Grenzgänger: Im Namen des Rates 1 - Torsten Weitze - E-Book

Grenzgänger: Im Namen des Rates 1 E-Book

Torsten Weitze

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Beschreibung

Mira Sheinfhandril ist eine Elfenprinzessin, die raucht, flucht und im selbstgewählten Exil jeden noch so zwielichtigen Auftrag annimmt, der Geld verspricht. Zusammen mit ihrem Team bestreitet sie ihr Dasein am Rande der Illegalität der Nebula Convicto. Als ein simpel erscheinender Job so richtig schiefläuft und ihr zusätzlich die Häscher ihrer Familie auf den Fersen sind, wendet sich Mira in ihrer Not an Grayson Steel. Der Leiter des neu gegründeten magischen Geheimdienstes, des Obsidian, verspricht ihr schnelle Hilfe, die allerdings ihren Preis hat: Es gibt Geheimnisse, die nur ein etablierter Grenzgänger in den Tiefen der Nebula Convicto aufspüren kann, und Mira soll mit ihrem Team unbestätigten Berichten über ungewöhnliche Beschwörungen nachgehen, wie die Welt sie seit dem Zeitalter von Atlantis nicht mehr gesehen hat.

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Seitenzahl: 579

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Torsten Weitze

Grenzgänger

Im Namen des Rates

Band I

Ein Nebula Convicto Roman

Für alle, deren schlimmste Dämonen in ihrem Inneren leben.

Es gibt Hoffnung.

Immer.

Und denkt daran:

Es gibt nichts Schöneres für eine Geschichte, als zum ersten Mal erlebt zu werden …

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Instagram: torsten_weitze

© Torsten Weitze, Krefeld 2022

Bild: Guter PunktLektorat/Korrektorat: Janina Klinck / www.lectoreena.de

Korrektorat: Gillian Verdirk

Inhalt

Prolog

Leicht verdientes Geld

Kartenhaus

Bis zum Hals in Ogerdung

Quid pro quo

Schatten der Vergangenheit

Ein beschworenes Problem und ein problematischer Schwur

Feuertaufe

Neuanfang

Oberliga

Von Mauern und Anführern

Die freundliche Warnung

Ein überschlauer Cupido

Auf dem Zahnfleisch

Ein Yeti fliegt Economy

Nebelwacht und Narben

Geistesblitz

Ehrengäste

Zweikampf

Eine ganz gewöhnliche Schale

Ein Schritt rückwärts, einer vorwärts

Epilog

Prolog

Grayson starrte mit angespannter Miene auf das Papier herab, das einsam und verlassen auf seinem großen, schwarzlackierten Schreibtisch lag. Ein Beobachter hätte meinen können, dass die unscheinbaren Zeilen, sorgfältig und gewissenhaft zusammengestellt, einen Abgrund darstellten, der den hageren Mann mit dem stechenden Blick zu verschlingen drohte. Und jener fiktive Beobachter hätte wahrscheinlich richtig damit gelegen.

»Ist das hier bestätigt?«, fragte er und begann, sich die Schläfen zu massieren. Der schwere Ring an seiner rechten Hand fühlte sich dabei an wie ein Mühlstein, der auf mehr als nur eine Weise an ihm zerrte, ihn herabzog in eine Dunkelheit voller Gefahren, die er nur allzu gut kannte, seit er der Leiter jenes Geheimdienstes geworden war, den die Lady vom See vor nun mehr zwei Jahren ins Leben gerufen hatte. Zwei Jahre, in denen die Nebula Convicto kopfgestanden hatte. Zwei Jahre, in denen die Entdeckungen aus dem da Vinci-Archiv wöchentlich eine neue magische Neuerung hervorgebracht hatten. Und jede von ihnen hatte das Potenzial, die Machtverhältnisse in der magischen Gemeinschaft maßgeblich zu verändern.

Manchmal erinnerten Grayson die letzten Monate an eine Art magischen Kalten Krieg. Alle drei Fraktionen des Rates versuchten ihrerseits durch neuartige Artefakte, rekonstruiert aus den Errungenschaften da Vincis, die Oberhand zu gewinnen und gleichzeitig die Errungenschaften der jeweils anderen zunichtezumachen.

Was ist bloß aus den guten alten Intrigen geworden?, dachte er bei sich.

Sein Blick geisterte erst zu dem kugelrunden schwarzen Stein, der in der Nordwestecke des großen Raumes schwebte, hinüber und dann zu Shaja, die ihn mit verschränkten Armen über ihrem angeschwollenen Bauch gereizt ansah.

»Hör mir gefälligst zu, wenn du mir eine Frage stellst«, fauchte sie ungehalten.

Grayson runzelte die Stirn. »Bloß weil du nicht mehr in dein Leder passt, solltest du deine schlechte Laune nicht an mir auslassen«, grummelte er.

Die Falte auf Shajas Stirn wurde tiefer. »Ach ja?«, fragte sie gereizt, doch eine Sekunde später glättete sich ihre Miene und sie zuckte betont gleichmütig mit den Achseln. »Mein Fehler. Dann hast du meine Antwort ja gehört und ich kann dich wieder allein lassen.« Sie wandte sich um, und Grayson rieb sich mit einer Hand über das Gesicht.

»Bleib«, sagte er. »Bitte.«

Sie drehte sich wieder zu ihm, eine Augenbraue hochgezogen. Er wusste, dass sie wusste, wie sehr ihn das reizte.

»Es tut mir leid«, brachte er widerwillig hervor und schlug mit dem Handrücken leicht auf das Papier auf seinem Tisch. »Jedes Mal, wenn ich so etwas lese, fühle ich mich … gefangen.«

Shaja lachte, ein Laut voll echtem Humor und mehr als einer Prise Bitterkeit. Dann zeigte sie an sich herab. »Du willst mir etwas von Gefängnissen erzählen?«, fragte sie mit einem schiefen Lächeln im Gesicht. »Unser Nachwuchs lässt mich viermal die Stunde aufs Klo rennen. Und mit laufen meine ich watscheln!«

Grayson konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und stand auf, um die werdende Mutter ihres gemeinsamen Kindes in die Arme zu nehmen. »Niemand watschelt mit so viel Eleganz wie du«, sagte er mit einem Funkeln in den Augen.

Shaja schnaubte unwillig. »Hör auf, dich einschmeicheln zu wollen, und schenke lieber meiner Antwort Beachtung: Ja, dieser Bericht ist überprüft.« Wieder ein nachdenkliches Stirnrunzeln. »Jedenfalls so gut es ging. Es gab keine Überlebenden und die Ergebnisse der Suchzauber waren uneindeutig.«

Grayson schloss die Augen und genoss das Gefühl der Wärme, das seine halbdämonische Frau ausstrahlte, während er seine Gedanken sortierte. »Wir müssen unsere Taktik ändern«, sagte er.

Shaja stieß ein zustimmendes Brummen aus. Er fühlte, wie sie ihren Kopf gegen seine Brust legte. »Du denkst an Grenzgänger, oder?«, fragte sie leise.

»Haben wir eine Wahl?« Seine Worte waren fast ein Flüstern. »Der Obsidian ist noch immer im Aufbau. Alle unsere Agenten sind zu … sauber, um unsere Nachforschungen voranzubringen.«

»Gib ihnen Zeit …«, begann Shaja, aber da legte Grayson ihr zart eine Hand auf den Bauch.

»Die haben wir nicht«, sagte er und öffnete seine Augen. Er tippte auf den Bericht auf seinem Schreibtisch. »Das Ausmaß dieser Bedrohung könnte jederzeit weiter zunehmen. Was, wenn solch eine Manifestation in eurer Nähe geschieht?«

»Damit werde ich schon fertig, Dankeschön«, sagte Shaja und tätschelte ihre Waffe. In ihre Ledermontur passte die ehemalige Saggitaria vielleicht nicht mehr hinein, aber das bedeutete nicht, dass sie selbst hier, am sichersten Ort der Welt, auch nur auf eine ihrer Waffen verzichtet hätte.

»Und was, wenn die Anzahl der Zwischenfälle wächst?«, fragte er ernst. »Wenn das, was in diesem Bericht steht, nur die Spitze des Eisberges ist?«

Shaja wirkte unentschlossen, die Nase gekräuselt, die Lippen zusammengepresst. »Die Lady hat zugestimmt?«, fragte sie schließlich.

Grayson nickte. »Wir haben grünes Licht, sobald jemand die passenden Parameter erfüllt.«

Shaja tippte ihm spielerisch auf die Brust. »Dann hast du ja deinen Willen bekommen. Und ich bin sicher, du hast schon eine Kandidatenliste.«

Grayson sah wieder auf das einsame Papier auf seinem Schreibtisch. »Wir werden sehen«, murmelte er nur. »Wir werden sehen.«

Leicht verdientes Geld

»Meine Liebe«, kam die elektronische Stimme aus dem kleinen Gerät vor dem elefantengroßen Wesen. »Wie immer schön, dich zu sehen, rah.«

Die Modulation des Sprachcomputers war dilettantisch, aber gerade dadurch wurden die Worte ihres Gastgebers auf genau jene Art verzerrt, dass sie die ihnen innewohnende Heuchelei präzise widerspiegelte. Die künstlich hinzugefügten Krächzlaute, die der Greif hatte einprogrammieren lassen, sorgten hingegen dafür, dass jeder, der sich seiner Sache zu sicher war, den Schieber und Kredithai unterschätzte, der es sich auf einem extragroßen, stahlverstärkten Diwan gemütlich gemacht hatte.

Mira antwortete nicht. Was sie noch mehr reizte, als die gönnerhafte Attitüde ihres Gegenübers, war dieser widerliche Geruch, der immer in der Luft lag, wenn sie Megock persönlich aufsuchte.

Eine Mischung aus Hühnerstall und Teergrube, dachte sie.

Ihr Gesicht dagegen verriet mit keiner Regung ihre Abscheu vor jenem Wesen, das ihr und ihrem Team von Grenzgängern schon viel zu lange die Hölle heißmachte. Kühl und mit einer Maske der Überlegenheit musterte sie langsam und abschätzend den Greif, der hier vor ihr saß. Die Erscheinung Megocks hatte wenig mit dem öffentlichen Bild dieser Fabelwesen gemein. Greife gab es, so wie andere Vögel auch, in verschiedenen Arten und dieser hier besaß neben dem obligatorischen Löwenkörper die Vorderkrallen sowie den Kopf und Hals einer riesigen Elster.

Die tückischen Augen Megocks huschten beständig hin und her, so als könnten sie sich nicht an dem Glitzerkram sattsehen, mit denen der Hehler seinen Unterschlupf vollgestellt hatte. Das unscheinbare Lagerhaus im Osten Prags war bis zum Bersten mit Kunstgegenständen mehr oder weniger hoher Qualität gefüllt und bildete eine Art glitzernden Irrgarten, in dessen Mitte Megock auf seinem Diwan thronte und sich seiner fragwürdigen Schätze ergötzte.

Wofür braucht der übergroße Piepmatz eigentlich so viel Geld?, schoss es Mira durch den Kopf. Die Hälfte der Gegenstände hier ist derart billig und geschmacklos, sie könnte auch als Dekoration in einem drittklassigen Casino dienen. Dabei fiel ihr Blick auf einen Plastik-Indianer, der eine Weste aus Strasssteinen trug. Direkt daneben stand eine antike Marmorstatue aus irisierendem Granit. Prä-Atlantisch, schätzte Mira reflexhaft.

»Genug mysteriöses Schweigen für heute«, raunte ihr Hank nervös ins Ohr. Der Troll machte sich so klein, wie es ihm seine zweieinhalb Meter große Statur ermöglichte, und warf dem wartenden Greif dabei ängstliche Blicke zu.

Mira seufzte. Sie hatte allein zu dem Treffen gehen wollen, aber das Team hatte darauf bestanden, ihr Rückendeckung zu geben, denn mit Megock war, trotz seines Hangs zu glitzerndem Tand und theatralischer Gesprächsführung, nicht zu spaßen. Links und rechts der Grenzgänger hielten sich, in diesem wahrgewordenen Traum eines Glitzer-Messis, mehr als zehn bewaffnete Schläger des Greifens bereit.

»Wir sind hier, um unser Konto bei dir aufzulösen«, sagte sie zu dem Schieber. »Die letzte Überweisung sollte unsere Schulden endgültig getilgt haben, nicht wahr?« Mira kannte die Antwort spätestens dann, als der Greif seinen Löwenkörper verlagerte und dabei hektisch mit dem Schnabel klapperte. Ihre Ausbildung am Königshof ihres Vaters war sehr umfassend gewesen und die Körpersprache exotischer Wesenheiten zu lesen, war nur eine der vielen Fähigkeiten, die man in sie hineingetrichtert hatte und auf die sie nun, ohne groß nachzudenken, Zugriff hatte …

»Rah, die Grundsumme wurde beglichen«, begann der Greif, und Mira wappnete sich für den Rest der Antwort. »Aber ihr habt weder die Restzinsen noch die Abschlussgebühr getilgt, die laut unserem Vertrag noch anfällt.«

»Was soll das heißen …?«, begann Thaum neben Mira hitzig, aber die Elfe hielt ihn mit einer knappen Handbewegung auf, als dieser einen Schritt auf den Greifen zumachte. Sie sah aus den Augenwinkeln verstohlene Bewegungen um sie herum, kaum wahrnehmbare Schatten, die sich für einen Schuss in Stellung brachten und dabei den allgegenwärtigen Glitzerkram als Deckung nutzten.

»Lass Megock ausreden«, sagte Mira in ihrem berühmt kühlen Ton, der ihr den Ruf einer durch und durch professionellen Grenzgängerin eingebracht hatte. Noch ein Andenken an ihre Ausbildung im Anderswo. »Ich bin mir sicher, so hoch kann die Summe nicht sein.«

»Achtzehntausendvierhundertundzwölf Euro, rah«, sagte der Greif nach einem langen Blick in ein kleines Notizbuch, das neben dem Diwan aufgeschlagen auf einem winzigen Tischchen lag. Mira war sich sicher, dass der Hehler die Aufzeichnungen nicht benötigte und sie nur aus Gründen der Dramatik verwendete. »Zahlbar innerhalb von vierundzwanzig Stunden ab jetzt oder es fallen die nächsten Verzugszinsen an, plus eine weitere Abschlussgebühr.«

Mira verspürte einen gewissen Stolz darauf, dass sie mit keiner Wimper zuckte, als der Greif sie nun bereits zum neunten Mal mit einer überzogenen Abschlussrechnung über den Tisch zog. Seit zwei Jahren rackerten sie sich ab, um endlich den Klauen des Hehlers zu entkommen, aber stets war ihnen die finanzielle Freiheit verwehrt worden. Nachdem der Verhangene Rat sie fürstlich für die Unterstützung Grayson Steels bei seinen Ermittlungen in Rom bezahlt hatte, waren kaum noch Schulden der Grenzgänger bei Megock übriggeblieben und ein unkomplizierter Personenschutzjob in der Karibik hätte diese unselige Scharade eigentlich beenden sollen. Aber nach dem Ableben ihrer Zielperson durch eine Verkettung unglücklicher Umstände war die Bezahlung natürlich ausgeblieben. Philis hatte herausgefunden, dass ihr Schutzbefohlener eine Menge Dreck am Stecken hatte, bei dem Drogen- und Menschenhandel nur die Spitze des Eisbergs gewesen war, und das Team war sich einig gewesen, dass kein Geld der Welt es wert war, diesen Schmierlappen am Leben zu lassen. Also standen sie ohne jenes finanzielle Polster vor dem Greif, das ihnen hier und jetzt die Freiheit erkauft hätte, und sahen sich einem neuen Schuldenberg gegenüber.

»Also schön«, sagte Mira gelassen. »Wir wollen einen Abschlussjob. Keine Nachzahlung, keine Nachgebühren. Wir tun, was du verlangst, und du schließt unser Konto. Endgültig.«

Der Greif legte den Kopf schief, sodass er Mira mit einem seiner Augen genau ins Visier nehmen konnte. Seine gesamte Körpersprache drückte Selbstzufriedenheit aus. Mira ahnte, dass sie ihrem Gegenüber in die Karten gespielt hatte, aber ihre Forderung war unumgänglich gewesen. Der nächste Auftrag musste sie ein für alle Mal von dem gierigen Greifen befreien oder sie würden ihren Ruf als unabhängige Grenzgänger nachhaltig schädigen und nur noch als Handlanger des schmierigen Schiebers angesehen werden. Schon jetzt wurden die Aufträge rarer und drohten bald vollends zu versiegen. Dann würde Megock sie im wahrsten Sinne des Wortes besitzen.

Mira zwang sich dazu, bei dem Gedanken nicht die Fäuste zu ballen. Kein Wesen würde sie je besitzen. Vorher würde sie die Welt niederbrennen.

»Es gibt da tatsächlich eine winzige Kleinigkeit, rah«, begann der Greif mit gierig umherhuschenden Augen. »Kaum der Rede wert für eine Gruppe eures Kalibers.« Sein Schnabel klapperte mehrmals. »Leicht verdientes Geld.«

Mira wappnete sich. Eine der ersten Lektionen, die sie als Grenzgängerin gelernt hatte, lautete: So etwas wie leicht verdientes Geld gab es nicht.

Der Greif sah sie auf eine Reaktion lauernd an, aber die Elfe stand äußerlich gelassen da und wartete ab. Demonstrativ musterte sie sich und ihre Freunde in einem mannshohen und ebenso breiten Spiegel, der schräg hinter dem Greifen aufgestellt worden war, zweifellos, um seine Verhandlungspartner abzulenken, indem diese ständig eine Bewegung im Augenwinkel wahrnahmen, wenn sie sich bewegten. Die im Rahmen des Spiegels eingravierten Hieroglyphen kennzeichneten ihn als ein Relikt aus der Zeit der altägyptischen Magierkriege.

Wenn die mundane Welt wüsste, wozu die Pyramiden wirklich erbaut worden waren …

Megocks Federn raschelten ungehalten, als der Hehler bemerkte, dass Mira nicht auf sein kleines Machtspiel einging. »Ich warte auf eine Antwort«, krächzte er ungnädig.

Mit einem gelangweilten Geschichtsausdruck ließ Mira ihre Augen über die Spiegelbilder ihres Teams gleiten, den Greif weiterhin ignorierend. Zuerst war da natürlich Hank, der mit seiner zweieinhalb Meter großen Gestalt sofort ins Auge sprang. Der Dieb trug einen schwarzen Trainingsanzug, welcher die Tatsache betonte, wie schlank und schmächtig der Troll für ein Wesen seiner Gattung war. Die winzige Philis saß auf einer der breiten Schultern des Diebs, kaum mehr als ein undeutlicher Fleck schillernder Flügel. Offensichtlich war die Pixie – so wie eigentlich jeden wachen Moment ihres Lebens – in der Betrachtung ihres Smartphones versunken, ein Umstand, der Fluch und Segen zugleich für ihr Team bedeutete, denn Philis’ Talent im Umgang mit technischem Gerät war ebenso groß wie ihre Sucht nach der digitalen Welt.

Eine Bewegung im Spiegelbild erregte Miras Aufmerksamkeit. Sie blickte in das Abbild von Thaums durchdringenden gelben Augen, der den Kopf unter seinem weiten Umhang subtil nach rechts drehte, um mit ihr indirekten Blickkontakt herzustellen. Die wolfsähnlichen Züge des Nachtstreifers waren zu einem Ausdruck tiefer Sorge verzogen, welcher in seiner Intensität durch die drei weißen Klauennarben im blauen Wangenfell noch verstärkt wurde.

Also alles wie immer, dachte sich Mira. Wenn ich das Oberhaupt unserer ungleichen Familie bin, dann ist Thaum die uns umhegende Mutter. Beinahe schämte sie sich für diesen Gedanken. Thaums Instinkte waren herausragend und gemeinsam mit seinem scharfen Verstand und seinem Händchen für alchemische Improvisation hatte der Nachtstreifer ihnen schon häufig den Arsch gerettet. Mira nickte ihm kaum merklich zu, als Zeichen, dass sie seine Bedenken teilte, und gönnte sich eine letzte Sekunde, in der sie sich selbst flüchtig musterte, um Megock noch einen Moment länger zappeln zu lassen.

Schwarze, bis zu den Ohrläppchen reichende Haare, auf die rechte Seite des Schädels hinübergekämmt. Dazu spitze Ohren, hellblaue Augen und hohe Wangenknochen, die ihr elfisches Gesicht beinahe dreieckig erscheinen ließen. Außerdem jene verschnörkelte Tätowierung, die sich über ihren Nasenrücken zog: das Mal der Schande. Miras Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Wo andere eine Schande sahen, erblickte sie eine durchtrennte Hundeleine.

Sie widerstand dem Griff unter ihre maßgeschneiderte schwarze Lederjacke, in deren Innentasche eine E-Zigarette darauf wartete, an den Mund der Elfe geführt zu werden. Stattdessen strich sie mit einer Hand den dünnen, dunkelgrauen Rollkragenpullover unter der Jacke glatt und wandte sich dann wieder dem Schieber zu, dessen Schnabel bereits ungehalten klapperte.

»Um was für einen Auftrag handelt es sich?«, fragte Mira beinahe beiläufig und tat dem Greif endlich den Gefallen anzubeißen. Die Dominanz in einem Gespräch an sich zu reißen, war zwar wichtig, aber die Taktik, das Gegenüber bei Laune zu halten, hatte ihre ganz eigenen Vorzüge.

»Rah, es handelt sich um die Wiederbeschaffung eines wertvollen Objekts, das einem meiner Klienten abhandengekommen ist«, sagte der Schieber geradezu hastig.

Miras Augenwinkel zuckten kaum merklich. Also ein Diebstahl, übersetzte sie den handelsüblichen Code unter Schiebern und Hehlern. »Was und wo?«, fragte sie knapp.

Megock blätterte mit seinem gewaltigen Schnabel ausgesprochen geschickt in seinem kleinen Notizbüchlein herum, und Mira unterdrückte ein Seufzen. Offensichtlich wollte der Hehler ihr die kleine Pause heimzahlen, mit der sie ihn zuvor ausgebremst hatte.

Kleingeistig und wenig originell, urteilte sie und nutzte die Gelegenheit für einen kurzen Schulterblick.

Thaums warnender Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, Philis betrachtete mit einem seligen Lächeln irgendein Video auf ihrem winzigen Bildschirm und bekam wahrscheinlich kein Wort der Unterhaltung mit, und Hank starrte mit eingezogenem Kopf auf seine Fußspitzen und wollte offenkundig einfach nur hier weg. Wieder schluckte Mira einen Seufzer hinunter. Sie war der Prellbock für diese drei. Der Eisberg, an dem die Gefahren der Realität zerschellen mussten, damit ihr Team überleben konnte.

»Ah, hier ist es, rah«, verkündete Megock, und Mira drehte sich wieder zu dem Hehler um. »Es geht um die Probe eines Experiments, welche sich momentan in einem Forschungslabor keine fünfzig Kilometer von hier entfernt befindet.«

Sicher eine Neuentwicklung, schoss es Mira durch den Kopf. Davon gab es viele, seit die da Vinci-Archive gefunden worden waren. Es verging kaum eine Woche, in der nicht der nächste magische Durchbruch verkündet wurde. Alle drei politischen Strömungen der Nebula lieferten sich ein Wettrennen darum, wer den meisten Nutzen aus den wiederentdeckten Aufzeichnungen da Vincis ziehen konnte. Gerüchten zufolge hatten die Erben bereits erste Erfolge mit neuartigen Waffen erzielt, die …

»Kann ich auf eure Mithilfe zählen, rah?«, drängte der Schieber auf eine Entscheidung, und Mira starrte dem Greif in die schwarzen Augen. Die Frage hing wie ein Damoklesschwert im Raum. Hinter der Elfe zog Hank scharf die Luft ein, und sie sah aus dem Augenwinkel, wie Thaum sich warnend versteifte.

»Opposition?«, fragte die Elfe.

»Mundan«, erklang die überraschende Antwort des Hehlers.

Thaum atmete erleichtert auf und Philis murmelte ein abwesendes »Kinderspiel«.

Mira kniff die Augen zusammen und versuchte im starren Blick ihres Gegenübers Anzeichen für einen Verrat zu finden. Mundane Opposition bedeutete, dass dieses Labor nicht unmittelbar zur Nebula Convicto gehörte, sondern Teil der Welt war, die keine Ahnung von den Wesenheiten hatte, die seit Anbeginn der Geschichtsschreibung mithilfe magischer Nebel, geschickter Illusionen und weitreichender Manipulationen ihre eigene Parallelgesellschaft auf Erden etabliert hatten. Sollte der Greif die Wahrheit sagen, dann wäre dieser Job einfacher als einem Kind den sprichwörtlichen Lolli zu klauen. Zumindest wenn es ein menschliches Kind war. Wer schon einmal einem Ogerbaby etwas weggenommen hatte, konnte von Glück reden, wenn er am Ende noch alle Gliedmaßen besaß.

»Zuverlässigkeit der Daten?«, hakte die Elfe nach. Die Hälfte aller Todesfälle unter Grenzgängern war auf fehlerhafte Hintergrundinformationen zurückzuführen.

»Wasserdicht«, sagte Megock mit einem gereizten Schnabelklappern. »Ich bin kein Amateur.«

Mira erkannte an der Körperhaltung und den aufgeplusterten Halsfedern, dass der Greif nicht nur empört tat, und nickte einmal. »Also gut«, entschied sie schließlich. »Philis schaut sich die Daten in Ruhe an. Wenn du in den nächsten vierundzwanzig Stunden nichts von uns hörst, erledigen wir den Auftrag.« Niemals zu schnell zugreifen, lautete eine alte Grenzgängerregel. Die süßesten Früchte hatten meist die giftigsten Dornen.

Megock legte den Kopf schief und fixierte Mira mit einem seiner wie schwarze Perlen glänzenden Augen. »Wenn ihr nicht annehmt, erwarte ich eure nächste Zahlung bis Ende der Woche.«

Mira nickte. Es war Mittwoch. Auch Megock kannte sich in der Kunst der Verhandlung aus.

Zuckerbrot und Peitsche.

Sie hob einen Finger knapp über Schulterhöhe und ließ ihn kreisen, woraufhin sich die vier Grenzgänger ohne ein weiteres Wort aus dem überfüllten Lagerhaus zurückzogen. Die Schläger des Hehlers folgten ihnen leise wie die Läuse im Pelz eines unglücklichen Straßenköters.

Erst als sie das Gebäude verlassen hatten und plötzlich im Regen des nächtlichen Prags standen, gönnte Mira sich ein Minimum an Gelassenheit. »Dieses Treffen hätte deutlich schlechter ausgehen können«, sagte sie und steckte sich ihre E-Zigarette in den Mund. Der Geschmack von Honig, Sonne und Wendelgras füllte ihre Lungen und ersetzte die nasse Tristesse ihrer unmittelbaren Umgebung durch Erinnerungen an die schönen Seiten des Anderswo.

Heimat. Mira begrub den aufkommenden Gedanken hastig.

»Lässt uns Megock wirklich so einfach vom Haken?«, fragte Thaum. Der Nachtstreifer blickte sich misstrauisch auf der menschenleeren Straße um. Es war nach Mitternacht und bei diesem Wetter war keine Menschenseele mehr im Schein der wenigen Straßenlaternen zu sehen, die diesen abgewrackten Teil des Industriegebiets beleuchteten.

»Reden wir nicht hier«, sagte Mira kopfschüttelnd und deutete auf den verbeulten weißen Transporter, den sie gemietet hatten. »Wir fahren lieber erst zurück ins Hotel.«

Während sie und ihr Team einstiegen und Thaum anschließend den Motor startete, konnte sich Mira nicht gegen das nervöse Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern wehren. Jeder Auftrag malte aufs Neue unsichtbare Zielscheiben auf ihren Rücken.

Mal sehen, wie groß sie dieses Mal sein wird.

»Alles unauffällig«, murmelte Philis inmitten der unscheinbaren Durchschnittlichkeit, die ihr Hotelzimmer aus jedem Molekül seines lieblos eingerichteten, aus Holzfurnier bestehenden Interieurs mit seinen verschiedenen Abstufungen von Beige ausstrahlte.

Mira liebte Mittelklasse-Businesshotels. Wenn man sich passend anzog, war es, als sei man auf den Fluren dieses Gebäudes unsichtbar. Sie schälte sich aus dem Hosenanzug, den sie im Transporter angelegt hatte, und bediente sich am unterdurchschnittlichen Whiskey aus der Zimmerbar. Drei der vier winzigen Fläschchen waren leer, bevor das blinde Wasserglas in ihrer Hand auch nur halb voll war. Sie nahm einen winzigen Schluck und schüttelte angewidert den Kopf. Dann probierte sie noch einmal.

»Besser als nichts«, murmelte sie. Nach einer Begegnung mit Megock hatte sie immer das Bedürfnis, sich innerlich wie äußerlich grundzureinigen. Hier und heute mussten es eine heiße Dusche und ein schlechter Whiskey tun.

»Erzähl uns, was du an Daten über den Job hast«, sagte die Elfe schließlich in Richtung Philis.

»Können wir die Besprechung bitte nicht in Unterwäsche abhalten?«, fragte Thaum mit einem Blick auf den unordentlichen Kleiderhaufen, den Mira auf dem Boden zurückgelassen hatte. Der Nachtstreifer und Hank hatten sich im Deckmantel einer kleinen Illusion in das Hotel geschlichen. Kein Anzug der Welt würde die beiden wie gewöhnliche Geschäftsleute aussehen lassen.

Die Elfe schlüpfte unter die Decke eines der beiden nebeneinanderstehenden Einzelbetten. »Zufrieden?«, fragte sie Thaum, der ihre Sachen vom Boden aufhob und ordentlich zusammenlegte. Der Nachtstreifer nickte.

»Es gibt Grenzen, Mira«, sagte er nur. »Solange dir kein Fell wächst, trage bitte Kleidung.«

Grenzen. Mira hasste dieses Wort. Im Anderswo hatte ihre gesamte Welt aus einem Labyrinth unsichtbarer Grenzen und Regeln bestanden. Aber Nachtstreifer waren Rudelwesen und Thaum konnte ebenso wenig seiner Vergangenheit entfliehen wie sie der ihren. Ihr Freund benötigte Struktur, einen festen Platz in der kleinen Gemeinschaft ihres Teams und zumindest das Gefühl von Ordnung. Eigentlich war es ein echtes Wunder, dass er und Mira so lange miteinander zurechtgekommen waren.

»Ich fange jetzt einfach mal an«, sagte Philis in die Stille hinein. Ihre Stimme nahm diesen unsäglichen Ton zwischen Langweile und Gereiztheit an, wie sie ihn nur Heranwachsende beherrschten. »Das fragliche Labor, in das wir einsteigen sollen, gehört zur KAB Analiz, einer Tochterfirma von …«

»Überspring bitte das Offensichtliche. Ich will wissen, womit wir es hinter der Fassade zu tun haben«, sagte Hank drängend, der in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden saß, die Beine mit seinen Armen eng an den Körper gepresst, so als wollte er sich möglichst klein machen und in eine Art Troll-Paket verwandeln. Die Geste zeigte Mira, wie angespannt ihr Meisterdieb sein musste. Kein gutes Vorzeichen. Normalerweise verfiel Hank immer erst am Vorabend eines Jobs in seine Paketphase.

Philis nickte beiläufig und tippte auf den Bildschirm ihres Smartphones. »Hinter sieben Schichten aus Scheinfirmen und dubiosen Aktienfonds finden wir … die Nebula Corporation.«

Mira seufzte. »Kein Wunder, dass Megock ein Grenzgängerteam für diesen Auftrag ausgewählt hat.«

Die Nebula Corporation war ein weltweites Unternehmen, das die mundanen Geschäftsinteressen des Verhangenen Rates und der halben Nebula Convicto vertrat. Alles, was die magische Gemeinschaft betraf, aber durch und durch mundan war und nicht vor der normalen Welt versteckt werden konnte, wurde über die Nebula Corporation abgewickelt. Dabei war der Konzern im Laufe der Jahre derart groß geworden, dass die rechte Hand nicht wusste, was die linke tat. Wenn man genau darüber nachdachte, wussten die einzelnen Finger nicht, was die jeweils anderen gerade trieben.

Miras Team hatte im Laufe der Jahre schon mehrfach für und gegen die Nebula Corporation agiert. Einmal sogar beides zur gleichen Zeit, als sie in einen stillen Krieg zwischen zwei Tochterfirmen geraten waren.

»Welcher Zweig des Konzerns?«, fragte Mira.

»Forschung und Entwicklung«, lautete Philis’ Antwort.

»Also keine Berührungspunkte mit früheren Aufträgen«, sagte Thaum nach kurzem Nachdenken und nahm sich ebenfalls vom Whiskey. »Aber die Abteilung F & E ist so wichtig, dass wir mit magischen Schutzmaßnahmen rechnen dürften.«

»Das wäre ein Verstoß gegen die Statuten«, widersprach Mira. »Der Verhangene Rat war damals bei der Gründung der Corporation sehr eindeutig: keine Magie in den Tochterunternehmen. Der Sinn des ganzen Konzerns ist schließlich, eine logistische Brandmauer zwischen unserer und der mundanen Welt zu erschaffen.«

»Was bedeutet, dass wir selbst so wenig Magie wie möglich verwenden sollten«, warf Hank ein. »Wenn es nach einem normalen Einbruch aussieht, wird die Nebelwacht nicht involviert werden.«

»Guter Gedanke«, sagte Mira und schmunzelte, als Thaum an seinem Whiskey roch und ihr sein Glas unangetastet weiterreichte. Nachtstreifer hatten noch bessere Nasen als Elfen. »Und wir hinterlassen besser keine Toten«, fügte sie nach einem Schluck aus Thaums Glas hinzu. »Die Corporation ist immer zimperlich, wenn Angestellte sterben.«

»Das gefällt mir. Ich mag doch kein Blut«, murmelte Hank überflüssigerweise.

Mira schloss die Augen. »Leise rein und raus«, flüsterte sie mehr zu sich selbst. »So, wie wir es am liebsten haben.«

»Und so, wie es am seltensten klappt«, schob Thaum warnend hinterher. Dann wandte sich der Nachtstreifer an Philis. »Was genau sollen wir überhaupt stehlen?«

»Du meinst wiederbeschaffen«, korrigierte die Pixie ihn gedankenverloren. Dann tippte sie erneut auf ihrem Smartphone herum, der billige Fernseher im Hotel erwachte zum Leben und zeigte einen metallischen Zylinder, in dem ein Zahlenfeld eingelassen war. »Ein handelsüblicher Probenbehälter … genauer Inhalt unbekannt.«

»Unbekannt? Das ist nicht gut«, flüsterte Hank ängstlich aus seiner Ecke heraus.

Diesmal musste Mira ihm recht geben. »Ich hasse es, wenn ich nicht weiß, was ich stehle.«

»Wiederbeschaffe«, murmelte Philis.

»Der Greif hat uns am Haken«, sagte Thaum grimmig. »Wir dachten uns doch bereits, dass dieser Job kein Spaziergang wird.«

Mira seufzte. »Mir macht der Widerspruch Sorgen, dass dieses Labor mundaner Natur sein soll, aber unser Zielobjekt geradezu nach magischem Experiment schreit. Konntest du sonst nichts herausfinden, Philis?«

Die Pixie zeigte nacheinander einen Haufen Informationen auf dem Fernseher, in einem Tempo, dass Mira nicht mitlesen konnte. Der Verstand des kleinen Wesens arbeitete verdammt schnell. »Die Ausstattung des Labors, in das wir einbrechen sollen, gibt ein wenig Aufschluss. Ich sehe hier einen Haufen Messgeräte, die bei der Analyse von Legierungen zum Einsatz kommen. Aber welcher Art genau diese Probe ist, kann ich nicht mal erahnen.«

Mira runzelte die Stirn. »Alles, was mit Forschung zu tun hat, neigt dazu, verdammt schnell zu eskalieren«, sagte sie. »In einem Moment hat man ein Dokument über die Auswirkungen von Basilisken-Dung auf Mandragor-Wurzeln in den Händen und im nächsten springt man aus einem explodierenden Reihenhaus.«

Hank wimmerte und Thaum sah sie böse an. »Es wird schon nicht so laufen wie in München«, beruhigte er den verängstigten Troll.

Mira schwieg und starrte durch die regennasse Fensterscheibe, hinter der eine altersschwache Straßenlaterne vergeblich gegen die Nacht ankämpfte. Es war Zeit für eine Risikoabwägung. Ihr Ziel befand sich in einer mundanen Einrichtung, das war gut. Die Nebula Corporation hatte ihre Finger im Spiel, das war schlecht. Und es handelte sich bei ihrem Auftrag um Forschungsspionage, die stets eine Menge unbekannter Variablen enthielt. Was genau stahlen sie? Wie gefährlich war der Abtransport? Wie weit würde die Nebula Corporation gehen, um ihr Eigentum zurückzuerlangen? Miras Gedanken rasten. Waren sie zu gierig, wenn sie diesen Job durchzogen? Die Aussicht, nicht mehr nach Megocks Pfeife tanzen zu müssen, war mehr als verlockend.

»Abstimmung«, sagte sie, ohne ihren Blick vom Fenster abzuwenden. »Ob wir annehmen oder ablehnen entscheide ich nicht allein.«

»Dafür«, sagte Philis monoton. »Ich habe bereits die Zugangscodes ermittelt, den Wachplan heruntergeladen und uns passende Overalls bestellt, damit wir als Wartungsteam eines ansässigen IT-Unternehmens hineinkönnen. Ach, und ich habe einen ihrer Server überlastet. Der schmort morgen Abend durch und dann brauchen sie Netzwerktechniker.« Die Pixie war mal wieder fünf Schritte weiter.

»Haben die keine eigenen Leute für so was?«, fragte Thaum misstrauisch.

»Ihre Administratorin hat gerade ‚zufällig‘ im Online-Poker gewonnen«, sagte Philis, noch immer in ihr Smartphone tippend. »Sie bucht in diesem Moment Tickets nach Las Vegas.«

»Spielsucht«, sagte Thaum mit unbewegtem Gesicht. »Wie oft hat uns die schon weitergebracht.« Er deutete auf Philis. »Auch wenn unsere Kleine bereits den kompletten Plan ausgetüftelt hat, bin ich dagegen. Es gibt kein leicht verdientes Geld, erst recht nicht, wenn es um unsere Unabhängigkeit von Megock geht.«

»Dagegen«, sagte Hank kopfschüttelnd.

Mira seufzte. Der Troll war bei einer Abstimmung noch nie für einen Job gewesen. Also blieb es doch wieder an ihr hängen.

»Dafür«, sagte sie. »Gleichstand.«

Die anderen nickten. Bei Gleichstand zählte Miras Stimme doppelt. Sie war nun mal der Kopf des Teams. Gewinn oder Verlust, Mira würde mit der Verantwortung klarkommen müssen.

Kartenhaus

»Schichtwechsel war vor zehn Minuten«, murmelte Philis von Hanks Schulter aus, auf der sich die Pixie gerne niederließ, wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte.

Mira widerstand der Versuchung eines Schulterblicks, ob ihr jüngstes Teammitglied irgendeinem Spiel auf ihrem Smartphone mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Vorgängen in dem unauffälligen, graugestrichenen Gebäude, auf das ihr Kleintransporter zufuhr. Thaum saß hinter dem Steuer und steckte dabei ebenso wie Mira in einem dunkelblauen Overall mit der Aufschrift eines hiesigen IT-Dienstleisters. Die Dämmerung hatte bereits seit geraumer Zeit eingesetzt und der stete Regen sowie die dichte, dunkle Wolkendecke ließen die Sichtverhältnisse schnell schlechter werden. Wenn Mira sich ein Wetter für den Job hätte wünschen können, es wäre dieses hier gewesen.

Aberwarum macht mich genau das so nervös?, fragte sie sich.

Weil Geschenke ihrer Erfahrung nach immer teuer erkauft werden mussten. Die Frage war nicht, ob, sondern wann die Rechnung präsentiert wurde.

»Fahr rechts ran und schalte die Scheinwerfer aus«, sagte sie leise zu dem Nachtstreifer und der reagierte umgehend. »Wir sollten nicht zu schnell dort auftauchen.« Sie drehte sich zu Hank um, der zusammengekauert im hinteren Teil des Transporters saß und wie ein begossener Pudel dreinschaute. »Zeit seit der Fehlfunktion ihrer Server?«

»Achtzehn Minuten, siebzehn Sekunden«, kam die umgehende Antwort des Trolls, dessen Zeitgefühl wie immer herausragend war. Thaum pflegte zu scherzen, dass Hank immer genau wusste, wie lange etwas her war, weil der schreckhafte Troll ständig die Herzschläge seines von Dauerpanik erfassten Herzens zählte.

»Dann warten wir noch sechs Minuten«, entschied Mira.

»Ist das klug?«, warf Philis ungewohnt lebhaft ein. »Laut der Website unseres ‚Arbeitgebers‘ erscheinen die Serviceteams binnen zwanzig Minuten.«

Mira lächelte. »Hat hier schon mal jemand erlebt, dass ein solches Versprechen gehalten wurde? Selbst dann nicht, wenn es von einem Pizzalieferanten kam.«

Leises Lachen erfüllte den Innenraum des Wagens. Mira deutete auf die im Regen nur verschwommen erkennbaren Sicherheitsleute in ihrem Wachhäuschen direkt neben dem Schlagbaum, der das knapp sechstausend Quadratmeter große und hoch umzäunte Areal von der schmalen Zufahrtsstraße abgrenzte. Es gab kein Firmenschild und auch kein Logo an der Außenwand des zweigeschossigen Gebäudes, das hier mitten auf einer kilometerweiten Grasfläche stand. Wer nicht wusste, was er vor sich hatte, hätte auch glauben können, ein gewöhnliches, gut gesichertes Bürogebäude vor sich zu haben. Einer geübten Grenzgängerin wie Mira dagegen fielen natürlich die geschickt platzierten Kameras, der subtil verstärkte und mit diskret angebrachten Vibrationssensoren ausgestattete Zaun sowie die verspiegelten Fensterscheiben auf.

Genau wie in Philis’ Beschreibung der Sicherheitsanlagen.

Die Anspannung der Elfe sank mit jeder Bestätigung ihrer bei der Planung getätigten Annahmen weiter und weiter. »Alles wie erwartet«, sagte sie. »Selbst die zwei Wachen am Sicherheitsposten stimmen mit unseren Vorabinformationen überein.«

Philis schnaubte nur zur Antwort. Mira wusste, wie sehr die Pixie es hasste, wenn man ihrer Arbeit nicht vertraute.

»Also sollten sich vier weitere Sicherheitsleute im Gebäude befinden«, fasste Thaum zusammen.

»Gehen wir den Plan ein letztes Mal durch«, sagte Mira und überprüfte dabei ihren Overall. »Die beiden am Schlagbaum überzeugen wir mit unserem Wartungsauftrag und parken dann direkt vor dem Eingang. Hank bleibt vorerst mit Philis im Wagen und außer Sicht. Laut Sicherheitsprotokoll begleiten zwei weitere Wachleute Thaum und mich dann zum Serverraum.«

»Die Lüftung für die Server ist direkt an die des Gebäudes gekoppelt«, übernahm Thaum, der stolz auf einen kleinen Druckluftbehälter deutete, der wie ein gewöhnlicher Handfeuerlöscher aussah. »Ich speise meine kleine Mischung aus Kräutern und Gorgonenschweiß in das System, woraufhin sich alle vier Wachen schlafen legen.«

Mira runzelte die Stirn. »Und du bist sicher, dass das Zeug nicht nachweisbar ist? Wenn die Nebelwacht wider Erwarten doch hier rumschnüffelt …«

»… wird sie nichts finden«, sagte Thaum entschieden. »Es braucht mehr als einen gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesenzauberer der Nebelwacht, um herauszufinden, was die Wachleute außer Gefecht gesetzt hat.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir nicht einfach mundanes Betäubungsgas nehmen«, sagte Hank nervös. »Wir wollten doch so wenig Magie wie möglich einsetzen.«

Mira seufzte tief. »Das haben wir dir doch schon mehrfach erklärt«, sagte sie genervt. »Selbst wenn sich die Nebelwacht nicht einmischt, gibt es die örtlichen Behörden, die nach diesem Diebstahl …«

»… Wiederbeschaffung …«, ertönte Philis’ abwesende Korrektur.

»… ermitteln werden«, sprach Mira gereizt weiter. »Wenn einer von uns am Tage des Einbruchs über zwielichtige Kanäle Betäubungsgas kauft, hinterlässt das eine viel zu eindeutige Spur.«

»Wir nutzen ausreichend Magie, dass die mundanen Schnüffler uns nicht aufspüren können, aber zu wenig, als dass die Nebelwacht aufkreuzt«, fasste Thaum zusammen und tätschelte selbstzufrieden die Feuerlöscherattrappe. Von seiner Skepsis am Vortag war nichts mehr zu spüren. Wenn das Team einen Auftrag annahm, respektierte der Nachtstreifer die Entscheidung stets und kniete sich voll hinein.

»Sobald drinnen alles ruhig ist, sagen Thaum und ich über Funk Bescheid«, fuhr Mira fort. »Dann kommt ihr zwei dazu und wir kümmern uns gemeinsam um die Hochsicherheitstür, hinter der das Zielobjekt liegt.« Sie sah zu Hank hinüber. »Und du bist sicher, dass du sie aufbekommst?«

Der Troll nickte zögerlich und deutete auf Philis. »Wir zwei schaffen das zusammen«, sagte er und versuchte sich an einem Lächeln.

»Kein Schloss ist unüberwindbar«, warf Philis beiläufig ein, mit jenem Unterton voller Selbstsicherheit, der Mira innerlich schaudern ließ. Die Pixie zweifelte nie an sich selbst – und es gab kaum einen gefährlicheren Charakterzug in ihrem Gewerbe.

»Ist der Weg erst mal frei, schnappen wir uns den Probenbehälter und fahren gemütlich vom Hof«, beendete Thaum die Zusammenfassung ihres Plans. »Wir liefern noch in der Nacht die Ware bei Megock ab und sitzen schon am Morgen in einem Flieger nach Frankreich, frei und ohne lästige Schulden.«

Mira konnte regelrecht spüren, wie die Vorfreude im Inneren des Transporters anstieg. Sie musste sich selbst zusammenreißen, um nicht zu grinsen. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, sagte sie streng. »Wer träumt, macht Fehler. Also konzentriert euch und wir alle haben morgen früh wieder die Kontrolle über unsere Leben zurück.«

»Dreiundzwanzig Minuten und vierzig Sekunden seit der Störmeldung«, warf Hank ein.

Mira nickte. »Das reicht. Thaum, bring uns mit Vollgas zur Schranke. Die sollen denken, wir sind mit brennenden Reifen hergefahren.«

Der Nachtstreifer grinste und hielt ihr einen hauchdünnen Papierstreifen hin, auf dem winzige verschlungene Linien und Zeichen zu erkennen waren. »Erst ziehen wir uns was Hübsches an«, sagte er augenzwinkernd.

Mira griff mit einem zustimmenden Brummen zu. Das Papier war wenige Millimeter breit, nicht länger als ihr Zeigefinger und fühlte sich schmierig an. Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck legte sie sich den Streifen unter die Zunge. Sofort setzte der bekannte Geschmack nach Eisen und Anis ein, diesmal jedoch mit einer fauligen Komponente im Nachgeschmack, der sie würgen ließ.

»Was zum Teufel …?«, fluchte sie.

»Nicht ausspucken. Ich habe das Gegenmittel für mein Betäubungsgas in den Tarnstreifen hineingemischt«, warnte Thaum, der seinen eigenen Streifen in den Mund nahm. Sofort veränderten sich seine Züge und aus dem wolfsartigen Gesicht mit blauem Fell wurde das eines durchschnittlichen Einheimischen.

Mira schüttelte sich und versuchte den Geschmack zu ignorieren. »Als hätte ich eine tote Ratte unter der Zunge liegen«, sagte sie verdrossen.

Thaum fuhr lachend los und die Elfe wurde das Gefühl nicht los, der Nachtstreifer hatte absichtlich nichts gegen den Geschmack unternommen. Sein arkanes Talent war gleich null, aber sein Geschick, wenn es um das Zusammenmischen von magischen Zutaten ging, war außerordentlich. Thaum hatte für jede Lebenslage den richtigen alchemischen Gegenstand parat, ob Trank, Salbe oder Pulver. Leider hatten alle davon ihren ganz eigenen Haken.

»Nicht grinsen«, warnte sie ihren Freund. »Dein falsches Gesicht dehnt sich wie ein Gummiball, weil es deine Lefzen zu verdecken versucht.«

Thaum seufzte melancholisch und schaffte es, in diesem einen Laut seine Sehnsucht nach einer echten magischen Gabe zum Ausdruck zu bringen.

Wir alle wollen immer genau das, was wir nicht haben, dachte Mira sardonisch. Wie eine Elfenprinzessin, die einfach nur ihre eigenen Entscheidungen treffen will und schlussendlich in der Knechtschaft eines gierigen Greifens feststeckt …

Der Schlagbaum der Anlage kam in Sicht und Mira verbannte alle Gedanken, die nicht hierhergehörten, aus ihrem Verstand. Es war an der Zeit, sich ihre Freiheit zurückzuverdienen.

Sie warf einen flüchtigen Blick in den Außenspiegel, um ihre Erscheinung zu überprüfen. Ein nichtssagendes, blasses Gesicht mit Sommersprossen und einer kräftigen Nase starrte ihr entgegen. Thaums Zauber hatte ganze Arbeit geleistet. Sie zog die blaue Schirmmütze tiefer in die Stirn und ließ ihre Mundwinkel jenen mürrischen Zug annehmen, den jeder Schichtarbeiter auf der ganzen Welt zur Schau trug, der schon einmal einen komplexen Auftrag fünf Minuten vor Feierabend aufs Auge gedrückt bekommen hatte.

Als ihr Transporter sich der heruntergelassenen Schranke näherte, konzentrierte sie sich auf Körpersprache und Mimik der beiden Wachleute, die aus ihren Häuschen in den Regen traten. Zufrieden sah sie, wie sich deren Wachsamkeit in Erleichterung wandelte, als sie den Schriftzug erkannten, den Thaum und Hank im Laufe des Tages auf den Seiten des Wagens angebracht hatten. Während der Mann draußen im Regen stehen blieb, seine vollautomatische Waffe mit einer Hand gen Boden gerichtet, hastete die Wachfrau ins Innere des kleinen Unterstands und telefonierte. Thaum hielt indessen seinen gefälschten Ausweis und den vom Labor abgefangenen Wartungsauftrag für die Server von innen an die Windschutzscheibe, sodass der Wachmann diese undeutlich lesen konnte.

»So ist gut«, murmelte Mira leise. »Wir sind nur ein paar arme Schweine, die schnell mit ihrer Arbeit fertig werden wollen und keinen Bock auf Regen haben.« Übertriebene Eilfertigkeit hatte schon so manche Tarnung auffliegen lassen.

Der Wachmann kniff die Augen zusammen, um die Informationen auf dem Schreiben zu überfliegen, als seine Kollegin ihm vom Telefon aus etwas zurief und gleichzeitig mit der freien Hand den Transporter durchwinkte. Achselzuckend wiederholte der Wachmann die Geste der Frau und verdrückte sich ins Trockene.

»Ich liebe schlechtes Wetter«, sagte Thaum mit vergnügtem Unterton und fuhr den Wagen vor die Eingangstür des Laborkomplexes. Auf den ersten Blick sahen die beiden Glasflügel einladend und freundlich aus, aber Miras geschultes Auge erkannte die stählerne Rahmenkonstruktion, und von Philis wussten sie, dass überall im Gebäude Hochsicherheitsglas bester Güte verbaut worden war.

Eine hübsch anzusehende Mausefalle, dachte Mira zynisch. Dann nickte sie Thaum zu und die beiden stiegen mit Rucksäcken und einer Werkzeugtasche bewaffnet aus, um geduldig unter dem breiten Vordach darauf zu warten, dass ihre Eskorte eintraf.

Mittlerweile hatte die Dämmerung auch das letzte bisschen Licht verschlungen, und Mira kämpfte gegen den Impuls an, aus der Beleuchtung des Eingangs herauszutreten, um nicht so exponiert dazustehen. Die eigenen Überlebensinstinkte abzuschalten, während man unter dem Deckmantel einer Tarnung agierte, fiel ihr nach all den Jahren als Grenzgängerin noch immer schwer.

Endlich sah sie zwei uniformierte Gestalten ins kleine Foyer treten, welches sich hinter den Eingangstüren erstreckte, dann drückte einer der Sicherheitsleute einen Knopf unter dem Empfangstresen.

»Hast du das gesehen?«, murmelte Thaum leise. »Es sitzt keiner am Empfang. Laut Philis sollte dort immer einer der Wachleute anwesend sein. Also gibt es eine Abweichung im Dienstplan.«

Mira schüttelte warnend den Kopf, als die Türen mit einem leisen Zischen aufglitten. Ab jetzt konnte sie jedes falsche Wort verraten.

»Guten Abend«, sagte sie in halb höflichem, halb gelangweiltem Ton. Ein kleiner, schäbiger Talisman unter dem Overall ließ sie die Landessprache sprechen und verstehen. »Uns wurde eine Serverpanne gemeldet.« Dabei trat sie ein und stellte sich zwischen die beiden Sicherheitsleute. Wenn ab jetzt etwas schieflief, hatten sie immerhin schon mal Zutritt. Die beiden Kerle musterten sie nur beiläufig und wirkten dabei äußerst gestresst.

»Wird aber auch Zeit«, ranzte sie der Größere von beiden an. »Sie sollten längst hier sein!«

»Mach schon«, blaffte der andere Thaum an, der sich beim Eintreten Zeit ließ, um die Aufmerksamkeit auf sich und von Mira abzulenken.

»Zeigt uns den Weg, dann fangen wir sofort an«, sagte der Nachtstreifer in jovialem Ton. Zischend schlossen sich die Türen hinter ihm, und Mira musste erneut an das Zuschnappen einer Mausefalle denken.

Die beiden Wachleute setzten sich im Stechschritt in Bewegung und ihre angespannten Schultern und hektischen Blicke auf die Uhr sprachen Bände.

Diese Server müssen verdammt wichtig sein, dachte die Elfe bei sich. Zu wichtig. Idealerweise verschaffte einem eine Tarnung leichten Zutritt, ohne die Routine der Anwesenden zu durchbrechen. Eine erhöhte Alarmbereitschaft war im Regelfall das Letzte, was ein Grenzgänger brauchen konnte, doch genau dies hatten sie anscheinend mit dem Serverausfall erreicht.

Miras Gesicht blieb unbewegt, als sie vier weitere Wachleute erblickte, die mit erschöpften Gesichtern vor einer großen, schweren Eisentür mit elektronischem Sicherheitsschloss und armdicken Bolzen standen.

Und hier haben wir auch schon die Tagschicht, dachte sie grimmig. Unser ach so genialer Plan hat die Anzahl der Wachen im Gebäude verdoppelt!

»Na endlich«, brummte eine korpulente Sicherheitsfrau in Miras Richtung, ohne ihren Platz vor der Stahltür zu verlassen. »Es gibt hier Leute, die nach Hause wollen.«

Die Elfe nickte der Frau entschuldigend zu. »Geht uns auch so«, brummte sie zurück.

»Mit ein wenig Glück könnt ihr euch alle in Kürze ausruhen«, schickte Thaum kumpelhaft hinterher.

Mira unterdrückte ein Augenrollen. Der Nachtstreifer liebte diese Art von Insiderwitzen. Dass er jetzt eine solche Anspielung auf sein Schlafgas riskierte, zeigte ihr jedoch, dass der Nachtstreifer sich trotz der zusätzlichen Wachen seiner Sache sicher war. Mira atmete tief durch und entspannte sich. Thaum hatte recht: Ob sie nun vier Wachleute schlafen schickten oder acht, spielte überhaupt keine Rolle.

»Da wären wir«, sagte der Größere ihrer Eskorte, nachdem sie das Nordende des Gebäudes erreicht hatten, und öffnete mit seiner Sicherheitskarte einen kleinen Raum, aus dem umgehend das Summen von Lüftern und die typisch stickig-warme Luft hervorquoll, die einen zu kleinen Raum mit zu viel technischem Gerät darin auszeichnete.

»Danke«, antwortete Mira, trat zusammen mit Thaum ein, dabei in ihrer Werkzeugtasche herumnestelnd. »Wir kommen jetzt alleine klar, falls Sie ihre Kollegen nach Hause schicken wollen.«

»Ich muss bei Ihnen bleiben«, erwiderte der Mann kopfschüttelnd und lehnte sich in den Türrahmen. »Aber das macht mir nichts aus. Ich habe selber eine Weile in der IT gearbeitet, bis mein Rücken das ständige Rumknien zwischen engen Serverschränken nicht mehr mitgemacht hat.« Er grinste Mira vorfreudig an. »Ich bin gespannt, wo das Problem liegt. Ich sage schon lange, dass die Racks einen neuen Überlastschutz brauchen …«

Mira hörte nicht mehr weiter zu, sondern drehte sich zu Thaum um und fing seinen Blick auf. Ihr Plan sah vor, dass sie im Serverraum allein waren, damit der Nachtstreifer seinen Gasmix in die Lüftung speisen konnte. Von ihrem Körper verborgen deutete sie auf sich und auf den Wachmann, dann auf Thaum und die Druckflasche mit dem Gas.

»Bereite du alles vor, während ich mir kurz den Weg zur Toilette zeigen lasse«, sagte sie laut.

Ihr Freund nickte langsam und begann, wahllos Werkzeug auszupacken, während er im Zuge dessen beiläufig seinen gefälschten Feuerlöscher an die Lüftungsschlitze stellte. Mira drehte sich indessen um und sah den Mann im Türrahmen bittend an.

»Wären Sie so freundlich?«, fragte sie mit einem Unterton peinlicher Berührtheit. »Wir sind so schnell losgefahren, dass dafür keine Zeit mehr blieb.« Dabei tänzelte sie unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Der Wachmann zögerte, schaute auf Thaum, der auf den Knien in einem Haufen Werkzeug saß, und dann wieder auf Mira. Seine Hand wanderte zu dem Funkgerät an seinem Gürtel, und für einen Moment fürchtete die Elfe, der Mann könnte einen Kollegen rufen, anstatt sie selbst zu eskortieren. Aber dann schüttelte ihr Gegenüber abwesend den Kopf und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

»Bin gleich wieder da«, sagte sie in Thaums Richtung.

»Mach schnell. Ich will nicht wieder die halbe Arbeit alleine machen müssen«, brummte er und klang ganz wie ein genervter Kollege.

Der Wachmann grinste, und Mira musste Thaum innerlich gratulieren. Ein bisschen Gemecker unter Arbeitskollegen lenkte die Aufmerksamkeit der Wachleute meist ab. Mira und Thaum hatten sich schon so manch legendäres Streitgespräch inmitten eines Auftrags geliefert, einige von ihnen vorgetäuscht, andere voll authentischer Emotionen und mit Codeworten ausgetragen. So hatte Thaum einmal den Begriff »Munition« gegen »Wischmopp« ersetzt, als sie gerade Reinigungskräfte gemimt hatten. Direkt vor der Nase der Wache hatten sie darüber gestritten, ob sie tödliche oder nicht tödliche Munition gegen den Mafia-Troll einsetzen sollten, der die Tür bewachte, durch die sie damals gelangen mussten. Der tumbe Kerl hatte sich schließlich eingemischt und Thaum zugestimmt, dass Mikrofaserwischmobs die besten wären. Der Nachtstreifer hatte triumphierend gelächelt und den Troll dann mit einigen Betäubungspfeilen außer Gefecht gesetzt.

Der Weg bis zur Toilette dauerte leider nur wenige Sekunden und die offene Tür des Serverraums war von hier gut einsehbar.

Also deswegen hat mich der Kerl selbst hergebracht, dachte Mira ernüchtert. Er kann uns beide vom Flur aus im Blick behalten.

Mira nickte ihrer Eskorte dankbar zu und verschwand im Waschraum. Geschickt fischte sie ein Ohrfunkgerät aus der Tasche ihres Overalls und setzte es sich ein.

»Die Tagschicht ist noch drinnen«, sagte sie ohne Vorrede. »Thaums Zeitfenster ist klein, er muss umgehend handeln. Macht euch bereit.« Dann wartete sie eine Weile, bis ein zaghaftes Klopfen an der Tür ertönte.

»Alles in Ordnung da drinnen?«, fragte der Wachmann. »Brauchen Sie Hilfe? Soll ich vielleicht eine Kollegin holen?«

»Ich komme«, rief Mira und betätigte zur Tarnung die Spülung, während sie innerlich Thaum verfluchte. Was brauchte denn da so lange? Sie wusch sich die Hände und überlegte, ob sie die Wache in den Waschraum hineinlocken und überwältigen sollte, als plötzlich ein leises Plumpsen vor der Tür ertönte. Mira spähte vorsichtig hinaus und sah den schlafenden Sicherheitsmann vor sich auf dem Boden liegen.

»Besser spät als nie«, murmelte sie und huschte zum Serverraum.

Thaum kniete noch immer an der Lüftung und hielt den zitternden Druckluftbehälter fest, den er mit einem riesigen Haufen Klebeband an den Lüftungsschlitzen festgeklebt hatte.

»Der Druck ist zu stark«, sagte er ächzend. »Der Behälter hat sich immer wieder losgerissen. Ich musste improvisieren.«

Mira nickte verstehend. Philis hatte die Hauptlüftung ausfallen lassen, damit Thaums Gas sich von diesem Nebenschacht aus im gesamten Gebäude ausbreiten konnte. Aber trotzdem musste der Nachtstreifer für den nötigen Druck sorgen, damit sein Gemisch sämtliche Gänge und Räume flutete. Dabei hatte Thaum wohl nicht an den Rückstoß gedacht und badete jetzt sein Versäumnis mit schierer Muskelkraft aus.

»Ich schaue nach den restlichen Wachen«, sagte Mira knapp und ließ ihren Freund wieder allein. Leise huschte sie den Korridor entlang, bis sie sich mit einem verstohlenen Blick um die Ecke ein Bild von der Lage vor der Sicherheitstür machen konnte, hinter der das Objekt ihrer Begierde zu finden sein sollte. Zufrieden richtete sie sich vollends auf, als sie dort fünf schlafende Körper am Boden liegen sah. »Sechs von acht gesichert«, sagte sie über Funk. »Ich suche die letzten zwei und lasse dann Hank und Philis hinein.«

Mira zog drei Wurfpfeile aus ihrem Overall, deren Spitzen in eine klebrige Tinktur getaucht worden waren, die Thaums fähigen Händen entsprungen war. Wer davon an der Haut getroffen wurde, verlor nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Erinnerung an die letzten Sekunden vor dem Angriff. Nützlich, wenn man schnell und leise vorging.

Eine weitere schlafende Wachfrau fand Mira im Sicherheitsraum, in dem die Kamerabilder der Anlage zusammenliefen. Fünfzehn kleine Monitore zeigten wechselnde Einstellungen, einer der zwei Blickwinkel der Kameras im Serverraum fiel durch ein seltsam verwaschenes Bild auf. Man konnte Thaum zwar erkennen, aber es sah so aus, als schraube er an einem der Server herum, anstatt das Gas in den Schacht zu pumpen. Was Philis alles mit einem Smartphone anstellen konnte, ließ Mira oft mulmig werden.

»Sieben gesichert«, sagte sie und begann, einen Haufen Kippschalter umzulegen. »Kameraübertragung wird unterbrochen.« Sie brummte erleichtert, als sie auf einem der kleinen Monitore eine uniformierte Gestalt im Foyer liegen sah. »Alle Wachen gesichert«, sagte sie mit einem zufriedenen Aufatmen und beendete die Stilllegung des Sicherheitssystems. »Hank, Philis, ich lasse euch jetzt rein.« Dann sprintete sie zum Eingang und drückte den Knopf, der die Türen öffnen würde.

»Zwei Minuten, siebzehn Sekunden seit deiner ersten Funkmeldung«, sagte Hank zur Begrüßung, als der Troll sich im Sichtschatten des Transporters dem Eingang näherte. Trotz des Lichtes war der selbsternannte Meisterdieb nur ein verschwommener Schemen. Philis flog blitzartig ins Innere und Hank folgte ihr mit einer Vorwärtsrolle, die Mira eine Spur zu dramatisch fand. Aber wenn es dem Troll half, seine Angst zu überwinden, konnte er so viel Theatralik an den Tag legen, wie es ihm beliebte.

»Macht euch an die Arbeit«, sagte die Elfe und schloss die Eingangstür wieder.

Während Hank und Philis sich auf den Weg zur Sicherheitstür machten, zog Mira den bewusstlosen Wachmann hinter den Tresen der Empfangshalle, damit er nicht von außen gesehen werden konnte. Wer wusste schon, ob einem der beiden Wachleute in ihrem kleinen Häuschen langweilig werden würde? Wenn der Regen nachließ, wollte vielleicht einer von ihnen ein Schwätzchen mit den Kollegen halten. Mira war immer gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet, auch wenn sie wusste, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war.

Mira liebte das Unmögliche.

»Das wird hier eine Weile dauern«, ertönte Hanks Einschätzung über Funk. »Die Bolzen der Tür sind mit einem Zeitschloss gesichert, das unabhängig vom Sicherheitscode arbeitet.«

Mira setzte sich in Bewegung und fluchte dabei ausgiebig vor sich hin. Der Strom unflätiger Worte half ihr in Krisensituationen dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ihre Lehrmeister im Anderswo hatten sie dazu ermutigt, eine Art Anker zu finden, mit dem sie ihre Konzentration fokussieren konnte. Die meisten Elfen wählten dafür ein Lied oder Gedicht, eine elegante Handbewegung oder eine bestimmte Körperhaltung. Mira hatte sich umgehend für ausgiebiges Fluchen entschieden. Selbstverständlich war niemand am Hof ihres Vaters darüber erfreut gewesen. Sie musste trotz ihrer Anspannung bei der Erinnerung lächeln.

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie, als sie bei den übrigen Grenzgängern ankam. Die Tür zum Labor war die große Unbekannte gewesen, denn Philis hatte dazu keinerlei Hinweise gefunden.

»Für den Zugangscode brauche ich fünf Minuten«, sagte Philis, und Mira hörte Verärgerung aus der Stimme der Pixie heraus. »Und das Zeitschloss kann ich resetten. Dann blockiert es nicht den Schlossmechanismus, kann aber auch die Bolzen nicht bewegen.« Die Unzufriedenheit auf dem Gesicht der Pixie stand in einem krassen Kontrast zu ihren kindlichen Zügen. »Teile der Verriegelung sind analog und können nicht ferngesteuert werden.« Sie schnaubte. »Wer baut denn heutzutage noch so was?«

»Jemand, der mit Personen wie dir rechnet«, sagte Hank glucksend. Wie immer freute sich der Troll darüber, wenn die Pixie ihm nicht sämtliche Steine aus dem Weg räumen konnte. Dann drehte er sich Mira zu und streichelte dabei über die dicke Stahltür. »Ich werde ein bisschen bohren müssen, aber in einer halben Stunde sollten die Bolzen kein Problem mehr darstellen.«

Mira runzelte die Stirn. »Je länger wir brauchen, umso größer die Gefahr, dass die beiden im Wachhäuschen etwas mitbekommen.«

»Wir könnten die zwei immer noch ausschalten«, sagte Thaum.

»Ein leeres Wachhäuschen erregt möglicherweise schneller unerwünschte Aufmerksamkeit, als uns lieb ist«, widersprach Mira. »Aber wenn einer von ihnen reinkommt, sollten wir vorbereitet sein.«

Thaum nickte und kramte seinen berüchtigten Umhang aus seinem Rucksack. Die Innenseite des Kleidungsstücks war mit allerlei Taschen und Halteriemchen übersät, in denen der Nachtstreifer seine alchemischen Überraschungen aufzubewahren pflegte. »Ich halte hinter dem Tresen im Foyer Wache«, sagte er. »Ruft mich, wenn ihr meine Hilfe braucht.«

»Denk dran: keine magischen Rückstände hinterlassen«, rief Mira ihm hinterher. »Also übertreibe es im Ernstfall nicht.« Dann starrte sie auf die beiden fleißig mit der Tür beschäftigten Teamkollegen und erkannte, dass sie nichts tun konnte, als zu warten. Also zog Mira ihre E-Zigarette hervor und genoss mit geschlossenen Augen den köstlichen Dampf voll heimatlicher Eindrücke. Da sie sich mitten in einem Job befand, unterdrückte sie die aufsteigende Melancholie ebenso wie die dazugehörigen Erinnerungen und jagte dem Gefühl des Friedens nach, das der Geschmack von Ewigkeitslilien in ihr erzeugte. Ihre mentalen Finger strichen über jene fernen Erinnerungen in den Tiefen ihres Verstandes.

»Fertig«, ertönte Philis’ Stimme und riss Mira aus ihrer Trance. Sie öffnete blinzelnd die Augen und erkannte, dass die Pixie keine zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht schwebte. Ihr winziges Gesicht war vor Sorge verzogen und sie hatte den Kopf schiefgelegt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. »Du warst mit deinen Gedanken kilometerweit weg.«

Mira zuckte ertappt mit den Achseln. »Ich habe das Gefühl, als würden wir uns mit diesem Auftrag endgültig befreien … Das ruft alte Erinnerungen wach.«

Die Pixie nickte mitfühlend und deutete dann mit dem Daumen über die Schulter auf das elektronische Paneel an der Tür. »Beide Schlösser sind neutralisiert. Wenn Hank mit seiner Muskelakrobatik fertig ist, können wir rein.«

»Du … könntest … mir auch … mit deiner Magie … helfen«, stöhnte der Troll, der sich mit einem Handbohrer abmühte, durch den Stahl der Tür zu kommen. Die Muskeln ihres Freundes traten unter seinem Trainingsanzug wie sich windende Schlangen hervor, und Mira musste sich daran erinnern, dass selbst ein schmächtiger Troll wie Hank immer noch um ein Vielfaches stärker war als ein Mensch oder Elf.

»Ich dachte, die Bolzen wären deine Aufgabe?«, fragte Philis zuckersüß. »Du wirktest vorhin so froh, dass ich dir nicht die ganze Arbeit abnehmen würde.«

»Philis«, sagte Mira in strengem Ton und die Pixie hob ihre winzigen Hände, als würde sie aus der Entfernung nach dem Bohrer greifen. Hank ließ keuchend los und dann drehte Philis ihre geballten Fäuste gegeneinander und der Bohrer folgte ihren Bewegungen. Stahl kreischte und Späne flogen aus dem Loch hervor, als die telekinetische Magie des Feenwesens die diamantbesetzte Spitze des Werkzeugs unbarmherzig in die Tiefen der Tür trieb.

»Dankeschön«, sagte Hank, der sich seine Oberarme massierte. »Ich bin halt kein Troll fürs Grobe.«

»Thaum«, meldete sich Mira indessen bei dem Nachtstreifer über Funk. »Die Tür ist gleich offen.«

»Soll ich hierbleiben oder zu euch kommen?«

Mira zögerte einen Moment. Der Laborraum war ebenso eine Unbekannte wie die Tür, die in ihn hineinführte. Philis hatte keinerlei Bilder aus seinem Inneren auftreiben können. Bis auf die Instrumente, die für dessen Ausstattung bestellt worden waren, gab es keine Hinweise darauf, was sie auf der anderen Seite der Tür erwartete. »Komm lieber her«, sagte sie, einem warnenden Gefühl in ihrem Hinterkopf nachgebend. Die mundane Anlage erklärte trotz ihrer Verbindung zur Nebula Corporation noch immer nicht Megocks Entscheidung, Miras Team für diesen Diebstahl anzuheuern und so Tausende von Euros zu verlieren. Es war ihr schleierhaft, warum nicht ein paar gewöhnliche Kriminelle diesen Job hätten erledigen können.

Thaum kam den Korridor hinuntergeschlendert, als der Hauptbolzen der Tür mit einem lauten Klacken seine Position änderte und Philis ihre Bemühungen einstellte. Der Nachtstreifer stellte sich neben Mira, die Arme unter seinem Umhang verschränkt. Die Elfe kannte diese Pose: Thaums Finger nestelten an den magischen Utensilien herum, die er mit sich trug, bereit, sie in Windeseile hervorzuziehen.

»Ich öffne jetzt die Tür«, sagte Hank und griff nach dem schweren Notfallgriff mittig der glänzenden Oberfläche.

Mira schob ihre Nervosität zur Seite und zog ihre Pistolen.

Sicher ist sicher.

Mit einem leisen Knarzen gab die lädierte Labortür nach und schwang unter Hanks Bemühungen ein Stück weit auf, bevor sich die Bolzen verkanteten. Der Troll verbarg mit seinem Körper den Blick ins Innere des Raumes, als er in seiner Bewegung innehielt und leise durch seine Zähne pfiff.

»Das sieht man nicht alle Tage«, staunte er.

Ungehalten trat Mira einen Schritt vorwärts und lugte an dem Troll vorbei in einen großen, lang gezogenen Raum mit hoher Decke, der auf den ersten Blick ganz aus Stahl und weißer Keramik zu bestehen schien. Dutzende Instrumente standen fein aufgereiht wie skurrile Hühner auf einer blank geputzten Stange auf breiten, makellos reinen Arbeitsflächen und schienen ein stummes Spalier für jene Apparatur zu bilden, die das gesamte hintere Drittel des Labors einnahm. Zwei große Roboterarme ragten aus dem Boden eines mit Sicherheitsglas abgetrennten Reinraums, in dem ein langer, schlanker Zylinder auf einem Stahltisch lag. Warnschilder übersäten die schmale Tür, die in die kleine Kammer führte, und Mira stellten sich die Nackenhaare zu Berge.

Radioaktiv. Giftig. Ätzend. Biologisch tödlich, las sie in Gedanken. Was auch immer da drin sein sollte, es ließ jedenfalls keine einzige Gefahrstoffklasse aus.

»Wollen wir diesen Behälter wirklich stehlen?«, fragte Hank ängstlich und deutete auf die Warnsymbole, ohne das Hauptlabor zu betreten. »Ich bin mit meinem Körper eigentlich sehr zufrieden und habe keine Lust, dass mir ein dritter Arm oder Schlimmeres wächst.«

Mira wandte sich Thaum zu. »Hast du irgendetwas dabei, das uns schützen könnte?«, fragte sie.

Der Nachtstreifer spähte kurz in den Raum und zuckte zusammen. »Uh. Das sind … sehr viele Warnungen.« Dann stöberte er in seinem Umhang herum. »Ich kann den Behälter magisch versiegeln«, sagte er schließlich. »Ich habe hier speziell behandelte Basiliskenhaut. Solange sie unbeschädigt bleibt, schützt sie besser als ein Bleibunker.«

»Klingt gut«, sagte die Elfe und deutete in den Raum. »Philis hebt den Behälter an, du wickelst ihn ein und Hank trägt ihn hier raus, während ich Wache halte. Dann verschwinden wir schleunigst und sehen nach dem Morgengrauen einen ganz bestimmten Greif nie wieder.«

Die Erwähnung ihrer bald gewonnenen Freiheit belebte das Team und schnell schlüpften die vier Grenzgänger in den langen Raum. Mira blieb von innen an der Tür stehen, während Philis losflog, um ihre Beute mittels Telekinese anzuheben.

»Das ist komisch«, sagte die Pixie nach mehreren greifenden Gesten mit ihren Händen verblüfft. »Meine Magie gleitet an dem Behälter ab. Ich bekomme ihn nicht richtig zu fassen.« Indessen hatten Thaum und Hank den Reinraum beinahe erreicht.

Miras Alarmglocken schrillten umgehend los. »Hier sollte es nichts Magisches geben …«, begann sie, als sich die Luft im Inneren des Reinraums zu biegen begann und eine verhüllte Gestalt aus einem plötzlich auftauchenden schwarzen Spalt hervortrat. Dampf schien von der dunklen Kleidung aufzusteigen und Mira war sich sicher, Frost auf dem leinenartigen Gewebe zu erkennen, unter dem der menschengroße Eindringling sich verbarg.

»Ist das etwa eine Falte?«, fragte Thaum ungläubig und deutete auf den schwarzen Riss. »Wie kann sich hier denn so mir nichts, dir nichts eine Falte öffnen?«

»Mir egal«, knurrte Mira und deutete auf die Gestalt vor ihnen. »Wichtig ist nur, dass wir drauf und dran sind, den zweiten Platz bei diesem Diebstahl belegen.«

Schon griffen die verhüllten Hände nach dem Behälter, und Mira zögerte keine Sekunde. Im Vorwärtssprint zog sie ihre Waffen und feuerte Kugel um Kugel auf das Sicherheitsglas. Natürlich prallten die Geschosse ab, aber der Lärm war ohrenbetäubend und der Schall musste im Inneren der Kammer um ein Vielfaches lauter sein. Der Eindringling wirbelte herum und Mira erkannte nun, dass es sich unter all dem Stoff um eine Frau handeln musste. Die Elfe konnte aus der Nähe ebenfalls erkennen, dass auf der dunklen Kleidung schwarze Muster eingestickt worden waren, die ihr Gegenüber irgendwie altertümlich wirken ließen. Nur die schwarz geschminkten Augen der Gestalt waren zu erkennen, als sie Mira direkt ansah und einen wütenden Schrei ausstieß. Für einen Moment schenkte ihr die Elfe jenes provokante, kühle Lächeln, mit dem sie schon so manchen Gegner aus der Reserve gelockt hatte, aber die Fremde verstärkte ihren Wutschrei nur und dann verschwand Miras Lächeln abrupt aus ihrem Gesicht, als ihr plötzlich die aus dem Rahmen gerissene Sicherheitsscheibe des Reinraums entgegenflog.

Magierin!, schoss es ihr durch den Kopf, als sie sich rückwärts zu Boden warf und das tödliche Geschoss mit einem lauten Rauschen über sie hinwegzischte.

»Achtung«, brüllte Hank hinter ihr und dann ertönte ein knirschender Aufprall, der Mira den Magen umdrehte. Sie sprang auf die Beine, feuerte blind in Richtung der Fremden und sah sich dabei mit einem raschen Schulterblick um. Hank hatte die gepanzerte Scheibe mit seinem Körper aufgehalten, um Thaum und Philis zu schützen, und sein rechter Arm hing schlaff an seiner knienden Gestalt herab, sein gütiges Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes verzogen.

Die Pixie schwebte mit blitzenden Augen hinter dem Troll hervor und deutete mit bebendem Finger auf die Magierin. »Du!«, zischte sie nur und machte eine Greifbewegung.

Mira sah wieder in Richtung ihrer Gegnerin und beobachtete, wie die beiden Roboterarme die Frau in einen Klammergriff nahmen, der mörderisch wirkte.