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Niri und ihren Freunden läuft die Zeit davon. Beben erschüttern das Land und noch immer sitzen die Gefährten im Krater fest. Während sie einen Plan schmieden, den vierten Ankerstein zu bergen und einen Weg zurück an die Sturmfels-Akademie zu finden, drohen die Splitterlande, von einem Bürgerkrieg zerrissen zu werden. Adlige und Ordenskrieger scharen sich in blutigen Scharmützeln um den Krater, und Malkar steht kurz davor, der Falle zu entrinnen, die ihm Wianari und der Unstete Gott gestellt haben. Inmitten dieses Chaos muss Niri mit ihren Freunden einen Weg finden, endlich in den Palast von Aelderheym zu gelangen und die verschmähte Sigille Shalvinhurs zu vernichten, bevor sie in die Hände eines gierigen Adligen, eines machtvollen Monsters oder gar eines gewalttätigen Gottes fällt...
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Seitenzahl: 820
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Torsten Weitze
Der Turm des Wissens
Sturmfels-AkademieBand V
Impressum
© Torsten Weitze, Krefeld 2025.
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Juli 2025
Lektorat/Korrektorat: Janina Klinck / www.lectoreena.de und Tatjana Weichel / www.wortfinesse.de
Coverdesign: Guter Punkt München unter Verwendung eines Motivs von Shen Fei
Kartenillustrationen: Markus Weber, Guter Punkt München
www.tweitze.de | Facebook: t.weitze | Instagram: torsten_weitze
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Für alle, die erkennen, dass jedes Ende auch stets einen Neuanfang in sich birgt
Und denkt daran:
Es gibt nichts Schöneres für eine Geschichte, als zum ersten Mal erlebt zu werden …
Prolog
Der Unstete Gott schritt unschlüssig vor dem Torbogen auf und ab. Das Echo einer Erinnerung hallte in seinem Verstand wider, hervorgelockt aus jenen Zeiten, da er noch ein schüchterner Sterblicher gewesen war. Damals hätte er an seinen Nägeln gekaut. Ein Teil von ihm wünschte, solch triviale Hilfsmittel würden ihm auch jetzt noch helfen. Er streifte ein weiteres Mal vor dem Eingang entlang, der ihn zur Langen Tafel, dem Ursprung dieser Welt, führen würde, und wieder versuchte er, durch den Torbogen ins Innere zu spähen. Doch die Halle lag in ungewöhnlicher Finsternis da, das Feuer, welches Malkar sonst immer am Leben erhielt, war erloschen.
Ein gutes Zeichen, ermutigte der Unstete Gott sich selbst. Das kann nur bedeuten, dass unser unwirscher Herrscher dank meiner kleinen Falle noch immer schlummert.
Weitere Unruhe wallte in ihm auf. Malkar war vielleicht nur in seiner eigenen Einbildung ihr Anführer, aber ohne Zweifel der mächtigste der noch lebenden Götter – oder zumindest derer, die sich einen Deut um Deatril scherten. Für einen Augenblick wanderte der Blick des Unsteten fort, suchte von der Bergspitze des Abstiegs heraus nach jenem runden Gebirgsmassiv, das Xul-Baar als steinernes Bollwerk diente. Wäre der nicht so ein Feigling gewesen und hätte Malkar aktiv bekämpft, statt sich in seinem kleinen Königreich einzuigeln, der Feuergott wäre schon lange besiegt worden.
»Ach, verdammt«, brummte der Unstete und drehte sich auf dem Absatz um. Zwei schnelle Schritte brachten ihn zum Torbogen, der dritte ließ ihn die mystische Schwelle überschreiten, die zu überschreiten den Göttern vorbehalten war. Einzig, der Unstete war nur noch dem Namen nach ein Gott. Zwei Sigillen der Schöpfung in seinem Besitz zu haben reichte nicht, um ihm Zutritt zur Langen Tafel zu gewähren.
Er spürte umgehend, wie sich der Raum gegen ihn wehrte, wie unsichtbare Kräfte an seinen Armen und Beinen zogen, gleich einer Handvoll grober Rausschmeißer in einer heruntergekommenen Schenke, die gemeinsame Sache machten, um einen äußerst unliebsamen Gast zu entfernen. In hohem Bogen flog der Unstete Gott durch den Torbogen hinaus, über den Rand der Bergspitze hinweg und hinein in schwindelerregende Tiefen. Ein gewöhnlicher Sterblicher hätte nun den Tod gefunden, die gebührende Strafe für das Eindringen in göttliche Gefilde. Doch der Unstete konzentrierte sich auf sein Inneres, auf das Echo jenes Chaos, dessen Träger er so lange gewesen war, und auf den Wahn, der in ihm brannte. Er stellte sich vor, er wäre ein Albatros, kein Mensch, hätte Flügel und Federn, würde seinen Sturz in ein würdevolles Gleiten verwandeln – und sein Körper folgte dieser Vision.
Mit der Übung der Jahrhunderte griff sein Verstand nach der ihm innewohnenden Weisheit, die ihn davor bewahrte, seinem Wahn zur Gänze zu verfallen und für immer ein Vogel zu bleiben, mit Körper wie mit Seele. Er suchte die Mitte zwischen Wahnsinn und Weisheit auf, jene Klingenspitze, auf der er schon seit Zeitaltern tanzte, dass ihm jeder andere Geisteszustand nur quälende Langeweile bot.
Während er sich auf die lange Reise südwärts begab, über die Weiße See hinweg, hin zu den Stahlgipfeln, um jenseits des Gebirges die Splitterlande zu erreichen, ließ er den Anblick, welchen er auf die Lange Tafel hatte erhaschen können, vor seinem inneren Auge wieder aufleben. Malkar und Wianari hatten auf dem Boden gelegen, ihre Körper nahezu reglos. Das rasche Huschen ihrer Augen hinter den geschlossenen Lidern war selbst in der Düsternis für den Unsteten zu erkennen gewesen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie gefangen lagen in ihren Gedanken, in Träumen, deren Details nur sie selbst kannten. Wie lange dieser Schlaf anhalten würde, konnte nicht einmal der Unstete einschätzen, lag es doch am Träumenden selbst, wie schnell er dem Zauber entkam.
Die Versuchung war groß, umzukehren und sein Glück in einem auf den Karmesinroten Gott geworfenen Dolch zu versuchen. Doch das Risiko, dass es dem Unsteten misslang, Malkar zu töten, war zu hoch. Wenn dieser zur Unzeit erwachte …
Nein, es war besser, er blieb bei dem Plan, den er und Wianari ausgeheckt hatten. Er seufzte, so gut es ihm in Vogelgestalt möglich war.
Dann würde er also weiter in Richtung Sturmfels-Akademie fliegen. Die Beben, die die Region rund um die Ruinen Aelderheyms seit Monden heimsuchten, waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass Niri und ihre Freunde zusammen mit den sogenannten Gelehrten, die sie unterstützten, noch immer an dem kleinen Geheimnis herumstümperten, das den Palast Aelderheyms versiegelte. Amüsiert dachte der Unstete Gott darüber nach, wie lange Malkar bereits an der Lösung dieses speziellen Rätsels herumkaute, und dass es ihn in einen Tobsuchtsanfall treiben würde, sobald er erfuhr, wie simpel die Antwort im Endeffekt war.
Es würde dem Unsteten eine Freude sein, mit anzusehen, wie sich dieser letzte Akt des Dramas gestaltete, an deren Ende Malkar seinen Tod fand.
Ein leichtes Bedauern überkam ihn. Zu schade, dass Niri wahrscheinlich noch vor dem Feuergott ihr Leben verlieren würde, und das, obwohl der Unstete gerade damit begonnen hatte, die Halbaeldae zu mögen.
Kapitel 1
Das ist schon das dritte heute.« Caldenhus rückte seine Augengläser zurecht und hielt sich am klappernden Holztisch fest, während er gemeinsam mit Niri darauf wartete, dass sich die bebende Erde beruhigte.
»Man sollte meinen, sie würden irgendwann enden«, brummte sie und trat zum Eingang des Spähpostens, um hinaus in den Frühnebel zu blicken. Die Kombination aus Erdstößen und einer Sichtweite von unter zehn Schritt, und das inmitten des monsterverseuchten Kraters, ließ ihre Nerven stärker erzittern, als es das gepeinigte Land tat.
Caldenhus seufzte hinter ihr. »Du kennst meine Meinung zu diesem Thema. Die Erschütterungen werden erst aufhören, wenn deren Ursprung enträtselt wird.«
Niri drehte sich um und sah zu dem kruden Anhänger hinüber, den der Daekhan um seinen Hals trug. In das aus einer Vielzahl von Bronzelöffeln zusammengeklöppelte Rund waren die drei Ankersteine eingefasst worden, deren Zusammenführen jenes erste verheerende Beben ausgelöst hatte. Dieses hatte den Eisernen Schinder und einen Teil jener Klippe einstürzen lassen, auf der die Sturmfels-Akademie in den Himmel ragte, was der Grund war, warum die Gefährten bereits den gesamten Frühling über im Krater festsaßen.
»Ihr sagt das so leicht«, murrte Niri. »Doch in Anbetracht der ständigen Beben gestaltet sich jeder Versuch, die Klippen zu erklimmen, als unmöglich. Zugleich können wir, ohne in die Akademie zu gelangen und weiter nach Informationen über die Ankersteine zu suchen, die Beben nicht beenden.«
»Danke, dass du nicht müde wirst, uns unser Dilemma vor Augen zu führen«, erwiderte Caldenhus in jenem übertrieben förmlichen Tonfall, in dem er gerne Sarkasmus auszudrücken pflegte. »Ich gebe zu, ich hätte es ansonsten ob seiner Komplexität vergessen.«
Niri seufzte und winkte ab. Ihrer aller Nerven lagen blank. »Ich wünschte nur, die anderen würden endlich zurückkommen.«
»Es geht mir genauso.« Caldenhus sah sie mitfühlend über den Rand seiner Augengläser an. »Doch ich muss darauf bestehen, dass du entweder die Tür schließt oder aufmerksamer Wache hältst.«
Ertappt drehte sich Niri wieder dem Ausgang zu und griff nach Vasdram, der nahe der Tür an der Wand gelehnt hatte. Wie immer, wenn sie ihre Waffe packte, machte sich ein merkwürdiges Gefühl in ihr breit, als wäre Niri erst jetzt vollständig, als würde ein elementarer Bestandteil ihres Selbst fehlen, wenn sie Vasdram nicht bei sich trug. Gedankenverloren strichen ihre Finger über die Linien auf dem Klingenblatt, welche erst vor wenigen Monden ihre wahre Natur offenbart hatten: Sie bildeten die Sigille der Gegenwart. Niri als deren Trägerin war somit eine Aethrim, eine Gottesanwärterin. Alles, was sie dafür tun müsste, wäre, zwei weitere Sigillen zu finden …
Sie schüttelte unwirsch den Kopf und riss sich von dem Anblick der Linien im Metall los. Die Wahrheit ließ sich noch immer schwer fassen, egal, wie oft Niri sie auch in ihrem Verstand drehte und wendete. Hätte ihr geheimnisvoller Verbündeter, der Junge im Zimmer, der am Rande der Zukunft sein Dasein fristete, ihr jene Offenbarung nicht unmissverständlich klargemacht, Niri würde noch immer nicht glauben, dass sie eine der wenigen Sigillen trug, die noch nicht von Malkar in seiner Siegelkammer weggesperrt worden waren. Zumal Malkar sämtliche Sigillen und ihre Träger jagte und bei dieser Jagd bisher weder vor Aethrim noch vor anderen Göttern Halt gemacht hatte.
Ein Harrasch flog mit sirrenden Libellenflügeln so plötzlich aus dem Nebel hervor, dass er Niri beinahe erreicht hätte, bevor diese begriff, dass sie in Gefahr war. Das Mischwesen aus Echse und Insekt schoss geradewegs auf ihre Kehle zu, und reflexhaft strömte Niri den Fluss der Zeit hinab. Diese neue Stufe der Meisterschaft ihrer magischen Gabe erlaubte es ihr, verlangsamt Handlungen durchzuführen, während sie eine geringe Zeitschuld auf sich lud. Obwohl für den Harrasch drei Herzschläge vergingen, in denen er die Distanz bis zu Niri überwand, hatte sie nur einen zur Verfügung und nutzte jenen kostbaren Moment, um Vasdram so weit vor sich zu bewegen, dass seine Schneide ein Bollwerk zwischen ihrer Kehle und den bissbereiten Mandibeln des Harrasch bildete. Das Wesen reagierte mit einem kleinen Schlenker seiner Flugbahn, um sie stattdessen seitlich in den Hals zu beißen, und gerade als es Niris Haut durchbohren wollte, tauchte sie aus den Tiefen des Flusses der Zeit auf. Ihre Zeitschuld war nur von minimaler Länge, doch sie reichte, um einen Schritt nach hinten zu tun und ihre Waffe zu einem seitlichen Hieb anzusetzen. Das Manöver schien Niri leicht und mühelos von der Hand zu gehen, fast so, als wäre es Vasdram, der sie führte, anstatt umgekehrt. Sobald der Fluss der Zeit sich wieder in normalen Bahnen bewegte, flog der überraschte Harrasch geradewegs in Niris Attacke hinein und klatschte im nächsten Moment in zwei unappetitlichen Haufen zu Boden.
»Urgh!«, machte Niri angewidert und wischte sich die besudelten Unterarme ab.
»Das machst du gefälligst sauber«, rüffelte Caldenhus sie. »Und beeil dich besser. Bevor unser Unterschlupf tagelang nach Harrasch-Innereien stinkt.«
Niri wusste, dass die groben Äußerungen des Daekhans vor allem seiner Angst geschuldet waren. Mondelang umzingelt von Monstren in einem provisorisch hergerichteten Bauwerk festzusitzen, das bei jedem Beben Gefahr lief, einzustürzen … Für Niri und ihre Freunde war die Situation schon schwer zu bewältigen, aber für einen Mann des Geistes wie Daekhan Caldenhus musste jeder Tag eine Qual sein. Der Gelehrte vergrub sich tagtäglich in einem anderen Folianten, die den Einsturz des Spähpostendaches unbeschadet überstanden hatten, und war höchstens ein halbes Dutzend Mal vor die Tür getreten, seit sie hier im Krater gestrandet waren.
Caldenhus räusperte sich. »Nun?«
Niri unterbrach ihre Grübeleien, und mit zwei geübten Bewegungen spießte sie nacheinander die Harrasch-Hälften auf und schleuderte sie weit vor die Tür des Spähpostens. »Für den Rest brauche ich Eimer und Lappen«, murmelte sie und besah sich dann die offenstehende Tür. »Haltet Ihr so lange Wache, bis ich –«
Caldenhus’ Stuhl fiel um, so schnell erhob der Gelehrte sich. »Ich gehe schon. Behalte du den Nebel im Auge.«
Niri hatte ein schlechtes Gewissen. Das kleine Scharmützel mit dem Harrasch hatte nur geschehen können, weil sie unbedingt bei offener Tür auf Harduul und die anderen hatte warten wollen. Sie waren für eine gewöhnliche Jagd spät dran, selbst wenn man bedachte, wie tückisch die Suche nach Beutetieren sein konnte, da man ständig auf der Hut sein musste, nicht selbst zur nächsten Mahlzeit einer Gruppe Cruh-emdrals oder eines Rudels von Hetzwölfen zu werden.
Keuchend kam Caldenhus die Treppe hinab, die zum nahezu vollständig verschütteten Obergeschoss führte. »Wir opfern hier unser Trinkwasser, nur weil du unbedingt deiner Ungeduld nachgeben musstest«, grummelte er und stellte den halb vollen Holzeimer neben ihr ab.
»Tut mir leid«, erwiderte Niri aufrichtig und machte sich daran, den Steinboden vom Blut des Harrasch zu befreien, wobei sie stets ein Auge auf das wallende Grau jenseits der Tür gerichtet hielt. Vielleicht sollte sie ihre Sturheit zügeln und die Tür einfach schließen …
»Buh!« Apllut sprang Niri regelrecht vor die Nase, seine Hände zu Fächern links und rechts seines Gesichts an die Schlappohren gelegt, die Augen schielten an seiner Nase vorbei. »Erwisch– … AUA!«
Niri rieb sich die Knöchel ihrer rechten Hand. Sie war stolz auf ihre Reflexe. »Hast du etwas anderes erwartet als einen Fausthieb, wenn du mich derart erschreckst?«, fauchte sie den Pri-emdral an. »Du kannst froh sein, dass ich Vasdram nicht zur Hand hatte …«
Nun blickte Apllut ein wenig betreten drein. »Ich habe gedacht, du würdest eintauchen und mich rechtzeitig erkennen, ohne dass du handgreiflich wirst«, schmollte er.
Niri biss sich auf die Lippen. Ihr Freund sprach da einen Punkt an, der ihr bereits aufgefallen war.
Seit sich die Sigille der Gegenwart auf Vasdram manifestiert hatte, fiel ihr der Einsatz ihrer Gabe viel leichter – aber nur, während sie die Waffe bei sich trug. Ohne sie war Niri viel schwerfälliger im Umgang mit ihrer Magie geworden. Sie hatte keine Ahnung, ob dies ein normaler Nebeneffekt ihres neuen Status als Aethrim war. Und da sie bisher keine Silbe über die Sigille verloren hatte, waren ihre Gefährten ebenso wie Caldenhus ahnungslos ob der Veränderungen, die Niri durchmachte. Seit Wochen überlegte sie, wann sie es wie zur Sprache bringen sollte, aber solange sie hier gemeinsam einen Überlebenskampf im Krater führten, wollte sie sich nicht einer alles verändernden Unterhaltung stellen, die mit den Worten begann: Übrigens, ich bin nun eine Aethrim, und das ist meine Sigille.
»Ich habe dir gesagt, dass das eine blöde Idee ist«, erscholl Harduuls Stimme aus dem Nebel. Er klang angestrengt, und Niris Puls beschleunigte sich. War er etwa verletzt?
Seine muskulöse Gestalt löste sich aus dem Nebel, und Niri schalt sich leise selbst. Er trug lediglich einen erlegten Dornhirsch auf seinen Schultern, eine Last, die sicherlich nicht leicht zu stemmen war. Stattdessen war sie direkt davon ausgegangen, dass ihm etwas Schlimmes widerfahren war. Als ob Apllut dann noch zu Scherzen aufgelegt gewesen wäre. Ihre angekratzten Nerven und ihr wundes Herz waren, sobald es um Harduul ging, keine förderliche Kombination, um innerlich gelassen zu bleiben.
»Kommt schnell rein«, drängte sie. »Gerade flog ein Harrasch vorbei.« Sie deutete auf den Blutfleck. »Sein Schwarm könnte in der Nähe sein.«
»Er war allein.« Tullpas Stimme waberte durch den Nebel an Niris Ohr, noch bevor die Wildlingsfrau sich aus den Schwaden schälte. Ihre Worte besaßen den entrückten Tonfall der Erdruferei. Niri konnte inzwischen heraushören, wann immer Tullpa ihre Magie ausübte.
»Sofern du das beurteilen kannst.« Von Jonah war zuallererst das dumpfe Glühen seines Metallarms zu erkennen, als der Feuerbeuger aus dem Nebel trat. Seine Augen zuckten wachsam von links nach rechts, seine linke Hand aus Fleisch und Blut war zur Faust geballt. »Du selbst hast gesagt, dass dein neuer Zauber keineswegs ausgereift ist.«
Mittlerweile hatte Harduul den Spähposten erreicht, und Niri half ihm dabei, seine sperrige Beute ins Innere zu schaffen. Ihr fiel auf, dass der Hirsch keinerlei Verletzungen aufwies, wenn man von einer einzigen Stichwunde am Hals absah.
»Ja, da staunst du, was?«, prahlte Apllut, dem ihr Blick nicht entgangen war. »Ein einzelner Dolchwurf, und das Vieh war so gut wie tot.«
»Ja«, grollte Harduul und wuchtete mit Niris Hilfe den Hirsch auf den Tisch in der Mitte des überfrachteten Raumes. »Wir mussten dem waidwunden Tier dann nur noch eine Länge weit durch den Krater folgen und uns dabei vor seiner Herde verstecken.«
»Hättest du Jonah eines seiner Feuermesser werfen lassen, wäre dem Tier viel Leid erspart geblieben«, tadelte Tullpa ihren Bruder und schüttelte ihren Umhang aus, bevor sie gemeinsam mit Jonah den Unterschlupf betrat.
Niri war erstaunt, echte Gewissensbisse im Gesicht des Pri-emdrals zu sehen. »Beim nächsten Mal höre ich auf dich, versprochen.«
So blutrünstig der Wildling mit seinen Feinden sein konnte, so viel Respekt schien er vor dem Empfinden seiner Jagdbeute zu haben. Niri fragte sich, ob sie Apllut je wirklich verstehen würde.
»Wenn jetzt alle eingetreten sind, können wir bitte die Tür schließen?«, fragte Caldenhus beißend.
Das war Niris Aufgabe. Sie trat an besagte Tür, packte den Griff aus Aeldaebronze und wartete darauf, dass das besprochene Material sie als eine Angehörige jenes Volkes erkannte, das diesen Spähposten errichtet hatte. Als das Metall unter ihrer Berührung seine Schwere verlor, schob sie die Tür zu und spürte umgehend, wie die Luft im Raum stickiger wurde. Niri drehte sich um und hatte das Gefühl, die kreisrunden Wände würden unmerklich näher kommen. Mit den provisorischen Feldbetten, dem schiefen Tisch, den klapprigen Schemeln, Caldenhus’ Studierecke, dazu den Folianten und der Ausrüstung ihrer kleinen Gruppe war das Zimmer bis zum Punkt der Unbehaglichkeit vollgestellt. Ständig stand oder saß jemand im Weg, und wäre der Eimer, in den sie sich erleichterten, nicht im verschütteten Obergeschoss untergebracht gewesen, das Zusammenleben wäre unerträglich geworden.
Doch auch so erinnerten die letzten Monde Niri an ihre Anfangszeit im Turm der Bettler, wo sie ebenfalls in einem baufälligen Zimmer gehaust hatten – nur mit dem Unterschied, dass sie damals an die frische Luft hatten gehen können, ohne Gefahr zu laufen, einem der Monstren des Kraters zum Opfer zu fallen.
»Tarikh ist noch immer oben?«, fragte Jonah, der sich suchend umsah.
Niri nickte. »Seit ihr aufgebrochen seid. Und das, obwohl er gestern bereits bis spät in die Nacht in seinem Erinnerungskreis gesessen hat.«
»Hat noch jemand hier das Gefühl, er übertreibt es mit seiner fixen Idee?«, fragte Apllut.
»Er nutzt seine Zeit, so gut er eben kann«, verteidigte Caldenhus den Prinzen von Staub und Schatten. »Auch wenn ich seine Methoden nicht wirklich nachvollziehen kann.«
»Ich gehe und sehe nach ihm«, bot Niri sich an.
»Dann mache ich den restlichen Eintopf warm«, verkündete Jonah und entzündete mit einem Schnipsen die Feuerstelle. »Wir brauchen den Platz im Topf für unsere frische Beute.«
»Wir sollten einen Teil des Fleisches räuchern«, hörte Niri Harduul sagen, während sie die Treppe emporstieg.
»Gute Idee. Dann ist unser Feuerbeuger wenigstens mal zu etwas nutze …« Aplluts Stimme wurde undeutlicher, als Niri das Turmzimmer des Spähpostens betrat. Sie ignorierte die kleine Nische linker Hand, die sich nach dem Einsturz der Decke gebildet hatte und ihrem provisorischen Abort Platz bot, und zwängte sich zwischen mehreren Steinbrocken zu einer kleinen, halbrunden Fläche zu ihrer Rechten hindurch, die Tarikh vor einigen Wochen eigenhändig freigeräumt hatte. Dort saß der Adlige im Schneidersitz mit geschlossenen Augen und murmelte undeutlich vor sich hin. Auf dem Boden um ihn herum lagen sein Dolch, der in Alt-Aun-Mal geschriebene Foliant sowie mehrere dicht beschriebene Pergamentseiten mit Notizen.
»Es gibt gleich Essen«, raunte Niri leise.
Tarikhs Kopf ruckte empor, er öffnete die Augen und sah sich zu ihr um. »Frühstück oder Mittagessen?«
»Frühstück.« Niri lächelte schief. »Wenigstens bist du dir der Tatsache bewusst, wie sehr dich deine Erinnerungsversuche in ihren Bann ziehen.«
Tarikh erhob sich und streckte stöhnend den Rücken durch. »Keine Versuche«, korrigierte er. »Ich erziele echte Erfolge. Mir wurde so vieles mündlich überliefert, als ich noch ein Kleinkind war. Erzählungen, die innerhalb meiner Familie weitergegeben wurden und von denen ich glaube, dass sie mit meiner Gabe zu tun haben.«
Niri wusste, wie Tarikhs Argumentation weiterging. Jenes Wissen hätte gefestigt werden müssen, damit es sich in seinem Geist verankerte, aber dann war er eine Waise geworden und niemand, der die Worte kannte, hatte diese Verinnerlichung weiterführen können. Also versuchte Tarikh nun, die Bruchstücke zusammenzufügen, die in den Tiefen seines Verstandes schlummerten.
»Irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
Tarikh schüttelte den Kopf. »Ich versuche das, woran ich mich in den letzten Wochen erinnert habe, nicht wieder zu vergessen und in Stichworten festzuhalten.« Er deutete auf seine Notizen. »Wir haben kaum noch Tinte. Gleich einem Schatzsucher mit zu viel Beute ist es mir daher momentan nur möglich, die Fundorte so vollständig wie möglich zu markieren, um später zurückzukehren und sämtliche zurückgelassenen Kostbarkeiten zu bergen.«
»Wie poetisch«, scherzte Niri.
Tarikh schüttelte den Kopf. »Ich meine es ernst. Was, wenn ich etwas wieder vergesse, das dann für immer fort ist?« Er sah ihr tief in die Augen. »Wir müssen zurück zur Akademie. Dringend.«
»Kennst du einen Weg hinauf?«, fragte sie beißender als gewollt. »Wenn ja, verrate ihn mir gerne.«
Tarikh überging ihren Tonfall. Sie alle hatten gelernt zu akzeptieren, dass diese kleinen Ausbrüche untereinander anhalten würden, bis sie wieder in Sicherheit waren. Sie schienen die Erde zu spiegeln, die ab und zu erbeben musste, um die Spannung in ihrem Inneren abzubauen. Ein Zittern versetzte den Boden in Schwingungen, und Staub rieselte von der Decke, beinahe so, als hätten Niris Gedanken ein weiteres Beben ausgelöst.
Tarikh und Niri eilten die Treppe hinab, ohne darüber ein Wort zu verlieren. Es war nicht wieder zu einem so starken Beben wie dem ersten gekommen, als sie damals die drei Ankersteine zusammengefügt hatten. Doch bei jeder Erschütterung der Erde legte sich der Schatten der Furcht über die Gemüter der Gefährten, dass sich jene ursprüngliche Verheerung wiederholen könnte. Caldenhus hatte angedeutet, dass der Spähposten dann vollends in sich zusammenfallen könnte, und Harduul hatte ihm sorgenvoll beigepflichtet. Dass sie trotzdem in diesem Gemäuer blieben, zeugte von der Alternativlosigkeit ihrer Lage.
»Da seid ihr ja«, begrüßte Tullpa sie, als sie den Fuß der Treppe erreichten. Der Geruch von gewürztem Kanincheneintopf erfüllte die Kammer und vertrieb Niris Sorgen und Nöte für einen kostbaren Moment. Dazu sorgte die Feuerstelle für eine anheimelnde Wärme, die die allgegenwärtige Feuchtigkeit des Nebels vertrieb.
»Essen wir«, brummte Harduul, der bereits am Tisch saß und die ersten Holzschalen füllte. Praktisch alles, was sie in diesem Unterschlupf an Utensilien oder Möbeln nutzten, war von Apllut notdürftig zusammengezimmert oder geschnitzt worden. Dass sie über ein Minimum an Zivilisation verfügten, lag hauptsächlich am Talent der Wildlinge, Zerbrochenem neues Leben einzuhauchen, und Niri war dankbar dafür.
Alle versammelten sich um den Tisch, und es wurde schweigend gegessen. Ab und an reckte Tullpa den Kopf, nur um ihn dann zu schütteln. Ihr neuester Zauber ließ sie mehrere Hundert Schritt weit spüren, ob sich ihnen ein Lebewesen näherte. Je größer es war, umso früher nahm sie es wahr. Natürlich musste Tullpa diese Spielart ihrer Gabe erst noch meistern, doch seit ein, zwei Wochen begannen die anderen sich mehr und mehr auf ihr Urteil zu verlassen, ob sie gerade in Sicherheit waren oder sich eine Gefahr näherte.
»Übertreibe es nicht mit dem Lauschen«, ermahnte Apllut sie zwischen zwei Löffeln Eintopf. »Wenn deine Magieschuld erlischt, weil du dich zu sehr verausgabst, musst du wieder taub und blind in einer Ecke herumliegen, um den Spähzauber erneut wirken zu können.«
»Ein guter Einwand«, erwiderte Tullpa. »Ich sollte mit meinen Kräften haushalten.«
»Du hast nicht zufällig Grabbelschnack da draußen gespürt?«, fragte Niri hoffnungsvoll.
Die Erdruferin schüttelte den Kopf. »Wollte er nicht den gesamten Tag über versuchen, zur Akademie zu gelangen?«
»Ja schon«, gab Niri zu. »Aber vielleicht hatte er ja Glück und ist schon wieder auf dem Rückweg …« Sie brach ab und aß weiter.
Die Beben hatten viel mehr verändert, als nur einige der Klippenränder des Kraters abbrechen zu lassen. Viele der Flugmonstren reagierten mit äußerster Gereiztheit auf die Erdstöße und kreisten die meiste Zeit des Tages am Himmel, gefangen zwischen dem Instinkt, zu fliehen, und der Anziehungskraft der verschmähten Sigille, die sie zu sich lockte, um sie in eine potenzielle Inkarnation des Ewigen Biests zu verwandeln. Für Niri und ihre Freunde bedeutete dies, dass eine Armee aus geflügelten Kreaturen sie von einer möglichen Kletterpartie aus dem Krater abhielt. Grabbelschnack suchte beständig nach Wegen, zur Sturmfels-Akademie zu gelangen, welche nicht den sicheren Tod versprachen. Seltsamerweise gab es keine erkennbaren Bemühungen, dass man nach ihnen suchte. Sie wussten lediglich, dass die Arbeiten an einem neuen Stummen Schinder eingestellt worden waren, nachdem sie mitansehen hatten müssen, wie eine wütende Knochenschwinge eines frühen Morgens die Holzgerüste in die Tiefe gerissen hatte.
Harduul schob seine leere Schüssel von sich. »Wir sollten uns die Zeit vertreiben, bis Grabbelschnack zurückkehrt. Dieser Hirsch zerlegt sich nicht von allein, und wenn wir es klug anstellen, können wir genügend Vorräte anlegen, um uns zum östlichen Himmelstempel durchzuschlagen.«
Sofort wurde es still im Raum, als der Fahamehr auf den einen Streitpunkt zu sprechen kam, der sie schon seit Wochen umtrieb.
»Nicht das schon wieder«, stöhnte Apllut. »Wie kann man nur glauben, dass es klug wäre, den vierten Ankerstein zu bergen, wenn uns die drei übrigen derart in die Patsche geritten haben?«
Sofort flogen die Argumente altbekannter Positionen durch den Raum, über den Tumult nur als Satzfetzen hörbar.
»Wir müssen zuvor Studien im Turm des Wissens durchführen«, warf Caldenhus ein.
»… den vierten Stein unbedingt sichern, solange wir hier festsitzen«, ergriff Jonah Partei.
»Im Frühling ist die Reise viel zu gefährlich«, ermahnte Tullpa.
Niri schwieg indessen. Sie konnte alle Seiten der Diskussion gut verstehen und hatte sich bisher mal für, mal gegen eine Expedition quer durch den Krater ausgesprochen. Nun, da sie genug Nahrung hatten, um auf dem Weg zum östlichen Himmelstempel nicht auch noch jagen zu müssen, sondern sich ganz auf das Vermeiden gefährlicher Konfrontationen mit Monstren konzentrieren könnten, neigte sie dazu, Harduuls Vorschlag zuzustimmen.
»Warten wir ab, was Grabbelschnack berichtet, sobald er wiederkommt«, warf sie in die Runde. »So lange kümmern wir uns um das Fleisch. Je nachdem, was er sagt, können wir dann immer noch entscheiden, ob wir es hier essen oder auf dem Weg durch den Krater.«
Kapitel 2
Es sollte bis spät in die Nacht hinein dauern, bis Tullpa endlich das Nahen des kleinen Drachen verkündete. Sofort waren alle hellwach, und während Jonah das Holz in der Feuerstelle entzündete, lauschten die Gefährten auf das Obergeschoss, wo Niris geschuppter Freund sich stets durch die Ritzen der Trümmer hindurchzuzwängen pflegte.
»Hallo zusammen!«, erklang nach einem leisen Kratzen die müde Stimme Grabbelschnacks. »Legt schon mal etwas Gold bereit! Ich habe einen Riesenhunger.«
Niri blühte das Herz auf, als sie ihren Freund sah, der, augenscheinlich unverletzt, die Treppe hinabflatterte. Er trug seinen winzigen Helm, und so sehr er für das Rüstungsstück anfangs belächelt worden war, die Schrammen, die es in den letzten Wochen davongetragen hatte, machten deutlich, dass der Helm Grabbelschnack gute Dienste erwiesen hatte. Sie holte jenen Goldteller hervor, den sie vor drei Wochen aus einer der zusammengefallenen Ruinen geborgen hatten, die den Krater übersäten. Das Beben hatte viele von ihnen vollständig einstürzen lassen, und Grabbelschnacks feine Nase für Gold hatte sie schnurstracks zu einigen nun freiliegenden Kleinoden geführt, was der Grund dafür war, weshalb der Drache mittlerweile über einen eigenen, langsam schwindenden Vorrat an Nahrung verfügte. Notgedrungen musste Niri selbstironisch lächeln. Sogar abgeschnitten von der Zivilisation ließ die Jagd nach Gold sie nicht los.
Knirschend versenkte Grabbelschnack seine Zähne in dem weichen Metall und schlug sich genüsslich den Bauch voll, die angespannten Blicke seiner Freunde ignorierend.
»Das macht er mit Absicht, oder?«, beklagte sich Apllut. »Uns hier schmoren zu lassen.«
»If ha’e wi’klich Hun’er«, verteidigte sich der Drache.
»Dann beantworte unsere Fragen eben mit einem Nicken oder Kopfschütteln«, brummte Harduul. »Hast du es bis zur Akademie geschafft?«
Grabbelschnacks Kopf bewegte sich hin und her, woraufhin umgehend ein Stöhnen unter den Gefährten ausbrach.
»Hauptsache, du bist unverletzt, mein Lieber«, tröstete Niri ihren Freund.
Der fraß weiter, die schwarzen Augen halb geschlossen.
Jonah legte gereizt den Kopf schief, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. »Er scheint auffallend guter Dinge für einen Rückschlag zu sein, findet ihr nicht?«
»Fast so, als gäbe es auch gute Neuigkeiten«, fügte Tullpa hinzu. »Ist das so, Grabbelschnack?«
Der gefräßige Drache nickte knapp und biss ein weiteres großes Stück Gold aus dem Teller.
Tanzende Flämmchen erschienen zwischen den Fingern von Jonahs linker Hand. »Wir haben den gesamten Tag auf dich gewartet und uns die halbe Nacht Sorgen um dich gemacht. Ich schwöre dir, wenn du nicht sofort mit uns redest, schmelze ich deinen Teller ein.«
Der Kopf des Drachen ruckte empor. »Bitte nicht! Warmes Gold schmeckt einfach scheußlich!«
»Und höret, er spricht doch«, feixte Apllut.
»Fass dich einfach kurz, dann lassen wir dich in Ruhe essen«, schlug Niri ihrem Freund mit tiefer Wärme in der Stimme vor.
Grabbelschnack setzte sich auf seine Hinterläufe und leckte sich den Goldstaub aus den Mundwinkeln. Niri empfand dies immer als einen herzallerliebsten Anblick, und sie vermutete, dass auch der Taschendrache das mittlerweile wusste und es für seine Zwecke einsetzte.
»Die Knochenschwingen brüten gerade und sind nach jedem Beben besonders aggressiv, aber die Ochsendrachen scheinen sich langsam daran zu gewöhnen, dass die Erde zittert, und bleiben jetzt häufig unberührt in den größten Bäumen des Kraters hocken.« Seine Vorderkralle machte eine vage Bewegung in Richtung Himmel. »Zwei-, dreimal dachte ich, dass ich eine Lücke entdeckt hätte, die frei von Monstren ist, aber jedes Mal lag da irgendein Zangenfalke auf der Lauer, verborgen in den vielen Rissen des Kraterrandes.« Er zuckte mit den Achseln. »Also musste ich meine Versuche, zur Akademie hinaufzufliegen, abbrechen und habe mich stattdessen anderweitig umgesehen, indem ich für wenige Dutzend Herzschläge so hoch wie seit Wochen nicht mehr aufgestiegen bin und mich, sobald mich ein Monstrum bemerkt hat, sofort zurück in den Nebel stürzte.« Seine Augen blitzten auf, als er weitersprach. »Die Luft oberhalb des Nebels war überraschend klar, und ich konnte die drei Befestigungen in Augenschein nehmen, die am östlichen Halbrund des Kraterrandes emporwachsen.«
Caldenhus runzelte die Stirn. »Also sind die Adligen der Splitterlande noch immer nicht von ihrem Vorhaben abgewichen, in den Krater vorzudringen.«
»Im Gegenteil«, erwiderte der Taschendrache. »Sie haben Palisaden rund um ihre Lager errichtet, dazu hölzerne Wachtürme. Armbrustschützen und Machtbeuger vertreiben jedes Monstrum, das ihnen zu nahe kommt, und sie nutzen lange Strickleitern für einen Abstieg in den Krater, die in regelmäßigen Abständen heruntergelassen und wieder eingeholt werden.« Grabbelschnack schluckte. »Diese Leitern sind echt gefährlich. Ich sah einen Späher zu Tode stürzen, als ein Zangenfalke ihn auf halber Höhe angriff.«
»Warum habe ich den Eindruck, dass du viel mehr Zeit damit verbracht hast, näher an diese Lager heranzufliegen und sie zu beobachten, als du uns weismachen willst?«, fragte Harduul nach.
»Na ja«, erwiderte Grabbelschnack zögerlich. »Ich glaube, sie wären eure beste Möglichkeit, den Krater zu verlassen. Im Gegensatz zur Akademie setzen jene Adlige alles daran, die Sturmfelsen hinabzugelangen.«
»Aus ihren eigenen habgierigen Motiven heraus«, fügte Caldenhus steif hinzu. »Sie sind hinter dem Thron Aelderheyms her.«
Jonah winkte ab. »Das war doch zu erwarten. Schon letztes Jahr haben sich ihre Kundschafter am Kraterrand getummelt, und nach dem großen Beben wird auch der letzte Höfling begriffen haben, dass sich im Krater etwas Gewaltiges tut.«
»Er hat recht«, sprang Niri dem Feuerbeuger bei. »Unsere Suche nach den Ankersteinen ist schon lange kein Geheimnis mehr, und wir wussten, dass die Adligen der Splitterlande sich irgendwann einmischen würden.« Sie kaute nachdenklich auf der Innenseite ihrer Wange herum. »Wir könnten sie um Hilfe bitten – solange wir sicherstellen, dass sie uns nicht die Ankersteine fortnehmen.«
»Sollen sie das ruhig versuchen«, grinste Apllut und tätschelte vielsagend seine Dolche.
»Ganz toll«, stöhnte Tullpa. »Und schon denkt mein Bruderherz wieder mit seinen Waffen.«
»Ein Blutbad unter einer der Adelsfamilien der Splitterlande anzurichten wäre kaum der richtige Weg«, erklärte Harduul entschieden in Richtung des Pri-emdrals. »Wir sollten ihnen besser so gut wie möglich aus dem Weg gehen.«
Tarikh lachte leise. »Und schon haben wir unsere nächste Diskussion. Ich denke nämlich, dass wir so schnell wie möglich in die Akademie zurückkehren sollten. Bald beginnt das neue Jahr, und wenn wir dann nicht anwesend sind, verlieren wir unsere Plätze im Turm der Könige.«
Ungläubig wandte sich Niri an Caldenhus. »Das kann unmöglich stimmen, oder? Schließlich ist es nicht unsere Schuld, dass wir hier festsitzen.«
»Über Letzteres könnte man streiten«, murmelte Jonah mit einem Blick auf die Ankersteine auf Caldenhus’ Brust.
Der Gelehrte hob indes entschuldigend die Hände. »Die Regeln der Sturmfels-Akademie sind eindeutig: Wenn die Verspätung eines Aeleven nicht rechtzeitig und durch Angabe plausibler Gründe angekündigt wird, verfällt sein Platz für das laufende Akademiejahr und kann erst wieder zum nächsten Sommer eingefordert werden.«
»Immer diese blöden Regeln«, maulte Apllut. »Wer denkt sich nur so einen Mist aus?«
»Es reisen Sprösslinge aus ganz Deatril an, um hier unterrichtet zu werden«, erklärte Caldenhus verschnupft. »Da sind strenge Regeln für die Vergabe der Turmplätze nun einmal unerlässlich.«
»Lasst gut sein«, beschwichtigte Niri den alten Mann. »Es ist keineswegs unser erstes Jahr an der Sturmfels-Akademie. Wir sind diese Art Regeln gewöhnt.«
»Die Lösung ist doch ganz einfach«, verkündete da Grabbelschnack. »Wir haben ohnehin gerätselt, ob wir den östlichen Himmelstempel aufsuchen sollen, und da sich die drei Lager der Adligen auch am Ostrand des Kraters befinden, könnten wir erst den Tempel aufsuchen und dann diese Adligen um Hilfe beim Verlassen des Kraters bitten.«
»Klingt, als hättest du für uns das Denken übernommen«, grummelte Apllut.
Der Drache blickte den Wildling gelassen an. »Irgendwer muss es ja tun.«
Niri sah sich unter ihren Freunden um, der Konflikt stand jedem von ihnen ins Gesicht geschrieben. Harduul rang mit seinem Wunsch, den Tempel aufzusuchen, und gleichermaßen mit seiner Sorge, den Adligen in die Fänge zu geraten.
»Wir müssten als Erstes herausfinden, mit welchen Adelshäusern genau wir es zu tun haben würden«, grübelte Jonah, die Hand am Kinn. »Ein Lager, das zu den Zarmasuls gehört, sollten wir besser nicht um Hilfe bitten.«
Niri zuckte bei der Nennung jener Familie zusammen. Fiandra und Xamralin Zarmasul waren jahrelang Niris eingeschworene Feinde an der Akademie gewesen – und waren es noch, wenn auch seit über einem Jahr lediglich aus weiter Ferne, da beide die Sturmfels-Akademie verlassen hatten.
»Es gibt auch noch weitere Fragen zu berücksichtigen«, warf Tarikh ein. »Arbeiten die drei Lager zusammen oder gegeneinander? Stehen sie treu zu Malkar oder haben sie sich von ihm abgewendet?«
Caldenhus putzte nervös seine Augengläser. »Letzteres ist leicht zu beantworten. Malkar hat allen außer den Aeleven der Akademie den Zutritt zum Krater untersagt. Dementsprechend scheinen diese Adelsexpeditionen sich offen seinen Geboten zu widersetzen.«
»Es sei denn, Malkar hat dieses Verbot inzwischen aufgehoben, weil er selbst erkannt hat, dass die Lösung des Rätsels um den versiegelten Palast Aelderheyms kurz bevorsteht«, wandte Jonah ein. »Schließlich geht es ihm einzig um die verschollene Sigille des toten Gottes Shalvinhur, die sich darin befindet, und dass er sie für sich erbeuten kann.«
Niri sah zu Caldenhus herüber. »Wie wahrscheinlich ist es, dass der Karmesinrote Gott ein Edikt ändert, das er vor Jahrhunderten erlassen hat?«
»Ich halte es für denkbar«, antwortete der Gelehrte mit einem schwachen Achselzucken. »Sein Gebot sollte lediglich sicherstellen, dass ein Aeleve die Sigille in die Finger bekommt, also jemand, mit dem er leichtes Spiel haben würde. Nun, da offen gegen seine Gesetze rebelliert wird, könnte er seinen Anhängern befohlen haben, sich am Wettrennen um den Palast zu beteiligen.«
»Wir wissen einfach zu wenig über das, was außerhalb des Kraters vor sich geht, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können«, seufzte Jonah.
»Fundi- was?«, fragte Apllut. Irritiert sah er sich um, als niemand auf seine Stichelei einging. Alle hingen ihren Gedanken nach und wälzten einen Haufen Fragen, auf die es keine Antworten gab.
Denn auch wenn keiner von ihnen die Möglichkeit angesprochen hatte, gab es ein offensichtliches Argument, das ihr Handeln in eine bestimmte Bahn zwingen würde: Was, wenn die Adligen den östlichen Ankerstein bargen? Oder wenn sich unter ihnen ein Anbeter des Ewigen Biestes befand, dem es gelang, jenes letzte Kleinod vor der Nase der Gefährten wegzuschnappen, weil ihnen der Mut gefehlt hatte, zu handeln, als noch Zeit gewesen war?
»Kannst du auch nicht schlafen?«
Zu Niris Überraschung war es Jonah und nicht Harduul, der sie in der Stille des zusammengestürzten Obergeschosses aufsuchte. Sie hatte sich mit angezogenen Beinen in Tarikhs winzigen Alkoven zurückgezogen, um in Ruhe nachzudenken, und ein kleiner Teil von ihr hatte gehofft, dass Harduul ihr hier oben Gesellschaft leisten würde. Dann hätten sie seit langer Zeit mal wieder über ihre Gefühle zueinander reden können, etwas, das sie tunlichst vermieden hatten, seit sie hier im Krater gefangen waren. Niri war gänzlich mit der Offenbarung beschäftigt gewesen, dass sie eine Aethrim war, und auch Harduul hatte seine inneren Mauern hochgezogen, vollends in der Rolle des beschützenden Fahamehrs gefangen.
»Es gibt viel zu überdenken«, erwiderte Niri unverbindlich. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit Jonah sprechen wollte, bevor sie Gelegenheit hatte, in Ruhe die Optionen der Gefährten abzuwägen. Seit der Feuerbeuger nach dem Verlust seines Armes sein Selbstvertrauen zurückerlangt hatte, war er noch selbstsicherer als zuvor. Seine Verbissenheit ließ sich nun beinahe mit der von Harduul messen.
Jonah ließ sich ihr gegenüber im Schneidersitz nieder, und plötzlich glomm sein Stahlarm gerade weit genug auf, dass sie einander in die Augen sehen konnten. »Du hast recht. Es könnte eine Menge schieflaufen, sollten wir nach Osten aufbrechen.«
Niri lächelte schwach. Und schon ging ihr kleines Tänzchen los. »Falls wir nach Osten aufbrechen, meinst du wohl.«
Jonah schnaubte. »Bitte, Niri, du weißt so gut wie ich, dass wir keine andere Wahl haben. Der letzte Ankerstein könnte in fremde Hände fallen, wenn wir diese Adligen ignorieren. Je eher wir uns eingestehen, dass wir den Himmelstempel vor ihnen erreichen müssen, umso eher können wir uns darauf konzentrieren, mit welcher Vorgehensweise wir am besten sowohl den Ankerstein sichern als auch den Krater verlassen können.«
»Selbst du gehst normalerweise subtiler vor, wenn du jemanden überzeugen willst«, seufzte Niri. »Warum die Eile?«
Er lächelte, aber es war überraschenderweise keine triumphierende, sondern eine warmherzige Geste. »Weil du klug genug bist, um zu demselben Schluss gekommen zu sein. Und weil wir uns viel zu lange kennen und viel zu gerne haben, um Zeit an aufwendige Finten zu verschwenden.«
»Also schön«, gab Niri zu. »Der Himmelstempel muss unser Ziel sein, da gebe ich dir recht. Die eigentliche Frage ist, versuchen wir unser Glück bei einem der Lager und bitten um Hilfe oder ziehen wir uns mit den Ankersteinen wieder hierher zurück und hoffen, dass die Akademie uns irgendwann aus dem Krater rettet?«
Jonah verzog das Gesicht. »Ich bin kein großer Freund davon, sich defensiv zu verhalten, wenn sich eine konkrete Lösung für unser Dilemma anbietet. Bei drei verschiedenen Lagern sollte doch eines darunter sein, das uns helfen wird. Die Ankersteine könnten wir gut versteckt mit uns tragen und behaupten, sie hätten sich selbst zerstört, als sie die Beben auslösten. Vielleicht werden die Bewohner dieser Lager uns befragen und durchsuchen, aber ich bin mir sicher, Apllut findet einen Weg, die Steine an ihnen vorbei zu schmuggeln.«
Niri nickte nachdenklich. Jonahs Ansatz klang gut, auch wenn sein Vorschlag erst einer eingehenden Prüfung durch sie und die anderen unterzogen werden müsste. »Und du bist sicher, wir werden diese Lager ungehindert verlassen können?«
»Warum nicht?« Jonah besah seine Fingernägel. »Wenn wir ein Lager finden, das einer der Akademie freundlich gesinnten Adelsfamilie untersteht, und dort unsere Geschichte von den zerstörten Ankersteinen plausibel vortragen, werden dessen Bewohner kaum etwas anderes tun können, als uns laufen zu lassen.« Er sah Niri verschmitzt an. »Schließlich sind wir noch immer Aeleven der Akademie, was uns einen gewissen Schutz bieten sollte. Das Schlimmste, das passieren könnte, ist, dass sie uns unsere Waffen abnehmen und …«
»Nein«, stieß Niri umgehend hervor. »Das geht nicht!«
Jonah blinzelte überrascht. »Wieso?«
Niri rang um Worte. Wie sollte sie ihm klarmachen, dass sie sich nicht von Vasdram trennen konnte, ohne zu verraten, dass die Waffe die Sigille der Gegenwart trug? Die Antwort auf ihr Dilemma war so einfach wie klar. Sie musste ihm reinen Wein einschenken.
»Es gibt da etwas, das ich mit dir und den anderen bereden muss«, sagte sie schließlich widerwillig. »Eigentlich hatte ich gehofft, damit warten zu können, bis wir wieder in der Akademie sind, aber offensichtlich war das ein Wunschtraum.«
»Du hast ein Geheimnis?«, fragte Jonah übertrieben erstaunt. »Das ist ja etwas ganz Neues.«
Niri seufzte ergeben. »Du wusstest es schon, nicht wahr? Dass ich etwas verberge?«
Der Feuerbeuger griff flüchtig ihre Hand, um sie zu drücken. »Ach, Niri. Es ist ja nicht so, als hättest du noch nie etwas für dich behalten. Apllut nimmt schon Wetten drauf an, wann du uns endlich einweihst.«
»Diesmal ist es nichts Schlimmes, versprochen«, sagte sie mit einem hilflosen Lachen. Es tat gut, zu wissen, dass ihre Freunde sie einerseits durchschaut, ihr aber andererseits genug Raum gelassen hatten, damit sie einige Wochen auf ihrem Problem herumkauen konnte. »Genaugenommen sind es Neuigkeiten von derartigem Ausmaß, dass es mir schwerfällt, über sie zu reden.«
Jonahs Blick änderte sich, wurde wachsamer. »Jetzt machst du mich gleichermaßen neugierig und ängstlich.«
Niri deutete zu ihrer Waffe hinüber, die direkt neben dem Alkoven stand, in dem sie sich mit Jonah unterhielt. »Es geht um Vasdram«, tastete sie sich zögerlich an die Wahrheit heran.
Der Feuerbeuger nickte. »So viel war klar. Seit dem Beben entfernst du dich nie mehr als zwei Armlängen von deiner Waffe.«
Sie stutzte. »Ist das so?«
Jonah nickte schweigend, und Niri fühlte sich ertappt. Ein solches Verhalten hätte ihr doch auffallen müssen! Was Jonah beschrieb, würde bedeuten, dass Niri Vasdram selbst dann mitgenommen hatte, wenn sie den improvisierten Abort aufgesucht hätte …
»Oje«, flüsterte sie, als ihr klarwurde, dass sie genau das getan hatte. Den Klingenspeer zu packen und mit sich zu führen, war eine Handlung geworden, die tief in ihrem Unterbewusstsein verankert worden war. Zum Beispiel von einer Sigille, die damit begann, ihre Trägerin dem eigenen Willen zu unterwerfen.
»Oje!«, wiederholte Niri bestürzt, ihre Stimme nicht mehr als ein Hauchen.
Jonah beugte sich vor. »Was ist los?«
»Ich glaube«, sagte sie matt, »dass meine Neuigkeiten doch nicht so gut sind, wie ich bisher dachte …«
Das Frühstück am nächsten Morgen erschien Niri quälend lange. Der herrlich gewürzte und über dem Feuer geröstete Hirschbraten wollte ihr nicht so recht schmecken, und die Blicke ihrer Freunde zeugten von unverhohlener Neugier und Sorge. Sie war in der Nacht mit Jonah übereingekommen, dass sie nach dem Frühstück reinen Tisch machen wollte, und der Feuerbeuger hatte diese Ankündigung offensichtlich nicht für sich behalten können. Selbst Grabbelschnack tat nichts weiter, als jeder ihrer Bewegungen mit neugierigem Blick zu folgen, und schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, dem Essen einen Hauch von Normalität abgewinnen zu wollen.
»Als ihr mich noch offen gedrängt habt, meine Geheimnisse zu teilen, hat mir das besser gefallen«, maulte sie schließlich ungnädig und schob ihre Schüssel von sich.
Ein unruhiges Lachen erhob sich unter ihren Freunden, die durchaus begriffen, dass Niris kleiner Ausbruch eher ihr selbst als ihnen galt.
»Wann immer du so weit bist«, sagte Harduul mitfühlend. Mittlerweile hatten alle bis auf Apllut das Essen eingestellt, doch selbst der Pri-emdral sah Niri auffordernd an, die Zähne in einer Hirschkeule vergraben.
Niri griff hinter sich und holte Vasdram hervor, welcher an der nahen Wand gelehnt hatte. Dann schob sie die Schüsseln auf dem Tisch weit genug beiseite, dass sie die Waffe der Länge nach auf das Holz legen konnte. Sie achtete darauf, dass die Sigille gut sichtbar auf dem Blatt erkennbar war und deutete dann darauf.
»Was seht ihr hier?«, fragte sie in die Runde.
»’n Haufen Kratzer«, nuschelte Apllut hinter seiner Keule hervor.
Harduul nickte. »Dieser dort ist von deinem Kampf mit dem Grug-emdral, dieser stammt vom Tod des Blutzahns, der da wurde während der Entscheidungsschlacht mit Aschenmoor hinzugefügt …« Er runzelte die Stirn. »Was für ein seltsamer Zufall. Jede dieser Markierungen symbolisiert einen Konflikt, in dem du über dich hinausgewachsen bist.«
Niris Mund wurde trocken. »Und sonst fällt euch nichts auf?«
Alle ihre Freunde beugten sich über die Waffe, Grabbelschnack trippelte sogar bis zur Schneide vor und beäugte sie aus nächster Nähe.
»Die sehen sehr hübsch poliert aus«, verkündete der Taschendrache. »Und schön gleichmäßig, beinahe wie kunstvoll hineingearbeitet.« Er drehte ihr auf seinem langen Hals den Kopf zu. »Hast du Fumur diese Kerben zu einem Muster umarbeiten lassen? Ist das dein Geheimnis?«
Niri musterte einen nach dem anderen. In all ihren Blicken spiegelte sich Ahnungslosigkeit. Selbst Caldenhus putzte seine Augengläser, schaute abermals hindurch und schien vollkommen ratlos zu sein, was er da dicht vor sich sah.
»Das sind keine Kratzer, und es ist auch kein Ziermuster«, sagte sie schließlich irritiert. »Das ist eine Sigille.«
Keine Reaktion erfolgte, wenn man mal von Harduul absah, der sich am Kopf kratzte. »Was denn für eine Sigille? Meinst du ein altes Familienwappen der Aeldae, oder –?«
Niri platzte der Kragen. Sie warf die Arme in die Luft und schrie: »Eine Sigille der Schöpfung, ihr Holzköpfe! Ich bin die Aethrim der Gegenwart!«
Nun starrten ihre Gefährten sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Einzig Caldenhus schien Niris Offenbarung nicht aus dem Konzept gebracht zu haben.
»Vielleicht …«, begann der Gelehrte zögerlich. »Vielleicht legst du deine Finger auf die Waffe und wiederholst deine Worte?«
Niri wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber tat, wie vorgeschlagen, und verkündete: »Ich bin die Aethrim der Gegenwart.« Sofort spürte sie die Anwesenheit der Sigille in ihrem Verstand gleich einer Erweiterung ihres Selbst, und das verschlungene Zeichen auf dem Klingenblatt glomm silbrig auf.
»Das … das ist nicht möglich!«, stieß Jonah hervor.
Tarikh schüttelte den Kopf. »Direkt vor unserer Nase …«
»Oh Niri! Ich wusste schon immer, du bist etwas ganz Besonderes«, freute sich Grabbelschnack und flatterte ihr auf die Schulter, um sich an sie zu schmiegen und sie mit seiner Drachenglut zu erfüllen.
»Wie außergewöhnlich«, stammelte Caldenhus und rückte seine Augengläser zurecht. »Eine gewachsene Sigille – dass ich so etwas jemals zu Gesicht bekommen würde …«
Harduul sah Niri an, als würde eine völlig Fremde vor ihm sitzen. »Du bist eine Aethrim …« Seine Stimme klang, als würde er träumen – oder zumindest hoffen, dass er träumte.
Niris Herz verkrampfte sich. War er etwa neidisch? Oder hatte nun gar Angst vor ihr? »Ich bin, was ich schon immer war«, sagte sie herausfordernd. »Nur dass meine Geistmagie jetzt einen anderen Namen hat.«
»Mit Verlaub, das ist Unsinn«, erwiderte Jonah barsch. »Du bist auf dem Weg, eine Göttin zu werden. Dies zu leugnen, bringt dich schneller ins Grab, als du Malkar sagen kannst.«
»Oh verdammt!«, heulte Apllut auf. »Stimmt ja! Der alte Feuerkopf wird ganz außer sich sein!«
Niri hatte mit ähnlich chaotischen Reaktionen gerechnet, aber ihr Blick hielt einzig den von Harduul gefangen. Der Fahamehr rang sichtlich um Fassung. Leider konnte Niri nicht einschätzen, was in ihm vorging, wohin ihn die Offenbarung treiben würde, dass die Frau, die sein Herz zu erobern versuchte, eine Aethrim war.
»Wie lange weißt du es schon?« Tarikhs bedächtig gestellte Frage riss sie aus ihrer Betrachtung des Fahamehrs hervor. Es kam ihr vor, als würde sie vor einem stummen Kampf flüchten, während sie ihren Kopf dem Prinzen von Staub und Schatten zuwandte. »Seit unserem Kampf mit der Albfrau«, erklärte sie. »Ich wurde damals vom Jungen im Zimmer aus dem Fluss der Zeit gezogen, weil ich darin zu versinken drohte, und er offenbarte mir, was ich selbst nicht erkannt habe.« Ihr kam ein Gedanke, dem sie umgehend folgte, schon allein, um nicht länger über Harduul nachdenken zu müssen. »Auch mir war nicht klar, was sich da auf Vasdrams Klingenblatt gebildet hatte.« Sie wandte sich an Caldenhus. »Können sich Sigillen tarnen?«
Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Nicht aktiv, wenn du das damit meinst. Wenn eine Sigille sich an einem unscheinbaren Ort manifestiert, wie beispielsweise auf der Innenseite eines Lederbeutels, da ist sie natürlich leicht zu übersehen, aber erblickt man sie, weiß normalerweise jedes vernunftbegabte Wesen, was es da ansieht.«
»Und wieso nicht bei Vasdram?«, fragte Niri, mit einem Mal seltsam in ihrem Stolz gekränkt. Das nagende Gefühl schien jedoch eher von außen zu kommen als aus ihr selbst.
»Weil deine Sigille noch sehr … jung ist, könnte man sagen. Neu geformte Sigillen benötigen Zeit, um ihre volle Macht zu entfalten. Deine benötigte Jahre, um überhaupt erkennbar zu werden. Für eine Weile wird man jeden Betrachter noch mit der Nase drauf stoßen müssen, dass du eine Aethrim bist. Doch mit der Zeit wird wohl eher das Gegenteil der Fall sein: Du wirst es vor nichts und niemandem verbergen können.«
Niris Stimmung besänftigte sich merklich, und der Eindruck, das Gefühl der Kränkung gehöre gar nicht zu Niri, sondern zu jemand anderem, verfestigte sich. Sie löste die Finger von Vasdram, und sofort verschwand die Fremdwahrnehmung. Sie fluchte leise.
»Niri?«, fragte Grabbelschnack dicht neben ihrem Ohr. »Haben wir etwas Falsches gesagt?«
Sie streichelte ihn mit einem Finger. »Nein, mein Lieber. Aber all die Geschichten über das Ringen zwischen Sigille und Träger sind nicht mehr länger nur schauerliche Erzählungen, die man sich bei einem Schlauch Wein erzählt.« Sie sah in die Runde. »Ich habe die Befürchtung, sie werden für mich zur Realität.«
Für einen Moment kehrte Schweigen am Tisch ein, bis Apllut die Achseln zuckte und lautstark verkündete: »Und wenn schon. So eine junge Sigille kann auch nicht hartnäckiger als der Fluch eines Blutzahns sein. Bei deiner Willenskraft bringst du diese paar magisch erwachten Kratzer auf deiner Waffe doch im Nu unter Kontrolle.«
Tullpa griff nach Niris Hand und hielt sie fest. »Ich höre immerzu das Windwispern und widerstehe ihm. Vielleicht können dir einige meiner Erfahrungen helfen, die ich im Kampf dagegen gewonnen habe.«
Harduul beugte sich vor und legte seine Finger auf Niris andere Hand. »Es ist, wie du sagst«, murmelte er leise. »Du bist, wer du schon immer warst.« Sein Blick hob sich, verschränkte sich mit dem ihren. Sie spürte, wie ihre Ängste, ihre Zweifel verflogen, als er weitersprach. »Und wir bleiben dir treu, so, wie wir es schon immer waren.«
Kapitel 3
Was bedeutet Niris Aufstieg konkret für uns?«, fragte Jonah in die Runde. Der Adlige blieb erstaunlich gelassen, ja distanziert, fast so, als würde er seinem Verhalten Fesseln auferlegen, die er nicht zu sprengen gedachte. Niri wusste, wie sehr Jonah nach magischer Macht strebte und wie hart es ihn getroffen hatte, dass er nur das Talent eines Machtbeugers, aber nicht eines Machtformers besaß. Er hatte ihre Entwicklung von einem magisch untalentierten Kohlemädchen bis zu einer Aethrim miterlebt. Sich auf höflich distanzierte Art zurückzuhalten, um keinerlei Neid zu zeigen, war wahrscheinlich das Höchste an Zuneigung, das er für den Moment aufbringen konnte. Niri beschloss, in seinem Verhalten, darin, dass er sich derart Mühe gab, ihre Gefühle nicht zu verletzen, eine große Ehre zu sehen.
»Zuerst einmal das Offensichtliche«, antwortete Tullpa auf die Frage des Feuerbeugers. »Malkar wird hinter Niri her sein, wenn er herausfindet, dass auf Deatril eine neuerschaffene Sigille existiert.«
»Dann muss es unsere größte Bemühung sein, ihm dieses Wissen vorzuenthalten«, sagte Tarikh entschieden.
»Und wie stellen wir das an?«, fragte Apllut. »Übermalen wir Vasdrams Klingenblatt mit Teer?«
»Nur wenn du willst, dass ich meine Waffe nicht mehr benutzen kann«, warf Niri ein. »Aber vielleicht kennt Fumur einen Trick, die Sigille mit etwas zu verdecken, das die Klinge nicht beeinträchtigt.«
Caldenhus schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wird auf Dauer nicht gelingen. In dem Moment, in dem die Sigille ihre Macht erst einmal dauerhaft auszustrahlen beginnt, wird sie für Fremde auf den ersten Blick erkennbar sein. Man wird sie spüren, ob sie nun verdeckt wird oder nicht.«
Niri wurde kalt. »Also ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich Malkar gegenüberstehe?«
Der Gelehrte sah sie traurig an. »Wenn du dich nicht von deiner Sigille trennst, dann ja.«
»Ein Grund mehr, in den Palast zu gelangen«, sagte Jonah energisch. »Dort liegt eine weitere Sigille. Wenn Niri sie an sich nimmt, fehlt ihr nur noch eine dritte, um eine Göttin zu werden. Dann könnte sie Malkar die Stirn bieten.«
»Ein grauenhafter Plan mit sehr vielen Fallstricken«, widersprach Tarikh. »Niri hat uns doch gerade erzählt, dass sie erst seit Kurzem mit der Sigille der Gegenwart zu ringen beginnt. Und da soll sie innerhalb kürzester Zeit auch noch jene in Besitz nehmen, die seit Shalvinhurs Tod verschmäht wurde? Ganz zu schweigen davon, dass sie irgendwo noch eine dritte finden und auch diese meistern müsste? Was du da beschreibst, dauert schlimmstenfalls Jahre, und die wird Malkar Niri sicher nicht gewähren.«
Niris Gedanken wanderten unwillkürlich zum Jungen im Zimmer. Er besaß die Sigille der Zukunft, die jenes gesplitterte Fenster zusammenhielt, das im Augenblick zwischen Unversehrtheit und Zerstörung gefangen war. Der geheimnisvolle Aeldaeknabe hatte ihr bei ihrem letzten Zusammentreffen klargemacht, dass er Niri nicht bekämpfen könnte, sollte sie ihm seine Sigille streitig machen wollen. Wenn sie die Sigille der Zukunft mit der im Palast von Aelderheym kombinierte …
Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Was für eine Art von Göttin würde sie wohl werden, wenn sie auf dem Weg dorthin einen Freund betrog und noch dazu jene Aufgabe verriet, die sie die letzten Jahre verfolgt hatte: Niemand durfte die verschmähte Sigille in die Finger bekommen. Sie musste vernichtet werden! Erst dann konnte sie rein und unschuldig wiedererstehen – so wie es der Sigille der Gegenwart in Niris Obhut ergangen war.
»Geht es dir gut?«, fragte Harduul, dem Niris Kopfschütteln nicht entgangen war.
»Ich möchte keinerlei Pläne dazu hören, wie ich eine Gottheit werden könnte«, erwiderte sie schlicht. »Mich überfordert schon der Gedanke, eine Aethrim zu sein.«
»Womit wir zurück bei meiner ursprünglichen Frage nach den konkreten Auswirkungen von Niris Offenbarung sind«, ließ Jonah vernehmen.
»Nun«, begann Caldenhus mit einem Hüsteln. »Sobald Niri ihre Sigille gemeistert hat«, er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, »oder sie dem Willen ihrer Sigille unterliegt, wird die Verbindung zwischen ihnen vollständig sein. Dann wird Niri stärker, schneller und widerstandsfähiger als ein gewöhnlicher Mensch sein, und auch viel langsamer altern.«
Ihr schwindelte. Natürlich wusste sie all das, was der Daekhan da gerade gesagt hatte, schon, aber dass diese Aussage auf ihre eigene Zukunft zutreffen sollte, kam ihr vollkommen surreal vor.
»Wenn Malkar sie nicht einfach vorher zermatscht«, fügte Apllut hinzu und holte Niri rasch auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Eile ist geboten«, beschied Harduul im besten Fahamehr-Tonfall. »Wir müssen aus diesem Krater raus, bevor jemand Vasdram als das erkennt, was es ist. Sind wir erst in der Akademie, können wir Niris Waffe für eine Weile vor neugierigen Blicken verstecken. Erfährt niemand von der Sigille, bleibt auch Malkar unwissend.«
»Ist das so?«, fragte Tullpa in Caldenhus’ Richtung. »Kann der Karmesinrote Gott Niris Sigille nicht von der Langen Tafel aus spüren?«
Der Gelehrte zuckte mit den Achseln. »Wer, außer den Göttern, kann das schon wissen?«
»Nun, wir können nur beeinflussen, was hier unter uns Sterblichen geschieht«, sagte Tullpa. »Daher halte ich Harduuls Verschlag für unsere beste Vorgehensweise. Wir schaffen Niri und ihre Sigille aus dem Krater und verbergen beide in der Akademie.«
»Und nebenbei enträtseln wir noch das Geheimnis der Ankersteine«, ergänzte Caldenhus. »Denn der Bedrohung durch ein neuerliches Ewiges Biest müssen wir trotz allem einen Riegel vorschieben.«
»Wenigstens haben wir nun eine Aethrim auf unserer Seite, sollte eines der Monstren des Kraters sich die verschmähte Sigille einverleiben«, sagte Apllut leichthin.
»Was habe ich für ein Glück«, murmelte Niri. »Wenn ich mich nicht gerade Malkar stellen muss, soll ich also eine mögliche Inkarnation des Ewigen Biestes aufhalten.« Sie sah sich mit übertrieben gequältem Gesichtsausdruck um und deutete auf Vasdram. »Will wer von euch sich als Aethrim versuchen?«
Alle lachten, nur Jonah hielt ihr für einen Moment seine ausgestreckte Hand hin, als erwarte er, sie würde ihm Vasdram in die Finger drücken. Dann lachte auch er, wenn auch eine Spur freudloser als der Rest.
»Damit haben sich unsere übrigen Diskussionen zerschlagen, nicht wahr?«, fragte Tarikh. »Wir müssen zum östlichen Himmelstempel und dort den vierten Ankerstein an uns nehmen, um dann mit einem der Adligenlager an den Klippen Kontakt aufzunehmen. Dies ist der schnellste Weg, unsere unterschiedlichen Ziele gleichzeitig zu erreichen.«
»Dafür müssten wir wissen, wer genau dort oben die Lager errichtet hat«, wandte Jonah ein. »Grabbelschnack, hast du …?« Er sah sich um. »Wo ist er denn hin?«
Niri runzelte die Stirn. »Grabbelschnack?«, rief sie laut.
»Ich komme gleich«, ertönte die Antwort des kleinen Wesens aus dem Obergeschoss. Kurze Zeit später flatterte er herab, die Vorderkrallen voller Ruß. Bevor Niri fragen konnte, was er vorhatte, schmierte Grabbelschnack die schwarze Substanz auf Vasdrams Klingenblatt. Schnell wirkte die Waffe dreckig, und die Sigille war unter einer dunklen Patina verborgen. »So«, verkündete der Drache. »War doch ganz einfach.«
»Wenn auch unnötig«, unkte Harduul. »Solange Niri nicht erwähnt, dass sie eine Aethrim ist, sollte jeder auf dem Klingenblatt zum jetzigen Zeitpunkt nur Kratzer erkennen können.«
»Sicher ist sicher«, erwiderte Grabbelschnack streng. »Und jetzt schnappt euch eure Sachen! Niris Leben könnte davon abhängen, wie lange ihr hier trödelt!«
Gerührt lächelte sie ihren kleinen Freund an. Wahrscheinlich hatte er den Großteil der Diskussion verpasst und war kurzerhand nach oben geflogen, um dort Ruß von der Decke zu kratzen, wo der Rauch ihrer Feuerstelle durch die Trümmer abzog. Er schenkte ihr einen besorgten Blick, der in seiner Intensität derart erwachsen und reif wirkte, dass es Niri schauderte. Grabbelschnack hatte Todesangst um sie, und wenn schon ihr geschuppter Freund begann, zur Eile zu drängen, sollte sie besser verinnerlichen, dass sie ab nun von geborgter Zeit lebte, bis sie einen Weg fand, die Sigille der Gegenwart vor Malkars Augen zu verbergen.
Auch Niris Freunde ließen sich vom Drängen des Taschendrachen anstecken, denn in Windeseile wurden Vorbereitungen getroffen, die sonst den gesamten Tag benötigt hätten. Jeder packte mit an, und bevor die Mittagssonne am Himmel stand, waren alle von ihnen gerüstet und bepackt.
»Alle in Standardformation! Caldenhus nehmen wir in die Mitte«, kommandierte Harduul, als Niri die Tür des Spähpostens öffnete.
»Soll ich dem Wind lauschen oder uns schneller reisen lassen?«, fragte Tullpa.
»Geht nicht beides?«, erwiderte Apllut.
Die Erdruferin schüttelte den Kopf. »Ich wäre noch vor Beginn der Dämmerung so ausgelaugt, dass ihr mich tragen müsstet.«
»Dann wählen wir den Rückenwind«, entschied Harduul nach kurzem Grübeln. »So entkommen wir zumindest den langsameren unter den Monstern.«
»Ich kundschafte für euch«, erklärte Grabbelschnack und flog voraus. »Und denkt daran, weite Flächen zu meiden. Es gibt am Himmel zu viele Flugwesen.«
Niri bemerkte, dass ihr Freund selbst kaum höher flog, als die Baumwipfel ragten, und dass er seinen Kopf immer wieder so drehte, dass er zu den Dutzenden Umrissen hinaufspähen konnte, die auf Höhe des Kraterrandes hektische Bahnen zogen.
»Seid wachsam!«, ermahnte Harduul die Gruppe. »Grabbelschnack wird uns nur sehr eingeschränkt vorwarnen können, fliegt er doch wesentlich niedriger als gewohnt.«
Alle nickten, dann fassten sie sich an den Händen. Caldenhus wirkte vollkommen eingeschüchtert, wie er so mit eingezogenem Kopf und hängenden Schultern dastand. Der Gelehrte hatte es stets vermieden, sich länger als nötig außerhalb des Unterschlupfs aufzuhalten, und nun würden sie ihn einmal quer durch das monstrenverseuchte Gebiet schleppen.
»Alle bereit?«, fragte Tullpa, und im nächsten Moment frischte schon der Wind auf und blies ihnen stetig in den Rücken. Mit weiten Schritten liefen die Gefährten los, und Niri genoss das Gefühl von Freiheit, da das Unterholz sie alle ungehindert passieren ließ. Tullpas Magie verschaffte ihnen nicht nur einen beständigen Rückenwind, sondern ließ sämtliche Wurzeln und Ranken, die sie passierten, jedweden Widerstand aufgeben. Die Macht der Erdruferin war in den letzten Monden erneut angewachsen, und so flogen sie regelrecht über den Boden des Kraters dahin.
»Wir sollten einen Halbkreis durch den Krater beschreiten«, hörte Niri Jonah sagen. »Wenn wir in einer geraden Linie zum östlichen Himmelstempel gehen, kommen wir dem Palast Aelderheyms zu nahe.«
Harduul nickte stumm, und Niri atmete auf. Im Zentrum der Ruinen lebten die gefährlichsten Wesen, all jene, die dem Sirenengesang der Sigille derart verfallen waren, dass sie gar nicht anders konnten, als nahe dem Palast zu verweilen.
Grabbelschnack kam in Sichtweite. »Feuervögel voraus. Besser, ihr dreht nach rechts ab.«
Sie korrigierten die Marschrichtung, und schnell verging ihr erster Reisetag. Da sie ihrer damaligen Route folgten, die sie zum südlichen Himmelstempel zurückgelegt hatten, kam Niri die Umgebung halbwegs vertraut vor, auch wenn sie noch immer über das Ausmaß der Zerstörung staunte, die das erste Erdbeben angerichtet hatte. Es gab praktisch keine Ruine mehr, die nicht zu einem Haufen Geröll zerfallen war, und sie realisierte erst jetzt, was dies für die Aeleven der Sturmfels-Akademie bedeuten würde. Die Suche nach Beute war ungleich schwerer geworden, wenn nicht gar unmöglich. Die meisten der Trümmerhaufen wären nur mittels Magie oder tagelanger Plackerei zu durchsuchen, und das inmitten angriffslustiger Monstren. Niri musste an den zerfallenen Turm denken, in dem sie damals ihren ersten großen Schatz, eine Goldstatue, geborgen hatten. Es waren nur wenige Schritt Geröll im Weg sowie einige garstige Zangenfalken in der Nähe gewesen, und doch hatte die Bergung viel Schweiß, Magie und Blut gefordert. Wer auch immer in Zukunft im Krater nach Kostbarkeiten suchen würde, müsste dies wohl organisiert und gut ausgerüstet tun.
Die Sonne sank den Klippen der Sturmfelsen entgegen, und bisher hatten Niri und die anderen jeglichen Konfrontationen aus dem Weg gehen können, sah man von den beiden Situationen ab, in denen Jonah einige niedrig kreisende Zangenfalken mit seinen Feuermessern hatte vertreiben müssen.
»Gleich müsste das nächste Menag-Hrur in Sicht kommen«, murmelte Apllut neben Niri. »Hoffentlich ist das nicht ebenfalls eingestürzt.«
Sie nickte verkniffen, denn der Anblick aller bisherigen Zufluchtsstätten, die sie passiert hatten und die von den Beben unbrauchbar
