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Nymphen sind es nicht gewohnt, das Wort Nein zu hören. Wenn sie emotional zu stark abrutschen, verwandeln sie sich in Furien. Ein halbes Jahr ist vergangen seit Inspector Grayson Steel und sein Team die Magische Hanse und ganz Norddeutschland gerettet haben. Grimmig sind sie auf der Spur der Verschwörer, die nun schon zweimal versucht haben, die Ordnung der Nebula Convicto zum Einsturz zu bringen. Daher ist der Ermittler gar nicht angetan, als er auf einmal zu einer diplomatischen Mission nach Paris entsandt wird, einem Ort der Waffenruhe zwischen den Wesen der magischen Gemeinschaft. Die französische Hauptstadt wird von drei Schwestern beherrscht, Verwandte der Lady vom See, doch seit einiger Zeit melden sie sich nicht mehr beim Verhangenen Rat. Was für den mürrischen Grayson als Zeitverschwendung beginnt, entpuppt sich bald als handfeste Krise: Immer mehr Menschen und Wesen beginnen in Paris plötzlich die Kontrolle zu verlieren. Die Stadt der Liebe droht in Chaos und Gewalt zu versinken.
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Seitenzahl: 565
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Torsten Weitze
NEBULA
Convicto
Grayson Steel und die
Drei Furien
von Paris
© Torsten Weitze, Krefeld, 2017
Bild: Petra Rudolf / www.dracoliche.de
Lektorat: ds, Lea Oussalah, acabus Verlag
Ein Besuch bei Mondlicht
Greater London, Worthington Manor, Dienstag, 11. Juni, 21.59 Uhr
Mit einem Seufzer hob Grayson seinen Kopf aus dem verstaubten, alten Buch, in dem er den halben Abend gelesen hatte und reckte seine müden Knochen. Ein lautes Knacken in seinem Rückgrat verkündete ihm und allen, die es hören konnten, dass der Quaestor nicht jünger wurde.
Ein hämisches Lachen aus einer Ecke des Studierzimmers war die prompte Antwort auf das Geräusch. »Ob wir wohl einen neuen Lacunus beim Verhangenen Rat beantragen können?«, stichelte die Halbdämonin Shaja in die Stille hinein. »Der hier scheint langsam kaputtzugehen.« Die junge Frau rekelte sich auf einem Diwan, nur mit einem zusammengeknoteten Top und viel zu kurzen Shorts bekleidet, während die Hitze, die von ihrem Körper ausging, die Luft um sie zum Wabern brachte. Das kleine Buch in ihrer Hand wirkte dabei so fehl am Platz wie ein Wendigo in der Sauna.
Grayson reagierte zunächst nicht auf den Kommentar, sondern streckte sich weiter, um seinen protestierenden Rücken wiederzubeleben.
Währenddessen ertönte ein nachdenkliches Brummen von der anderen Seite des Raumes. »Unser Quaestor hält schon noch eine Weile durch«, antwortete schließlich eine ruhige, tiefe Stimme. »Man muss die älteren Modelle nur ordentlich in Schuss halten, das ist alles. Zeit für eine Runde in der Trainingshalle, Mr. Steel.«
Grayson stöhnte und drehte sich mit einem anklagenden Blick auf seinem Stuhl um. Richard saß in seinem langen, weißen Mantel und dem tiefroten Hemd in einem gemütlichen Ohrensessel vor dem erkalteten Kamin des Studierzimmers. Er hatte ein offenes, ledergebundenes Buch auf seinen Schenkeln liegen und grinste Grayson herausfordernd an. Dass sich das sonst so ernste Gesicht des ehemaligen Kreuzritters zu einer derart fröhlichen Miene verzog, war für Grayson noch immer ein ungewohnter Anblick, und so blieb ihm seine bissige Antwort im Hals stecken.
Shaja sprang hingegen sofort auf, als sie Richards Worte vernahm. »Können wir einen Höllenlauf machen?«, fragte sie, und vor Vorfreude glommen die magischen Muster auf ihren Armen und Beine auf und erleuchteten das bisher schummrige kleine Zimmer, in das Morgan die drei zum Lernen verdonnert hatte. Der Magus ihres Teams war sehr eisern in seiner Forderung gewesen, dass der Rest der Quadriga seine Kenntnisse in magischem Grundwissen auffrischte, nachdem sie bei ihrem letzten Einsatz einen Zauber von ihm derart durcheinandergewirbelt hatten, dass er statt eines wütenden Golems beinahe ein Hochhaus in der City von London getroffen hätte. Einen Tag später hatte Morgan einen riesigen Stapel Bücher für jeden von ihnen angeschleppt und sogar seine Autorität als Magus der Quadriga geltend gemacht, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Während seine Hände das Zeichen des Magus formten, waren seine Worte klar und bestimmend gewesen: »Jeder arbeitet seinen Stapel durch, bevor wir nochmal als Quadriga ausrücken. Ich kann meine Arbeit einfach nicht machen, wenn der Rest des Teams nicht weiß, worauf zu achten ist. Dieses Chaos hört hier und heute auf!« Daraufhin war er davongestampft und hatte die drei zurückgelassen, jeden von ihnen mit über einem Dutzend Büchern vor der Nase.
Das war vor einer Woche gewesen. Seitdem hockte Grayson den ganzen Tag in diesem Raum und las mit wachsender Verunsicherung, auf wie viele groteske Weisen ein Lacunus ihn umgebende Zauber stören und welche Katastrophen dies auslösen konnte. Er hatte nun das Gefühl, nicht einmal niesen zu können, ohne den Weltuntergang einzuläuten.
»Wissen Sie was? Das ist eine gute Idee«, sagte Grayson, und die anderen blickten ihn überrascht an. »Ich muss mich dringend bewegen und noch dringender auf etwas schießen. Da kommt mir Richards und Macks Folterkammer gerade recht. Also los.«
Grayson erhob sich und hatte den Raum bereits halb durchquert, bevor er auf die überrumpelten Mienen seiner Teammitglieder einging. »Wenn ich noch einen Absatz über transarkane Interferenzen im Zusammenspiel von Flüchen und Zaubern lesen muss, flippe ich aus.«
»Da hat er ausnahmsweise mal Recht«, sagte Shaja und rieb sich die Hände. »Und wenn er schon so motiviert ist, kann ich auch endlich beim Üben die Samthandschuhe ausziehen.«
Grayson riss beunruhigt die Augen auf, aber bevor er Shaja widersprechen konnte, war sie schon voll federnder Energie auf den Gang gelaufen.
»Also das hat richtig gutgetan.« Shaja schnurrte fast vor Vergnügen, während Grayson sich lauthals in einen Eimer übergab. Seine Lungen brannten, und er war sicher, dass ein, zwei Gefäße in seinem Körper kurz davor standen zu bersten. Er konnte kaum aufstehen und auch an eine Antwort war nicht zu denken. Der Höllenlauf war ein von Mack und Richard konzipiertes Gelände, das mit allerlei magischen und mechanischen Hindernissen übersät war, durch das sie als Gruppe durchhetzen mussten. Der Zwerg konnte aus seiner Zentrale tief im Erdmantel heraus die Konfiguration der einzelnen Elemente des Höllenlaufs jederzeit per Knopfdruck ändern, und so wusste man nie, was einen erwartete. Während Richard und Shaja die Herausforderung genossen, war es für Grayson noch immer eine Qual, eine Runde im Höllenlauf zu überstehen. Waren die mechanischen Hindernisse wie spiegelglatte Böden, Falltüren, Kletterwände und sogar rotierende Klingen nicht schon schlimm genug, kamen dazu noch die Zauber, denen sie mitunter ausgesetzt waren. Wäre Grayson allein unterwegs, wäre es nur halb so anstrengend gewesen, denn sein antimagisches Feld, das ihn als Lacunus auswies, schützte ihn vor jeglicher Magie, solange sie nicht zu stark für ihn war. Aber er musste sein Feld ständig ausdehnen und zusammenziehen, um die anderen zu schützen und anschließend wieder freizugeben, damit sie ihrerseits ihre magischen Fähigkeiten einsetzen konnten und durch seine Antimagie keinen Schaden nahmen. Also war Grayson gezwungen, sein Lacunusfeld ständig zu variieren und das mitunter innerhalb weniger Sekunden. Es war, als wollte man einen Muskel kontrollieren, den man weder richtig spüren noch anspannen konnte, und das war verdammt anstrengend! Ihm graute davor, was passierte, wenn Morgan irgendwann hinzustieß und mit ihnen den Höllenlauf absolvierte. Grayson hatte in den letzten Tagen genug gelesen, um zu wissen, dass der Magus in den letzten Monaten äußerste Rücksicht auf Graysons junge Gabe genommen hatte. Aber im Höllenlauf würde er das nicht mehr tun können und dann würde Grayson sein antimagisches Feld zentimetergenau und blitzschnell kontrollieren müssen.
»Geht es wieder?« Shaja beugte sich zu ihm herunter, einen Arm ausgestreckt, damit er sich daran auf die Beine ziehen konnte. Es lag nur ein Hauch von Spott in ihrer Stimme, und ihre Augen strahlten zu Graysons Überraschung sogar einen Anflug von echter Anteilnahme aus. Er nickte und ergriff ihren Unterarm, um dann schwankend aufzustehen. Dass er dabei ohne nachzudenken sein Lacunusfeld eindämmte, um die Halbdämonin nicht mit antimagischen Entladungen zu überziehen, zeigte ihm, dass die Schinderei im Höllenlauf nicht umsonst gewesen war.
»Gar nicht mal übel«, erklang Macks Stimme aus den Lautsprechern, die überall in der Decke des Raums verbaut worden waren. »Ihr drei wart eine ganze Sekunde schneller als beim letzten Mal.« Grayson wollte gerade zufrieden grinsen, als der Zwerg weitersprach und dabei den großen Monitor an der Nordwand einschaltete, damit man sein feixendes Gesicht sehen konnte. »Damit seid ihr immer noch eine Minute über dem Standard. Solange ihr gegen gichtkranke Harpyien, Yetis ohne Beine oder einen blinden Basilisken kämpft, solltet ihr klarkommen.« Der übermäßig gepiercte Kopf des Zwerges neigte sich in einem spöttischen Tribut an Graysons Fähigkeiten, sodass man den ausrasierten Teil mitten auf seinem mit kurzen, roten Haaren übersäten Schädel erkennen konnte. Das Motiv war wie immer eine Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger.
Grayson erwiderte die Geste mit seiner echten Hand, was ihm einen sarkastischen Applaus des technikverliebten Zwerges einbrachte, der ihre Quadriga als sogenannter Schatten unterstützte und somit für Hintergrundrecherchen und die tausend kleinen Dinge verantwortlich war, die eine gute Infrastruktur und Ausrüstung des Teams ausmachten.
»Sehr schön, Quaestor. Wir machen noch einen Ehrenzwerg aus Ihnen«, sagte Mack hämisch.
»Was soll denn das sein?«, fragte Grayson misstrauisch.
»Jemand, der sich so schlecht benimmt, dass ihn nur noch Zwerge ertragen«, erklang eine förmlich klingende Stimme vom Eingang der Trainingshalle. Morgan kam mit einer hochgezogenen Augenbraue auf sie zu, wie immer im Maßanzug und mit seinem Gehstock in der Hand, der auch der Zauberfokus des Magus war. Grayson hätte ein Vermögen dafür ausgegeben, um den versnobten Magier nur einmal in einem Jogginganzug zu sehen und merkte sich diesen Gedanken für später. Er war sich sicher, die anderen würden ihm bei einem passenden Streich helfen. »Hatte ich nicht um magische Grundlagenstudien durch Sie drei gebeten?«, fragte er tadelnd, als er die schwitzende Gruppe erreichte.
Richard machte mit den Fingern das Zeichen des Custos, des Beschützers der Quadriga, um klar zu machen, dass er momentan die Autorität einer Entscheidung für sich beanspruchte. »Wir müssen auch trainieren. Wenn uns Hamburg eines gelehrt hat, dann, dass wir noch immer gnadenlos hinter unseren Anforderungen her hinken.«
»Genau«, warf Shaja ein. »Der arme Mr. Steel musste sich allein von einem Altvorderen zerquetschen lassen, weil wir anderen uns auf die Belltower flüchteten.« Es schwangen echte Selbstvorwürfe in ihrer Stimme mit, und Grayson rieb sich mit seinen Händen gedankenverloren über die Rippen. T’tchan war ein uraltes, mächtiges Wesen aus der Zeit vor der Entstehung der Menschheit gewesen. Verdammt, wenn die ältesten Legenden stimmten, hatten die Altvorderen die Menschen sogar erschaffen – und zwar als Sklaven, Nahrungsquelle und zur Unterhaltung. Mit den Fähigkeiten des Altvorderen konfrontiert, hatten alle außer Grayson das Weite suchen müssen, um nicht unter der Willenskraft des Wesens zusammenzubrechen. Es hatte Grayson all seine Sturheit gekostet, um T’tchan zu widerstehen, und das wollte schon etwas heißen, denn er war der störrischste Mensch, den er kannte. Aber das Gefühl des Versagens saß bei den anderen noch immer tief, auch wenn Shaja mit ihrem Bannbrecher, einem magischen Scharfschützengewehr, ihren Teil zur Niederlage des Altvorderen beigetragen hatte. Im Endeffekt war die Quadriga jedoch nur ein Spielball des Erzdrachen Eisenschuppe gewesen. Sie hatten sich als unwissentliches Bauernopfer entpuppt, das den Altvorderen nur aufspüren und ablenken, bestenfalls sogar schwächen sollte. Ob sie überlebten, war in Eisenschuppes Plan vollkommen unerheblich gewesen. Grayson hatte den anderen von diesem Aspekt ihres letzten großen Falls noch nichts erzählt, denn auch so kochte momentan jeder von ihnen in einem selbstgemachten Sud aus gefühlter Unzulänglichkeit und mangelndem Selbstvertrauen, das sie alle mit hartem Training und intensivem Studium abzuschütteln versuchten. Dass die Verschwörer innerhalb der Nebula Convicto, die ihnen überhaupt erst den Ärger der letzten zwei Jahre eingebrockt hatten, spurlos abgetaucht waren, half auch nicht dabei, dass sich die Anwesenden besser oder kompetenter fühlten.
Morgan und Richard funkelten sich an, und der Quaestor konnte die Spannungen und Risse innerhalb der Quadriga förmlich spüren, die nach und nach immer deutlicher zutage traten, seit sie aus Hamburg zurückgekehrt waren. Das Desaster mit dem wildgewordenen Golem letzte Woche war nur eine logische Konsequenz dieser Disharmonie gewesen. Sie hatten sich von der Nebelwacht aus der Patsche helfen lassen müssen, und eigentlich sollte es genau anders herum sein! Grayson war weder ein großer Menschenfreund noch das, was man auch nur im Entferntesten einen charismatischen Anführer nennen könnte, also stand er der Entwicklung, die sein Team gerade durchmachte, rat- und hilflos gegenüber und hoffte, dass sie alle Profi genug waren, um sich von selbst zu fangen.
»Richard hat Recht«, sagte er lahm in die angespannte Stille hinein.
Morgan nickte spröde und deutete vage auf den Trainingsraum. »Da es schon recht spät ist, schlage ich vor, dass wir uns zu einem späten Abendessen versammeln. Sagen wir um Mitternacht, damit jeder noch Zeit hat, sich frisch zu machen? Wir können es ja eine nächtliche Teambesprechung nennen.«
Die anderen nickten, selbst Mack, der nur per Bildschirm teilnehmen und ihnen mit einem Haufen Dosenbier und deutlich stärkeren Getränken zuprosten würde. Sie verließen gemeinsam die Halle und in dem leichten Plauderton, in dem sich Shaja und Richard unterhielten, hörte Grayson die ersten Anzeichen beginnender Vertrautheit. Vielleicht würde die Zeit ja sämtliche Wunden heilen, die Hamburg bei ihnen geschlagen hatte.
Eine Stunde später wurde Grayson von einem leisen Mauzen aus seiner grüblerischen Stimmung gerissen. Er stand jetzt schon eine geschlagene Viertelstunde unter der Dusche und versuchte, seine protestierenden Muskeln aufzuweichen, die der Höllenlauf genauso gefordert hatte wie seine besondere Gabe. Mit geschlossenen Augen hatte er die Wasserstrahlen ihre Wirkung tun lassen und dabei völlig die Zeit vergessen. Barlow mochte es gar nicht, wenn er wie jetzt durch eine feuchte Glasscheibe von Grayson getrennt war. Für den Quaestor war das ein zusätzlicher Grund, um unter der Dusche zu bleiben. Er blickte hinunter auf den weiß-braun gefleckten Kater und ging in die Hocke, um ihm durch die Glastür der Dusche düster zu mustern. Die grünen Augen des Tieres folgten seiner Bewegung und forderten ihn heraus, sich aus der nassen Kabine zu trauen.
»Kannst es nicht erwarten, mir die Krallen und Zähne in die Beine zu schlagen, was?«, sagte Grayson leise und ungehalten. Barlow mauzte wieder. Grayson erhob sich mit einem Seufzen. In einem Anflug debiler Sentimentalität hatte er das Tier nach ihrer Rückkehr aus Hamburg in seinem Zimmer wohnen lassen, wo der Streuner während Graysons Genesungszeit aufgetaucht war. Als niedliche, kleine Katze, die sich auf seinem Bauch zusammenrollte, hatte der kleine Teufel sich bei ihm eingeschlichen, aber mit Graysons Genesung hatte das Vieh eine ganze Palette unangenehmer Eigenheiten entwickelt. Fast alle von ihnen hatten mit Zähnen und Krallen zu tun, die sich in Körperteile oder zerbrechliche Materialien bohrten. Die Katze war nämlich ein Kater und beinahe ein genauso großer Drecksack wie Grayson. Der Quaestor empfand eine Art Hassliebe für das Tier und setzte es nur nicht an die Luft, weil das eine Revolte durch Shaja und Richard ausgelöst hätte. Denen gegenüber benahm sich Barlow nämlich äußerst zurückhaltend. Grayson schnaubte und stellte das Wasser ab. Er hatte sich auf seine Weise an dem Tier gerächt: Die anderen hatten jede Menge niedlicher Namen für den Racker gehabt, aber Grayson hatte ihn »Barlow« genannt – nach einem ehemaligen Kollegen bei Scotland Yard, der ebenfalls ein ekelhafter Quälgeist gewesen und den Grayson zwei Dienstjahre lang nicht losgeworden war. Der Ermittler wappnete sich, als er eine Hand an den Knauf der Duschkabinentür legte. Barlow ging in eine lauernde Stellung und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Hastig riss Grayson die Tür auf und packte ein flauschiges Badetuch, das an der Wand hing, um es blitzschnell über das kleine Wesen vor seinen Füßen zu werfen. Ein fauchendes Knurren ertönte unter dem Stoff, und mit einem triumphierenden Lachen sprang Grayson an dem Kater vorbei und in sein Zimmer, während er die Badezimmertür hinter sich zuwarf. Diebisch erfreut rieb er sich die Hände, bis er bemerkte, dass er nun pitschnass im Zimmer stand und alle Handtücher mit dem protestierenden Kater im Bad eingeschlossen waren.
»Ein schöner Quaestor bin ich«, brummte er kopfschüttelnd. Er wurde ja nicht einmal mit einem kleinen Kater fertig, obwohl er täglich mit Dämonen, magischen Wesen und sogar Politikern zu tun hatte. Mit einem kapitulierenden Seufzen stieß Grayson die Badezimmertür auf und nahm sich ein Handtuch aus dem Regal, während er versuchte, die spitzen Krallen und Zähne Barlows zu ignorieren, die sich verspielt in seinen rechten Unterschenkel gruben.
Die Eingangshalle von Worthington Manor lag ruhig und verschlafen da, als Grayson sie durchschritt, um sich zu den anderen zu gesellen. Er hörte sie bereits leise murmelnd in dem Kaminzimmer sitzen, das als ihr kleiner Besprechungsraum diente, wenn die Quadriga zwanglos zusammenkam. Die hohe Halle, die jeden Besucher, der das erste Mal hineinkam, an ein klassisches englisches Landschlösschen denken lassen musste, lag dunkel und verlassen da. Grayson schritt durch das spärliche Mondlicht, das durch die hohen Fenster ins Innere fiel. Das dunkle Zwielicht und die Einsamkeit in dem leeren Raum sagten ihm zu. Er hielt inne, um durch eines der Fenster in die Nacht hinauszustarren. Worthington Manor war von einem kleinen Wald umgeben. Nachdem Grayson sich in den letzten zwei Jahren an die umherhuschenden, wolfsartigen Schemen gewöhnt hatte, die sie dort draußen vor Gefahren beschützten, fand er den Anblick der Bäume beruhigend. Er würde nie ein Naturmensch werden, aber die Abgeschiedenheit von Morgans Domizil wusste er spätestens zu schätzen, seit er durch seine Arbeit als Quaestor mehr als genug Stress zu spüren bekam. Dann bemerkte er ein Paar silbern glühender Augen und erschauerte. Numquam, Morgans Raabe, saß auf einem tiefen Ast und starrte Grayson durch das Fenster unverwandt an. Das magische Wesen war immer da, wenn der Quaestor hinaussah – und zwar egal, aus welchem Fenster. Und immer waren die Augen des unheimlichen Vogels auf ihn gerichtet. Einmal hatte Grayson sich so hingestellt, dass er sowohl aus der Nord- als auch aus der Südseite des Hauses sehen konnte, aber wann immer er den Kopf gedreht hatte, war Numquam in seinem Blickfeld gewesen, still auf einem Ast hockend und ihn starr beobachtend. Morgan hatte Grayson versichert, dass dies normal wäre und Teil der magischen Überwachung, mit der der Rabengeist Worthington Manor vor unbemerkten Eindringlingen schützte. Aber Grayson waren die silbrig starrenden Augen des stummen Wesens unheimlich, und er hätte gerne auf ihren ständigen Anblick verzichtet. Er wollte sich gerade abwenden, als er einen Lichtblitz zwischen den Bäumen des Waldes wahrnahm. Verdutzt kniff er die Augen zusammen und stieß dann ein überraschtes Brummen aus, als er tatsächlich die Scheinwerfer eines Autos erkannte, die sich auf der kleinen Zufahrtsstraße dem Anwesen näherten. Ein Besucher zu so später Stunde konnte eigentlich nur Ärger bedeuten. Etwas musste vorgefallen sein, etwas so Wichtiges, dass es weder bis morgen früh warten noch die Neuigkeiten auf andere Weise als persönlich überbracht werden konnten.
»Wir bekommen Besuch«, rief Grayson den anderen über die Schulter zu und starrte dann weiter aus dem Fenster. Die schwarze Limousine, die gerade vorfuhr, wirkte alt und antiquiert, als wäre sie direkt aus einem Museum heraus hierhergefahren. Der matte Lack glänzte etwas zu perfekt im Mondschein und die Finsternis im Inneren des Wagens war so absolut, dass man den Fahrer nicht erkennen konnte. Grayson schnaubte abfällig. Er erkannte magische Taschenspielertricks mittlerweile, wenn er sie sah. Wer auch immer da vorfuhr, versuchte sich mit einigen Illusionen wichtig zu machen, und diese Art der Effekthascherei ging dem Quaestor gehörig gegen den Strich. Nun freute er sich noch weniger auf das bevorstehende Gespräch, wer auch immer sie da besuchen kam. Während sein Team sich mit neugierigen Mienen von den Stühlen erhob, öffnete sich die Tür der Limousine und eine Gestalt in einem langen, schwarzen Mantel stieg daraus hervor. Die Falten des Kleidungsstücks waren weit und wallend, wie um die Proportionen seines Trägers zu verbergen. An dessen Art zu gehen, schloss Grayson auf einen Mann, der da auf ihn zukam, aber sicher sein konnte er sich nicht. Der Kopf des Fremden war unter einem flachen, breitkrempigen schwarzen Hut verborgen, der jegliches Licht von den Gesichtszügen des Besuchers fernhielt.
Noch mehr Magie, ging es Grayson durch den Kopf. Ihr mitternächtlicher Gast war zumindest konsequent. Der Quaestor öffnete die Eingangstür, als der Besucher einmal dagegen klopfte, und trat dann einen Schritt zurück, um ihn mit einem Wink hineinzubitten. Numquam krächzte einmal. Grayson bemerkte, dass der Rabe den Fremden eingehend musterte. Die Gestalt glitt an ihm vorbei, und aus der Art, wie sie Abstand hielt, konnte er schließen, dass sie seinem Lacunusfeld nicht zu nahekommen wollte. Wer war diese Person?
»Lassen Sie unseren Besucher nicht im Dunkeln stehen«, sagte Morgan tadelnd, während der Quaestor die Haustür schloss. Der Magus schaltete das Licht ein und der üppige Kronleuchter über ihnen flutete die Eingangshalle mit seinem Licht. Der Fremde blieb regungslos stehen. Grayson trat um ihn herum zu den anderen, die sich neugierig in einem Halbkreis aufstellten. Richard und Shaja strahlten eine latente Wachsamkeit aus, und Grayson registrierte, dass dieser nächtliche Besuch nicht üblich genug war, als dass die beiden eine Gefahr ausschließen konnten.
Das Gesicht des Fremden lag noch immer in den Schatten der Nacht verborgen, die sich unter seinem Hut an ihre flüchtige Existenz zu klammern schienen. Grayson runzelte gereizt die Stirn. Noch hatte die Gestalt kein einziges Wort gesprochen und langsam ging ihm die gesamte Situation unter die Haut. Er warf Morgan einen fragenden Blick zu, der jedoch nur mit den Achseln zuckte.
»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Grayson pampiger als beabsichtigt, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Wenn der andere einen auf geheimnisvoll machen wollte, war der Ermittler dafür einfach zu müde und hungrig. »Und warum kann es nicht bis morgen warten?«
»Morgen bin ich bereits tot«, erwiderte die Gestalt gelassen. Trotz des unheilvollen Inhalts dieser Worte schauderte Grayson aus einem anderen Grund. Die Stimme des Fremden schien eher aus seinem Brustkorb, denn aus seinem Mund zu ertönen und hatte einen dünnen, hohlen Klang, als würde ihnen jemand etwas durch einen langen, schmalen Tunnel zurufen, anstatt vor ihnen zu stehen.
Richard, Shaja und Morgan waren jedenfalls sofort alarmiert. Der Magus hob seinen Gehstock, die Halbdämonin glitt in eine tiefe Angriffsstellung und Richard rief mit einem schnellen »Deus lo vult« seinen Ritterschild hervor, der sich geisterhaft glühend an seinem Unterarm manifestierte.
»Das ist ein Simulakrum«, stieß Morgan zischend hervor. »Seien Sie auf der Hut, Quaestor.«
Grayson trat entgegen seines ersten Reflexes auf die Gestalt zu, statt vor ihr zurückzuweichen, und dehnte sein Lacunusfeld aus, um den Fremden damit zu berühren. Sofort wichen die Schatten vom Gesicht ihres Besuchers. Grayson taumelte rückwärts und zog seinen schweren Revolver. Anfangs hatte er die Notwendigkeit noch verflucht, seine Waffe immer bei sich tragen zu müssen, damit seine antimagische Aura das Metall des Revolvers durchdrang und die Kugeln so antimagisch auflud aber in Momenten wie diesen tat es ganz gut, stets bewaffnet zu sein. Denn er starrte auf ein Wesen, das wortwörtlich kein Gesicht hatte. Er sah keine Nase, keine Augen, keinen Mund oder Ohren. Nur eine seltsam glatte und fahl wirkende Haut spannte sich über den Kopf der Gestalt, die schien, als hätte sie noch nie in ihrem Leben den Kuss der Sonne gespürt.
Das Ding hob abwehrend die Hände, anscheinend konnte es ihre Reaktionen trotz der fehlenden Sinnesorgane wahrnehmen. Graysons Gedanken rasten, als er sich an den Begriff Simulakrum zu erinnern versuchte. »Eine Projektion eines Magiers?«, warf er unsicher in den Raum.
Morgan schüttelte gereizt den Kopf. »Mehr als das. Ein fleischliches Abbild, angefüllt mit einem winzigen Teil seiner Seele. Es ist, als wäre sein Besitzer hier, ohne es wirklich zu sein.« Morgan bleckte die zusammengebissenen Zähne. »Keine Magie, die gern gesehen wird.«
Irgendetwas an dieser Aussage schien den Fremden zum Lachen zu bringen, ein fremdartig wirkendes Geräusch, das den Freudenlaut eher korrumpierte, so als wären die Dinge, die seinen Besitzer amüsierten, für normale Menschen alles andere als erheiternd. »Es erschien uns notwendig, um eine direkte Kommunikation mit Ihnen allen zu ermöglichen, ohne unsere Sicherheit aufzugeben«, sagte der Besucher nun. »Schließlich waren Ihre Bemühungen, uns zu finden, in den letzten zwei Jahren äußerst hartnäckig.«
Bei diesem Worten schoss der Schock wie Eiswasser durch Graysons Adern. Er trat einen Schritt vor, riss seinen Revolver hoch und presste ihn in das konturlose Gesicht des Wesens. »Sie gehören zu den Verschwörern«, knurrte er wütend.
»Das ist Ihr Name für uns«, sagte die Gestalt vollkommen unbeeindruckt. »Ich würde uns lieber eine Gruppe besorgter Bürger nennen.« Die Achseln des Fremden zuckten in die Höhe. »Und Sie können diese Hülle gerne erschießen, Quaestor. Wie schon gesagt, sie überlebt den Sonnenaufgang ohnehin nicht.«
»Das ist wahr, Mr. Steel«, sagte Richard, der den Besucher wachsam im Auge behielt. »Ein Simulakrum zerfällt beim ersten Sonnen- oder Mondlicht, je nachdem, ob es bei Tag oder Nacht erschaffen wurde. Sie halten also nur ein paar Stunden. Das Ding hier zu erschießen, würde dem Magier lediglich großes Unbehagen bereiten.«
Grayson nahm den Revolver herunter und starrte den Fremden missmutig an. »Also schön, Sie haben sich die Mühe gemacht, dieses Zerrbild von sich herzuschicken. Was wollen Sie?«
»Ich will Ihnen eine Warnung überbringen, Quaestor«, sagte die Gestalt. »Wir bitten Sie höflich, Ihre Ermittlungen gegen uns einzustellen. Was wir tun, muss nun einmal getan werden und Ihre Einmischungen werden … lästig. Sollten Sie weiter gegen uns vorgehen, sehen wir uns dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die über das notwendige Maß an Chaos und Leid hinausgehen, welches unser großes Werk zwangsläufig verursacht.«
Grayson ballte seine linke Faust, während der Revolver in seiner rechten zitterte. Er erkannte die Wortwahl eines Fanatikers, wenn er sie hörte. Hier sprach ein Mensch, der das Leben anderer für seine Überzeugungen opferte, solange nur er selbst nicht die Konsequenzen tragen musste.
»Und wenn wir Sie nicht davonkommen lassen wollen?«, fragte Grayson stichelnd.
»Dann werden Unschuldige unter Ihrem Starrsinn leiden«, sagte der fremde Magus.
»Das ist Schwachsinn«, knurrte Shaja. »Sie entscheiden sich dazu, die Leben von Unbeteiligten zu opfern, um uns aufzuhalten. Es liegt in Ihrer Verantwortung, nicht in unserer.«
»Sei es, wie es sei«, sagte die Gestalt glatt. »Werden Sie uns nun in Ruhe lassen oder sollen wir sehen, wie rein Ihr Gewissen am Ende der Geschehnisse ist, die Ihre Weigerung in Gang setzen wird?«
»Glauben Sie wirklich, wir würden Ihrer Drohung nachgeben?«, fragte Grayson ungläubig. »Haben Sie nicht Erkundigungen eingeholt, wen Sie hier zu erpressen versuchen? Ich habe schon Politikern, Drogenbaronen und Profikillern die Stirn geboten und jetzt glauben Sie, ein Mann ohne Gesicht in einem weiten Umhang schüchtert mich ein?« Grayson deutete mit der linken, unbewaffneten Hand auf die Tür. »Raus mit Ihnen. Ich bin hungrig und müde. Ihre melodramatische Geste hat mich nicht beeindruckt, also schaffen Sie diese lebende Puppe aus meinem Haus!«
Morgan hüstelte pikiert. »Ihrem Haus?«, fragte er leise.
Doch der Fremde nickte nur und drehte sich um. »Sie werden Ihre heutige Entscheidung noch bitter bereuen, Quaestor. Das Blut Vieler klebt nun an Ihren Händen.«
Grayson warf einen kurzen Seitenblick zu seiner Quadriga, um sich zu vergewissern, dass er ihren Rückhalt in dieser Sache genoss. Ihr Zusammenhalt war geschwächt genug, und er wollte nicht riskieren, dass er mit dem Rauswurf des Verschwörers einen Alleingang hinlegte. Doch er sah nur Wut und Entschlossenheit in den Mienen der anderen, und als das Wesen seine Hand auf die Klinke legte, regte sich die störrische Bockigkeit in Grayson, die ihn in seinem Leben schon ebenso oft gerettet wie behindert hatte.
»Ach was, zum Teufel«, knurrte er leise. Dann rief er lauter: »Ich habe noch etwas vergessen.«
Die Gestalt drehte sich zu ihm um, und auch wenn ihr leeres Gesicht keine Regungen zeigen konnte, erkannte Grayson an der Körpersprache, dass der Magus, dem dieses Ding gehörte, glaubte, Grayson wollte verhandeln.
»Ja, Mr. Steel?«, schnarrte die dumpfe Stimme aus der Brust des Simulakrums hervor.
Grayson hob seinen schweren Revolver und schoss dem künstlichen Boten mitten in den Kopf. Der Knall der Waffe hallte unnatürlich laut durch die hohe Halle Worthington Manors, und das Simulakrum fiel wie ein Ballon in sich zusammen, in den man ein Loch gepikst hatte. In diesem Fall ein äußerst großes und klaffendes Loch. Zu Graysons Überraschung schoss eine Art grüner Glibber aus dem Wesen hervor, der sich großzügig auf dem Boden und der Eingangstür verteilte, während ein Wimmern aus dem künstlichen Leib entwich, das sich anschließend in der Ferne verlor.
»Ein klassischer Grayson«, sagte Shaja trocken, während Morgan ungehalten mit seinem Stock auf den Boden stieß.
»Also wirklich, Mr. Steel, hätte Sie nicht wenigstens warten können, bis er das Haus verlassen hat?« Er deutete mit den Stock auf die Überreste des Simulakrums. »Jetzt haben wir ein Einschussloch in der Vordertür und der arme Parsley darf das alles aufwischen und wegräumen.« Der Magus zeigte auf die magisch belebte Ritterrüstung hinter ihnen, die ihn in seinem Heim als Diener unterstützte. Grayson mochte den wandelnden Blechhaufen irgendwie, vor allem, weil der nicht reden konnte. Er kratzte sich an der Wange und deutete dann auf die Sauerei auf dem Boden. »Hier bekommt er den Dreck doch viel schneller weg als draußen auf dem Schotter«, sagte er beiläufig. »Und da Sie sagten, dass der Magus, der dieses Ding erschaffen hat, sich unwohl fühlt, wenn man das Simulakrum zerstört, dachte ich mir, warum nicht? Er fühlt sich gerade hoffentlich schlecht, und mir geht es jetzt definitiv besser.«
Morgan schnaubte ungnädig. Richard hingegen hatte einen harten Ausdruck in seinen Augen. »Das Wimmern, das wir vorhin gehört haben?«, fragte er schließlich ernst in die Runde, um dann selbst nach einer kurzen Pause die Antwort zu geben. »Das war das Stück Seele, das der Magus in sein Simulakrum geben musste. Anscheinend konnte es nicht wie üblich zurück zu seinem Besitzer fliehen, sondern wurde von den Kräften unseres Quaestors hier zerfetzt.«
Grayson brummte nur zufrieden. »So wie der Kerl redete, scheint er seine Seele ohnehin nicht zu benutzen. Also wird er den Verlust wahrscheinlich kaum spüren.«
Bevor die anderen antworten konnten, klopfte es an der Tür. Grayson stöhnte auf und stampfte zu dem schweren Eichenholz. Mit der Linken riss er die Tür auf, während er mit der Rechten auf die Gestalt zielte, die an der Eingangsschwelle stand.
»Wie viele von euch muss ich erschießen, bis ihr ein Nein akzeptiert?«, blaffte er dabei.
»E… Eilzustellung … für … Morgan … Worthington?«, stammelte der Kurierfahrer, der Grayson ein großes Paket hinhielt und dabei kreidebleich in den großen Lauf des Revolvers blickte.
Ein alter Freund in einem neuen Gewand
Greater London, Worthington Manor, Mittwoch, 12. Juni, 00.21 Uhr
Mit quietschenden Reifen raste der knallrote Transporter davon, der in gelben Lettern Expresszustellungen und Kurierdienste rund um die Uhr anpries. Auch ein großzügiges Trinkgeld hatte den Boten nicht sonderlich beruhigt, und erst als Morgan die bereits stattliche Summe verdoppelt hatte, war der Mann davongeeilt, ohne die Polizei zu rufen.
Während Grayson das überraschend schwere Paket ins Haus schaffte, murmelte der Aristokrat etwas von schießwütigen Quaestoren vor sich hin, die nur mit ihrer Waffe dachten. Etwas verlegen drückte Grayson seine Last dem grinsenden Richard in die Hand, der sie mühelos in das Kaminzimmer verfrachtete.
»Das ist doch keine Bombe, oder?«, fragte Shaja misstrauisch. »Oder bin ich die Einzige, die das Timing verdächtig findet?«
»Numquam und die Schutzzauber des Hauses hätten gespürt, wenn von dem Inhalt Gefahr ausginge«, erwiderte Morgan gereizt. »Im Gegensatz zu manch anderen bin ich kein blutiger Amateur.« Der mörderische Seitenblick in Graysons Richtung sprach Bände. Gerade als dieser sich verteidigen wollte, kam Parsley mit einer quietschenden Schubkarre in die Halle, in der ein Wischeimer und ein Mob darauf warteten, mit dem gerinnenden Zeug fertigzuwerden, das aus dem Simulakrum hervorgeschossen war. Also schob Grayson nur seine Hände in die Hosentaschen und beschloss, einfach mal die Klappe zu halten, bis die Sterne wieder günstiger für ihn standen.
Richard legte das große Paket auf dem Tisch im Kaminzimmer ab, der reichlich mit den köstlichen Speisen gedeckt war, die Parsley so kunstfertig zubereiten konnte. Grayson sah auf dem Monitor, der an der Westseite des Raumes hing, wie Mack sich vorbeugte.
»Ich habe einen Schuss gehört, oder nicht …?«, fragte der Schatten ihrer Quadriga gerade neugierig, als seine Augen sich auf das Paket hefteten, das in seinem grauen Packpapier völlig nichtssagend aussah. »Oh, sie ist da, sie ist da, sie ist da«, krähte er aufgeregt. Halb erwartete Grayson, dass die bullige Gestalt mit den vielen Piercings wie ein kleiner Junge in die Hände klatschte.
»Du weißt, was das ist?«, fragte Shaja. »Hast du uns geschickt, was auch immer da drin sein mag?«
Mack nickte enthusiastisch. »Es sollte eine Überraschung sein. Der Kurierdienst ist offensichtlich wirklich fix. Morgan hat ihm hoffentlich ein gutes Trinkgeld gegeben.«
»Mehr als ausreichend«, sagte Shaja grinsend, während sie Morgans verbissene Miene und Graysons stilles Unbehagen offensichtlich genoss.
»Stehen Sie nicht nur so da«, forderte Mack alle mit einem wilden Handwedeln auf. »Packen Sie sie aus!«
»Wenn das eine lebensgroße Zwergendamenpuppe ist …«, drohte Shaja ihm, während sie ein Messer vom Tisch nahm und mit geschickten Handbewegungen Papier und Pappe gleichermaßen zerteilte.
»… dann hätte ich das Paket an mich geschickt«, sagte Mack grinsend. »Und jetzt hör auf, mir diesen Moment zu ruinieren.«
Shaja riss die Verpackung auseinander, und zum Vorschein kam ein schwarz schimmerndes Tuch, das aus einem Grayson vollkommen unbekannten Material war. Etwas war darin eingeschlagen. Als Shaja das weiche Material öffnete, riss Grayson die Augen auf. Er hatte mit vielem gerechnet, aber damit?
Ein vieleckiger, metallener Kasten kam zum Vorschein, in dessen Unterseite acht konzentrisch angebrachte Rotoren platziert waren. Die Oberfläche des Objekts war in einem matten Schwarz gehalten, das das Licht des Raumes nicht zu reflektieren schien. Die Front des Dings war von einer mattschwarzen Glasplatte überzogen, in der Grayson nach einigen Sekunden ein Display erkannte. »Ist das eine Drohne?«, fragte er skeptisch.
Mack schnaubte abfällig. »Natürlich ist das eine Drohne, Sie Schlaumeier«, sagte der Zwerg gequält und blickte dann Shaja an. »Warum mussten wir nur einen langsamen Quaestor abbekommen?«
Während die Halbdämonin kicherte, deutete Mack mit beiden ausgestreckten Armen in Richtung des fremdartig wirkenden Flugobjekts. »Das ist mein Baby«, sagte er schmachtend. »Sie war seit zwei Jahrzehnten in meinem Kopf, aber bisher haben weder die Technik noch die Mittel ausgereicht, um sie bauen zu lassen. Außerdem sind Drohnen erst seit kurzem kein ungewöhnlicher Anblick mehr in der Welt da oben, also habe ich nach unserer kleinen Rettungsaktion in Hamburg meinen neugewonnenen Ruhm dazu genutzt, ein paar Fördergelder umzuleiten, um damit diese Schönheit zu konstruieren.« Mack warf der Drohne einen verliebten Blick zu, der in Grayson den Eindruck wachrief, der Zwerg müsse dringend seine Prioritäten im Leben überdenken, wenn er je eine echte Zwergendame in seiner Höhle begrüßen wollte.
»Und warum haben Sie uns dieses Spielzeug geschickt?«, fragte er mit einem sehnsüchtigen Blick auf das Essen auf dem Tisch, das langsam kalt wurde.
»Spielzeug?«, echote Mack, und seine Augen quollen ihm schier aus dem Kopf, während er Grayson wutentbrannt beide Mittelfinger zeigte. »Sie ist doch kein Spielzeug. Das ist eine hochentwickelte Drohne, vollgestopft mit den modernsten Zwergentechnologien, die es momentan überhaupt gibt. Solange wir über sie kommunizieren, sind wir absolut abhörsicher. Sie hat einen arkanen Reaktor, Wärmebild, Nachtsicht, einen Erschütterungssensor, Gesichtserkennung, ein Spektralanalysefach mit eingebauter Anbindung an die Datenbank des Verhangenen Rates …«
Grayson hob abwehrend die Hände, bevor der Zwerg sich noch weiter in Rage redete. »Ist ja gut, ist ja gut«, murmelte er halbherzig. »Sie wird bestimmt äußerst nützlich sein.«
Mack starrte Grayson weiter feindselig an, und der Quaestor musste sich eingestehen, dass er Mack eine Erklärung für seinen mangelnden Enthusiasmus schuldete. »Ich bin müde und hungrig«, beschwichtigte er den erbosten Zwerg. »Außerdem hat uns gerade einer der Verschwörer besucht und uns gedroht. Oder besser das Simulakrum eines der Drahtzieher.«
Mack belauerte Grayson noch einige Sekunden, aber dann gewann die Neugier Oberhand im Gesicht des Schattens. »Und würde mir jemand vielleicht erklären, wie das ausgegangen ist?«, maulte er schließlich.
»Du hast doch den Schuss gehört«, sagte Shaja grinsend, die sich bereits den Teller gefüllt hatte und gerade mit vollem Mund feixte. Sie deutete vielsagend mit ihrer Gabel auf den Quaestor.
»Ah«, sagte Mack verstehend. »Der Boss hat also einen Grayson gemacht.«
Der Ermittler stöhnte. Diese Nacht versprach, von Minute zu Minute schlechter zu werden. »Morgan sagte, die Zerstörung des Simulakrums wäre schlecht für den Magier, der es erschaffen hat«, verteidigte er sich. »Außerdem hat mich seine selbstgerechte Art gereizt.«
»Wenn mein Bericht an den Verhangenen Rat raus ist, werden Sie den Namen für Ihre speziellen Methoden nie wieder los sein«, sagte Morgan noch immer pikiert. »Gut gemacht, Mr. Steel.«
Der Quaestor stöhnte auf. ›Die Grayson-Methode‹ oder ›den Grayson machen‹ – das waren geflügelte Worte, seit er als frischgebackener Quaestor einen verdächtigen Dämon mit mehreren Kopfschüssen befragt hatte, von denen er wusste, dass das Wesen sie aufgrund seiner magischen Macht überstehen würde. Diese zugegebenermaßen ruppige Art der Befragung hatte ihm einen furchterregenden Ruf unter den zwielichtigen Elementen der Nebula Convicto eingebracht und der würde nun nach dem gewaltsamen Ende des Simulakrums sicher nicht geringer werden. »Könnten Sie den Bericht nicht etwas vager gestalten?«, fragte er Morgan hoffnungsvoll, aber der Magus schüttelte den Kopf.
»Keine Chance, Sportsfreund«, schmetterte er Graysons Bitte ab. »Ich werde den Verhangenen Rat nicht belügen, um Ihre Defizite im sachgemäßen Gebrauch einer Waffe zu decken.«
Grayson zuckte mit den Achseln und setzte sich an den Tisch, um sich endlich etwas zu essen zu nehmen. »Wenn der Ruf erst hin ist, kann ich sowieso viel freier ermitteln. Das war schon bei Scotland Yard so.«
Shaja kicherte, als Morgan besorgt das Gesicht verzog. »Scheint, als würde da in Zukunft noch einiges an Papierkram auf Sie zukommen, Morgan«, stichelte sie. »Unser Quaestor wird sich wohl so schnell nicht ändern.«
Der Magus blickte Shaja ob ihres Kommentars böse an. Eine ungemütliche Spannung baute sich in dem kleinen Zimmer auf, bis Mack sich schließlich zu Wort meldete.
»Verdammt noch mal«, schimpfte er laut aus dem Monitor heraus. »Würde jetzt bitte endlich jemand die Drohne einschalten?«
Grayson versuchte, den schwarzen Schatten zu ignorieren, der den Tisch umkreiste, an dem sie gerade aßen, aber das glückselige Seufzen, das von der Drohne ausging, war nicht zu überhören. Gereizt starrte er zu dem Ding hinüber, das flüsterleise durch den Raum glitt und sie alle seit mehreren Minuten aus verschiedenen Winkeln unter die Lupe nahm. Das Gesicht Macks war auf dem Frontdisplay der Drohne zu sehen, sodass der Zwerg nun jeden direkt »ansehen« konnte, indem er seine Drohne entsprechend steuerte. Grayson war klar, dass die Hälfte des Enthusiasmus des Schattens von der Tatsache herrührte, dass er nun auf indirekte Art und Weise physisch präsent war. Egal wie ruppig, beleidigend und autark Mack auch wirken mochte, er arbeitete seit Monaten aus der Distanz seiner tief unter der Erde liegenden Höhle mit ihnen zusammen, und seine Möglichkeiten zur Interaktion waren somit deutlich eingeschränkt gewesen. Mehr als einmal hatten Grayson oder Shaja den Zwerg einfach ausgeschlossen, indem sie den Monitor abgeschaltet hatten, wenn er zu nervig wurde. Das würde nun nicht mehr so einfach funktionieren. Grayson seufzte. Ob die Drohne ihr Leben wirklich verbesserte, würde sich wohl erst noch zeigen. Gerade schwirrte das Ding direkt vor seinen Augen und der Quaestor zuckte zurück und wedelte mit der Hand, als würde er eine Mücke verscheuchen. »Muss das wirklich sein?«, fragte er gereizt.
Mack war auf dem Display überdeutlich zu erkennen, wie er aufgeregt in seinem Stuhl vor dem Monitor hockte. »Die Drohne muss dreidimensionale Aufnahmen von jedem von Ihnen machen, um Sie in Gefechtssituationen zweifelsfrei erkennen zu können«, sagte der Zwerg mit glänzenden Augen. »Wir wollen doch nicht, dass sie Sie versehentlich anschießt.«
Grayson fiel vor Schreck die Gabel aus der Hand und er rückte seinen Stuhl weg von der Drohne, die ihm jedoch einfach folgte. »Soll das heißen, das Ding ist bewaffnet?«
Mack nickte und auf der Unterseite des Drohnenkörpers fuhr ein schlankes, kurzes Rohr heraus, das direkt auf Grayson deutete. »Sie hat eine Druckluftkammer eingebaut, mit der sie Betäubungspfeile verschießen kann. Für den Fall, dass wir mal einen Verdächtigen in Gewahrsam nehmen wollen, anstatt ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.«
»Es reicht«, schnappte Grayson und schob die Drohne mit Kraft aus seinem Gesicht.
Morgan hingegen wirkte ehrlich erfreut. »Es ist eine gute Idee, eine nicht tödliche Alternative dabeizuhaben. Ich kann zwar Schlafzauber wirken, aber ein klassisches Betäubungsmittel wirkt selbst bei magischen Wesen manchmal Wunder.«
»Wie viel Schuss?«, fragte Richard in professionellem Ton.
»Vier Pfeile«, erwiderte Mack zerknirscht. »Mehr passte nicht ins Chassis. Da sind einfach zu viele andere wichtige Komponenten, die Platz benötigen.«
Richard nickte nachdenklich, während Shaja das Gesicht verzog. »Hättest du nicht etwas Spannenderes wie einen Laser oder so was einbauen können?«, fragte sie mit einem gespielten Gähnen.
»Weißt du, wie viel Energie so was verschlingt? Morgan müsste mich nach jedem Schuss neu aufladen«, empörte sich Mack.
Während Grayson registrierte, dass der Zwerg sich bereits mit seiner Drohne identifizierte, regte Morgan alarmiert den Kopf. »Was hat das Aufladen dieses Metallmonsters mit mir zu tun?«, fragte er misstrauisch.
»Sie hat einen arkanen Reaktor, schon vergessen?«, sagte Mack mit einem unschuldigen Ausdruck auf dem Gesicht. »Das heißt, Sie können mich mit Magie aufladen. Am besten mit magischen Entladungen, die kann ich besonders gut umwandeln.«
Morgan schnappte empört nach Luft. »Ich bin ein jahrhundertealter Magus und Mitglied des Vergangenen Rates und nun soll ich die Ladestation für eine Drohne spielen?«
Mack kicherte. »Zugegeben, ich hätte mir ein jüngeres Modell gewünscht, aber da Sie der einzige Magier in der Quadriga sind, nehme ich auch mit dieser arg gebrauchten Version vorlieb.«
Während der Magus wutschnaubend in seinem Essen herumstocherte, wohl fest entschlossen, die Drohne und den dreisten Zwerg auf ihrem Display zu ignorieren, beschloss Grayson, dass es an der Zeit war, sich wieder ernsteren Dingen zu widmen. »Glauben Sie, die Drohung des Simulakrums war echt?«, fragte er unvermittelt in die Runde, und seine Worte schienen wie eine Eisdusche auf die Anwesenden zu wirken. Mack ließ seine Drohne über einen leeren Stuhl schweben, um sie von dort aus anzublicken.
»Ich bin mir sicher, dass es eine Gegenreaktion geben wird, Mr. Steel«, sagte Morgan mit einem betretenen Gesichtsausdruck. »Sie haben diesem Magus ein Stück seiner Seele geraubt. Selbst wenn er vorher nicht gegen uns vorgehen wollte, jetzt wird er es bestimmt tun.«
Grayson nickte. »Gut. Ich habe es zu etwas Persönlichem gemacht. Das ist meist der Moment, wo das Gegenüber einen Fehler begeht.«
»Wie überaus berechnend, Quaestor«, sagte Shaja bewundernd. »Sie haben ja doch etwas gelernt.«
Grayson ignorierte das Lob der Halbdämonin und furchte sorgenvoll die Stirn. »Aber wohl ist mir bei dieser Taktik nicht. Indem ich ihn willentlich provoziert habe, bin ich tatsächlich für die Folgen mitverantwortlich.«
Richard langte über den Tisch und klopfte ihm auf den Unterarm. »Was auch immer die Verschwörer für uns in petto haben, wir werden schon damit fertig.«
Grayson kniff die Lippen zusammen und starrte aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Numquam beobachtete ihn wie immer stumm und starr von einem tiefhängenden Ast, und die silbernen Augen des Tiergeistes schienen ihn anzuklagen. Sicher, ihre Quadriga wusste sich zu wehren. Aber was war mit all den Menschen und Wesen da draußen, die sich dem Racheplan der Verschwörer hilflos ausgeliefert sehen würden?
Der nächste Morgen war geprägt von einer unruhigen Anspannung, die jeden Anwohner des Hauses erfasst hatte. Macks Drohne schwirrte durch das Anwesen und schien überall und nirgends zu sein, während der Zwerg weiter damit beschäftigt war, die Systeme des technischen Wunderwerks zu kalibrieren. Morgan, Shaja und Richard telefonierten herum, in der Hoffnung, herauszubekommen, ob die Pläne der Verschwörer bereits in Gang gesetzt worden waren, und selbst Grayson nutzte seine wenigen Kontakte, die er mittlerweile in der Nebula Convicto besaß. Aber auch nach zwei kurzen Gesprächen mit Ludwig Straage und Marluuf Decksten war er kein bisschen schlauer. Weder der gut vernetzte Antiquitätenhändler noch der Präfektor der Stadt Hamburg hatten von besonderen Vorkommnissen gehört, die auf eine drohende Krise hindeuten mochten. Also beschäftigte sich Grayson erneut mit dem Whiteboard in seinem Zimmer, auf dem er alle Informationen zusammengetragen hatte, die sie bisher über die Verschwörer besaßen – und das waren verdammt wenige. Ein Dutzend Namen falscher Identitäten, die alle zu einem Satyr namens Stuart Willowby führten, der diese Tarnnamen für seine Mitverschwörer angelegt hatte, damit sie aus dem Inneren des Verhangenen Rates hinaus hatten agieren können. Im Zuge ihrer Rettung der Stadt Hamburg und der umliegenden Regionen hatte die Quadriga mit Macks Hilfe diese falschen Personae aufgedeckt, jedoch leider einige Stunden zu spät. Willowby hatte sich da bereits umgebracht, alle Schuld auf sich genommen und weiterführende Beweise vernichtet und somit ihre Ermittlungen in eine Sackgasse geführt. Seine Mitverschwörer waren abgetaucht und nicht mehr auffindbar, weder auf magische noch auf mundane Weise. Es schien, als hätten sie sich mitsamt ihrer Identitäten in Luft aufgelöst und nach dem Ereignis der letzten Nacht war Grayson geneigt, auch genau dies anzunehmen. Wer sagte ihm, dass die Hintermänner dieser Konspiration nicht Simulakren oder ähnliche Dinge verwendet hatten, um gar nicht persönlich in Erscheinung zu treten, wann immer es nötig war? Ihre Ermittlungen hatten ergeben, dass die Tarnidentitäten alles Erdenkliche getan hatten, um den Kontakt zu den eigentlichen Ratsmitgliedern zu minimieren und so nicht aufzufliegen. Der einzige Trost, den Grayson bei dem Blick auf das Whiteboard verspürte, war, dass sie sich sicher waren, dass der Verhangene Rat nun gründlich gereinigt worden war. Jeder Hinterbänkler, jeder Assistent und jede Ordonanz war auf Herz und Nieren überprüft worden und sogar die Lady vom See selbst hatte mittels ihrer Magie Vorkehrungen getroffen, sodass sich kein Hochstapler mehr in das innerste Regierungsorgan der Nebula Convicto vorarbeiten konnte. Was jedoch nicht bedeutete, dass nicht noch jede Menge Sympathisanten, Mitläufer oder Schläferagenten in den regionalen Strukturen verborgen sein könnten, die sich über den gesamten Globus erstreckten. Wie viele Mitglieder der Nebelwacht waren Teil des schattenhaften Netzwerks, das aus einem noch unbekannten Grund die magische Welt kollabieren lassen wollte? Wie viele Fallen mochten noch auf Grayson und sein Team lauern? Er rieb sich frustriert über die Augen. Wenigstens hatten sie Rückendeckung von oben. Wann immer sie nicht für einen dringenden Fall gebraucht wurden, waren Grayson und sein Team vom Rat dazu bevollmächtigt, jede noch so kleine Spur zu den Verschwörern mit allen verfügbaren Mitteln zu verfolgen. Auch wenn der Quaestor es nie vor jemand anderem zugeben würde, er war froh über die Drohung des Simulakrums in der letzten Nacht. Endlich passierte etwas, auf das er reagieren konnte! Er konnte nur hoffen, dass der Preis dafür nicht zu hoch sein würde …
Macks Drohne sirrte heran und riss Grayson aus seinen Grübeleien. Das Ding war wirklich flüsterleise und nur zu hören, wenn es so still war wie jetzt. »Morgan will uns alle sehen«, sagte Mack, der eine seltsame Art Fliegerbrille trug. »Anscheinend will er sämtliche Neuigkeiten abgleichen, die alle zusammengetragen haben.«
Grayson nickte nachdenklich. »Ich hatte kein Glück. Was ist mit Ihnen?«
Die Drohne schwenkte ihren Körper passend zu Macks Kopfschütteln von links nach rechts. »Keine Hinweise auf irgendwas Großes. Entweder wir übersehen etwas oder unsere geheimniskrämerischen Freunde brauchen ein bisschen, um die nächste Party vorzubereiten.«
»Wir sollten hinuntergehen«, sagte Grayson mürrisch. Er hatte sich gewünscht, dass etwas passierte. Nun erinnerte er sich mulmig an das Sprichwort, dass man stets hinterfragen sollte, was man sich ersehnte.
Die anderen hatten ebenso wenig in Erfahrung bringen können wie er. Die Nebula Convicto schien wie eine gut geölte Maschine zu funktionieren und auch ihr halbwegs weltlicher Ableger, die Nebula Corporation, meldete keine Probleme. Der Nachmittag wich in nervöser Anspannung dem Abend, und noch immer gab es keine ungewöhnlichen Nachrichten. So ging es weiter, Tag um Tag, Woche um Woche, während Grayson und sein Team in Worthington Manor hockten und auf den erwarteten Gegenschlag der Verschwörer warteten. Der Quaestor kam sich vor wie ein nervöses Kaninchen, das nach dem Habicht Ausschau hält, und diese Passivität machte ihn noch unleidiger als sonst. All ihre Ermittlungsansätze hatten sich als fruchtlos erwiesen, und dass er nun auf den Zug seiner Gegner warten musste, erschien ihm wie ein persönliches Versagen. Die anderen empfanden wohl ähnlich, denn Grayson spürte, wie die Entfremdung innerhalb der Quadriga nach und nach weiter zunahm, als jeder auf seine Weise mit der Ungewissheit und Warterei umging, an deren Ende eine Katastrophe warten mochte.
Eine Falle der besonderen Art
Greater London, Worthington Manor, Sonntag, 25. August, 11.37 Uhr
»Die Lady will uns sehen.«
Grayson schreckte bei diesen Worten aus dem Abschlussbericht hoch, den er gerade verfasste. Sie hatten letzte Woche einen gewalttätigen Yeti in den Himalaya zurückverfrachtet, wo seine Artgenossen ihm dabei helfen würden, wieder zu seinem üblichen, friedfertigen Selbst zurückzufinden, für das diese magischen Wesen in der Nebula Convicto berühmt waren. Grayson war sehr erstaunt gewesen zu erfahren, dass die größten Dichter der magischen Gemeinschaft aus jener Rasse weißbepelzter Riesen stammten, die der Volksmund so gerne »Schneemenschen« nannte. Der Quaestor war nicht gerade zimperlich im Einsatz seines Lacunusfeldes gewesen, um den randalierenden Gefangenen ruhig zu stellen und hatte dabei auch die übrige Quadriga mit seinen antimagischen Kräften überschüttet. Ein Problem hatte zum anderen geführt und am Ende waren sie gezwungen gewesen, den flüchtigen Yeti in Nordchina einzufangen, nachdem der den geschwächten Richard niedergeschlagen und Shaja überwältigt hatte, weil ihre Magie unter Graysons Einfluss versagte. Das einzig Gute an dem Auftrag war die Tatsache gewesen, dass sie der Hitze entkommen waren, die vor Wochen vom Festland Europas aus über den Ärmelkanal gegriffen hatte und nun England in ihrem Würgegriff hielt. Jeden Tag waren Runden im Höllenlauf angesetzt, bei denen Morgan mit von der Partie war, um irgendwie ihre Teamfähigkeit wiederherzustellen, aber Grayson stellte sich nicht gerade gut an. Er wollte zu viele Hindernisse im Alleingang überwinden und außerdem war er noch immer zu langsam, wenn es um die Kontrolle seines Lacunusfeldes ging. Außerdem spürten die anderen, dass er etwas vor ihnen geheim hielt, und das vergrößerte die Distanz im Team noch weiter. Mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob es nicht besser wäre, die anderen in die Offenbarung rund um Hamburg einzuweihen, aber das Wissen um den Verrat des Drachen könnte alles nur noch schlimmer machen. Oder auch nicht. Seufzend hatte er erkannt, dass er selbst wohl der alleinige Grund für das Auseinanderdriften der Quadriga war. Bei der nächsten Gelegenheit würde er reinen Tisch machen. Ganz sicher.
»Mr. Steel, haben Sie mich gehört?«, drängte ihn Shaja. »Morgan sagt, er bekam einen Anruf von der Lady vom See. Sie will uns alle sehen.«
Der Quaestor nickte. »Ich komme«, sagte er verhalten und deutete auf den Papierstapel vor sich. »Eigentlich war einer meiner Hauptgründe, von Scotland Yard wegzukommen, dass ich keinen Papierkram mehr um die Ohren haben wollte. Diese Formulare hat der Teufel entworfen.«
Shaja lachte laut. »Nicht DER Teufel, Mr. Steel. Aber EIN Teufel. Sie würden sich wundern, was für hervorragende Bürokraten die Kerle abgeben. Sie finden jedes Schlupfloch in einem System und stopfen es. Wissen Sie auch, wie?«
»Mit noch einem Formular?«, fragte Grayson sarkastisch, aber Shaja nickte nur.
»Ganz genau, mein lieber Quaestor. Und jetzt auf. Morgan ist ungehalten genug, und wenn Sie wollen, dass er Ihnen das Berichteschreiben schnellstmöglich wieder abnimmt, sollten Sie ihn besser bei Laune halten.«
Der Ermittler erhob sich und schritt neben Shaja her in Richtung Eingangshalle. »Wissen wir etwas Genaueres, warum die Lady uns sehen will?« Wäre es der lang erwartete Notfall, wäre Shaja sicherlich sofort damit herausgerückt.
Die Halbdämonin schüttelte den Kopf. »Nur dass die Ratsherrin besorgt ist.«
Grayson strich sich mit einer Hand über den Nacken, als sich dort seine Haare aufstellten. Wenn das Oberhaupt der Nebula Convicto besorgt war, bedeutete das sicher nichts Gutes. Sie gingen durch die Halle und vor die Eingangstür, wo Morgan und Richard bereits im SUV der Quadriga auf die beiden warteten. Die Sonne traf ihn wie ein Hammerschlag, als er aus dem kühlen Anwesen in die Gluthitze des Tages trat. Mit einem Stöhnen nahm Grayson zur Kenntnis, dass Macks Drohne über dem Rücksitz schwebte. Anscheinend wollte der Zwerg sie wirklich überall hinbegleiten. Richard machte eine ungeduldige Handbewegung und Grayson drängte sich auf die Rückbank, wobei er Macks Drohne einfach mit der Hand beiseiteschob.
»Hey«, protestierte der Zwerg, als das Chassis gegen die Seitenscheibe stieß. »Nicht schubsen!«
»Das reicht«, sagte Shaja und schnappte sich die Drohne kurzentschlossen aus der Luft. Den wütenden Zwerg ignorierend, ging sie zum Kofferraum des Wagens, öffnete die Klappe des Stauraums und warf die Drohne scheppernd hinein. Bevor Mack sein Spielzeug wieder hinaufsteuern konnte, warf sie den Kofferraumdeckel zu und stieg zu den anderen in den Wagen.
»Danke«, sagte Richard aufrichtig erleichtert. »Dieses Ding ist wirklich überall.«
»Er will halt dazugehören«, sagte Morgan beschwichtigend. »Und wie immer übertreibt er.«
Das Display auf Richards Handy ging an, das er in die Halterung der Mittelkonsole gesteckt hatte, und ein verkniffen dreinblickender Mack funkelte sie alle von dort böse an.
»Das war grob und unhöflich«, beschwerte er sich.
»Also ganz nach Zwergenart«, konterte Shaja trocken. Das Volk, das seit Jahrtausenden tief im Erdmantel lebte, zeichnete sich durch eine besondere kulturelle Eigenheit aus: Je mehr sie jemanden mochten, umso ruppiger sprangen sie mit demjenigen um.
»Lüg nicht, Shaja«, tadelte der Zwerg die junge Frau nun. »Ich weiß, so lieb hast du mich nicht.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte sie mit einem Augenzwinkern. »Aber dein Mini-Mack kommt mir nicht auf die Rückbank.«
»Was für ein schöner Name«, sagte Richard grinsend, und Mack hob erschrocken die Hände.
»Wagt es nicht, dieses Wunderwerk zwergischer Technik mit einem so abscheulichen Spitznamen zu belegen!«, rief er wild.
»Ich finde Mini-Mack ganz passend«, warf Grayson gereizt ein.
»Ihr hängt doch an euren Konten, oder?«, drohte Mack aufgebracht. »Ihr wisst schon, dass ich sie mit ein paar Tastendrücken leerräumen kann?«
Richard unterbrach die Telefonverbindung mit einem Grinsen und alle im Wagen lachten, auch wenn Grayson die Spannung spüren konnte, die anschließend noch immer in der Luft lag. Die üblichen Geplänkel zwischen ihnen schienen nicht mehr ihren heilsamen Effekt zu haben. Grayson betete, dass die Lady einen anständigen Fall für sie hatte. Sie benötigten dringend ein echtes Erfolgserlebnis als Team. Grayson starrte besorgt aus dem Fenster, während sie nach London fuhren. Der Verkehr war mal wieder mörderisch und nur dank der unbewussten Manipulation der anderen Fahrer durch Morgans Magie kamen sie einigermaßen gut voran. Der Westminster-Palast tauchte nach einer Stunde Fahrt in Graysons Blickfeld auf und schien im Licht der grellen Mittagssonne geradezu zu strahlen. Das altehrwürdige Gebäude wirkte auf Grayson wie die helle Seite einer viel dunkleren Wahrheit, denn unter diesen Mauern tagte der Verhangene Rat, verborgen vor den Blicken der Welt, und bestimmte die Geschicke der Nebula Convicto. Hier kämpften die drei vorherrschenden Parteien um die politische Ausrichtung der magischen Gemeinschaft und somit um die Beziehung all der Wesen aus Sagen und Legenden zu den nichtsahnenden Menschen. Die Freien waren für ein Minimum an Kontrolle der Magie, die Erben glaubten an Traditionen und das Recht der Vorherrschaft über alle Nicht-Magischen und das Equilibrium mühte sich mit seinem Hang zur Harmonie um jenes Gleichgewicht, das schon im Namen der Gruppierung verankert war. Die Lady vom See gehörte zur letzteren politischen Strömung und herrschte seit Jahrhunderten mit fester Hand über den Rat.
Ihr Fahrzeug rollte bis vor den unscheinbaren Seiteneingang des Westminster-Palastes, und zwei bewaffnete Sicherheitskräfte legten auf sie an, bis Morgan sie tadelnd anblickte und die beiden hastig ihre Waffe senkten.
»Ganz schön nervös, die zwei«, murmelte Richard.
»Es sind unruhige Zeiten hier oben«, sagte Shaja leichthin. »Die Nachtstreifer sind sicher deutlich entspannter.«
Sie passierten die Wachen und betraten den Palast. Zwischen zwei magischen Wasserspeiern hindurch, die sie argwöhnisch beäugten, gingen sie eine breite Wendeltreppe hinab, wobei Grayson sich mühte, seine Aura möglichst dicht am Körper zu behalten. Mächtige Bannzauber hinderten Nichteingeweihte am Abstieg der Treppe und da Graysons Fähigkeiten angewachsen waren, wollte er nicht riskieren, diese Abwehrmagie unachtsamerweise zu zerstören. Er hielt sich in der Mitte der Treppe und fing einen zufriedenen Blick Morgans auf, der seine Bemühungen mit einem Nicken quittierte. Selbstzufrieden ging Grayson weiter. Vielleicht musste er seine Berichte bald nicht mehr selbst schreiben, wenn Morgans Stimmung sich langsam besserte. Am Fuß der Treppe angekommen, bewahrheiteten sich Shajas Worte beim Anblick der wachsam, aber entspannt dastehenden Nachtstreifer, die sie aus ruhigen Augen musterten. Die muskulösen, menschenähnlichen Körper mit dem dichten, blauen Fell und den wolfsähnlichen Köpfen nickten ihnen sogar freundlich zu und deuteten vor Grayson eine kleine Verbeugung an. Überrascht erwiderte der Quaestor die Geste, während er an ihnen vorbeischritt.
»Also das war neu«, sagte er leise, während sie die Gänge betraten, hinter deren Türen die Ratsmitglieder und ihre Angestellten arbeiteten und mitunter sogar wohnten.
»Es gibt zwei Nachtstreiferrudel in Hamburg und Umgebung«, sagte Richard leise. »Dass wir diese gerettet haben, hat sich herumgesprochen. Sämtliche Rudel weltweit haben unsere Quadriga per Eid unter ihren Schutz gestellt.«
Grayson nickte nur beeindruckt, aber Morgan riss ungläubig die Augen auf. »Und das sagt du mir erst jetzt?«, fragte er fassungslos. »Weißt du eigentlich, wie selten so etwas ist?«
Richard nickte. »Deswegen wollte ich auch auf einen besonderen Moment warten, um davon zu erzählen. Aber der ergab sich irgendwie nie.«
Grayson wusste, was der Custos der Gruppe meinte. Die Quadriga durchlebte momentan keine besonderen Momente, es sei denn, besonders miese zählten dazu.
Shaja blickte nachdenklich über die Schulter zu einem der Wolfswesen und lächelte. »Ich bin bisher immer bei Nachtstreifern abgeblitzt«, sagte sie mit einem hungrigen Unterton. »Vielleicht ändert sich das ja jetzt.«
»Wirklich, Shaja?«, empörte sich Morgan. »Wir erhalten eine beispiellose Ehrung und Sie denken nur daran, die Sammlung Ihrer Eroberungen zu erweitern?«
Die Halbdämonin zog ein finsteres Gesicht. »Sie vergessen, dass ich mit der Wahl meiner Bettgefährten vorsichtig sein muss. Die meisten sind so … zerbrechlich. Ich wette, ein Nachtstreifer übersteht meine Magie ohne Probleme.«
Grayson rollte genervt mit den Augen. Das dämonische Erbe Shajas verdammte jeden Intimpartner der jungen Frau zu einem tödlichen Glücksspiel um sein Leben, denn ihre Mutter war ein Sukkubus, jene magischen Wesen, die sich von der Lebenskraft ihrer Bettgefährten ernährten. Shajas Kräfte waren in dieser Hinsicht nicht anderer Natur und so war sie in vielen Dingen eine Gefangene ihrer Herkunft.
»Ich dachte, Sie wollten Richards Freundin nacheifern?«, fragte er sie aggressiver als beabsichtigt. Die Walküre Anne Evadóttir hatte Shaja Ratschläge gegeben, wie sie ihren magischen Einfluss weg von der reinen Begierde und hin zu einer Aura der Ehrfurcht und Hingabe lenken konnte, wie sie die Kapitänin der Palladium ausstrahlte, wenn sie ihre Gabe heraufbeschwor.
»Selbstverständlich will ich das noch immer. Deswegen nutze ich diesen Teil meiner Kräfte seit einer Weile nicht mehr – zumindest bis Anne mir mehr beigebracht hat«, sagte Shaja mit einem schelmischen Lächeln. »Aber das bedeutet nicht, dass ein Mädchen keine Begierden hat, oder?«
Morgan hüstelte und deutete auf die Tür, vor der sie stehengeblieben waren und die ebenso schmucklos aussah, wie all die anderen, an denen sie bisher vorbeigekommen waren. Nur das Zeichen an den Wänden, eine Waage, die im radähnlichen Symbol des Verhangenen Rates prangte, deutete darauf hin, dass sie sich momentan in den Gängen des Equilibriums befanden. »Wir stehen vor der Kammer der Lady vom See. Vielleicht sollten Sie beide jetzt damit aufhören, wie störrische Teenager um flüchtige Liebschaften zu streiten?«
Grayson schloss den Mund und schluckte eine bissige Bemerkung über schmollende Magier hinunter. Jetzt noch Öl ins Feuer zu gießen, würde nicht dabei helfen, Morgans Stimmung zu verbessern. Außerdem wollte Grayson wirklich diese lästigen Berichte loswerden.
Zufrieden, dass nun alle schwiegen, klopfte Morgan einmal förmlich mit seinem Gehstock gegen die Holztür und öffnete sie dann. Eine schummrige Schwärze schlug ihnen entgegen, von der Grayson wusste, dass sie eigentlich ein sanftes dunkelgrünes Leuchten war, das man hier im hell erleuchteten Gang jedoch nicht richtig wahrnehmen konnte. Sie betraten die Vorkammer und schlossen die Tür hinter sich, sodass das äußerst schwache Licht im Inneren alles, was man betrachtete, in grünstichige Schemen verwandelte. Kommentarlos zogen sich die vier aus und Grayson musste schmunzeln, wie sehr er sich an die vielen Besonderheiten seiner neuen Anstellung gewöhnt hatte. Wie zum Beispiel, dass sie sich gerade in einem besseren Umkleideraum befanden, um gleich in einen magischen Teich zu hüpfen, von dem Grayson nicht einmal wusste, wo genau der sich befand. Die Lady vom See war eine Nymphe und der Teich die Quelle ihrer magischen Kraft. Sie verließ das Gewässer nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ oder ihre Anwesenheit im Ratssaal benötigt wurde. Also warf Grayson sich ein Handtuch um und drehte sich zu den anderen, die bereits fertig waren. Er ignorierte Shajas provozierend bewundernde Blicke auf seine Leistengegend und schritt stattdessen durch den schweren, schwarzen Vorhang, der die Rückseite der Kammer verhüllte. Grayson nahm ein wenig Anlauf, denn er wusste, dass hinter dem schwarzen Stoff etwas wartete, das Morgan schlicht eine Falte nannte. Dass der Magus damit eine echte Falte in Zeit und Raum meinte, war etwas, über das Grayson lieber nicht zu genau nachdachte. Letztes Jahr in Hamburg hatte Grayson beinahe in einer festgesteckt, als klar wurde, dass sein wachsendes antimagisches Talent ihm beinahe den Übergang durch die Falte verwehrt hätte. Hier und jetzt konnte er gerne auf das Gefühl verzichten, im Nichts gefangen zu sein. Sein Schwung trug ihn mühelos über die magische Schwelle und hinein in einen märchenhaften Wald, der von einem diffusen Licht erhellt wurde, das alles außerhalb der Baumreihen verbarg. Das Moos unter seinen Füßen mochte auf Naturmenschen einladend wirkten, aber Grayson spürte nur die klamme Feuchte der Flechten zwischen seinen Zehen und wünschte sich sofort zurück in die Zivilisation. Er war ein Stadtmensch durch und durch und würde es immer sein. Hinter ihm traten die drei anderen durch die Falte, die sich von dieser Seite wie ein schwarz verhangener Torbogen mitten im Wald präsentierte.
