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Die Spur des "Großen Spiels" hat Mira und ihre Grenzgänger im Auftrag von Grayson Steel bis tief in die Reihen der Onis des Schwertschilf-Clans geführt. Doch während sie als Handlanger getarnt auf weitere Anweisung warten, wird Mira unversehens Opfer eines Überfalls. Mit aller Gewalt holt sie ihre Vergangenheit ein: Zum einen ist da ihre Familie, die sie wieder im Anderswo sehen will, zum anderen jene verbannten Erinnerungen, die aus den Tiefen ihres Verstands zurück an die Oberfläche kriechen. Als ihre verdeckten Ermittlungen die Grenzgänger nach Las Vegas führen, stolpern Mira und ihr Team in ein Szenario hinein, in dem die Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem verschwimmen und das ganz Nordamerika ins Chaos stürzen könnte…
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Seitenzahl: 557
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum
© Torsten Weitze, Krefeld 2023
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Oktober 2023
Lektorat: Janina Klinck | www.lectoreena.de
Korrektorat: Alexandra Pront & Tatjana Weichel | www.wortfinesse.de
Cover: Agentur Guter Punkt
Buchsatz/Umschlag: Catrin Sommer | rausch-gold.com
www.tweitze.de | Facebook: t.weitze | Instagram: torsten_weitze
Prolog
»Es ist ein Wagnis.«
Die Worte Shajas hingen wie ein schicksalsschwerer Richterspruch im Raum, schienen mit ihrer Bedeutung das warme Licht des gemeinsamen Heims zu dämpfen und sich einer trägen Wolke gleich über die kirschrote, hölzerne Wiege hinabzusenken, in der jenes winzige Wesen sanft schlummerte, das Grayson mehr als die ganze Welt bedeutete. Er blickte zu Shaja hinüber, die ihrerseits die sorgenvoll zusammengekniffenen Augen nicht von der zarten Nina lassen konnte.
»Ich weiß«, antwortete er. Die Erwiderung kam ihm dürftig vor, angesichts der Tatsache, dass ihrer beider Tochter nach nicht einmal vierzehn Tagen auf dieser Welt schon ein Teil jener Arbeit sein würde, der ihre Eltern mit verbissener Leidenschaft nachzugehen pflegten. »Ich … wir beschützen sie«, fügte er hinzu und legte Shaja einen Arm um die Schultern.
Die Halbdämonin schenkte ihm für diese Geste einen flüchtigen Seitenblick, welcher von einer hochgezogenen Augenbraue begleitet wurde. Dann tätschelte sie die Waffe an ihrer Hüfte. »Ich habe keine Zweifel, dass wir sie beschützen werden. Aber wenn irgendetwas schiefläuft, haben wir ein Mitglied des Verhangenen Rates auf dem Gewissen.«
Grayson nickte. Ihm war klar, dass seine Frau auf ihre wenig subtile Art nur noch einmal wiederholte, worauf sie sich bereits geeinigt hatten: Ninas Sicherheit hatte oberste Priorität. Sollte der Besuch, den sie in Kürze erwarteten, auch nur falsch atmen, würde Shaja nicht zögern, äußerste Gewalt anzuwenden.
»Ich bin zuversichtlich, dass ich sie bändigen kann, bevor du es tun musst«, versuchte er sich an einer Beschwichtigung. Dass ein kleiner Teil seines Verstandes ihm tückisch zuflüsterte, wie viel einfacher ihrer aller Leben wäre, wenn Shaja ihre Waffen sprechen lassen würde, nahm seinen Worten die Überzeugungskraft. Das Scheinwerferlicht eines in die Auffahrt einbiegenden Wagens ließ Grayson durch die breite Fensterfront des modernen Landhäuschens blicken. »Und da kommt sie schon. Natürlich zu früh.«
Shajas kämpferisches Lächeln erreichte ihre kalt funkelnden Augen nicht. »Sie glaubt wirklich, wir wären nicht schon seit Stunden auf sie vorbereitet?«
»Spielen wir erst einmal die perfekten Gastgeber«, murmelte er und betrat durch eine offenstehende Doppeltür den ausladenden Flur. Dort blieb er neben einem mannshohen Wandspiegel stehen und zupfte an seinem obsidianfarbenen Anzug herum. Schwarze Hose, schwarze Jacke, schwarzes Hemd, schwarze Krawatte. »Wie ein verdammter Leichenbestatter«, knurrte er vor sich hin. Dann trat Shaja neben ihn, ein Traum in Rot und Schwarz. Zumindest wenn im besagten Traum jede Menge Leder, ein kampfbereiter Halbsukkubus und zwei an abgesägte Schrotflinten erinnernde Waffen vorkamen.
»Du bist in deiner jetzigen Position auch eine Art Politiker, Grayson«, flüsterte sie ihm mit aufblitzenden Augen zu. »Und wir waren uns einig, dass du besser offiziell gekleidet bist.«
»Ich leite den Obsidian«, grollte er unzufrieden und zupfte erneut an seinem rechten Ärmel. »Ich muss ihn doch nicht auch noch tragen.«
Shaja rollte mit den Augen. »Morgen kannst du wieder in Hoodie und Lederjacke zur Arbeit, aber heute Abend benötigen wir jeden Vorteil –«
Die Klingel durchschnitt mit einem sanften Dreiklang Shajas Worte und Grayson atmete tief durch. Von allen Personen, die er niemals in diesen vier Wänden sehen wollte, öffnete er nun ausgerechnet dieser die Tür. Auf den Gedanken folgte die Tat, und gleich einem Winterwind, der ungefragt die Wärme vertrieb, schneite ihr Gast auch schon über die Schwelle.
»Grayson, Shaja, wie schön, Sie beide wiederzusehen«, gurrte Morgaine, als sie sich schlangengleich an ihnen vorbeischob, den Hals neugierig gereckt. Die Zauberin steckte in einem schlichten weißen Kleid mit einem ebenso weißen Überwurf samt breiter Kapuze. Die Hände steckten in einem Muff aus Pelz, der ebenso altmodisch wie dramatisch war, vor allem angesichts der milden Temperaturen und dem leichten Nieselregen.
Grayson und Shaja tauschten einen wissenden Blick. Wo er mit seiner Kleidung dräuende Finsternis und seine Frau eine Mischung aus Blut und Tod versprachen, stand Morgaine in ihrem Haus, gekleidet wie die Lichtgestalt eines zweitklassigen Musicals, welche gekommen war, um dem einfachen Volk die Hoffnung eines neuen Tages zu bringen. Die erste Runde ging definitiv an die machtbesessene Zauberin, die offen zugab, den Vorsitz über den Verhangenen Rat und damit die politische Herrschaft über die Nebula Convicto erlangen zu wollen.
»Hallo, Sportsfreund«, erklang eine förmlich klingende Stimme, in der trotzdem echte Wärme mitschwang. »Darf ich auch eintreten oder gilt das nur für meine … schillernde Hälfte?«
Grayson drehte sich zur Tür und seine Miene erhellte sich. »Morgan«, murmelte er erleichtert und umarmte seinen alten Weggefährten. »Wir hatten befürchtet, dass du nicht mitkommen würdest.«
»Aber wieso sollte mein hochgeschätzter Kollege denn nicht auch den außergewöhnlichen Nachwuchs sehen wollen, über den überall im Rat geredet wird?« Morgaine klimperte bei den Worten unschuldig mit den Wimpern, und Grayson ertappte sich beim Zähneknirschen. Ihm gefiel jene Version der Zauberin besser, die klar und ruchlos ihre Ambitionen auf Gesicht und Zunge trug.
»Nina ist keine Zirkusattraktion«, brummte er und schloss die Tür hinter Morgan.
Morgaine nahm eine Hand aus ihrem Muff und legte sie sich an die Brust. »Aber mein lieber Grayson«, sagte sie schockiert. »Verwechseln Sie meine Neugier nicht mit Sensationslust! Natürlich ist Ihre Tochter als Abkömmling einer Halbdämonin und des vielleicht mächtigsten lebenden Lacunus von herausragendem Interesse für jedes Mitglied der Nebula Convicto. Die Kräfte, über die Ihr Kind verfügen könnte …« Sie unterbrach sich und Grayson war sich sicher, hätte Morgaine in diesem Moment keine Blicke auf sich ruhen gefühlt, sie hätte sich die Lippen geleckt.
»Dann wollen wir diese brennende Neugier mal stillen«, sagte Shaja und deutete in Richtung Wohnzimmer.
Sofort setzte sich Morgaine in Bewegung, und Grayson musste beinahe rennen, um vor der Zauberin zur Wiege seiner Tochter zu gelangen. Er atmete tief ein und ließ dann seine Gabe den Raum fluten, ohne dass sie jedoch aktiv wurde. Graysons Fertigkeiten als Lacunus waren mittlerweile ausgeprägt genug, dass er eine Blase erschaffen konnte, die er in Gedanken als eine »magiemisstrauische« Umgebung bezeichnete. Jedwede Kräfte funktionierten, aber es bedurfte nur einer minimalen Willensanstrengung Graysons, um einzelne Personen innerhalb dieser Blase nach Belieben ihrer magischen Gaben zu berauben. Seine Kraft war ein lauernder Panther, bereit zum Sprung, und als sich Morgaine über die Wiege mit seiner schlafenden Tochter beugte, ließ der ehemalige Quaestor die metaphorischen Krallen seiner antimagischen Bestie über den Rücken der zaubermächtigen Frau gleiten. Zufrieden registrierte er das sichtbare Frösteln, welches Morgaine erfasste, sowie dass ihre Hände sich der sanft schlummernden Nina nicht weiter näherten.
»Wir sollten sie nicht wecken«, sagte Grayson leise und Morgaine nickte höflich, wenn auch etwas spröde.
»Das ist seltsam«, murmelte die Zauberin nach einem Moment durchdringender Musterung des kleinen Menschleins, welches Graysons und Shajas Welt so grundlegend durcheinandergewirbelt hatte. »Ich nehme gar keine Kräfte an ihr wahr.« Morgaine klang geradezu entsetzt.
»Unsere Tochter ist ein gesundes kleines Mädchen, wie jede Minute irgendwo auf der Welt eines geboren wird«, sagte Shaja, die sich in der Eingangstür des Wohnzimmers aufgestellt hatte.
»Ich konnte sie bereits untersuchen und durfte dabei feststellen, dass die kleine Nina vollkommen mundan ist«, erklärte Morgan, der es sich in dem einzigen Sessel des Raumes bequem gemacht hatte und seine Hände auf dem vor ihm aufgestellten Gehstock ruhen ließ.
Morgaines Rücken versteifte sich. Sofort lagen Shajas Hände auf den Griffen ihrer Waffen und Grayson verdichtete sein Lacunusfeld um die Wiege seiner Tochter. Dies war er also, der Moment der Wahrheit, da Morgaine begriff, dass sie in eine Falle getappt war.
»Ich verstehe«, schnarrte sie hölzern und richtete sich auf. Ihr Blick wanderte von Grayson zu Shaja und dann zu Morgan. »Die Gerüchte um das ach so machtvolle Kind der Steels sind also nichts als Phantome jener Wunschvorstellung gewesen, die mich herlocken sollte.« Die Augen der Zauberin zuckten für eine Sekunde sehnsuchtsvoll in Richtung Wiege. »Und ich hatte gehofft, nach Jahrhunderten endlich wieder ein Kind voller Potenzial zu erblicken.«
Grayson spürte fast so etwas wie Mitleid mit Morgaine, dann kam er wieder zu Sinnen. Das Letzte, was er seiner Tochter wünschte, war eine gesteigerte Aufmerksamkeit durch die Rivalin der Lady vom See. »Wir haben da ein paar Fragen«, sagte er in geschäftsmäßigem Ton und deutete dabei mit der linken Hand auf einen der hellen Holzstühle am langen Esstisch. Die andere war unter seinem Jackett verschwunden.
Morgaine nickte, ihr Gesicht wirkte derart müde und abgespannt, Grayson erkannte sofort, dass er nun auf eine der vielen Masken der Zauberin blickte. Die Frau brauchte meist keine Magie, um zu bekommen, was sie wollte, ihre Kunst der Manipulation war unerreicht. »Also darf ich annehmen, dass dieses inoffizielle Zusammentreffen zu einem ebenso inoffiziellen Verhör führen wird?«
Mit jedem Schritt, den die Zauberin auf einen der Stühle am Tisch zu machte, bewegten sich Grayson und Shaja in perfekter Synchronität durch den Raum. Während seine Frau die Wiege mit ihrem Körper abschirmte, blieb er Morgaine so nahe, dass sie stets im Zentrum seines Lacunusfeldes verharrte. Morgan hingegen beobachtete das Schauspiel der drei einander belauernden Personen mit jenem nonchalanten Lächeln, mit dem er im Verhangenen Rat einem langatmigen Antrag über die Legalisierung von Basiliskendung in der Landwirtschaft gelauscht hätte.
Sein Pokerface ist besser geworden, dachte Grayson bei sich. Die Verbindung zu Morgaine lehrt ihn vieles, und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.
»So, hier sitze ich nun, Quaestor«, sagte Morgaine und fügte dann mit einem dünnen Lächeln hinzu: »Wie unachtsam von mir. Sie sind ja gar kein Quaestor mehr. Ihre Befugnisse sind nun anderer Natur.«
Grayson setzte sich einen Meter von ihr entfernt an den Tisch, die rechte Hand noch immer unter dem Jackett. »Der Obsidian geht einigen Hinweisen nach, denen zufolge die Stabilität der Nebula Convicto ernsthaft in Gefahr geraten könnte. Morgan, Shaja und ich dachten uns, dass wir vielleicht die Meinung eines hochgeschätzten Ratsmitglieds einholen könnten – rein inoffiziell, wie Sie schon sagten.«
Morgaine hob die Augenbrauen. »Einige könnten Ihr Eingeständnis mangelnder Kompetenz als verstörend empfinden«, sagte sie voll falscher Besorgnis. »Der Leiter des mächtigen Obsidians, so hilflos ohne das Wissen einer einfachen Zauberin, wie ich es bin.«
»Sie hat Angst«, warf Morgan dazwischen.
Morgaines Fassade verspielter Unschuld brach wie Glas unter dem Fuß eines Golems. »Bleib auf deiner Seite unseres Verstandes«, zischte sie ihn an. »Oder ich ziehe dich mit in den brabbelnden Wahnsinn hinab. Ich weiß, wie ich aus diesen Gefilden wieder auftauchen kann. Wie steht es mit dir, mein lieber Morgan?«
Mit einem kratzenden Geräusch glitt Shajas rechte Waffe aus dem Holster. Noch ragte der Lauf Richtung Boden. »Wir alle bleiben höflich und zivilisiert.« Die Worte der Halbdämonin klangen mehr nach Befehl denn nach Aufforderung.
»Als ob Sie auf mich schießen würden, meine Liebe«, höhnte die Zauberin ruhig. Das Klicken des Hahns von Graysons Waffe ließ ihren Kopf herumwirbeln.
»Shaja, Morgan und ich sind uns einig«, sagte er in ruhigem Ton, während er den Revolver auf Morgaines Herz richtete. »Sollte dieses Gespräch eskalieren, werden wir Sie ein für alle Mal unschädlich machen und vor dem Rat erklären, dass Sie uns angriffen, um unser hochmagisches Kind in die Finger zu bekommen. Sicher, viele Ihrer Freunde werden uns nicht glauben, aber sobald wir drei von unseren Ämtern zurücktreten, um die Gemüter zu beruhigen, wird alles, was von Ihrer Existenz übrigbleibt, das kollektive Aufatmen der Nebula Convicto sein, die nicht länger den Schatten der Morgaine fürchten muss.«
»Was für eine schöne Ansprache«, erwiderte die Zauberin spöttisch. »Haben Sie dafür lange vor dem Spiegel üben müssen?«
»Nur zwei- oder dreimal«, warf Shaja ein und entlockte ihrem Mann ein Schmunzeln.
»Du weißt, dass wir nicht bluffen«, schob Morgan in beinahe flehentlichem Ton hinterher. »Uns ist Macht und Einfluss nicht halb so wichtig wie dir. Und wenn dein Tod mich aufgrund unserer Verbindung umbringt, dann nehme ich dies billigend in Kauf.«
Morgaine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Geschenkt, Morgan. Ich kenne deine ermüdenden Moralvorstellungen zur Genüge – und ebenso die deiner Freunde. Stellen Sie also endlich Ihre Fragen, Quaestor, dieser Besuch war schon enttäuschend genug, auch ohne dass Sie ihn unnötig in die Länge ziehen.«
Grayson nickte. »Wie schnell Sie uns verlassen können, liegt ganz bei Ihnen.« Er atmete tief durch. »Was ist das Große Spiel?«, verlangte er nach jenem Wissen, das sich dem gesamten Machtapparat des Obsidians seit Wochen entzog. Seit Mack den Bericht von Miras Grenzgängerteam zu den Vorgängen in Hongkong abgeliefert hatte, war keine Frage so hartnäckig unbeantwortet geblieben wie diese. Egal, mit wem seine Agenten sprachen, wen sie auch bestachen, unter Druck setzten oder gar dingfest machten: Kaum einer wusste etwas und die wenigen, die nicht überrascht auf diese Frage reagierten, machten dicht und verweigerten jedwede Aussagen.
»Das Große Spiel?«, wiederholte Morgaine mit perfekt gerunzelter Stirn und genau dem richtigen Maß an Verwirrung in der Stimme. »Das sagt mir leider gar nichts.«
Hätte Morgan nicht unmerklich den Kopf geschüttelt, alle Instinkte Graysons hätten ihn dahingehend betrogen, dass die Zauberin wirklich nichts wusste. So jedoch deutete er auf seinen Freund im tadellos sitzenden Maßanzug. »Es ist sehr schwer, mich zu belügen, wenn jemand anwesend ist, mit dem Sie sich eine Existenz teilen.«
Morgaine warf dem Magus einen bitterbösen Blick zu. »Verdammt, Morgan, raus aus meinem Kopf! Ich dachte, wir hätten uns mittlerweile auf grundlegende Formen der Höflichkeit geeinigt.« Grayson hörte echte Wut und ebenso eine Spur Enttäuschung aus den Worten der Frau heraus.
»Das hier ist wichtig.« Die bedächtige Antwort des Adligen überraschte Grayson mit ihrer Intensität – und Intimität. Es war beinahe, als würde er einem alten Ehepaar beim Streiten zuhören. »Zu wichtig, als dass deine Intrigen der Wahrheitsfindung im Wege stehen dürfen. Ich konnte spüren, dass dir das Große Spiel etwas sagt. Also verrate uns, was du darüber weißt.«
Die Augen Morgaines wurden zu Schlitzen und ihre Lippen pressten sich fest aufeinander.
Grayson wartete geduldig ab und tauschte indessen einen Blick mit Shaja aus. Die Halbdämonin wirkte ebenso überrascht wie er, was die Tiefe der Vertrautheit zwischen den zwei miteinander verbundenen Ratsmitgliedern anging.
»Ich kann Ihnen nichts zum Großen Spiel sagen«, stieß Morgaine schließlich hervor. Ihre Worte klangen gepresst, fast als würde es ihr Mühe bereiten, sie zu formulieren. Gleichzeitig ging ein Ruck durch Morgan, dessen entspannte Haltung einer schockierten Furcht wich.
»Das war wortwörtlich richtig, Grayson«, flüsterte der Magus erschüttert. »Sie kann nichts darüber sagen. Etwas hält sie davon ab. Ich spüre einen Kern aus … Schwärze, der ihr Wissen über das Große Spiel abschirmt.«
»Sie werden kontrolliert?«, fragte Grayson erstaunt in Richtung der Ratsfrau. »Die große Morgaine lässt sich also tatsächlich von einem anderen Wesen beherrschen?«
Sein Gegenüber schnaubte, schwieg jedoch.
»Das ist kein anderer Verstand, den ich da spüre«, erklärte Morgan nach einem Moment beunruhigten Stirnrunzelns. »Es ist eher eine Art uralte magische Blockade, wie ein machtvoller Eid sie auslöst.« Er sah Grayson bestürzt in die Augen. »Ich glaube, wenn sie vor Uneingeweihten über das Große Spiel redet, dann stirbt sie!«
Grayson musste an den Eid denken, den seine Agenten auf den Obsidian schwören mussten. Anscheinend hatte Morgaine etwas Ähnliches getan, wobei der Leiter des Geheimdienstes davon ausging, dass die Zauberin einen solch schwerwiegenden Eid nur aus zutiefst selbstsüchtigen Motiven erbringen würde. »Was könnte wohl derart verlockend sein, dass eine Frau wie Sie sich in diesem Ausmaß binden lässt?«, fragte er nachdenklich.
Schweigen war die einzige Antwort.
»Mir gefällt das ganz und gar nicht, Grayson«, warf Shaja grimmig ein. »Wenn schon jemand wie Morgaine einknickt und sich der Macht des Großen Spiels beugt, wer mischt da dann noch mit?«
»Und warum?«, fügte Morgan hinzu.
»Zumindest wissen wir nun, warum niemand redet«, murmelte Grayson, während er die regungslos vor sich hin starrende Morgaine weiter betrachtete. »Ob ich mit meinem Lacunusfeld diese Blockade auflösen kann?«
Die Ratsfrau sprang auf, beide Hände abwehrend erhoben. »Sie wollen gezielt einen einzelnen Bann inmitten meines Verstandes packen und zerstören, obwohl Sie sich nicht mal an die Trennung der Verbindung zwischen Morgan und mir herantrauen? Vielen Dank, aber da wehre ich mich lieber hier und jetzt gegen Sie drei – und zwar mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.«
Shaja blickte zu Nina hinunter und richtete ihre Waffe dann auf Morgaines Kopf. »Noch eine Drohung aus Ihrem Mund und ich drücke ab.«
Morgan erhob sich aus dem Sessel. »Sportsfreund, ich fürchte, keine der beiden Damen scherzt.«
Mit einem Seufzen sicherte Grayson seine Waffe und steckte sie fort. »Sie können gehen, Ratsfrau Morgaine«, sagte er ruhig. »Vielen Dank für Ihre Kooperation.«
Shaja sah zu ihm herüber, tiefer Unwillen rang mit leisen Zweifeln in ihren Augen. »Wir sind uns sicher, dass sie die Antworten kennt, die wir suchen, aber wir lassen sie ziehen?«
Grayson nickte. Sein Bauchgefühl veranlasste ihn, Mitgefühl mit Morgaine zu empfinden. »Wir alle graben uns manchmal Gruben, aus denen wir ohne fremde Hilfe nicht mehr rauskommen. Nicht wahr, Ratsherrin?«
Die Zauberin nickte langsam und schritt aus dem Zimmer. Einige Sekunden später erklang das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Eingangstür und dann das Starten des Automotors in der Einfahrt. Erst als die Lichter des Wagens nicht mehr zu sehen waren, wagte Grayson, sein Lacunusfeld aufzulösen.
»Ich gebe zu, einen solchen Verlauf des Verhörs habe ich nicht erwartet«, kommentierte Morgan in die Stille hinein.
Grayson ging zu Shaja hinüber und als sie ihre Arme um ihn legte, spürte er, wie eine unsichtbare Anspannung von ihm abfiel. Gemeinsam sahen sie hinunter auf ihre Tochter, die mittlerweile wach geworden war und aus blassblauen Augen zur Decke emporblickte. Entschlossen versuchte Nina, sich ihren Fuß in den Mund zu stecken, was eine neue Welle der Unruhe in Grayson hervorbrachte. Zwei Wochen alte Kinder taten so etwas nicht.
»Wenigstens haben wir Morgaine bezüglich Nina täuschen können«, sagte er. »Die Nachricht, dass wir eine vollkommen gewöhnliche Tochter haben, wird sich in Windeseile ausbreiten.«
Shaja seufzte verzückt, als Nina anfing, vergnügt zu glucksen. »Sie mag deine Stimme.«
Er nickte. »Das arme Kind. Ich hätte ihr einen besseren Geschmack gewünscht.«
Hinter den frischgebackenen Eltern ertönte ein Räuspern. »Darf ich auf den Elefanten im Raum zurückkommen? Morgaine ist in irgendeiner Form in das Große Spiel verstrickt – ich persönlich bin mir sogar sicher, dass sie daran teilnimmt – und wir haben keinerlei Möglichkeit, Informationen aus ihr herauszubekommen.«
Shaja schenkte ihrem adligen Freund einen verschmitzten Schulterblick. »Vier Teams sind seit Morgaines Abfahrt aus unserer Einfahrt auf sie angesetzt. Sie wird nicht einmal husten können, ohne dass wir davon erfahren.«
Morgan nickte. »Dieses Verhör sollte sie also nur aufscheuchen?«
»Nein«, widersprach Grayson kopfschüttelnd und nahm die lachende Nina auf den Arm, um sie sanft zu wiegen. »Direkte Antworten wären mir lieber gewesen, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen.«
Morgan verzog sein Gesicht. »So etwas sagt man heutzutage nicht mehr«, raunte er leise. »Noch nie hat ein Teufel je Geschmack an Fliegen gefunden. Dieser Ausspruch gilt unter ihnen als zutiefst diffamierend.«
Grayson zog mit einem Brummen sein Smartphone hervor und tippte eine einzelne Zahl ein, bevor er wählte. »Alle Verdächtigen, die sich im Zusammenhang mit Fallnummer 309-A in unserem Gewahrsam befinden, sollen auf eine Eidblockade in ihrem Verstand untersucht werden. Ich erwarte die Ergebnisse bis Sonnenaufgang.« Dann legte er wieder auf und drehte sein Smartphone nachdenklich zwischen den Händen hin und her.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Shaja neugierig.
»Ich glaube, Mack sollte von den neuesten Entwicklungen erfahren.«
Seine Frau schüttelte den Kopf. »Jeder Kontakt mit ihm könnte eine Spur vom Obsidian zu unseren Grenzgängern hinterlassen. Warte zumindest, bis wir bezüglich der Eidblockade Gewissheit haben, und lass mich dann über inoffizielle Kanäle eine Nachricht senden.«
Während er zu Morgan hinübersah, dessen Miene ein Spiegel seiner eigenen Ängste darstellte, seufzte Grayson und drückte Shaja eng an sich. »Ich hasse es, zu warten, aber natürlich hast du recht«, murmelte er ihr zu. »Ich will sicher nicht unser einziges aktives Team in Gefahr bringen, das eine reelle Chance hat, das Große Spiel zu unterwandern. Und wer weiß, in welch haarsträubende Gefahren Mira und die anderen auch ohne unser Zutun bereits verstrickt sind.«
Ein Yeti hat Langeweile
»Ich hasse es, zu warten«, murmelte Mira mehr aus Reflex als aus Überzeugung. Die sanften Wellen ließen die Luftmatratze, auf der es sich die Elfe gemütlich gemacht hatte, auf und ab tanzen und der Wind, welcher verspielte Krönchen aus Weiß auf dem türkisen Wasser erzeugte, bot gerade genug Abkühlung, dass die Hitze der prallen Sonne nicht unangenehm wurde.
»Ein Bier?« Die Frage wurde von einer patschnassen Pranke begleitet, deren zotteliges Fell sich in Miras Gesichtsfeld schob. Die Dose sah zwischen den Fingern des Sprechers wie eine Spielzeugminiatur aus.
Mira griff danach und ließ das Aluminium umgehend fallen, woraufhin es platschend versank. »Die ist ja eiskalt!«
»Mensch, Mira«, beschwerte sich Yorgen und fischte die Dose aus dem Meer. »Erstens lässt man kein Bier untergehen, vor allem, wenn ich es extra für dich mit einem Schuss aus dem Leviathan abgekühlt habe, und zweitens schmeißt man keinen Müll in den Ozean.« Der Yeti hielt das Getränk zwischen zwei Fingern und ein breites Grinsen spaltete sein Gesicht regelrecht in eine Ober- und Unterhälfte.
Längst war Mira blind für die Bedrohlichkeit des riesigen befellten Wesens, das nur aus Muskeln, Zähnen und Klauen zu bestehen schien. Dafür erkannte sie die Warnung in Yorgens Lachen und den Schalk in seinen Augen nur zu gut.
»Wage es nicht«, zischte sie, aber da ließ ihr Freund die Dose bereits auf ihren Bauch fallen und sie hatte das Gefühl, ein Eisklumpen wäre auf der erhitzten Haut gelandet. »YORGEN!«, protestierte sie und rollte sich rasch ins Meer. »Hast du nicht irgendwo noch was anderes zu tun? Musst du nicht mit deiner Waffe üben?«
Der Yeti griff das Bier und warf es sich in den Mund. Dann ertönte ein metallisches Quietschen, als er zubiss, danach ein schnelles Schlürfen und schließlich spuckte sich der Yeti die zermalmte Dose wieder in die Hand. Die Zahnabdrücke auf dem Metall hätten einen Alligator vor Neid erblassen lassen. »Bin für heute fertig«, beantwortete er Miras Frage. »Regunam-Rem höchstselbst hat meine Klingenarbeit gelobt.« Dabei vollführte er Bewegungen im Wasser, die hätten tänzerisch anmuten können, wenn das nasse Fell des Yetis nicht bei jeder Gewichtsverlagerung an ihm herumgeschlabbert wäre. Dass Yorgen zusätzlich Geräusche machte, die wohl das Zischen einer Klinge darstellen sollten und besser in die Vertonung eines drittklassigen Samuraifilms aus den frühen Sechzigern gepasst hätten, machte die gesamte Darbietung nicht gerade besser.
»Wo sind Thaum und Nik?«, fragte sie, um den Yeti dazu zu bringen, dass er seine Verrenkungen beendete.
Der Schneemensch zuckte mit den Achseln. »Na, wo wohl? Thaum braut mal wieder an einer seiner stinkenden Tinkturen herum und Nik meditiert.« Echter Unmut zeigte sich in den affenartigen Zügen des Fellriesen. »Seit sie die Fluchfänger erhalten hat, meditiert sie ständig.«
»Sie ringt mit dem Schleier«, erklärte Mira geduldig. »Die Fluchfänger haben ihre gesamte innere Balance auf den Kopf gestellt. Auch du musstest stärker werden, um den Leviathan richtig abfeuern zu können.«
»Pah!« Yorgen drehte sich unangenehm berührt fort. »Der Rückstoß hat mich nur ein-, zweimal auf dem falschen Fuß erwischt.«
»Deine Arme waren gebrochen«, erinnerte ihn Mira sanft, aber bestimmt. »Sie schlackerten an dir herum wie zu weich gekochte Spaghetti.«
Yorgen sah sie ungehalten an. »Musste das sein? Jetzt habe ich Hunger bekommen.«
»Wann hast du denn mal keinen Hunger?«, fragte Mira neckend.
»Komm du mal in meine Gewichtsklasse, dann sprechen wir weiter, du schmächtige Palmenkuschlerin.«
Mira sah den Yeti fragend an, während sie mit der Luftmatratze unter dem Arm in Richtung Ufer watete.
»Na, Baumkuschlerin kann ich hier ja schlecht zu dir sagen. Nur Palmen, so weit das Auge reicht.« Sein langer Arm deutete auf die kleine Insel der Onis vom Schilfschwert-Clan, welche nun schon seit Wochen ihr erzwungenes Zuhause war.
Mira schüttelte den Kopf. »Kann bitte endlich jemand auf mich schießen, um mich von diesem überdrehten Yeti zu erlösen?«, brummte sie.
»Sei vorsichtig, was du dir wünschst, Mira.«
Die Elfe nickte. »Du hast natürlich recht, also formuliere ich um: Kann bitte endlich jemand auf dich schießen?«
Yorgen grinste sie jungenhaft an. »Ach, Mira, das meinst du doch nicht so. Wer soll dir dann dein Bier bringen?«
»Ich sehe mal nach Thaum«, verkündete sie gereizt. »Und du geh zu Nik und versuche dich vielleicht auch mal in Meditation. Dann verhältst du dich wenigstens nicht mehr wie ein Fünfjähriger mit einem Zuckerschock.«
Als Yorgen zu einer übertriebenen Hängepartie seiner Mundwinkel ansetzte, drehte sich die Elfe fort und stampfte in die Bambushütte, die ihr Team seit dessen Ankunft bewohnte. Sie hätte nie gedacht, dass sie das mal denken würde, aber ein gut gelaunter Yeti auf einer paradiesischen Insel war mehr, als ihre Nerven gerade ertragen konnten.
Als Erstes schlug ihr der stechende Geruch von Schwefel entgegen, der mit penetranter Vehemenz verdeutlichte, dass jeder noch so schöne Ort auf der Welt zur Hölle werden konnte, wenn es dort nur bestialisch genug stank. Mira würgte und hielt sich umgehend mit einer Hand die Nase zu.
Der zweite Sinneseindruck, der sie überrollte, als sie die Hütte betrat, war der Anblick eines schlichten, kleinen schwarzen Koffers. Sie wusste, was darin lauerte, und wandte schnell den Blick ab.
Einen Tag nach ihrer Rückkehr vom Festland auf die Insel des Schilfschwert-Clans hatte Mira ihre beiden Waffen verstaut und seitdem nicht wieder hervorgeholt. Die Bruckenbrenner nicht benutzt zu haben, bedeutete, dass es auch keine neuen Durchbrüche in der Mauer in ihrem Inneren gab, hinter der sich all die schmerzhaften Erinnerungen ihres Lebens verbargen. Nach Hanks Tod durch den Dämon Ahrmentuk’far hatte jene schwarze Mauer in Miras Verstand erste Risse bekommen und die magischen Feuerwaffen hatten sich daraufhin mit einer Erinnerung jenseits dieser Mauer verbunden. Wann immer Mira die Kraft der Bruckenbrenner nutzbar machte, riss sie damit die dunkle Barriere zwischen sich und allem, was sie in ihrem Leben hatte vergessen wollen, weiter und weiter ein. So waren die letzten Wochen ein Labsal herrlichen Vergessens gewesen, in denen Mira sich von den Waffen fern- und damit die Geister der Vergangenheit auf Abstand gehalten hatte.
So viel dazu, sowohl die Bruckenbrenner als auch die Mauer meistern zu wollen, dachte Mira spöttisch. Stattdessen machst du Urlaub und meisterst einzig deine Sonnenbräune …
»Mira? Ist alles in Ordnung?«
Thaums raue Stimme riss sie aus ihren Gedanken hervor wie eine Rettungsleine den Ertrinkenden aus stürmischer See. Sie drehte sich zu ihrem Freund um und musste unwillkürlich losprusten. Das samtig blaue Fell des Nachtstreifers war voller Sand und grünlichem Schleim, die gelben Raubtieraugen lagen hinter einer dicken Schutzbrille verborgen, die an eine Fliegerbrille aus dem Ersten Weltkrieg erinnerte.
»Was ist dir denn vor dem Gesicht explodiert?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage.
Ein wissender Ausdruck schlich sich in Thaums Augen. Alle im Team kannten mittlerweile Miras inneres Ringen und dass niemand ihrer Freunde sie bedrängte, sich den Bruckenbrennern oder der Mauer zu stellen, rechnete Mira ihren Freunden hoch an.
»Ich braue eine neue Rezeptur zusammen«, erklärte der Nachtstreifer. »Dafür benötige ich das Sekret von Kernschnecken aus den zwergischen Regionen des Erdinneren. Doch einer der Druckbehälter war undicht und als ich das äußere Siegel öffnete, explodierten die kleinen Scheißer und … na ja, sagen wir, ihr solltet vorerst nicht in mein Zimmer kommen, bis ich es entweder aufgeräumt oder abgefackelt und neu errichtet habe. Ich bin mir noch nicht sicher, was von beidem einfacher ist.«
Mira deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. »Yorgen kann dir helfen. Er hat viel zu viel Energie.«
»Nein danke«, erwiderte Thaum lachend und mit abwehrend gehobenen Händen. »Ihn hat der Inselkoller in den letzten Tagen unerträglich werden lassen.«
»Wem sagst du das?«, murmelte Mira und sah zu dem Laptop hinüber, dessen Bildschirm noch immer schwarz war. Mack hatte sich bereits seit über einer Woche nicht gemeldet und weder Regunam-Rem, das Oberhaupt der Schilfschwert-Onis, noch Leona, die geheimnisvolle Gönnerin des Clans der asiatischen Schneemenschen, hatten bisher angedeutet, zu welchem Zeitpunkt die Dienste der Grenzgänger wieder benötigt werden würden. »Wer hätte gedacht, dass das Leben als Agent des Obsidians so langweilig sein kann?«
»Leise«, ermahnte Thaum sie eindringlich. »Die Wände der Hütte sind dünn und wir wissen nie genau, wer zuhört, solange Mutter nicht anwesend ist.«
Mira nickte. Dass der Zwerg die Drohne, die sonst aus luftigen Höhen über sie wachte, abgezogen hatte, war ein weiterer Grund zur Sorge. Ohne sie gab es hier draußen keinerlei Verbindung zur Außenwelt, die nicht über die Onis lief. Mira und ihr Team steckten tief im Feindesland und waren sozusagen blind, taub und stumm. Alles, was ihnen blieb, war abzuwarten. Und Mira hasste es, zu warten.
»Ich bin draußen«, informierte sie den Nachtstreifer. »Den Gestank hier drinnen hält ja nicht mal ein Oger aus.«
Thaum nickte nur. Er wusste hoffentlich, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Danke, dass du mir ein Freund bist und mein Fels in der Brandung.
»VERPISS DICH!« Der wutentbrannte Schrei Niks schnitt durch das ferne Krächzen der Möwen und die sanft rollende Brandung des Meeres wie eine Kettensäge durch einen unliebsamen Beweis, den die Nebelwacht nicht in die Finger bekommen sollte.
»Du siehst besser nach unserer Hexe, bevor sie Yorgen in eine Gestalt verflucht, die ihn nur noch kriechen lässt«, schlug Thaum grinsend vor.
Mira rollte mit den Augen und trabte aus der stinkenden Hütte, immer dem Geräusch der wütend zeternden Nik hinterher. Ein Team von Grenzgängern zu leiten, kam ihr an Tagen wie diesen vor, als absolvierte sie ein Praktikum an einer Schule für schwer erziehbare Trolle.
»Verschwinde endlich, du zotteliges Stück schlecht gegerbten Ziegenfells!«
»Also das war jetzt echt gemein«, beschwerte sich Yorgen betreten.
Mira trat zwischen den Palmen hervor, die den winzigen Strandabschnitt, an dem sich die beiden Streithähne aufhielten, wie eine Art natürlicher Sichtschutz vom Rest der Insel abgrenzten. Nik saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Findling, der halb ins Wasser ragte und vom Wind und den Wellen so glatt geschliffen worden war, dass er wie ein übergroßer Kieselstein aussah. Die Hexe trug ihre Fluchfänger an den Händen und das filigrane Geschmeide glitzerte im Licht der Sonne. Die tätowierte Frau funkelte Yorgen böse an, der bis zu den Hüften im Ozean stand, und da Wasser an der Hexe herabperlte und sie in einer kleinen Pfütze saß, konnte Mira sich denken, was passiert war.
»Yorgen, lass Nik in Ruhe«, sagte sie mit müder Stimme. »Jemand, der meditiert, will sicher nicht von einem Yeti nass gespritzt werden.«
»Aber sie sah so aus, als könnte sie die Abkühlung gebrauchen«, verteidigte sich Yorgen und schaufelte mit seinen gewaltigen Pranken andeutungsweise Meerwasser in Richtung der Hexe. »Ihr Kopf war ganz rot und –«
»ICH HABE VERSUCHT, MEINE WUT ZU BEHERRSCHEN!«, brüllte Nik so laut, dass Mira die Ohren klingelten. »DAMIT ICH EUCH NICHT ALLE UMBRINGE, WEIL SICH DER SCHLEIER ÜBER MICH LEGT!«
»Yorgen, Abmarsch!«, befahl Mira in jenem Ton, den sie sonst nur während eines Jobs anschlug. »Geh und nerve die Onis. Die können sich wenigstens wehren, ohne dass du Gefahr läufst, hinterher als zotteliger Frosch über die Insel zu hüpfen.« Der Yeti öffnete den Mund, aber Mira schüttelte energisch den Kopf, woraufhin ihr großer Freund klein beigab, kurzerhand aus der winzigen Lagune hinausschwamm und nach wenigen kräftigen Schwimmzügen hinter dem felsengesäumten Rand der Bucht aus ihrem Sichtfeld verschwand.
»Bei allen Erzdrachen dieser Welt, das war knapp«, schnaubte Nik erleichtert. »Ich liebe diesen überdrehten Bettvorleger wie einen Bruder, aber beinahe hätte ich ihn vom Sand verschlucken lassen.«
Mira ließ sich neben der magiekundigen Frau nieder. »Wie das?«
Die ehemalige Quaestorin von Paris zuckte mit den Achseln. »Ein kleiner Fluch, der ihn viel schwerer macht, als er ist, und schon versinkt er im weichen Ufer.«
»Das wäre sogar für einen Quälgeist wie Yorgen etwas drastisch«, scherzte Mira.
Nik sah auf ihre Fluchfänger hinab und drehte dabei die Hände, wobei die metallischen Fäden des magischen Geschmeides das Sonnenlicht einfingen. »Als Yorgen mich nass gespritzt hat, hatte ich gerade den Rand des Schleiers erreicht«, murmelte sie und ein Schauer überlief die Frau. »Stundenlang habe ich die negativen Emotionen der Onis mithilfe der Fluchfänger aufgesaugt, bis ich dem Druck beinahe nicht mehr standhalten konnte. Und auf des Messers Schneide zwischen kontrollierter Wut und blinder Rage will der Blödmann mit mir planschen!« Nik begann plötzlich zu lachen und Tränen quollen ihr aus den Augen. »Sein Gesicht, als ich ihn angebrüllt habe, werde ich nie vergessen.«
Mira saß nur stumm da und wartete ab. Die Hexe musste das Gefühlschaos in ihrem Inneren bändigen, welches der Yeti durch seine unbedarfte Art angerichtet hatte.
Nik, mit vollem Namen Makavia Drusnik, strich sich mit den schlanken Fingern über ihre Wangen und wischte die Tränen beiseite, sowohl jene der Wut als auch die der Heiterkeit. Als die Hexe ihre Hände senkte, wirkte ihr Gesicht friedlicher. »Besser«, flüsterte sie.
Mira beneidete die Frau um ihre Kunstfertigkeit im Umgang mit ihren Emotionen. Für die Elfe hatte es jahrzehntelang nur eine Methode gegeben: Entweder ihr gefiel, was ihr widerfuhr, oder die Erinnerung landete hinter der Mauer.
Als würde man leckende Giftfässer im eigenen Verstand begraben, spottete Mira über sich selbst. Und jetzt habe ich Schiss, mich der Jauchegrube zu stellen, die ungestört hinter der Mauer vor sich hin gären konnte.
»Gibt es irgendetwas Neues oder hat dich mein Geschrei angelockt?«, fragte Nik mit dem Hauch eines Zitterns in ihrer Stimme. Offensichtlich war ihre innere Balance noch nicht vollständig wiederhergestellt.
»Kein Piep. Weder von Leona noch von Regunam-Rem oder Mack.«
»Ob die Onis Verdacht schöpfen?«, flüsterte die Hexe leise. »Oder ihre Gönnerin?«
Mira schüttelte den Kopf. »Dann wären wir alle bereits tot. Auf dieser Insel leben genug Onis, dass sie uns mühelos mit ihren Waffen in Streifen schneiden könnten, wenn sie es wollten.« Sie schaute gen Himmel und beobachtete eine einsame winzige Wolke, die dabei war, den Kampf gegen die erbarmungslose Sonne zu verlieren, und sich mehr und mehr auflöste. So wie Miras Geduld. »Ich denke, wir sind für diese Leona gleichermaßen unwichtig wie kostbar.«
Nik sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ist das nicht ein Widerspruch?«
»Ja und nein«, erwiderte Mira grinsend. Als die Hexe ob ihrer Geheimniskrämerei protestieren wollte, sprach sie schnell weiter. »Wenn das Große Spiel eine Partie Karten wäre, dann wären wir so etwas wie ein minderer Joker. Unser Team kann vielleicht nicht im Alleingang den Sieg entscheiden, aber richtig eingesetzt die Waagschale zu Gunsten der Spielerin neigen.«
Nik zog die Knie an den Körper und schlug ihre Arme um die Beine. »Also wartet sie auf die richtige Gelegenheit, uns loszuschicken?«
»Entweder das oder sie wartet darauf, dass die anderen Teilnehmer des Großen Spiels sich gegenseitig erledigen.« Mira seufzte gereizt. »Es wäre so viel einfacher, wenn wir dessen Regeln kennen würden.«
»So es denn welche gibt«, gab Nik zu bedenken.
Mira nickte stumm und trommelte in der nachfolgenden Stille mit den Fingern auf dem Stein. Dann sprang sie auf. »Scheiß drauf«, brummte sie.
Nik sah beunruhigt zu ihr empor. »Was hast du vor?«
Die Elfe war schon beinahe zwischen den Palmen entschwunden, bevor sie antwortete. »Noch einen Tag voller Untätigkeit mehr und ich drehe durch. Es wird Zeit für einen Besuch bei Regunam-Rem.«
»Mira«, begrüßte sie das Oberhaupt der Schilfschwert-Onis mit einer leichten Verbeugung. »Was führt dich zu mir?«
Der imposante Schneemensch, der selbst Yorgen um ein gutes Stück überragte, stand inmitten eines mit Bambusstäben abgesteckten Rings. Um ihn herum bewegten sich lauernd vier schwer atmende Onis. Obwohl sie keine Wunden aufwiesen, war ihr Fell blutverschmiert, ebenso wie der Sand zu ihren Füßen. Offensichtlich wurde die herausragende Regenerationsfähigkeit der Onis selbst in einem Übungskampf auf die Probe gestellt.
Die Elfe zupfte an dem dünngewebten Sommerhemd herum, das sie sich übergeworfen hatte, um dem Oni nicht im Bikini gegenüberzutreten. Wenn es nur nicht so verdammt heiß für ihre übliche Kluft gewesen wäre! »Eure Insel ist ja wirklich schön, aber mein Team und ich werden langsam unruhig. Eigentlich sind wir aufs Geld verdienen aus und nicht darauf, unseren Teint in der Sonne aufzuhübschen.«
Regunam-Rem sah sie mit wissenden Augen an. »Deine Freunde scheinen die Zeit unter uns zu nutzen. Thaum lässt sich stets neue exotische Dinge vom Festland herschaffen, die Hexe ringt mit ihren Fluchfängern und Yorgen hat endlich aufgehört, sich mit seinem Daikatana selbst zu verletzen – meistens jedenfalls.« Die vier Onis ringsum lachten, aber es war kein abfälliger Laut, sondern mehr von der Sorte, die man hörte, wenn Geschwister sich untereinander aufzogen. »Aber was genau tust du, Mira Sheinfhandril, seit deiner siegreichen Rückkehr von Ahrmentuk’far?«
Was für eine beschissen gute Frage, grollte Mira sich selbst im Inneren ihres Verstandes zu. Was tust du hier gerade? Hast du wirklich so viel Angst vor den Bruckenbrennern, dass du lieber Krawall machst und dabei eure Tarnung riskierst? Laut sagte sie: »Ich will endlich wissen, was hier gespielt wird.«
Regunam-Rem lachte rumpelnd und legte sein überlanges Schwert auf seiner Schulter ab. »Was für eine subtile Wortwahl.« Dann drehte er sich um und schritt auf das große, an der Vorderseite offene Haupthaus zu. »Was du wissen willst, darf ich dir nicht verraten«, sagte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Aber Leona wird in den nächsten Tagen eintreffen und dann werde ich ihr ausrichten, dass du angefangen hast, Fragen zu stellen. Mal sehen, ob sie gewillt ist, dir Antworten zu geben.«
Mira runzelte die Stirn und trat dann grübelnd den Rückzug an. Sie war sich nicht sicher, ob das Oberhaupt der Onis sie gerade gewarnt oder gelobt hatte.
Wahrscheinlich beides, schoss es ihr durch den Kopf.
Mira seufzte auf und beschleunigte ihren Schritt. Besser, sie erzählte den anderen, dass sie ihren Kopf aus der Deckung gehoben hatte.
»Mira, schau, wer sich endlich hat blicken lassen«, begrüßte sie Yorgen freudestrahlend, als sie das Innere ihrer Hütte betrat, und deutete dabei auf den Bildschirm des Laptops, um den sich das gesamte Team versammelt hatte. Das vertraute, gepiercte Gesicht Macks füllte das Display fast zur Gänze aus und so waren die tiefen Augenringe des Zwergs nicht zu übersehen.
»War ja klar«, murrte die Elfe. »Kaum gehe ich ein Risiko ein, taucht unser Schatten aus der Versenkung auf.«
»Auch schön, dich zu sehen, Mira.« Macks Stimme klang rauer als sonst und vor allem schleppender.
»Was ist denn mit dir los?«, verlangte sie zu wissen. »Hast du zu viel gefeiert?«
»Arbeit«, erklärte der Zwerg einsilbig und sein Gesicht entfernte sich weit genug von der Kamera, dass Mira im Hintergrund die schlichte Höhle erkennen konnte, in welcher der Schatten des Teams saß.
»Was ist denn mit deinem Strandhaus im Somnium geschehen?«, fragte sie stutzig.
»Bin hier immer noch einquartiert. Aber ich mache Urlaub vom Paradies«, erklärte Mack mürrisch. »Die Kosten, die die Traumfeen mittlerweile für exotischere Zimmer aufrufen, sind zu hoch, als dass ein ehrlicher Zwerg sie dauerhaft als reiner Schieber verdienen könnte. Ich werde entweder mehr von eurem Honorar abzweigen oder mir noch weitere Grenzgänger suchen müssen, damit ich hier nicht wie ein schlecht gewässerter Höhlenpilz vertrockne.«
»Mehr von null bleibt null«, sagte Nik mit einem schiefen Grinsen. »Solange wir auf dieser Insel versauern, wirst du gar nichts an uns verdienen.«
»Verstanden«, sagte Mack mit einem knappen Nicken. »Also mehr Grenzgänger managen.«
»Nichts da«, mischte sich Thaum ein. »Mitgehangen, mitgefangen, mein Lieber. Ich will sicher nicht, dass du im falschen Moment abgelenkt bist, weil du deine Aufmerksamkeit auf mehrere Unternehmungen gleichzeitig richtest, nur um dir einen Whirlpool für dein zusammengeträumtes Hotelzimmer dazuzuverdienen.«
»Und ich bezweifle, dass Grayson dies gutheißen würde«, warf Yorgen ein.
»Schon gut, schon gut«, brummte Mack und schüttelte seinen Kopf, als wolle er ihn wieder klarkriegen. »Nur die dummen Gedanken eines übermüdeten Gehirns.«
»Dann bring uns mal auf den neuesten Stand«, forderte Mira und griff nach ihrer geliebten E-Zigarette. Kaum begann die Arbeit, setzten alte Gewohnheiten wieder ein.
»Während ihr faul in der Sonne gelegen habt -«
»Vergiss das Meer nicht«, unterbrach ihn der grinsende Yorgen. »Ohne das kristallklare Wasser wäre es hier nur halb so schön.«
Macks Augen versprachen dem Yeti tausend Tode.
Mira hörte das rasend schnelle Tippen seiner Finger auf der Tastatur und dann flackerte kurz die Übertragung. Eine Sekunde später warf sich Mack auf eine Liege am Strand, hinter sich seine protzige Villa, die auch aus einer Reality Show hätte stammen können, in der paarungswillige Teilnehmer miteinander um die Gunst der Zuschauer rangen.
»Viel besser«, sagte der Zwerg und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während er Yorgen voller Genugtuung anfunkelte.
Das Smartphone des Yetis vibrierte und als der Schneemensch draufsah, hieb er fluchend ein Loch in die Hüttenwand. »Ich bringe dich um«, knurrte er in Richtung des Zwergs. »Das war mein Notgroschen, den du mir gerade geklaut hast, nur um dein Zimmer aufzuhübschen!«
Mack schmatzte zufrieden und setzte sich eine Sonnenbrille auf. »Wer hat denn auch supergeilerYeti123 als Passwort?«, konterte er.
»Und wer sagt heutzutage noch Notgroschen?«, fügte Thaum grinsend hinzu.
»Vorsicht«, mahnte Yorgen düster. »Die Viertelportion kann ich vielleicht nicht zusammenfalten, aber dich kleines Wölfchen nehme ich spielend auseinander.«
Thaum versteifte sich. »Wie hast du mich gerade genannt?«
Mira klatschte einmal in die Hände. »Okay, die Krabbelgruppe hat jetzt genug gebalgt. Alle halten die Klappe außer Mack.« Sie fixierte den Zwerg mit ihrem Blick und zog an ihrer E-Zigarette. Der Duft eines lieblichen Baumhains aus dem Anderswo strömte in ihre Lungen und Bilder sickerten durch die Risse ihrer Mauer. Ein sanftes Lächeln. Die federleichte Berührung von liebevollen Fingern auf ihrem Haar.
Mutter, dachte Mira träumerisch.
»Ich habe mir – ebenso wie sämtliche offiziellen Abteilungen des Obsidians – den Arsch aufgerissen, um mehr über das Große Spiel herauszufinden. Selbst der Boss und Shaja waren nicht untätig.«
»Hoffentlich, ohne uns zu enttarnen«, warf Thaum ein.
Mack nickte und strich sich mit einer seiner breiten Hände über das Gesicht. »Das machte es ja so schwer. Wir durften diese Leona nicht erwähnen oder irgendeines der anderen Interna, die ihr während eurer Tätigkeit für Me Fao und sie ausgegraben habt. Eigentlich hatten wir wirklich nur diese drei Worte, mit denen wir arbeiten konnten: das Große Spiel.«
»Und was habt ihr herausgefunden?«, hakte Mira nach. Der Zwerg liebte seinen großen Auftritt und hatte offenkundig hart dafür gearbeitet, um ihn genießen zu dürfen, aber ihre Geduld war an diesem Tag schon lange am Ende.
Mack hob belehrend einen Finger. »Du meinst, was haben wir nicht herausgefunden.«
»Rede endlich«, blaffte Yorgen ihn an. »Verdien dir die Mäuse, die du mir geklaut hast, zur Abwechslung mal.«
Mack schürzte die Lippen und senkte seinen Kopf, sodass das ausrasierte Motiv des ausgestreckten Mittelfingers auf seinem Schädel gut sichtbar wurde. Dann hob er den Kopf wieder und zählte an den Fingern seiner Hand ab: »In den Aufzeichnungen des Verhangenen Rates – nichts. Im Vatikan – nichts. In den da Vinci-Archiven – nichts. In den –«
»Bei den Furien von Paris, komm zum Punkt«, ermahnte Nik den Zwerg in herrischem Ton. »Dein Bedürfnis, deine eigene Stimme zu hören, steigt wohl proportional zu deinem Schlafmangel.«
Mack legte den Kopf schief und sah nachdenklich gen Himmel. »Da könnte sogar etwas dran sein«, gab er schließlich zu. Dann zuckte er die Achseln. »Niemand ist perfekt. Nicht einmal ich, auch wenn es schwer zu glauben ist.«
»Das reicht«, verkündete Mira und griff nach dem Laptop, um ihn zuzuklappen. »Melde dich wieder, wenn du ausgeschlafen bist.«
Mack wedelte mit den Armen. »Moment!«
Mira behielt eine Hand am Deckel des Laptops. »Ja?«
»Wir haben nirgendwo einen schriftlichen Hinweis auf das Große Spiel gefunden. Also ist es entweder ganz neu …«
»… oder es wurden alle Beweise, dass es existiert, akribisch entfernt«, schlussfolgerte Mira.
Mack nickte aufgeregt. »Und wenn man bedenkt, dass atlantische Schalen, wie die, die wir in Leonas Auftrag Me Fao abnehmen sollten, bei diesem Spiel ein Schlüsselelement darstellen, tippe ich definitiv auf Zweiteres.«
»Das sind nicht besonders viele Erkenntnisse für mehrere Wochen Arbeit«, beschwerte sich Thaum.
»Eine Sache wäre da noch und die erklärt auch teilweise das Fehlen von schriftlichen Aufzeichnungen über das Große Spiel.« Mack holte tief Luft, und Mira konnte sehen, dass sich ihr Schatten das Beste für den Schluss aufgehoben hatte. »Jeder, von dem wir vermuten, dass er oder sie mit dem Spiel zu tun hat, besitzt eine Eidblockade in dessen Verstand. Niemand kann mit Außenstehenden darüber reden, ansonsten …« Er fuhr sich mit dem Finger über den Hals und machte gurgelnde Geräusche.
»Klingt ja fast nach einer Art Sekte«, sagte Yorgen angewidert. »Mit einem eingebauten Selbstmordpakt.«
»Wir wissen, dass Dämonenbeschwörung ein Aspekt des Großen Spiels ist«, rekapitulierte Mira. »Dass ein paar der mächtigsten Dämonen von absoluten Laien herbeibeschworen werden konnten, hat den Obsidian ja damals überhaupt erst auf den Plan gerufen.«
Thaum rieb sich über die drei Narben in seinem Wangenfell. »Mack, mich würde interessieren, wen du damit meintest, als du über Personen sprachst, die vermutlich mit dem Spiel zu tun haben.«
Der Zwerg tippte auf seiner Tastatur herum und sein Bild verschwand, um durch ein verwackeltes Handyvideo ersetzt zu werden, das einen Tornado voller purpurner Blitze zeigte, wie er sich vor einem kalt funkelnden Sternenhimmel durch ein verschlafenes, mexikanisch aussehendes Bergdörfchen fraß. Menschen liefen schreiend umher und wer von den Winden erfasst und emporgehoben wurde, verging binnen Sekunden in einem purpurnen Lichtstrahl. Mack ließ das Video noch einige Sekunden laufen, bis es schließlich in dem Moment einfror, als ein Blitz die Basis des Tornados erhellte. Der Zwerg erhöhte den Kontrast des Bilds und schälte so einen einsamen Umriss aus dem Chaos heraus, der mit emporgereckten Armen im Auge des Wirbelsturms stand. »Pater Alejandro Díaz, der Pfarrer des Dorfes. Galt in seiner Gemeinde immer als recht autoritär, wurde aber allseits respektiert. Eine Spezialeinheit der Unendlichen Legion musste ausrücken, um ihn zu stoppen. Das Dorf, das ihr hier seht, existiert nicht mehr.«
»Scheiße«, fasste Yorgen die Ereignisse nach Miras Dafürhalten recht passend zusammen.
»Der gute Pater wurde lebend gefasst – wenn auch nicht intakt, wenn ihr versteht, was ich meine – und anschließend ausgiebig verhört. Er schwieg wie ein Grab, vor allem, wann immer er nach dem Großen Spiel gefragt wurde.« Das Bild des Zwergs erschien wieder auf dem Display. »Braucht ihr noch mehr Beispiele? Ich hätte noch ein Kreuzfahrtschiff, das in einen plötzlich auftretenden drei Kilometer durchmessenden Strudel gesaugt wird, an dessen unterem Ende ein riesiges Maul voller Zähne wartet. Anscheinend wurde es von einer in der Nähe befindlichen Privatjacht aus beschworen, die –«
»Schon gut«, unterbrach Mira ihn. »Wir haben verstanden.«
»Plötzlich finde ich den Gedanken, dass wir hier auf dieser Insel nicht alles mitbekommen, regelrecht angenehm«, sagte Yorgen kleinlaut.
»Nur die wenigsten in der Nebula wissen von diesen Vorfällen, dafür muss man nicht am Sandstrand versauern«, widersprach Mack mit einem Achselzucken. »Weite Teile des Verhangenen Rates, des Obsidians und der Unendlichen Legion sind momentan damit beschäftigt, dass diese Vorfälle nicht bekannt werden. Und das ist bei einem mit zweitausend Passagieren besetzten verdammten Kreuzfahrtschiff alles andere als einfach.«
Mira starrte auf ihre Hände hinab. Ihre zusammengeballten Fäuste zitterten, ohne dass die Elfe dies gemerkt hätte. »Denkt an Hank«, sagte sie leise. »Ahrmentuk’far hat damals seine Seele eingefangen. Ich wette, dass die Leute in dem spanischen Dorf und die Passagiere des Schiffes dasselbe Schicksal ereilt hat.«
Mack nickte langsam. »Der Obsidian denkt, Verursacher dieses Tornados war Uo-wah-draal, der Verschlinger des Himmels. Das Maul wiederum gehört dem Großen Abgrund, einer dämonischen Mythengestalt, die zuletzt zu Zeiten der Atlantiden gesehen und fälschlicherweise mit einem Altvorderen verwechselt wurde. Wir sind uns aber nicht sicher, weil die beiden in den letzten zwei Jahrtausenden so selten heraufbeschworen wurden.«
»Stimmt«, warf Nik trocken ein. »Die Altvorderen fehlen noch auf der Party, dann haben wir alles beisammen, was uns Sterbliche lediglich als lästiges Kroppzeug ansieht.«
»Mich würde interessieren, warum die immer alle Verschlinger, Zerreißer oder Zerstörer heißen«, meldete Yorgen sich zu Wort. »Warum gibt es keinen Günter unter diesen ach so großen Dämonen.« Der Yeti versuchte sich an einem verkrampften Lächeln, aber niemand würdigte seinen schwachen Aufmunterungsversuch mit einem Kommentar.
»Bei dem, was wir wissen, würde ich mutmaßen, dass verschiedene Anhänger mächtiger Dämonen diese mit uns unbekannten Mitteln heraufbeschwören, und zwar als Teil des ominösen Großen Spiels«, fasste Mira zusammen. »Durch Leona und den verblichenen Me Fao wissen wir, dass die verschiedenen Gruppen einander diese seltsamen Schalen abjagen wollen. Als wir diese von Me Fao zur Gönnerin der Onis brachten, hat sie seine Schale mit ihrer … verschmolzen?« Sie sah zu Nik hinüber, doch die zuckte auch nur mit den Achseln.
»Das Wort passt so gut wie jedes andere, solange wir nicht mehr wissen.«
Macks Gesicht verschwand und eine Weltkarte tauchte auf dem Bildschirm auf. Über drei Dutzend Punkte erblühten nach und nach, verteilt auf jeden Winkel der Erde. »Laut Auswertungen sind die Sichtungen dieser Beschwörungen übrigens nicht regional begrenzt. Anscheinend handelt es sich um ein weltweites Phänomen.«
Mira verzog ungeduldig das Gesicht. »Wirklich neu ist diese Erkenntnis aber nicht, wenn man bedenkt, wo wir für diesen Fall bereits überall aktiv waren.«
»Ich wollte damit nur klarstellen, dass der Druck auf den Obsidian wächst. Der Verhangene Rat will Antworten. Selbst die Lady vom See wird nervös, vor allem seit wir wissen, das Morgaine auf irgendeine Weise im Großen Spiel mit drin hängt.«
Nik sprang auf und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Willst du mich verarschen? Und das sagst du nicht als Allererstes?«
»Mira, das wächst uns über den Kopf«, konstatierte Thaum mit sorgenvollem Blick. »Wir sind nur ein paar Grenzgänger, und diese Sache wird ständig größer und größer.«
Die Elfe zog an ihrer E-Zigarette und schwieg für den Augenblick. Ein Teil von ihr war geschockt über sich selbst, denn tief in ihrem Inneren genoss Mira die Aufregung. Alles, was sie von der Mauer fernhielt, war ihr willkommen, selbst wenn es eine globale Krise war.
»Wir müssen das Große Spiel ja nicht eigenhändig aufhalten«, beruhigte sie ihr Team. »Es reicht, wenn wir herausfinden, was es damit auf sich hat und wie man es stoppt. Dann überlassen wir dem Obsidian, oder meinetwegen der Unendlichen Legion, das Feld und die erledigen die Drecksarbeit, während wir unsere Moneten zählen.«
»So klingt das schon viel besser«, sagte Yorgen. »Ich bin zwar nicht wegen der Kohle zum Obsidian gekommen, aber im Alleingang die Nebula zu retten, stand auch nicht auf meiner To-do-Liste.«
»Für so eine Liste müsstest du doch schreiben können, oder?«, stichelte Thaum grinsend. »Geht das überhaupt mit solch großen Pranken und einem derart kleinen Hirn?«
»Ich mal gleich mit deinem Blut ein schönes Muster an die Wand, wie gefällt dir das?«
»Der Schock ist offiziell überwunden, wie es scheint«, mischte Nik sich ein und brachte die beiden Grenzgänger mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen. »Hast du noch etwas, das du uns mitteilen möchtest?«, fragte sie anschließend in Richtung Mack.
Der Zwerg deutete mit einem Finger gen Himmel. »Mutter ist nun wieder in Position und wird euch überwachen. Das heißt, ich bin auf Abruf, wenn ihr irgendwas braucht, und eure Smartwatches haben wieder Netz.«
»Mit anderen Worten: Du machst endlich wieder, wofür du bezahlt wirst?«, fragte Yorgen bärbeißig.
Mack schüttelte den Kopf und wirkte wieder so müde wie zu Anfang. »Ich gebe mir hier wirklich Mühe. So wie der Rest des Obsidians auch«, erwiderte er ungewöhnlich ernst. »Ihr seid nicht allein, auch wenn es sich vielleicht gerade so anfühlt. Wie gesagt, solltet ihr mich brauchen, ich bin hier.« Dann wurde der Bildschirm schwarz und das Team sah sich ratlos an.
»Wenn Mack ernst und empathisch wird, muss die Kacke wirklich am Dampfen sein«, hörte Mira sich selbst sagen.
Und dass du wieder fluchst, zeigt, dass auch dir die Situation unter die Haut geht, dachte sie bei sich selbst.
»Und was fangen wir nun mit den spärlichen Infos an, die Mack uns gegeben hat?«, fragte Nik in die Runde. »Entspannen wir am Strand, bis wir einen neuen Auftrag erhalten, während da draußen das Chaos um sich greift?«
Mira zog noch einmal an ihrer E-Zigarette und schaltete sie dann ab. Es war an der Zeit, zu beichten. »Es gibt da etwas, das ihr wissen solltet«, sagte sie so beiläufig wie möglich. »Ich habe von Regunam-Rem verlangt, dass er mich einweiht.«
»Mensch, Mira, das ist das Gegenteil davon, den Ball flach zu halten«, beschwerte sich Yorgen.
Thaum nickte heftig. »Ich gebe dem wandelnden Schneeball nur unter Schmerzen recht, aber schon im kleinen Grenzgänger-Einmaleins lernt man, dass keine unnötigen Fragen gestellt werden. Der Kunde entscheidet, wie viel man wissen muss, und dieses Gesetz wächst proportional mit der Bezahlung. Und Leona hat uns sehr, sehr gut bezahlt!«
Mira nestelte an der E-Zigarette in ihrer Hand herum und legte sie schließlich auf den Koffer mit den Bruckenbrennern. Dann trommelten ihre Finger auf dem Leder herum, während sie nach den passenden Worten suchte, um ihr Verhalten zu erklären. »Es war eine Flucht nach vorne«, gestand sie schließlich und legte ihre Hände flach auf den Koffer. »Mir gingen langsam die Ausreden aus, warum ich nicht mit den Bruckenbrennern üben sollte.« Sie stand mit dem Rücken zu ihrem Team, da sie noch immer den Koffer ansah.
»Wir verstehen, wie schwer es dir fallen muss, deine Erinnerungen wieder hervorzukramen, nachdem du sie für so viele Jahre weggesperrt hattest.« Thaums Stimme war voller Mitgefühl, und Mira wäre ihm dafür am liebsten um den Hals gefallen. Stattdessen nickte sie nur.
»Aber es wäre gut, wenn du nicht länger davor wegrennst«, schob Nik umso kühler hinterher. »Im schlimmsten Fall könntest du uns alle gefährden, wenn dich die Erinnerungen im falschen Moment übermannen oder du die Bruckenbrenner nicht richtig kontrollieren kannst.«
Mira nickte wieder. Sie wusste das natürlich. Ebenso wie Nik, die nur ihr Versprechen hielt, jede Handlung der Leiterin des Teams kritisch zu hinterfragen. Diese Abmachung hatten die zwei Grenzgängerinnen in London getroffen, nachdem sich das Team zusammengefunden hatte.
»Ich bin eine Weile fort«, sagte sie und zwang ihre Finger, sich um den Griff des Koffers zu legen. Dann trat sie aus der Hütte hinaus in den paradiesischen Tag und schlug den Weg zu der kleinen Lagune ein, dem Ort, an dem bereits Nik versucht hatte, ihre inneren Dämonen zu bändigen.
Besuch aus dem Nichts
Die Waffen fühlten sich richtig an, wie sie sich an die Handflächen Miras schmiegten, zwei liebevollen Katzen gleich, die schnurrend die Ankunft ihrer Halterin willkommen hießen. Die metallische Kälte, die die Elfe immer mit den beiden magischen Waffen assoziiert hatte, war einer warmen Vertrautheit gewichen – fast so, als hätten die Artefakte ihre Trägerin … vermisst.
Mira saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem glatten Stein, auf dem Nik zuvor meditiert hatte, und starrte auf die beiden Pistolen in ihren Händen, als wären es giftige Schlangen. Sie konnte spüren, wie die Mauer in ihrem Kopf durch die Berührung der Waffen zu beben begann, wie die Waffen gierig nach der Quelle von Miras Magie griffen, welche weit hinter der Mauer verborgen lag.
»Und wenn ich einfach nachgebe?«, murmelte Mira vor sich hin. »Statt ständig mit der Zunge an dem lockeren Zahn zu wackeln, reiße ich ihn einfach hinaus.« Mit jedem Wort war ihre Stimme leiser, ihr Tonfall zögerlicher geworden. Ganz langsam, so wie man eine Tür öffnete, hinter der entweder ein Ausweg oder ein Monster verborgen lagen, gab Mira den Bruckenbrennern freie Hand, ließ sie sich an ihrer Magie laben und konzentrierte sich dabei mit geschlossenen Augen vollends auf ihr Innenleben.
Mühelos fand sie sich vor der schwarzen Mauer wieder, die ihren Verstand in bewusstes Erleben und Erinnern einerseits und verdunkeltes Wissen andererseits teilte. Gleich einem militärischen Geheimbericht bestand Miras Verstand aus einem Haufen geschwärzter Seiten und einigen wenigen lesbaren Worten, die den Gesamtkontext erahnen ließen.
Wieder manifestierten sich die Bruckenbrenner vor Miras innerem Auge als zwei Gebilde, die die Mauer durchbrachen, doch diesmal ähnelten sie nicht mehr metallischen Strängen, sondern eher lianenhaft anmutenden Ranken, die sich durch zwei klaffende Löcher in der Mauer wanden und diese vollständig ausfüllten. Anscheinend änderte sich das Aussehen der Verbindung zwischen Mira und den Artefakten mit wachsendem Verständnis für das Wesen des jeweils anderen. Als sich die Elfe der Mauer weiter näherte, um die Durchbruchstellen genauer zu inspizieren, hörte sie Echos von Stimmen, die aus der fernen Vergangenheit an ihr Ohr drangen.
»Hoheit, Ihr packt Euren Kristallstab nicht fest genug.«
Das war Hinaim, ihr alter Waffenmeister.
»Du bist zu weich, Mira.« Kühle, Ungeduld und Enttäuschung schwangen in den Worten ihres Vaters mit.
»Meine kleine Mondblume …«
Mira spürte, wie ihr Tränen über das Gesicht rannen, als der Kosename ihrer Kindheit aus ihrem Unterbewusstsein auftauchte wie ein Wal, der sich aus Sehnsucht nach Sauerstoff aus dem Wasser hob.
»Mutter …«, hauchte sie und eine alles überwältigende Trauer drohte sie zu ertränken. Ihr schwindelte und während ihr Körper sich mit den Händen auf dem Findling abstützte, griff ihr Geist nach den Ranken der Bruckenbrenner, um sich an ihnen festzuhalten.
»Bitte, hört auf«, flehte sie und konzentrierte sich dabei vollends auf ihre Verbindung zu den beiden Artefakten. Ihr Geist wurde indessen von einem altelfischen Schlaflied geflutet, das ihre Mutter Mira stets beim Zubettgehen vorgesungen hatte. »Es ist zu viel. Ich bin noch nicht bereit«, flüsterte sie verzweifelt.
»Mira, deiner Mutter ist etwas passiert …«
Die Worte aus der Vergangenheit trafen die Elfe so hart, als hätte sie sie zum ersten Mal in ihrem Leben gehört – und auf gewisse Weise stimmte dies auch.
»Bitte«, wisperte Mira. »Aufhören.«
Ohne Vorwarnung regten sich die Ranken unter ihrer geistigen Berührung. Etwas, das zu schwach ausgeprägt war, um es Verständnis oder Empathie zu nennen, ging von den Bruckenbrennern aus und dann sprossen aus den Haupttrieben, welche sich durch die Mauer bohrten, neue Ranken hervor, schlängelten sich über die schwarze Oberfläche der Barriere, die Miras Verstand geteilt und doch intakt hielt, und wucherten über die Risse und Lücken der Mauer. Sie schlossen, was offen klaffte, versiegelten, was durchlässig geworden war.
Herrlich kalte Stille erfüllte Miras Verstand. Sie seufzte zufrieden auf und drehte sich von der überwucherten Mauer fort.
»Danke«, raunte sie den beiden Artefakten zu und genoss das Gefühl, sich inmitten eines großen, von allem überflüssigen Ballast befreiten Platzes zu befinden, der nur ihr allein gehörte. Ihr und den Bruckenbrennern.
Sie wandte sich der Mauer erneut zu und untersuchte deren von Ranken übersäte Schwärze. Tausende Wurzeln hatten sich tief in die Barriere gebohrt und stabilisierten sie, sodass das Gebilde nun einer verwitterten, von seltsamem Efeu überwucherten Ruine glich. Mira wurde umgehend, begleitet von einem tiefen Schauder, bewusst, welchen Preis sie für die Hilfe der beiden Waffen gezahlt hatte: Sollten die Bruckenbrenner eines Tages die Verbindung zu Mira kappen, bräche die Mauer umgehend in sich zusammen.
Mit großer Mühe öffnete die Elfe ihre Augen und sah auf die Pistolen in ihren Händen hinunter. »Kein Licht ohne Schatten«, murmelte sie vor sich hin. »Euch zwei behalte ich ab jetzt besser dicht bei mir.«
»Mit wem redest du?«
Thaums Stimme ließ Mira erschrocken zusammenzucken.
»Mit denen hier«, erklärte sie mit einem Schulterblick und hob dabei die Pistolen weit genug, dass der Nachtstreifer sie vom Rand der Lagune aus sehen konnte.
»Du weißt, dass es eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung für Leute gibt, die mit Gegenständen reden, oder?« Das Lächeln auf seinem wolfähnlichen Gesicht sandte eine wohlige Wärme durch Miras Inneres.
»Sagt derjenige, der nachts mit seinem Tarnumhang schmust, wenn niemand hinschaut.«
Der Nachtstreifer trat näher, den Blick auf den Ozean gerichtet. »Ich gebe offen zu, dass ich mich sehr in ihn verliebt habe. Er ist immer für mich da und hütet klaglos all meine Geheimnisse.«
Mira musste daran denken, dass diese Worte ebenso gut auf Thaums Beziehung zu ihr zutrafen. Dann räusperte sie sich und stand auf. »Es wird dich und das Team sicher freuen zu hören, dass meine Verbindung zu den Bruckenbrennern … enger denn je geworden ist. Und dass die Mauer vorerst kein Problem darstellen wird.«
Thaum richtete seine gelben Augen auf sie und zog die Augenbrauen hoch. »Was für eine ungewöhnlich rasche Entwicklung.«
»Ich bin selbst überrascht, aber anscheinend haben die Artefakte und ich … eine Art Übereinkunft getroffen«, wich Mira der indirekten Frage des Nachtstreifers aus.
»Das klingt wirklich ein bisschen verrückt.« Thaums Blick wechselte von Neugier in Richtung Sorge.
Mira schüttelte energisch den Kopf. »Du vergisst, dass die Bruckenbrenner so etwas wie ein Unterbewusstsein besitzen. Es ist mir gelungen, mit ihm zu kommunizieren.«
Wohl eher, es anzuflehen, fügte sie in Gedanken hinzu.
Thaum kniff seine forschenden Augen zu Schlitzen zusammen.
»Klingt immer noch zu gut, um wahr zu sein.«
»Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.« Mira überraschte ihr brüsker Tonfall selbst, aber als Thaum nickte, war sie erleichtert, dass ihr Freund nicht weiter nachhakte. Sie würde ihm und den anderen in Ruhe erklären, was passiert war.
Später.
Die Nacht trug die bereits bekannten Geräusche herbei. Der Wind frischte auf, ließ die Palmenblätter rauschen und die Brandung des Meeres anschwellen. Leise pfiff er durch das Loch, das Yorgen am Tag in die Wand geschlagen hatte, und sorgte damit für einen milden Durchzug, den Mira alles andere als unangenehm empfand. Vielleicht sollte sie den Yeti bitten, die Hütte noch weiter zu durchlöchern. Sie verwarf den Gedanken wieder, als sie sich an seine Begeisterungsfähigkeit erinnerte und an seinen ungebrochenen Wunsch, den Leviathan
