstig im Unterhalt sei.

»Kommen Sie rein, Eberle.« Gryszinski zog die zweite Schublade heraus. Seidene Strümpfe in gedeckten Farben, dazwischen steckten, wie die flirrenden Farbtupfer auf einem Gemälde der Freilichtmaler, einige bunte Exemplare, wie die eines Dandys. Der Major hob die Augenbrauen.

»Ich habe Ihren Koffer, Chef«, erklärte Eberle und hob den Tatortkoffer in die Luft.

»Ausgezeichnet.« Gryszinski wandte sich ihm zu. »Ich bin etwas im Zweifel, ob wir hier viel Aufschlussreiches finden werden. Trotzdem sollten wir einmal Fingerabdrücke nehmen, an den Türklinken, den Griffen des Sekretärs und, nun, an den Bettpfosten. Erledigen Sie das als Erstes, Eberle, dann sehen wir weiter.«

Der Angesprochene nickte. Nach kurzem Überlegen legte er den Koffer auf einen Sessel, der in der Ecke des Schlafzimmers stand, öffnete ihn und suchte unter den verschiedenen Phiolen und Röhrchen dasjenige aus, in dem sich das Rußpulver befand. Außerdem entnahm Eberle dem Koffer einen Pinsel mit besonders weichen Borsten. Stumm begab er sich zur Eingangstür und begann vorsichtig, den mit Messing beschlagenen Bereich um die Türklinke einzustäuben, als würde er eine glatte Damenwange mit schwarzem Puder bedecken.

Der Major wandte sich wieder dem Schrankkoffer zu. Zwei Schubladen fehlten noch. Beide waren voll befüllt mit teurer französischer Herrenunterwäsche, soweit er das sehen konnte. Gryszinski zauderte erst ein wenig, doch dann zog er beide Fächer ganz heraus und stellte sie aufs Bett, um sie systematisch untersuchen zu können. In diesem Augenblick hoffte er, dass der Vermisste nun nicht doch einfach eintreten und ihn bei dieser ungebührlichen Verletzung seiner Privatsphäre erwischen würde. Vorsichtig hob er die ordentlich gefaltete Wäsche heraus. Schon beim zweiten Stapel ertastete er etwas Festes. Er suchte mit seinen Händen herum und zog schließlich eine Dokumentenmappe aus feinem Leder hervor. Er klappte sie auf. Mehrere amtliche Papiere, die Henri Fouqué als französischen Diplomaten auswiesen, waren hier versammelt, außerdem ein Reisepass, auf dem die amtlichen Siegel des französischen Konsulats sowie der preußischen Staatskanzlei prangten. Zuunterst lag eine Photographie, eine typische Studioaufnahme mit einer antiken Gipssäule und einer Stechpalme im Hintergrund, auf der ein elegant gekleideter Herr mit gefälligen Gesichtszügen zu sehen war.

Der Major wandte sich an den Concierge. »Ist das hier Monsieur Fouqué?«

»Ja, zweifelsfrei.«

Daraufhin studierte Gryszinski das Portrait genauer. Alles an dem Franzosen wirkte sehr à la mode. Unter dem taillierten Jackett blitzte eine gemusterte Weste hervor, das hellbraune Haar war kurz geschnitten und vermutlich mit einer großen Menge Pomade zum strengen Seitenscheitel frisiert. Dazu ein dichter moustache und ein kurzes, spitz zulaufendes Kinnbärtchen. Fouqué hatte eine Pose eingenommen, in der er leicht entrückt in die Ferne blickte. Das vermittelte Gryszinski, der sich mit den Lehren der Pathognomik befasste, den flüchtigen Eindruck einer Person, die gerne Pläne schmiedete und von zukünftigen Abenteuern träumte, anstatt sich zupackend und hellwach auf das Gegenwärtige zu konzentrieren. Der Major, der zugegebenermaßen wohl auch eher zur ersten Kategorie der träumenden Luftgucker gehörte, wurde aus ebenjenen Gedanken zum allgemeinen Abschweifen seiner Gedanken gerissen, als es wieder an die Tür klopfte und jemand mit entschlossener Stimme – eindeutig der zweiten Kategorie von Menschen entstammend – seinen Namen rief.

Gryszinski legte die Mappe zurück aufs Bett und ging in den Salon. Ein junger Herr, der für sein Alter ungewöhnlich selbstbewusst wirkte, rauschte auf ihn zu.

»Adolf Obermayer, Hoteldirektor«, stellte der Leiter des Vier Jahreszeiten sich vor, Gryszinski schätzte ihn auf höchstens Ende zwanzig.

»Angenehm.« Sie reichten einander die Hände.

»Herr Major, dürfte ich einige Minuten Ihrer Zeit beanspruchen und Sie um eine Unterredung unter vier Augen bitten?« Obermayer machte bereits eine entsprechende Geste zur Tür hin.

»Selbstverständlich. Eberle, Sie machen hier weiter, ich bin gleich zurück.«

Gespannt folgte Gryszinski dem Direktor, der ihn zurück zum Paternoster führte. Dieses Mal fuhren sie abwärts, zurück ins Erdgeschoss, wo Obermayer ihn mit dem Stolz des Hausherrn in die Lobby führte. Der dunkel vertäfelte Saal war von allen Seiten her zugänglich. Ein beständiger Luftzug aus rauschenden Kleidern und einem wellenhaften Stimmengewirr durchzog den Raum, der Gryszinski an eine Bahnhofshalle erinnerte. Es ging nun auf die Mittagszeit zu. Auf den Fauteuils und Sofas, die um kleine Tische gruppiert waren, hatten einige wartende Gäste Platz genommen. Man strich sich noch einmal prüfend übers Haar oder richtete eine nach Parfum duftende Stola über den Schultern, während man nach seiner Verabredung fürs déjeuner Ausschau hielt. Über der ganzen Szenerie hing eine Kuppel, die eigentlich keine Kuppel war, denn sie war platt wie die Erdscheibe aus den alten Mythen; bunte konzentrische Glasbahnen, in deren Zentrum das Licht durch ornamentale Blumen fiel.