Die Grube von Wounshu: Im Namen des Rates 3 - Torsten Weitze - E-Book

Die Grube von Wounshu: Im Namen des Rates 3 E-Book

Torsten Weitze

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Beschreibung

Mira, Thaum, Yorgen und Nik wurden dazu verurteilt, ihr Dasein in der Grube von Wounshu zu fristen. Das berüchtigte Freiluftgefängnis gilt als ausbruchsicher, seine Wachen als gnadenlos. Der Versuch, ihr Schicksal in letzter Minute abzuwenden, verläuft nicht wie geplant, und die Freunde werden über die gesamte Grube verstreut. Für jeden von ihnen beginnt ein Kampf ums Überleben, während Grayson Steel und die Nebula Convicto sich mit immer ausufernderen Angriffen durch Dämonen konfrontiert sehen, deren Ziel es ist, das Große Spiel für sich zu entscheiden. Am Ende liegt alle Hoffnung auf Mira und ihren Grenzgängern: Eine Antwort muss her, wie das große Spiel ein für alle Mal gestoppt werden kann, bevor eine Horde machtgieriger Dämonen die mundane Welt verschlingt.

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Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

© Torsten Weitze, Krefeld 2025

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Oktober 2025

Lektorat: Janina Klinck | www.lectoreena.de

Korrektorat: Tatjana Weichel | www.wortfinesse.de

Cover: Agentur Guter Punkt

www.tweitze.de | Facebook: t.weitze | Instagram: torsten_weitze

Der Autor

Torsten Weitze, Jahrgang 1976, ist in Krefeld geboren und lebt dort auch heute noch. Ursprünglich gelernter Verlagskaufmann zog es ihn nach jahrelangem Leiten einer Pen-und-Paper-Rollenspielrunde unaufhörlich auf die künstlerische Seite des Berufsfeldes. Nun verbringt er seine Freizeit damit, sich neue Welten und Charaktere auszudenken und diesen in seinen Fantasy-Romanen Leben einzuhauchen.

Entspannung findet er beim regelmäßigen Jiu-Jitsu-Training und beim Erlernen der Handhabung traditioneller japanischer Waffen.

Sein Debütroman »Ahren: Der 13. Paladin« erschien im Februar 2017.

Prolog

»Ob sie schon in der Grube eingetroffen sind?« Grayson hasste es, die Hilflosigkeit in seiner eigenen Stimme zu hören. Sie kam ihm verlogen vor. Schließlich war es seine Entscheidung gewesen, die zu jenen Konsequenzen geführt hatte, mit denen er nun haderte.

Shaja sah ihn unterkühlt an. »Ein bisschen spät für Zweifel, nicht wahr?«

Grayson nickte. Von seiner Frau würde er in dieser Sache keinen Trost erwarten dürfen. Nur schonungslose Ehrlichkeit, durchsetzt mit unterschwelligem Groll. »Ich weise Mack an, Mutter zu ihnen zu schicken«, sagte er und griff nach dem Telefon.

»Die Anweisung hast du schon vor zwei Stunden erteilt«, erinnerte ihn Shaja. Ihre Stimme klang nun einen Hauch weicher. »Und er hat dir erklärt, dass er erst einen Weg finden muss, Mutter sicher zu tarnen, um die Drohne unbemerkt in einen Luftraum fliegen lassen zu können, der von den chinesischen Clans gesperrt wurde.«

»Kein Wunder, dass ich dieses Gespräch verdrängt habe«, schnarrte er vor sich hin. Er sah sich in seinem Büro um. Jeder Anblick war besser als der von Shajas hartem Blick, der ihn unbarmherzig durchbohrte.

Sein Schreibtisch kam ihm zu groß, die darauf liegenden Akten zu zahlreich und der in der Ecke des Raumes schwebende Obsidian zu dunkel vor. So als hätte Grayson sich selbst in eine Falle manövriert, als er die Leitung des Geheimdienstes der Nebula Convicto übernommen hatte. Mira und ihr Team waren aufgrund seiner Entscheidung verhaftet und vor Stunden in Richtung der Grube von Wounshu gebracht worden, doch er selbst fühlte sich plötzlich in einer ganz eigenen Art von Gefängnis eingesperrt.

»Vielleicht sollte jemand auf diesem Stuhl sitzen, dem solche Entscheidungen leichter fallen.«

Shaja schnaubte und öffnete den Mund, doch da klopfte es an der Tür. »Herein«, rief sie unwirsch.

Morgan steckte seinen Kopf durch den Türspalt. »Ich wollte nur nach euch sehen.« Er stutzte. »Störe ich?«

»Nein«, erwiderte Shaja knapp.

Der Magier zog eine Augenbraue hoch, rührte sich davon abgesehen jedoch keinen Zentimeter. »Bist du sicher? Du wirkst, als wolltest du gleich deine Waffen ziehen.«

Shaja winkte ab. »Komm bitte rein. Grayson bemitleidet sich gerade selbst, und das ist sehr ermüdend.«

Nun schob Morgan seine wie stets gepflegte Gestalt in den Raum. Wenn überhaupt, sah er noch förmlicher aus als sonst.

Nicht förmlicher, korrigierte sich Grayson, sondern festlicher. Er deutete auf den weißen Seidenschal und die ebenso weißen Handschuhe, die den eleganten Zweireiher komplettierten. »Du gehst aus?«

Morgan zog eine schuldbewusste Grimasse. »In die Oper. Morgana spürt meinen Unmut über das Schicksal deiner Grenzgänger und besteht darauf, dass wir uns ablenken.« Er tippte sich an seine Schläfe. »Mein Gemütszustand färbt über unsere geistige Verbindung auf sie ab – und wir alle wissen, wie zerstörerisch Morganas schlechte Laune sein kann, also gebe ich ihrem Wunsch nach Zerstreuung klein bei.«

Grayson deutete Richtung Tür. »Dann geh besser sofort und muntere dich auf. Das Letzte, was wir brauchen, ist ein Staatsstreich, den Morgana irgendwo auf der Welt anzettelt, nur weil sie einen miesen Tag hat.«

Morgan nickte und zog sich zurück. Kurz bevor er von außen die Tür schloss, hielt er inne. »Wenn ihr etwas bezüglich Mira und der anderen hört …«

»Melden wir uns«, versicherte Grayson mit einem Nicken. Die Tür schloss sich, und er war wieder allein mit Shaja und ihrer Missbilligung.

»Du lässt Morgana zu viel Spielraum«, murrte sie.

Er unterdrückte ein Seufzen. »Wir haben doch darüber gesprochen. Jetzt, da sie mit uns kooperiert, indem sie uns versteckte Hinweise auf das Große Spiel zukommen lässt, ist es besser, sie bei Laune zu halten. Ohne sie wüssten wir noch nicht einmal, dass wir in der Grube von Wounshu nach wichtigen Hinweisen auf das Spiel suchen sollten.«

»Du merkst schon, dass du gerade genau jene Frau verteidigst, wegen der du Mira und die anderen an einen wirklich beschissenen Ort hast schicken lassen? Und dass du deswegen vor einer halben Minute noch deinen Posten aufgeben wolltest?«

Grayson erhob sich und deutete auf seinen Stuhl. »Wenn du ihn willst, kannst du ihn haben«, forderte er seine Frau heraus.

Shajas Blick bohrte sich in den seinen und sie erhob sich. Dann trat sie um seinen Schreibtisch herum und legte eine Hand auf die Rückenlehne des Stuhls, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Für einen Moment glaubte Grayson, sie würde sich setzen. Er hoffte es sogar.

»Gehen wir heim«, sagte sie und schob den Stuhl an den Schreibtisch heran. »Dort können wir wenigstens eine Weile mit unserem zauberhaften Baby verbringen, während wir auf Neuigkeiten warten. Das hilft gegen jeden Kummer.«

Grayson nickte und nahm Shajas Hand. Als er mit ihr sein Büro verließ, kam er nicht umhin, festzustellen, was für ein Glückspilz er war – und dass es da draußen mindestens vier Grenzgänger gab, die einen Funken seines Glücks gebrauchen konnten.

Fliegende Verurteilung

»Sind die Angeklagten bereit für die ihnen rechtmäßig zustehende Vorverhandlung?«

Die sonore Stimme des in einen adretten Anzug gekleideten Teufels mit asiatisch anmutendem Aussehen rang hörbar mit dem lauten Brummen der Turbinen, dem Rauschen des Windes, der seinen Weg in den baufälligen Rumpf des großen Transportflugzeuges fand, sowie mit dem Klappern der Haltebänder, welche die Habseligkeiten des Teams inmitten des Laderaums, in dem sie sich befanden, zu einem festen Bündel verschnürt hielten.

»Nein, sind wir nicht«, erwiderte Yorgen auf die Frage des Teufels. »Am besten, wir bekommen zwei, drei Tage Vorbereitungszeit in einem luxuriösen Hotel –«

Das Klicken eines gespannten Abzugs unterbrach den Yeti, als einer der sechs schwergepanzerten Soldaten mit seinem runengravierten Sturmgewehr auf ihn anlegte. Die Augen des Mannes funkelten angriffslustig hinter der Stahlmaske mit eingraviertem wütendem Gesicht, die er trug.

»Du wirst den ehrenwerten Mogui mit dem nötigen Respekt behandeln«, zischte der Soldat in stark akzentuiertem Englisch.

Yorgen sah auf den Mann herab, der ihm nicht einmal bis zur Brust reichte – und das nicht, weil der Soldat besonders klein gewesen wäre. »Wen willst du denn mit dieser Spielzeugpistole beeindrucken?«, rumpelte er launig. »Ich kann mich schneller regenerieren, als du dein Magazin wechseln kannst.«

Nun legten auch die anderen Soldaten auf den Yeti an.

»Jetzt also erwacht endlich dein Kampfgeist?«, fragte Thaum. Der Nachtstreifer hatte sich ganz unzeremoniell in einen der Hartschalensitze fallen lassen, die die Wände der alten Militärmaschine säumten. »Ganze zehn Kilometer über dem Boden?«

Yorgen zuckte mit den Achseln. »Besser spät als nie.«

»Ich weise darauf hin, dass jedwede Aggression Ihrerseits als Widerstand gegen die Autorität der Clans gewertet wird«, mischte sich der Teufel ungerührt ein. »Das würde Ihr mögliches Strafmaß bei der Hauptverhandlung um weitere zwanzig Jahre erhöhen.«

Nik lachte bitter. Die Hexe saß Thaum gegenüber und hielt ihren geschorenen Kopf zwischen den Händen verborgen. »Könnte bitte jemand dem scheinheiligen Kerl das Maul stopfen? Es ist ein offenes Geheimnis innerhalb der Nebula Convicto, dass man in die Grube von Wounshu geworfen wird, damit es erst zu gar keiner Hauptverhandlung kommt. Dort entsorgen die Clans all jene, die nie wieder freikommen sollen. Mir egal, was dieser Clown hier erzählt.«

»Ich rufe die Gefangenen hiermit zur Ordnung!« Der Teufel ließ mit einem Schnippen seiner Finger einen kleinen Holzhammer erscheinen und schlug mit ihm mehrmals energisch gegen die Innenwand des Flugzeugs. Dass er dabei noch immer eine strenge Miene zog und sich gebärdete, als wären sie in einem Gerichtssaal, hätte Mira beinahe schmunzeln lassen, wäre sie nicht noch immer im Mahlstrom ihrer Emotionen gefangen gewesen.

Es war keine drei Stunden her, dass sie und ihr Team nach einem erfolgreichen Auftrag zur Bergung einer der Schalen des Großen Spiels in Hongkong gelandet waren, nur um dort plötzlich wegen Terrorismusverdachts verhaftet zu werden. An einen Kampf war angesichts der Überzahl der Soldaten nicht zu denken gewesen, und so war sie in eine Art Schockstarre verfallen, in der ihr Verstand zu verarbeiten versuchte, was passierte, und wie ihre weiteren Optionen aussahen.

»Wir spuren oder es passiert was?«, röhrte Yorgen herausfordernd in Richtung des Teufels. »Verurteilst du mich zu zweimal lebenslänglich in eurem kleinen Freiluftgefängnis?«

Das Launige war aus seinem Gebaren verschwunden und wurde durch etwas ersetzt, das gefährlich nahe an glühenden Zorn grenzte. Mira wusste, sie sollte tätig werden. Ein zorniger Yorgen war oft ein äußerst impulsiver Yorgen.

»Lass den Mogui seine Show abziehen«, raunte sie ihm zu, indem sie sich seinem linken Ohr entgegenreckte. »So pedantisch, wie der auftritt, erzählt er uns im Laufe dieser Verhandlung zumindest, was die chinesischen Clans über unsere Aktionen wissen.«

Yorgen sah gereizt auf sie herunter, nickte aber schließlich schroff. »Ich bin still«, grummelte er, sowohl an Mira als auch an den Teufel gewandt.

Die Soldaten senkten ihre Sturmgewehre, und Mira gönnte sich ein erleichtertes Aufatmen. Die Jungs und Mädels hinter den Stahlmasken waren Profis, was bedeutete, dass sie sicher keine normalen Bleikugeln verschießen würden, wenn sie vorhatten, einen Yeti ruhigzustellen.

»Schön«, sagte der Teufel. »Dann kann dieses Gericht nun ungestört fortfahren.« Er deutete mit seinem kleinen Hämmerchen auf Mira. »Die Anklage lautet auf versuchten Terrorismus innerhalb der durch den Verhangenen Rat anerkannten Territorien der Clans Chinas. Angeklagt werden die hier anwesenden Grenzgänger, diesem Gericht bekannt unter den Decknamen Yorgen, Thaum, Nik und Mira.«

Als sie lediglich ihren Vornamen hörte, ohne jeden Zusatz auf das Haus Sheinfhandril, horchte Mira auf. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, sah sie sich unter ihren Freunden um. Auch sie tauschten überraschte Blicke. Warum kannten die Behörden keine einzige ihrer wahren Identitäten? Zumindest die von Mira hätte leicht zu ermitteln gewesen sein müssen …

»Wollen die Angeklagten sich diesem Gericht zu erkennen geben?«, fragte der Teufel höflich, ja fast schmeichlerisch. »Ich möchte darauf hinweisen, dass eine Haft in der Grube von Wounshu erheblich länger dauern kann, wenn vor der Hauptverhandlung erst mühsam die Identität der Gefangenen ermittelt und verifiziert werden muss.«

Ein kleines Luftloch ließ das Flugzeug hüpfen, und Mira hielt sich am schwankenden Yorgen fest. Sie war beinahe dankbar für die Turbulenz, hatte sie sie doch davor bewahrt, dem Teufel ins Gesicht zu lachen. Die Vehemenz, mit der er an der offiziellen Lüge festhielt, dass man aus der Grube je wieder herausgelassen wurde, hatte etwas Tragikomisches. Aber so wirkte es stets auf Mira, wenn ein bestimmtes Dogma die Realität beiseite wischte, weil diese nicht in die eigene Denkblase passte. Wirklich traurig war eher die Erkenntnis, dass diese Art der Verblendung nicht nur der mundanen Welt vorbehalten war, sondern auch in der Nebula Convicto in der einen oder anderen skurrilen Form Früchte trug.

»Was sagt ihr?«, fragte Yorgen in die Runde. »Nennen wir dem netten Teufel unsere echten Namen, damit er uns früher nach Hause schicken kann?« Der Sarkasmus troff so dick von seinen Lippen, dass Mira darin hätte ersaufen können. Sofort wurden die Soldaten wieder unruhig, und die Miene des Teufels verfinsterte sich.

Selbst schuld, schalt Mira sich selbst. Wenn du deinen Job nicht machst und das Reden übernimmst, tut es jemand anderes.

»Ich halte hiermit fest, dass die Angeklagten sich unkooperativ verhalten haben und eine Auskunft über ihre Identität verweigern«, proklamierte der Teufel schroff. »Ich fahre daher mit der Beweissicherung fort.« Er deutete auf einen blassen Asiaten, der bei der Verhaftung der Grenzgänger bereits zugegen gewesen war. Der Typ hielt noch immer die Schale in seinen Händen, die, wäre alles nach Plan verlaufen, eigentlich an Leona hätte übergeben werden sollen. »Im Besitz der Angeklagten fand man ein Artefakt unbekannter Herkunft, das laut nicht näher offenzulegenden Quellen dazu dient, eine dämonische Wesenheit zu beschwör–«

»Also, so etwas wie einen Teufel?«, hakte Nik beißend dazwischen. »Ihr seid doch streng genommen auch eine Art von Dämon, oder?«

»Eine dämonische und durch den Rat nicht legitimierte Wesenheit zu beschwören«, korrigierte sich der Richter indigniert. »Zudem bezeichnet man mich und meinesgleichen hierzulande als Mogui. Ein wenig Respekt vor den Traditionen des Landes, in dem die Angeklagten auf unbestimmte Zeit … äh … verweilen werden, ist durchaus angemessen.«

»Benimmregeln von einem Teufel. Jetzt habe ich alles gehört«, meldete sich Thaum mit einem bellenden Lachen zu Wort.

Mira schwieg, diesmal jedoch absichtlich. Erstens saß der Frust bei ihrem Team zu tief, als dass sie dieser Farce von einer Vorverhandlung wortlos hätten beiwohnen können, und zweitens schien es ihnen zu gelingen, den Mogui mit ihren Kommentaren aus dem Konzept zu bringen. Die gesamte Stimmung kippte langsam in etwas, das man als kontrolliertes Chaos bezeichnen konnte.

Und mit Chaos konnte Mira arbeiten.

»Vielleicht möchte uns das Gericht erläutern, wie genau wir mit einer mundanen Schale eine Gefahr für die Clans Chinas hätten darstellen können?«, fragte Nik in ihrem spitzfindigsten Ton nach.

»Ähm …« Der Richter kratzte sich zwischen den Hörnern und sah Hilfe suchend zu seinem blassen Gehilfen hinüber. Dieser drehte und wendete die Schale ratlos zwischen den Fingern.

»Der Besitz von graviertem Steingut ist in China doch nicht illegal, oder?«, warf Thaum hinterher. »Sonst müsstet ihr eine Menge Bürger anklagen, sobald ihr mit uns fertig seid.«

»Klingt nicht so, als wäre die Anklage besonders wasserdicht«, kommentierte Yorgen breit grinsend. »Am besten, wir kommen noch mal auf das Luxushotel zu sprechen, das ich vorhin erwähnte. Vielleicht drehen wir mit dem Flieger einfach um –«

»GENUG!« Der Teufel schmetterte seinen Holzhammer so hart gegen die Bordwand, dass dieser lautstark zerbrach und dessen Kopf zu Boden plumpste. »Die Quelle, nach deren Auskunft diese Schale zur Anrufung eines Dämons höchsten Ranges verwendet werden kann, ist über jeden Zweifel erhaben! Die Versuche der Angeklagten, dieses Gericht ins Lächerliche zu ziehen, haben hier und jetzt ein Ende! Ich verfüge, dass die Untersuchungshaft in der Grube von Wounshu unverzüglich anzutreten ist.« Ein böses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Und dass aufgrund der renitenten Art der Angeklagten sowie der damit einhergehenden negativen Prognose auf Resozialisierung eine verschärfte Haft für diese vier Grenzgänger verhängt wird.«

Das ging jetzt nach hinten los, dachte Mira grimmig. »Ich bin sicher, dass eine solche Maßnahme unnötig ist«, versuchte sie sich an beschwichtigenden Worten, während sie sich noch fragte, wie eine verschärfte Haft wohl aussehen würde, bedachte man die Natur des Gefängnisses, in das sie geflogen wurden.

Die Grube von Wounshu war ein Erdtrichter, hervorgerufen durch einen Meteoriteneinschlag vor Tausenden von Jahren. Chinas Clans kübelten schon seit Urzeiten unerwünschte Personen in die Grube und überließen sie dort sich selbst. Lediglich die Grenzen des Gefängnisses wurden Miras Wissen zufolge überwacht. Wie also könnte der Mogui ihnen an einem solchen Ort das Leben noch schwerer machen? Der legte wie zur Antwort seine sorgsam manikürten Finger auf die Habseligkeiten der Grenzgänger.

»Gemäß Paragraf vierunddreißig des Abschnitts über die Gefangensetzung von Mitgliedern der Nebula Convicto in der Grube von Wounshu, unterzeichnet zwischen den Clans Chinas und dem Verhangenen Rat, spreche ich den vier Angeklagten, Yorgen, Thaum, Nik und Mira, die Rechte auf eine Grundversorgung bei Inhaftierung ab und verfüge, dass sie per Luftabwurf und nur mit den Dingen, die sie am Leibe tragen, in den See des Vielarmigen Ba verbracht werden.«

Miras Augen hatten sich bei jedem Wort des Teufels mehr geweitet. Die Worte Luftabwurf und Vielarmiger Ba klingelten Unheil verkündend in ihren Ohren, doch ein Aspekt seiner kleinen Tirade legte eine furchterregende Tatsache bloß, die Mira bisher vollkommen verdrängt hatte: Sie würde von ihren Pistolen, den Bruckenbrennern, getrennt werden, und damit von der Kraft, die die Mauer in ihrem Inneren aufrechterhielt. Jene lebenswichtige Mauer, hinter der eine solche Vielzahl von traumatischen Erinnerungen lauerte, dass Mira fürchtete, dass sie ihren Geist mühelos überwältigen würden, sollten sie unkontrolliert ihr bewusstes Denken überschwemmen!

Plötzlich wurde der unscheinbare Stapel aus schwarzen Koffern und Leinentaschen, in denen ihr Hab und Gut verstaut war, zu Miras einzigem Fokus. Während der Mogui noch weitere Paragrafen ins Feld führte und Sonderbefugnisse auflistete, die ihm erlauben würden, ihren Aufenthalt in der Grube von Wounshu besonders unangenehm zu gestalten, musterte Mira die sechs orangefarbenen Transportgurte, mit denen die Gepäckstücke an Ort und Stelle gehalten wurden. Sie wirkten dick und robust, klassischer Industriestandard eben.

»… schlage ich vor, dass die Angeklagten sich ausruhen, bis sie ihre Untersuchungshaft antreten«, schloss der Mogui seinen Monolog ab. »In etwa einer Stunde werden wir die Grube von Wounshu erreichen und dann …« Er deutete vielsagend auf die Transportklappe im Heck des Flugzeugs, die auf Mira wie das geschlossene Maul eines Monsters wirkte, das bereit war, sich jederzeit zu öffnen und seine unliebsamen Gäste in eine bittere Zukunft auszuspeien.

»Setzen wir uns«, raunte Mira Yorgen zu. »Wir haben viel zu besprechen.«

»Es sind nur sechs. Die schaffen wir«, flüsterte Yorgen euphorisch, kaum dass sie Platz genommen hatten.

Thaum stöhnte auf. »Sollten die Soldaten auf so engem Raum das Feuer eröffnen, sind alle außer dir Schweizer Käse«, grollte er zurück.

»Ein bisschen leiser, bitte. Die werden schon wieder nervös«, ermahnte Nik die beiden Grenzgänger.

Mira musterte ihre Bewacher, die ihnen gegenüber Platz genommen hatten, damit sie ihre Gefangenen im Blick behalten konnten. Die Situation hätte nicht klarer umrissen sein können: Die Grenzgänger an der rechten Bordwand, die Soldaten an der linken. Nahe der Bewacher befand sich das festgezurrte Bündel aus Beweisen, besser bekannt als die Ausrüstung des Teams. Der Mogui und sein blasser Würdenträger hatten den Transportraum verlassen, eine äußerst schwer gepanzerte Tür hinter sich zugezogen und diese mehrfach verriegelt. Da kämen weder ein wütender Yeti noch eine Kugel hindurch. Die feinen Herren jenseits der Panzertür wären in Sicherheit, falls hier hinten die Hölle losbrach.

»Wie sicher sind wir, dass die ihre Sturmgewehre im Inneren eines Flugzeugs einsetzen werden?«, fragte Mira.

»Sehr sicher«, erwiderte Nik und deutete mit einem unauffälligen Ruck ihres Kinns in Richtung der Soldaten. »Diese Stahlmasken dienen nicht nur der Einschüchterung. Ich erkenne simple Runen im Metall, kaum sichtbar hineingefräst und für den Laien leicht zu übersehen. Die Dinger fungieren als magische Atemgeräte, besitzen einen leichten Barrierezauber gegen Projektile und verfügen sogar über taktisch unnötige Zauber wie solche, dass man unter den Masken nicht schwitzt oder friert.«

Thaum pfiff leise durch die Zähne. »Was für ein Luxus. Da kann man ja regelrecht neidisch werden.«

»Kannst dich ihnen ja anschließen«, brummelte Yorgen. »Alles, was du dafür tun musst, ist, bedingungslos den Weisungen der chinesischen Clans zu gehorchen.«

»Hebe dir deine schlechte Laune für die Ausführung unseres Plans auf«, ermahnte Mira den Yeti.

Der sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Wir haben einen Plan?«

»Nein«, gab sie zu. »Aber ich arbeite dran.« Mira wandte den Kopf in Richtung Nik. »Wie steht es mit deiner Magie?«

»Einsatzbereit – wenn auch im Rahmen meiner beschränkten Möglichkeiten, solange ich meine Fluchfänger nicht trage.« Sie hielt demonstrativ ihre nackten Hände empor, um das Fehlen des verzauberten Geschmeides zu verdeutlichen, das bei ihrer Verhaftung mit den anderen Beweismitteln im Gepäck der Grenzgänger verstaut worden war.

»Könntest du die sechs nicht einfach mit einem Fluch schlafen schicken?«, fragte Thaum hoffnungsvoll.

Die Hexe sah ihn gereizt an. »Dazu müsste ich rituelle Vorbereitungen treffen. Wenn ihr mir also ausreichend Zeit verschafft, meinen Zauber heimlich auszuführen, dann ja.«

»Wie lange ist lange?«, hakte Yorgen nach und strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Ein bis zwei Minuten, schätze ich. Ich bin mir sicher, ihr Verstand ist darauf trainiert, Magie zu widerstehen, sonst hätten sie mir vor dem Einsteigen ins Flugzeug einen Knebel angelegt«, erwiderte Nik. »Vergiss die Idee also lieber wieder.«

»Kommt euch diese gesamte Verhaftung nicht auch wie mit der heißen Nadel gestrickt vor?«, fragte Mira. »Die kennen unsere echten Namen nicht, selbst meiner ist ihnen unbekannt. Noch dazu der Transport in dieser alten Klapperkiste und die vage Anklage ohne weitere Details der angeblichen Tat …«

Thaum antwortete mit einem zustimmenden Brummen. »Irgendwer hat den Clans einen Tipp gegeben, wann wir wo zu schnappen sein würden, und diese Information mit gerade genug Wissen beträufelt, dass die Clans anbeißen.«

»Aber wer?«, fragte Nik. »Ein Konkurrent Leonas innerhalb des Großen Spiels?«

»Das wäre ein kluger Schachzug«, gab Mira ihr recht. »Auf einen Schlag verliert Leona ihr Team aus Grenzgängern und die Schale, die wir für sie in Las Vegas erbeutet haben.«

»Aber haben wir nicht den Verdacht, dass beim Großen Spiel sämtliche Schalen in den Besitz einer Person übergehen müssen, damit er als Gewinner hervorgeht?«, warf Thaum ein. »Wäre es dann nicht töricht, eine von ihnen der zweifelhaften Obhut der Clans zu überlassen?«

Yorgen schnaufte. »Es sei denn, es gibt jemanden innerhalb der Clans, der sich am Großen Spiel beteiligt.«

Thaum sah mit übergroßen Augen zu dem Yeti hinüber.

»Was?«, fragte der gereizt.

»Das war … klug, was du da gesagt hast. So etwas sind wir nicht von dir gewohnt.«

»Witzig«, erwiderte Yorgen trocken. »Ich lache, sobald wir nicht mehr bis zum Hals in der Scheiße stecken.«

»Womit wir wieder zurück beim eigentlichen Thema wären«, sagte Mira. »Kümmern wir uns um unsere Flucht und danach um das Wer und Wieso.«

»Also, zwei der Soldaten sollte ich mühelos fertigmachen können, bevor der Rest zu den Waffen greift«, bot Yorgen an. »Vielleicht auch drei, wenn die wirklich so schwächlich sind, wie sie aussehen.«

Nik legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du überkompensierst mal wieder, mein Lieber.«

»Hm.« Der Yeti verzog sein Gesicht zu einer Grimasse stillen Grübelns. »Zwei. Zwei von denen schaffe ich. Versprochen.«

Thaum trommelte mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln herum. »Bleiben noch vier. Und drei von uns, die keinerlei Ausrüstung besitzen.«

Mira musterte die sechs Bewacher offen und eindringlich. Die Männer und Frauen hielten ihre Waffen zu Boden gerichtet und gesichert. Jegliche Nervosität war aus ihren Blicken verschwunden, stattdessen schienen sie sich darüber zu amüsieren, wie die vier Grenzgänger da beisammen hockten und tuschelten wie die Schulkinder.

»Die wissen, dass wir was planen«, sagte sie leise. »Und es scheint ihnen absolut nichts auszumachen.«

Thaum lachte bitter. »Nicht das beste Vorzeichen für unsere Flucht.«

»Zumindest einen Soldaten könnte ich sofort verfluchen, wenn ich mich voll und ganz auf ihn konzentriere«, bot Nik mit einem Stirnrunzeln an, das Bände sprach.

»Dann bleiben immer noch drei für Thaum und mich.« Mira verzog nachdenklich das Gesicht. »Und wenn du ihre Waffen lahmlegst?«, fragte sie die Hexe.

Nik schüttelte den Kopf. »Ich sehe Schutzrunen auf den Waffen. Das Flugzeug ist vielleicht ein Haufen veralteter Schrott, aber alles, was die Soldaten am Leib tragen, ist von ausgezeichneter Qualität.«

Mira nickte, langsam und entschlossen. »Dann kennen wir nun deren Schwachstelle.«

»Was meinst du?«, fragte Thaum mit nervöser Stimme. Anscheinend ahnte er, was Mira als Nächstes sagen würde.

»Das Flugzeug«, raunte Mira. »Yorgen sollte mit ein paar kräftigen Fausthieben ein Loch in die Bordwand schlagen können. Das erzeugt Unterdruck und Chaos. Beides können wir zu unserem Vorteil nutzen.« Sie klopfte leise gegen die Innenwand aus dünnem Stahl. »Diese Klapperkiste ist so verletzlich wie ein alter Werbär während des Winterschlafs.«

Thaums Lippen wurden bleich. »Ein passendes Bild. Denn wenn man einen Werbär angreift, macht man es besser richtig und schnell oder man kann niemandem mehr von seinem Fehler erzählen.«

»Ich bin ja für viele blöde Ideen zu haben, aber bei der hier muss ich dem blaufelligen Angsthasen neben mir zustimmen«, stieß Yorgen ins selbe Horn.

»Du willst ein Flugzeug sabotieren, in dem wir selbst sitzen?«, fragte Nik müde. »Ernsthaft?«

»Dann bitte ich um Gegenvorschläge«, verlangte Mira und verschränkte demonstrativ die Arme vor dem Körper. »Wir sind auf dem Weg zum berüchtigtsten Gefängnis der Welt, gegen das der Tower in London wie ein Freizeitresort wirkt, und ich persönlich stürze lieber irgendwo in China ab, als den Rest meines Lebens in einem Loch im Boden zu versauern.« Ihr gefiel ihre Idee selbst nicht, aber sie erwartete auch keine -

»Idee!«, stieß Nik hervor, nur um sich dann auf die Zunge zu beißen. »Ich habe eine.«

Die Soldaten lachten leise unter ihren Masken und zerknitterte Geldscheine wechselten ihre Besitzer. Anscheinend hatten die Bewacher Wetten abgeschlossen, die mit dem Gebaren ihrer Gefangenen zu tun hatten.

»Die gehen mir langsam auf die Nerven«, grollte Yorgen zähneknirschend. »Wer massiv im Vorteil ist, sollte die Würde besitzen, auf dieser Tatsache nicht so überheblich herumzureiten.«

»Du hörst aber schon, was ausgerechnet du da gerade sagst?«, fragte Thaum ungläubig.

Yorgen winkte ab. »Bei mir ist das was anderes. Ich bin einfach so verdammt gut in dem, was ich tue, und die Welt muss damit klarkommen, dass ich das offen kommuniziere.«

»Und plötzlich erscheint mir der Flugzeugabsturz wie eine gute Idee, solange ich euch beiden Blödmännern nicht länger zuhören muss«, stöhnte Nik.

Mira fasste neuen Mut. Ihr Team schaukelte sich gerade in jenen Wir-gegen-den-dreckigen-Rest-Rausch, der überlebensnotwendig war, wenn man etwas vollkommen Wahnsinniges zu tun gedachte.

»Du hattest eine Idee, Nik?«, fragte sie nach, in der Hoffnung, dass der Hexe etwas Besseres eingefallen war, als ihnen selbst den Flieger unterm Hintern auseinanderzureißen.

Die Hexe nickte und beugte sich weiter zu Mira hinüber. »Doch dafür benötige ich eine Ablenkung von dir …«

Mira straffte sich und stand auf. Es war nun über eine Stunde her, seit sie und ihr Team das letzte Mal miteinander geredet hatten, um sämtliche Details in Niks abstrusem Plan durchzugehen. Die Soldaten hatten ihnen zwar beim Tuscheln zugesehen, aber schließlich das Interesse verloren, nachdem Mira und die anderen resigniert den Kopf geschüttelt und in sich zusammengesackt waren. Die sechs Schwerbewaffneten hatten ihnen ihre kleine Scharade offensichtlich abgekauft, entweder weil die Grenzgänger so genial geblufft hatten oder weil dies eine gängige Reaktion unter Verurteilten war, die unmittelbar davorstanden, in der Grube von Wounshu zu landen. Mira tippte stark auf Letzteres.

»Ich muss da mal kurz dran«, sagte sie jovial zu den Wachen und schlenderte zu dem festgezurrten Stapel aus Koffern und Segeltuchtaschen hinüber.

Dreist sein ist Trumpf, schoss es ihr durch den Kopf, als sie die aufeinander gestapelten Gepäckstücke erreichte, ohne dass sie jemand aufhielt. Erst als sie einen der Reißverschlüsse an einem der Koffer öffnete, lösten sich die Soldaten aus ihrer Verwunderung. Stimmen und Waffen wurden erhoben. Während Miras Ohren unter dem wütenden Geschrei der Wachen klingelten, sah sie in sechs Sturmgewehrmündungen, die unmittelbar auf ihren Kopf gerichtet waren.

So muss sich Yorgen also die meiste Zeit unserer Einsätze fühlen, dachte sie trocken. Nur dass der Yeti sich regeneriert, solange sein Hirn intakt bleibt. Weshalb nicht mal die Fähigkeit spontaner Heilung Mira hätte helfen können, denn wenn jetzt jemand abdrückte, hätte sie kein Hirn mehr. Unendlich langsam zog sie ihre Hand aus dem Koffer und zeigte den kleinen Gegenstand hervor, den sie herausgefischt hatte. Die beiden Soldatinnen senkten ihre Waffen.

»Gibt es hier irgendwo ein Klo?«, fragte Mira mit einem gequälten Lächeln und deutete auf den Hygieneartikel in ihrer Hand.

Dass einer der Soldaten auf einen Plastikeimer in der Ecke des Raumes zeigte, ließ sie leise würgen. Zum Glück war Miras Teil des Plans bereits erledigt. Alles, was sie jetzt noch tun musste, war, in Deckung zu gehen, als hinter ihr das Knacken und Knirschen von brechenden Knochen einsetzte.

»Scheiße, TUT DAS WEH!«, heulte Yorgen auf.

Die Soldaten schwenkten ihre Waffen herum, als ihre Aufmerksamkeit Richtung Yeti gezogen wurde, und Mira nutzte die Gelegenheit, um hinter dem Stapel aus Ausrüstung zu verschwinden.

In welchem der Koffer waren noch gleich die Bruckenbrenner?, fragte sie sich fieberhaft, während ihre Finger über deren Schlösser glitten, unsicher, ob es gelingen würde, wahllos und doch unbemerkt in ihren Habseligkeiten zu wühlen. Die sehen alle gleich aus!

»Nicht schießen! Nicht schießen!«, riefen indes Thaum und Nik, die ihre Hände weit in die Höhe gereckt hatten und brav auf ihren Sitzen hocken blieben.

Nur Yorgen stand gekrümmt da. Es wirkte, als würde er zu Stein erstarren. Sein weißes Fell wurde stumpf, dann grau. Knirschend verdickte sich sein Äußeres mehr und mehr zu einer schieferartigen Version des Yetis, die starr und grobschlächtig anmutete.

Mira musste bei dem Anblick beinahe lächeln. Sieht fast so aus, als hätte ein ausgesprochen untalentierter und obendrein besoffener Bildhauer versucht, Yorgen ein Denkmal zu setzen, und nicht als hätte Nik ihn in einen Steingolem verflucht.

Die Soldaten hatten Yorgen nun vollends umringt und drohten ihm mit ihren Waffen, doch der ratlose Ausdruck in ihren Augen war sogar auf diese Entfernung für Mira erkennbar.

Yorgens Versteinerung setzte sich fort, bis er schließlich vollkommen zur Statue geworden war. Die Soldaten blickten einander fragend an, einer von ihnen griff zum Funkgerät an seiner Panzerweste. Dann schlug Yorgen die Augen auf.

»BUH«, dröhnte er mit knirschender Stimme. »FÜRCHTET BÖSEN YORGEN-GOLEM!«

Mira wusste, was kam, und doch zuckte sie zusammen, als die Soldaten das Feuer eröffneten. Ohrenbetäubend schallten die Schüsse durch den Transportraum, dicht gefolgt vom hohen Sirren der Querschläger, die von Yorgens Steinhaut abprallten und umgehend Löcher in die dünne Außenhaut des Flugzeugs stanzten. Sofort setzte der Druckverlust ein und es knackte schmerzhaft in Miras Ohren. Durch die Vielzahl an Einschusslöchern konnte der Wind aus derart unterschiedlichen Winkeln in das Flugzeug hinein- und herausgelangen, dass sie sich fühlte, als würden Dutzende Hände gleichzeitig an ihr zerren, und zwar alle in eine andere Richtung. Der Wind heulte, Schüsse gellten in schnellem Stakkato durch den Laderaum, und Yorgen lachte tief und rumpelnd über die wütenden Schreie der Wachen hinweg.

Es war das perfekte Chaos.

Mira hätte liebend gerne nach den Bruckenbrennern gesucht, solange die Soldaten sich auf Yorgen konzentrierten, doch die Angst vor einer verirrten Kugel ließ sie sich ganz klein auf dem Boden zusammenrollen und ihren Kopf mit den Unterarmen schützen. Einmal mehr dankte sie Mack in Gedanken für ihre gepanzerte Unterkleidung, als einige der Querschläger beißend gegen ihren Körper prallten. Ohne die getarnte Panzerung hätte sie sich niemals auf Niks Plan eingelassen.

»ICH EUCH ZERQUETSCHEN!«, röhrte Yorgen, und Mira riskierte einen flüchtigen Blick, als die Schüsse nachließen.

Die Soldaten schrien durcheinander, hasteten hierhin und dorthin, wechselten Magazine und legten erneut auf Yorgen an, der äußerst langsam und plump nach einem der Bewaffneten schlug.

Mira sah zu Nik hinüber, die in derselben Schutzposition verharrte wie Mira, hinter sich den Nachtstreifer, der unter den Hartschalensitzen kauerte. Da seine Panzerung in die Taschen seines Tarnumhangs eingenäht war, den die Soldaten ihm nach der Verhaftung abgenommen hatten, bot die Hexe ihm mit ihrem Körper Deckung. Bisher schien Thaum unverletzt, und Mira fiel ein Stein vom Herzen, dass dieser Teil ihres Plans gut funktioniert hatte.

»YORGEN TÖTEN MENSCHLEIN!« Der Steinyeti stampfte im Flugzeug umher, die Arme ausgestreckt wie in einem schlechten Zombiefilm.

Nik hatte versichert, dass Yorgens mentale Fähigkeiten von seiner Gestalt unbeeinflusst blieben, also mutmaßte Mira, dass der zottelige Kerl seine Rolle als steinernes Monster einfach weidlich auskostete.

Vielleicht macht er den Soldaten sogar eine Spur zu viel Ärger, schoss es Mira durch den Kopf, als sich die Wachen in den hinteren Teil des Flugzeugs zurückzogen und einer von ihnen damit begann, hektisch in sein Funkgerät zu sprechen. Dass die Augen ihrer Bewacher dabei eher zornig bis gereizt statt, wie erwartet, panisch oder besorgt wirkten, vermittelte Mira ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend. So, als hätten sie einen entscheidenden Aspekt in ihrem Plan übersehen.

Eine der Wachen schlug auf einen großen Knopf dicht neben der Panzertür, welche aus dem Transportraum des Flugzeugs führte, und mit einem hellen Ping wechselte plötzlich die Lampe an der geschlossenen Frachtrampe von Grün auf Rot. Das Flugzeug schüttelte sich und bockte, als kleine, kontrollierte Sprengladungen speziell präparierte Haltebolzen aus ihren Verankerungen rissen – und daraufhin die komplette Frachtrampe einfach davontrudelte.

Das wütende Brüllen des nun ungehemmt in den Frachtraum strömenden Windes übertönte fast das Gelächter der sechs Soldaten, als diese ihre Arme vor dem Körper verschränkten, in Richtung des Flugzeughecks liefen und sich vom Sog aus der klaffenden Luke ins Freie reißen ließen.

»Haben … haben die uns gerade den Frachtraum überlassen?«, fragte Thaum, der aus seiner Deckung hervorkroch und sich dabei angesichts des an ihm zerrenden Windes an den Sitzen festhielt.

Mira krallte sich ihrerseits an einen der Spanngurte, die ihre Ausrüstung am Platz hielten. Der Berg aus Koffern und Taschen bebte, als wäre er lebendig, und sie bekam den Eindruck, dass der Rumpf des Flugzeugs diese Bewegung auslöste, weil er sich mehr und mehr destabilisierte.

»Hat noch jemand das Gefühl, die besaßen die gesamte Zeit über ein Notfallprotokoll für renitente Gefangene wie uns?«, schrie Nik über den Lärm hinweg.

In dem Moment erklang ein zweites Ping, und weitere Bolzen wurden entlang der Seitenwände gesprengt.

»Das ist nicht gut«, konnte Mira noch flüstern, da löste sich der gesamte Frachtraum bereits in ein vom Himmel stürzender Wirrwarr aus umherfliegenden Koffern, Taschen, Flugzeugteilen und laut fluchenden Grenzgängern auf.

Der Vielarmige Ba

Mira wusste nicht, wo oben und wo unten war. Oder besser gesagt wechselten die beiden Richtungen sich so schnell in ihrem Gesichtsfeld ab, dass sie nicht hinterherkam. Der Wind war eisig, und gleichzeitig fiel ihr das Atmen schwer, die Welt unter ihr wirkte furchtbar klein und fern.

Noch.

Da flog ein Trümmerteil auf sie zu. Mira erkannte die halb verbogene Platte eines Stücks Kabinenwand. Reflexartig riss sie ihre Arme vors Gesicht, dann schlug das Metall mit einem lauten Aufprall gegen ihren rechten Unterarm. Etwas knirschte fies, dann trudelte das Trümmerstück davon.

»So ein Dreck!«, fluchte Mira, die die Schmerzen eines gebrochenen Knochens zu gut kannte, um sie nicht sofort zuordnen zu können.

Gräme dich nicht, raunte ihr der realistische Teil ihres Verstandes zu. Wenn du erst mal auf dem Boden aufschlägst, spürst du den Bruch nicht mehr.

»DAS MACHT KEINEN SPASS MEHR«, hörte sie Yorgen brüllen. Der steinerne Yeti sauste deutlich schneller gen Boden als Mira, Thaum und Nik.

»Warum?«, schrie der Nachtstreifer indessen wütend. »Warum fallen wir ständig dem sicheren Tod entgegen? Ich habe noch immer Albträume von unserem Absturz mit der demolierten Luxuslimousine in das Senkloch, an dessen Boden ein mächtiger Dämon mit seiner kleinen Armee auf uns wartete, und jetzt das hier!«

Mira presste den gebrochenen Arm eng an ihren Körper und versuchte sich an ihr Absprungtraining zu erinnern. Mehr schlecht als recht verlagerte sie ihr Körpergewicht und die Position ihrer Extremitäten, um sich Thaum und Nik zu nähern, die einander bereits an den Händen festhielten.

»Optionen?«, rief Mira ihnen zu, als sie in ihre Reichweite kam.

»Von meiner Seite nicht«, brüllte Thaum zurück. »Mein Umhang mit all meinen Tränken und Tricks befindet sich in einer der Taschen da vorne!« Er deutete auf das Gepäck der Grenzgänger, das tief unter ihnen als schweres Bündel verschnürt dem fluchenden Yorgen hinterherfiel.

Mira war nun nahe genug herangekommen, dass sie mit ihrer linken Hand nach Thaums Unterarm greifen konnte. Sein Fell war feucht von seinem Blut, ein böser Schnitt im Bizeps zeigte ihr, dass er ebenfalls mit einem Trümmerteil Bekanntschaft gemacht haben musste.

»Nik?«, fragte sie die Hexe über den lauten Wind hinweg, dabei jegliche aufkommende Panik unterdrückend. »Sag mir, dass du eine Idee hast. Irgendeine!«

»Ohne meine Fluchfänger und nachdem ich Yorgen verwandeln musste, hält mich nur das Adrenalin noch auf den Beinen.« Dann lachte Nik bitter. »Na ja, nicht auf den Beinen, aber du verstehst, was ich meine.«

»Können wir uns semantische Spitzfindigkeiten vielleicht für ein anderes Mal aufheben?«, bat Thaum.

Die Hexe nickte knapp. »Ich lenke mich mit schlechtem Humor von meiner Todesangst ab, wenn’s recht ist. Gib mir einfach ein paar Minuten, um meine Kräfte zu sammeln, in Ordnung?«

Mira zwang sich dazu, Hoffnung zu schöpfen. Wenn Nik sich auf einen Einsatz ihrer Magie vorbereitete, schien sie eine Idee zu haben. Das war eine mehr, als Mira durch den Kopf ging. Sie sah dem Flugzeug hinterher, das ohne den abgesprengten Transportbereich seltsam unvollständig aussah und in der Luft bockte wie ein ungezähmtes Fohlen auf der Weide.

»Ich kann nicht glauben, dass sie uns einfach rausgesprengt haben!«, entfuhr es ihr.

»Warum?«, fragte Thaum beißend. »Weil die Clans Chinas einen solch gnädigen und mildtätigen Ruf genießen?«

»Zu Tode zu stürzen macht dich zu einem echten Miesepeter, weißt du das eigentlich?«, fragte Mira und musste dabei plötzlich breit grinsen. Mentale Schutzmechanismen waren doch etwas Feines. Zumindest würden sie nicht jammernd und um Hilfe schreiend aus dieser Welt scheiden.

Nun musste auch Thaum lächeln. »Ach, du kennst mich. Bei mir ist das Glas immer halb leer, bevor es am Boden zerschellt.«

»Ich bin so weit«, verkündete da Nik. »Aber ich warne euch: Es wird verdammt ungemütlich.«

»Ungemütlicher, als da unten aufzuschlagen?«, fragte Thaum.

Mira sah zum ersten Mal bewusst hinab. Sie hatte den Anblick bisher tunlichst vermieden, doch leider bestand ihr Blickfeld mit jeder verstreichenden Sekunde aus immer mehr Boden und immer weniger Himmel. Sie waren irgendwo im Nirgendwo, aber das hatte Mira nicht anders erwartet. Ringsum sah sie staubig braune Ebenen, durchsetzt von einzelnen Bergen, die inmitten der unendlichen Weiten regelrecht klein und verloren wirkten. Hier lag nicht einmal der sprichwörtliche Hund begraben, denn es würde Wochen brauchen, das arme Tier hier rauszuschaffen.

Es gab nur ein Merkmal, das die Einöde durchbrach, und das lag ein wenig rechts von ihnen: eine ovale Vertiefung im Boden von schätzungsweise zehn Kilometern in der Breite und über zwanzig in der Länge, welche Mira umgehend als die Grube von Wounshu identifizierte. Ein nahezu runder See dominierte die Mitte der Grube, ein großer Wald den Süden, dichtes Grasland mit Dutzenden winzigen Wäldchen den Rest der Senke. Dazu sah Mira Hunderte von dunklen Punkten über die Grube verstreut, die kleine Hütten oder Ähnliches hätten sein können. Vier metallisch glänzende Achtecke säumten in regelmäßigen Abständen den Rand der Senke. Träge Bewegungen auf diesen Bauten ließen Mira genauer hinsehen und schaudern. Schlanke Schuppenleiber und ausgebreitete Flügel offenbarten sonnenbadende Drachen, die auf den achteckigen Plattformen lagen und von dort in die Grube hinabsahen.

»Das sind Wächter«, stöhnte sie. »Die haben tatsächlich mindere Drachen als Gefängniswächter!«

»Nik, was macht deine Idee?«, fragte Thaum nervös. »Wir haben nicht mehr besonders viel Luft unter uns übrig.«

»Haltet euch gut an mir fest«, knurrte die Hexe angestrengt. »Und ich entschuldige mich schon mal im Voraus.«

»Entschuldigen?«, fragte Mira alarmiert. »Wofür?«

Da schloss die tätowierte Frau bereits die Augen und begann kehlig zu rufen: »Zorn des Himmels ans Licht gebracht, taucht den Tag in finstre Nacht. Den Preis bezahlt, wer aufgegeben, des Himmels Freiheit für der Hölle Lehen.«

Schlagartig setzte über ihnen ein lauter Donner ein, und gleichzeitig schoss Nik ein Schwall Blut aus der Nase.

»Halte sie fest!«, rief Mira Thaum zu. »Sie steht kurz vor einer Ohnmacht.«

Der Nachtstreifer blickte an ihr vorbei. »Und ich würde liebend gerne mit ihr tauschen!«

Mira wagte einen Schulterblick – und wünschte sich umgehend, ihrer Neugier widerstanden zu haben. Die wenigen Wolken am Himmel hatten sich zu einer einzigen grauschwarz brodelnden Masse zusammengetan, die in immer schnelleren Bewegungen um sich selbst kreiste.

»Ein Wirbelsturm«, hauchte Mira. »Da entsteht ein waschechter Wirbelsturm!«

»Und rate mal, auf wen der zurast«, knurrte Thaum.

Mira wollte ihm antworten, aber da war der Sturmwind bereits herangekommen. Als hätte jemand der Welt das Licht ausgeknipst, sah Mira kaum mehr eine Armlänge weit. Thaum und Nik glichen Phantomen aus Miras Vergangenheit, die am Rande ihrer Wahrnehmung verblassten, und das Heulen des Windes in ihren Ohren schien jeden zusammenhängenden Gedanken aus Mira hinauszuwringen. Sie spürte, wie sie regelrecht angehoben wurde, die gewaltigen Urkräfte, die Niks Fluch entfesselt hatte, drückten sie seitwärts und nahmen ihrem Sturz nach und nach seinen Schwung. Miras Augen tränten vom Wind und sie wollte sie schließen, doch allein dieser winzige Akt glich einer unmöglichen Herausforderung, da die Sturmwinde selbst an ihren Augenlidern zerrten.

Thaum hatte sie indes an sich herangezogen, hielt sowohl sie als auch Nik mit je einem Arm umfasst, woraufhin Mira ihre Beine um die seinen und die der Hexe schlang. Als grotesk ineinander verschlungenes Bündel aus Gliedmaßen wirbelten sie umher, und es schien Mira, als wären Zeit und Raum nur abstrakte Begriffe, die lediglich außerhalb dieser Welt aus zornigem Wind ihre Gültigkeit besaßen.

»Scheiße«, brüllte da Thaum und holte Mira zurück in die profane Wirklichkeit ihrer Situation. »Hörst du das?«

Mira wusste sofort, was der Nachtstreifer meinte. Schwere Flügelschläge gepaart mit dem bellenden Rufen aufgebrachter Drachen. Offensichtlich schätzten die Wächter der Grube es gar nicht, wenn ungeladene Gäste sie mit einem spontanen Wirbelsturm beim Sonnenbaden störten.

»Die werden hier sicher nicht reinfliegen …«, begann Mira, als sie auch schon den ersten Schemen wahrnahm, der mit angelegten Schwingen an ihnen vorbeischoss wie ein von einem Katapult losgeschleuderter Felsbrocken.

»Anscheinend nehmen die Kerlchen ihren Job sehr ernst«, rief Thaum zurück.

Mira wollte etwas erwidern, doch da fiel ihr auf, dass sie den Nachtstreifer viel zu gut verstanden hatte – und der Wirbelsturm dabei war, an Kraft zu verlieren. Einerseits war es ein gutes Gefühl, nicht mehr einer solchen Urgewalt ausgesetzt zu sein, doch andererseits griff nun die Schwerkraft wieder mit unbarmherzigen Fingern nach ihr, und auch die durch den Himmel zischenden Drachen wurden mit jedem Augenblick sichtbarer. Dass die Viecher im Flug ihre langen Hälse bogen und zischend die drei Grenzgänger in Augenschein nahmen, bewies, dass der Blickkontakt keineswegs einseitig vonstattenging. Plötzlich konnte Mira gar nicht schnell genug am Boden ankommen. Dort könnte man sich wenigstens wimmernd vor einem Haufen Drachen in einem Erdloch verkriechen.

»Mira! Sieh!«, rief Thaum freudig und deutete hinab.

Sie wollte seiner Aufforderung Folge leisten, aber da schlug sie bereits hart auf der Wasseroberfläche auf und versank trudelnd in den Tiefen eines Gewässers von bemerkenswerter Klarheit.

»Achtung, Luft holen!« wäre die deutlich bessere Warnung gewesen, fluchte Mira in den Tiefen ihres Verstandes. Sie löste sich von Thaum und Nik, ihren durch den Aufprall pochenden Unterarm halbwegs ignorierend. Mira teilte sich die wenige Luft in ihren Lungen so gut wie möglich ein und blickte sich kurz um.

Sie befanden sich in einem See von vielleicht zwei Kilometern Durchmesser, dessen Wasser derart rein war, dass nur Magie im Spiel sein konnte. Auf dem Grund des Sees konnte sie allerlei Unrat erkennen, der sich bei genauerem Hinsehen als ein Sammelsurium von Koffern, Taschen, Rucksäcken, selten auch einzelnen Gegenständen offenbarte, eine beunruhigende Vielzahl an Knochen dazwischen. Gerade sank eine weitere Fuhre aus Behältnissen zu Boden, namentlich das nunmehr auseinandergebrochene Bündel mit ihrer Ausrüstung, das anscheinend ebenfalls in den Wirbelsturm geraten und mitgerissen worden war.

Wie es wohl Yorgen geht?, schoss es Mira durch den Kopf, aber sie verdrängte den Gedanken, als ihre Lungen nachdrücklich ihre Aufmerksamkeit einforderten. Mit nur einem brauchbaren Arm strampelte Mira ungelenk Richtung Wasseroberfläche, neben sich Thaum, der Nik mit sich nach oben schleppte.

Nur noch ein kleines Stück, feuerte sich Mira an. Der nächste Atemzug war kaum mehr einen halben Meter entfernt! Mira konnte kaum glauben, dass Nik tatsächlich ein kleines Wunder vollbracht und ihr Leben gerettet hatte. Wenn auch zu dem Preis, dass sie nun doch mitten in der Grube von Wounshu gelandet waren.

Mira streckte den Arm aufwärts, erwartete, Luft an ihren Fingern zu spüren – und stieß stattdessen auf Widerstand, beinahe so, als würde eine dicke Glasdecke auf dem Wasser schwimmen. Panisch drückte sie gegen den Widerstand an, nahm sogar ihren gebrochenen Arm zu Hilfe, der darauf mit feurig explodierenden Schmerzen reagierte. Neben ihr mühte sich Thaum mit demselben Hindernis ab, die gelben Augen des Nachtstreifers verrieten seine einsetzende Panik.

Die Ironie, in einem magischen See zu ersaufen, nachdem man einen Flugzeugabsturz mithilfe eines Ritts in einem Wirbelsturm überlebt hatte, entging Mira keineswegs, doch sie nahm sich vor, diese erst dann vollends auszukosten, wenn sie sie richtig zu schätzen wissen würde – vorzugsweise auf einer Liege an einem weißen Sandstrand in der Karibik, mit einem Cocktail in der Hand.

Mittlerweile war ihre Atemnot überbordend groß und ihr Gesichtsfeld begann sich zu verengen. Sie wusste, sie sollte Angst verspüren, doch alles, was in Mira brodelte, war purer Frust. Zu viele Nahtoderfahrungen in zu kurzer Zeit hatten sie abgehärtet. Mira schwamm ein Stück nach rechts, dann nach links, in der Hoffnung, irgendwo eine Lücke in der unsichtbaren Barriere zu finden.

Vergebens.

Sie wollte sich eben zu Thaum umdrehen, um zu sehen, wie es ihm und Nik erging, als sie plötzlich eine Berührung an ihrem Fuß spürte, die einer kalten Strömung glich. Das Phänomen glitt blitzschnell ihre Beine empor, und im nächsten Moment konnte Mira sich von der Hüfte abwärts nicht mehr rühren!

Sie versuchte sich freizustrampeln und schlug auf die fremde Kraft ein, doch deren Griff war zu stark. Gefangen in ihrem aussichtslosen Kampf verlangte ihr Körper nach lebensspendendem Sauerstoff und tat reflexartig einen Zug, von dem Mira wusste, dass es ihr letzter sein würde. Eisiges Wasser drang in ihren Mund ein, in ihren Rachen, dann in ihre Lungen … und nährte sie mit herrlich süßem Sauerstoff!

Mira blinzelte, schnappte überrascht nach weiterer Luft und wurde abermals mit dem Geschenk des Überlebens belohnt. Sie tippte dem neben ihr im Todeskampf mit sich ringenden Thaum auf die Schulter und atmete demonstrativ ein. Der starrte sie eine Sekunde lang an, dann hob und senkte sich auch seine Brust. Ein dümmliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, ein Spiegelbild der Miene, die auch Mira zur Schau stellen musste. Noch während sie versuchte, aus ihrer Situation schlau zu werden, tat die Kraft, die sie hielt, plötzlich einen Ruck und zog Mira, Thaum und Nik zur Mitte des Sees. Jetzt, da sie durchs Wasser glitten, konnte Mira erste Unterschiede zwischen dem klaren Wasser und jenem, in dem sie irgendwie gefangen waren, erkennen. Thaum, Nik und sie waren von beindicken Strängen umschlossen, die im Licht der durch die Wasseroberfläche einfallenden Sonne irisierend schimmerten. Je näher sie dem Zentrum des Sees kamen, umso intensiver und sichtbarer wurden diese Stränge, bis Mira schließlich erkannte, was genau sie da sah.

Das waren keine Stränge. Das waren Fangarme. Und zwar die eines gewaltigen Wesens, welches am Grund des Sees hockte. Die durchscheinende Gestalt der Kreatur glich der eines Kraken. Eine Vielzahl von Fangarmen ausgehend von einem knolligen Körper. Nur dass dieser lediglich aus dem vier Meter durchmessenden Kopf eines alten Mannes mit tangartigem Bart bestand, der sie aus neugierigen Augen musterte.

Während die Fangarme des Wesens die drei Grenzgänger bis dicht vor sein nun verhalten lächelndes Gesicht zogen, musste Mira an die Worte des Mogui denken, als dieser sie im Flugzeug auf unbestimmte Zeit dazu verurteilt hatte, ihr Dasein in der Grube von Wounshu zu fristen. Der Richter hatte davon gesprochen, dass sie in den See des Vielarmigen Ba gebracht werden sollten – und anscheinend waren sie genau da gelandet.

Wir hätten uns den ganzen Scheiß mit der Flucht ebenso gut sparen können, dachte Mira bitter.

Der Vielarmige Ba sah sie intensiv an, und es war ihr, als würde sie in seinen Augen ertrinken. Plötzlich nahm sie nichts mehr wahr als das glitzernde Schimmern seiner Pupillen, in denen sie phantomhafte Bilder erahnte.

Da war plötzlich die Grube von Wounshu aus der Sicht dieses fremden Wesens zu sehen. Winzige Gestalten bekämpften einander in der Ferne, schlugen mit Stöcken und primitiven Waffen aufeinander ein, während der Vielarmige Ba dabei zuschaute.

Dann änderte sich das Bild. Einige der Gestalten versuchten den Rand der Grube zu erklimmen und wurden von den Drachen aus den Steilwänden gepflückt und gefressen.

Der Vielarmige Ba schaute dabei zu.

Wieder wechselte die Szenerie. Eine geordnete Armee aus Gefangenen zog nun gen Grubenrand, mit selbst gebastelten Bögen und vereinzelten Schusswaffen gerüstet, die offensichtlich längere Zeit im Wasser gelegen hatten.

Der Vielarmige Ba schaute zu.

Sie lockten einen der Drachen an und verletzten seine Schwingen, brachten ihn zu Boden. Jubelnd rannten sie auf den Rand der Grube zu, die Freiheit vor Augen.

Der Vielarmige Ba schaute nicht länger zu.

Stattdessen schwoll er an, ließ den See sich ausbreiten, seine Wasser höher und höher ansteigen, so lange, bis die Grube vollends vom See verschlungen worden war. Die Gefangenen trommelten von unten gegen die unnachgiebige Oberfläche des Gewässers und verendeten einer nach dem anderen. Erst als sich niemand von ihnen mehr regte, zog sich der Vielarmige Ba zurück und ließ eine von jedem intelligenten Leben gereinigte Grube zurück.

Der hypnotische Blick des Wesens endete und wurde durch eine fragende Miene ersetzt.

Mira wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie nickte. Neben ihr tat Thaum dasselbe.

Die Warnung der Kreatur war klar und simpel gewesen. Wer Ärger in der Grube anzettelte, riskierte, dass der Vielarmige Ba eingriff. Tanzte einer der Gefangenen zu sehr aus der Reihe, bezahlten alle den Preis dafür.

So also sorgten die Clans von China dafür, dass die Häftlinge sich gegenseitig unter Kontrolle hielten. Und die Drachen würden indes jeden aufs Korn nehmen, der von außen zu Hilfe eilen wollte. Kein Wunder, dass niemand aus der Grube von Wounshu entkam.

Während Mira noch auf diesem Gedanken herumkaute wie ein alter Hund auf seinem Lieblingsknochen, setzten sich die Fangarme des unentwegt lächelnden Wesens in Bewegung und beförderten die drei Grenzgänger an den Rand des Sees.

Mira wurde aus dem Wasser gehoben und unsanft auf einem gut zwei Meter breiten und sechs Meter langen Holzpier abgeladen, der äußerst baufällig wirkte, wie er hier und da mit rostigen Eisenplatten ausgebessert worden war. Sie fiel vornüber auf alle viere und hustete das Wasser aus ihren Lungen, das sie nun plötzlich nicht mehr mit Sauerstoff versorgte. Neben sich hörte sie Thaum und Nik ebenfalls nach Atem ringen.

»Sachte, sachte«, ertönte eine tiefe, brüchig klingende Stimme. »Es braucht ein, zwei Minuten, um sich wieder umzugewöhnen.«

Mira hustete ununterbrochen und sah dabei auf. Vor ihr stand ein uralter Wildmann, dessen Gesicht von einer Vielzahl Narben gezeichnet war, die eine Art seltsamen Stellungskrieg mit den tiefen Falten führten, die sich im Laufe seines Lebens gebildet hatten. Das Ergebnis war ein schachbrettartiges Muster – wenn man betreffendes Schachbrett vorher einem Höllenhund zum Spielen überlassen hatte. Der Wildmann lehnte sich auf die Angel in seinen Händen und sah Mira mit sorgsam taxierendem Blick an.

»Grenzgänger, richtig?«

Miras Augenbrauen rutschten ihre Stirn empor, bevor sie sich ermahnen konnte, ihr Pokerface aufzusetzen. Sie spuckte die letzten Reste Wasser aus, dann setzte sie zu ihrer Frage an: »Wie hast du das erkannt?«

Er deutete auf ihre Kleidung. »Ich erkenne die Panzerung unter den Einschusslöchern. Soldaten oder Söldner tragen ihre Klamotten unter dem Panzer, so wie es sich gehört. Nur Grenzgänger drehen den Spieß gerne um.«

»Der erste … dem wir hier begegnen … muss natürlich ein … Klugscheißer sein …«, röchelte Nik mit matter Stimme, während sie platt auf dem Rücken lag.

Mira war froh, von der Hexe zu hören, hätte sich an ihrer Stelle aber für ein diplomatischeres Statement entschieden.

»Oh, mit mir müsst ihr ohnehin nicht lange vorliebnehmen«, erwiderte der Wildmann grinsend und deutete mit einem Daumen über seine Schulter. »Euer kleiner Sturm hat ein halbes Dutzend Hütten zerlegt und damit ordentlich Aufmerksamkeit auf euch gelenkt.«

Mira sah an ihm vorbei und begann zu fluchen. Etliche Gefangene strömten auf den Pier zu, Waffen in den Händen, grimmige Mienen auf den Gesichtern.

»Scheint, als hätten wir uns einen Haufen Freunde gemacht, noch bevor wir angekommen sind«, stöhnte sie und rappelte sich auf.

Thaum half Nik auf die Füße und lockerte dann seine Schultern. »Wann war es denn jemals anders?«

Frondienst

»Warum … schwimmen wir nicht einfach … durch den See, um diesem … Empfangskomitee zu entkommen?«, fragte Nik atemlos und mit einem nervösen Blick auf die anrückenden Gefangenen.

Mira sah viele asiatische Männer und Frauen unter ihnen, dazu einige Naga, einen auffällig breitgebauten Minotaurus mit einem abgebrochenen und einem vergoldeten Horn sowie drei Oni mit schwarzen Zeichnungen auf ihren kruden Brustpanzern aus verbogenen Stahlplatten.

»Lässt der Vielarmige Ba Schwimmpartien denn zu?«, fragte sie den Wildmann, da ihr Niks Vorschlag recht klug erschien.

Der Fremde zuckte mit den Achseln. »Manchmal ja, manchmal nein. Seine Stimmungen zu enträtseln fällt selbst mir schwer, und ich habe täglich mit ihm zu tun.« Er deutete auf seine Angelrute.

»Uns läuft die Zeit davon«, drängte Thaum, als die ersten Gefangenen den Pier betraten. »Kämpfen oder schwimmen wir?«

Mira blickte erst zu Nik hinüber, die keuchend und vornübergebeugt dastand, und dann auf ihren gebrochenen Arm hinab. »Wir bleiben und versuchen uns rauszuquatschen. Ein paar von denen haben selbst gebaute Bögen dabei, und die Naga sind hervorragende Schwimmer.«

Der Wildmann legte den Kopf schief. »Habt ihr was dagegen, wenn ich euch helfe?« Er hob befehlend seine Hand und tatsächlich zögerten einige der vorderen Gefangenen, sich ihnen weiter zu nähern.

»Wir können dich nicht bezahlen«, antwortete Mira entschlossen. Sie bezweifelte, dass der Typ ein im Grunde herzensguter Kerl war, der unschuldig in der Grube saß und all jenen half, die hier in Not gerieten. Jeder wollte irgendwas, und der Wildmann würde keine Ausnahme bilden. Er lächelte geheimnisvoll.

»Ihr habt mich schon bezahlt, also keine Sorge deswegen.«

»Mach Platz, Askatur!«, brüllte da der Minotaurus und schob sich durch die zögernde Menge. »Die Neuen haben ein paar Schulden zu begleichen!«

Der Wildmann hielt seine Hand erhoben und sah Mira erwartungsvoll an. »Was darf es sein? Meine Hilfe oder deren Fäuste?«

Sie fühlte sich, als wäre sie Opfer eines Hütchenspielertricks. Wer sagte ihr, dass dieser Askatur nicht mit dem Minotaurus unter einer Decke steckte und die beiden guter Gefangener und mörderisch böser Gefangener mit ihnen spielten?

»Na schön«, brummte sie schließlich. »Aber …«

Doch der Wildmann hörte ihr schon nicht mehr zu. »Die Neuen haben mich als Vermittler anerkannt«, rief er laut.

Sofort senkten die Gefangenen ihre Waffen, einige wirkten nun gereizt, andere noch immer zornig, aber sie alle fügten sich Askaturs Erklärung. Der Wildmann ignorierte die Menge und wendete sich einzig dem Minotaurus zu.

»Stimmst du meiner Rolle als Vermittler zu, Vulbaat?«

Während der Stiermensch nickte, sog Thaum scharf den Atem ein.

»Was?«, fragte Mira leise.

»Später«, raunte der Nachtstreifer. »Nur so viel: Sei besonders vorsichtig bei allem, was mit diesem speziellen Minotaurus zu tun hat.«

Mira musterte Thaum flüchtig, und ihr wurde mulmig zumute. Sie erkannte echte Angst in seinem Blick.

»Der Sturm, mit dem die Neuen angekommen sind, hat mich mehrere Hütten gekostet«, erklärte Vulbaat laut. »Es wird Wochen dauern, sie wieder aufzubauen. Ein oder zwei von ihnen sind unwiderruflich zerstört.«

Der Wildmann nickte und sah zu Mira herüber. »Da hat er recht. Baufähiges Holz ist kostbar in der Grube. Es gibt hier nur wenige Bäume, außer im Süden. Dort, wo jene Gefangene und Kreaturen leben, die mehr Zähne als Gehirnzellen besitzen.« Er tippte sich vielsagend gegen die Stirn.

»Wir können auch den da nicht bezahlen«, sagte Mira leise und deutete auf den Minotaurus. »Also, was soll ich sagen? Dass es mir leidtut?«

Der Wildmann schüttelte den Kopf. »Zeigt ihr Schwäche, übersteht ihr nicht einmal eure erste Nacht«, raunte er zurück. »Welche Fähigkeiten besitzt ihr?«

Mira deutete auf Nik. »Sie ist eine Hexe – und eine überaus fähige noch dazu.«

»Gut«, sagte der Wildmann nickend. »Und ihr beide?«

»Ich kann Dinge zusammenmischen«, erklärte Thaum achselzuckend. »Dazu gehören über zwanzig Arten, Alkohol zu brauen, sowie das Herstellen von Brandsätzen.«

Wieder nickte Askatur und wandte sich an Mira. »Und du?«

»Äh …« Scheiße, durchfuhr es sie. Ich bin eine Vollblutstädterin mit Hang zur Kunstliebhaberei. »Ich besitze Führungsqualitäten«, sagte Mira wenig überzeugend. »Dieses Team aus Grenzgängern handelt unter meiner Leitung.«

Die Mundwinkel des Wildmannes zuckten abschätzig hinab. »Und du hast sie geradewegs hierhergeführt?«

Mira seufzte. Dieser Tag wollte einfach nicht besser werden. Als klar war, dass sie nichts weiter hinzufügen würde, drehte sich Askatur wieder der wartenden Menge zu, die mittlerweile auf über hundert Schaulustige angewachsen war.

»Die Dienste einer Hexe, eines Brau- und Sprengmeisters und einer gewöhnlichen Soldatin stehen zum Verkauf!«, rief Askatur laut.

Mira versteifte sich. Hatte der Kerl gerade was von Verkauf gesagt?

»Sie haben Schulden bei Vulbaats Ordu in Höhe von … fünfhundert Nië.«

»Sechshundert«, korrigierte der Minotaurus umgehend. »Übertreibe es nicht, Askatur. Ich kann jederzeit beschließen, dass deine Nützlichkeit für mich ihr Ende gefunden hat.«

Der Wildmann nickte. »Also sechshundert Nië.« Er hob seine Stimme. »Ich höre Gebote für ein Jahr oder mehr!«

»Verflucht, die versteigern uns!«, entfuhr es Thaum. »Tu doch was, Mira!«

»Und was genau?«, fragte sie zähneknirschend. »Wir haben nichts als unsere Klamotten am Leib und außerdem ist Yorgen als Steinstatue irgendwo im chinesischen Hinterland verschollen …«

»Yorgen!«, keuchte Nik erschrocken auf. »Oh Gott, wir müssen Yorgen finden. Sollte er beim Aufprall zersplittert sein und sich ohne meine Hilfe zurückverwandeln, wird er sterben!«

»Ich sehe vierzig Nië für sechs Jahre für den Nachtstreifer, vierzig sind geboten. Höre ich fünfzig?«, proklamierte Askatur indessen. Mehrere Gefangene hoben ihre Waffen und riefen Zahlen durcheinander.

Mira versuchte, das dahinterliegende Muster zu verstehen, aber die Offenbarung, dass Yorgens Leben in Gefahr war, lenkte sie zu sehr ab.

»Zersplittern sagst du? Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ein verfluchter Steingolem! Ich dachte, die sind so gut wie unzerstörbar?«, wisperte sie aufgebracht.

Askatur wandte sich zu ihr um. »Ihr besitzt einen Golem?«, fragte er interessiert. »Wenn ihr den verkaufen würdet, könntet ihr all eure Schulden auf einmal tilgen, ohne auch nur ein einziges Jahr für andere schuften zu müssen …«

»Der ist kaputt«, schnarrte Mira kurzerhand zurück.

»Ach, von ihm stammte dann sicher der laute Aufprall im Süden der Grube, kurz bevor ihr ins Wasser gestürzt seid.« Der Wildmann verzog bedauernd das Gesicht und fuhr dann damit fort, Gebote für die Frondienste der Grenzgänger einzuholen.

»Yorgen könnte wirklich sterben?«, flüsterte Thaum indes bang.

Nik neigte müde den Kopf. »Der Fluch war stark und benötigte einen ebenso starken Haken. Ich musste seine Regenerationsfähigkeit in eine Art Gegenteil verkehren. Anstatt Fleisch, das sich schnell schließt und wandelbar ist, besitzt er nun solches von großer Starre und Festigkeit. So wurde er zu einem Steingolem. Das bedeutet aber auch, dass sein Körper jedwedem Schaden, den er erleidet, schutzlos ausgeliefert ist, sobald der Fluch nachlässt. In diesem Moment der Rückverwandlung vergehen Sekunden, in denen er weder Golem noch Yeti ist, sondern einfach nur ein in Dutzende Stücke zerbrochener Körper aus Fleisch und Knochen.«

Mira begriff. »Er wird tot sein, bevor die Heilung einsetzen kann.«

»Genau! Und deswegen muss ich bei ihm sein, sobald er sich zurückverwandelt«, drängte Nik.

»… hundertfünfzig für drei«, rief Askatur gerade. Anscheinend hatten sich die Interessenten für die Dienste der Grenzgänger so richtig schön warmgeboten.

»Wann verwandelt sich Yorgen zurück?«, fragte Mira hastig.

Nik zögerte. »Es musste vorhin schnell gehen und ich wollte sichergehen, dass wir einerseits genug Zeit haben, bevor der Fluch von selbst erlischt, und dass ich andererseits Yorgen schnell und ohne versehentliche Auflösung des Fluchs zurückholen kann …«

»Raus damit!«, raunte Mira. »Die dicke Naga da drüben bietet nämlich fleißig auf Thaum, und ich weiß nicht, wie lange wir drei hier noch beisammenstehen und plaudern können.«

Der Nachtstreifer sah zu der opulenten Schlangenfrau hinüber, die es irgendwie schaffte, selbst in einem Gefängnis Dutzende Schmuckstücke an Hals und Fingern selbstsicher zur Schau zu stellen. Umringt wurde sie von acht Schlägern, die teils menschlich, teils ebenfalls Naga waren. Die Frau gierte Thaum an, als wäre er ein gut abgehangenes Stück Fleisch.

»Ich glaube, da schwimme ich lieber zum Vielarmigen Ba«, sagte er schaudernd.

Nik hatte sich indessen dazu durchgerungen, zu antworten. »Yorgen verwandelt sich während des nächsten Vollmonds zurück – oder wenn ich ihn küsse.«

Mira blinzelte.

»… zweihundertzehn für vier«, leierte Askatur die Gebote herunter.

Immer, wenn du denkst, eine Situation kann nicht abstruser werden … »Willst du mir sagen, dass du Yorgen aus seinem Fluch wachküssen kannst? So, als wäre er ein verzauberter Märchenprinz, nur mit einem gewaltigen Haarproblem?«

»Es ist eine bewährte Methode«, verteidigte sich Nik. »Was meinst du, warum sie in Märchen so oft vorkommt? Man küsst niemanden mal eben aus Versehen, daher lässt sich die Aufhebung des Fluchs sehr präzise kontrollieren.«

»Wenn wir nicht so im Arsch wären, würde ich lachen«, brummte Thaum.

Miras Gedanken überschlugen sich. Nik durfte nicht versteigert werden, wenn sie Yorgen retten wollten. Sie zupfte an Askaturs Ärmel.

»Die Hexe muss freikommen.«

Der stutzte. »Bitte was?«

»Nik«, sie deutete auf ihre Freundin. »Sie muss freikommen oder ein Mitglied meines Teams stirbt.«

Der Wildmann zuckte mit den Achseln. »Mir doch egal.«

Mira sah ihrem Gegenüber tief in die Augen, während die Menge weiter Gebote brüllte. »Ich lasse niemanden im Stich, der mir sein Leben anvertraut hat. Du als Wildmann solltest das verstehen. Ich weiß, Bacchus hat diese Art von Kameradschaft geschätzt.«

Nun hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Du kennst den Herrn des Kolosseums?«

Mira nickte. »Hab selbst darin gekämpft und geblutet. Zusammen mit einem Freund, der mittlerweile verstorben ist.« Kurz musste sie an Hank denken, den lieben, sanftmütigen Troll, der damals in dem verfluchten Labor nahe Prag ein feuriges Ende gefunden hatte. Sie würde verdammt sein, wenn sie Yorgen ebenfalls verlor! »Kannst du helfen?«, fragte sie.

Der Wildmann kniff ein Auge zusammen und taxierte sie. »Ihr seid keine gewöhnlichen Grenzgänger, oder? Wie lautet dein Name?«, verlangte er zu wissen. »Dein echter Name, nicht so ein Rufname, den man einem Schieber an den Kopf schleudert.«