Der überschätzte Mensch - Lisz Hirn - E-Book

Der überschätzte Mensch E-Book

Lisz Hirn

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Beschreibung

Was machen KI, Smartphone und ChatGPT mit uns als Mensch? Eine Neubewertung des Menschseins von der Philosophin Lisz Hirn

Was ist der Mensch? Lisz Hirn widmet sich in ihrem klugen Essay keiner geringeren als dieser Urfrage der Philosophie. Die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, hat von Platon bis Nietzsche oder Foucault die Denker beschäftigt. Wenn wir Tiere nun nicht mehr essen wollen, nicht mehr essen sollen, was bedeutet das für das menschliche Selbstverständnis? Nicht zuletzt Klimakrise und Pandemie haben das Konzept vom Übermenschen ins Wanken gebracht. Stiehlt ihm künstliche Intelligenz nun endgültig die Show? Lisz Hirn entwirft einen neuen Ansatz: eine Anthropologie der Verletzlichkeit - für den Metamenschen zwischen Smartphone und ChatGPT.

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Das ist das Cover des Buches »Der über schätzte Mensch« von Lisz Hirn

Über das Buch

Was machen KI, Smartphone und ChatGPT mit uns als Mensch? Eine Neubewertung des Menschseins von der Philosophin Lisz HirnWas ist der Mensch? Lisz Hirn widmet sich in ihrem klugen Essay keiner geringeren als dieser Urfrage der Philosophie. Die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, hat von Platon bis Nietzsche oder Foucault die Denker beschäftigt. Wenn wir Tiere nun nicht mehr essen wollen, nicht mehr essen sollen, was bedeutet das für das menschliche Selbstverständnis? Nicht zuletzt Klimakrise und Pandemie haben das Konzept vom Übermenschen ins Wanken gebracht. Stiehlt ihm künstliche Intelligenz nun endgültig die Show? Lisz Hirn entwirft einen neuen Ansatz: eine Anthropologie der Verletzlichkeit — für den Metamenschen zwischen Smartphone und ChatGPT.

Lisz Hirn

Der überschätzte Mensch

Anthropologie der Verletzlichkeit

Paul Zsolnay Verlag

Viel hat von Morgen an,

Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,

Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.

Friedrich Hölderlin, »Friedensfeier«

Prolog

Der Mensch besteht aus Knochen, Fleisch, Blut, Speichel, Zellen und Eitelkeit.

Kurt Tucholsky, »Schnipsel«

»Der Mensch«, was für ein Wort! Man könnte glauben, er gefällt sich in dem Bewusstsein, dass jede Krise eine einmalige Chance, eine historische Gelegenheit für ihn sein könnte, wenn er sie ergreifen würde. Im Angesicht einer apokalyptischen Zukunft träumt dieser Mensch, dass man einst von seiner Generation sprechen wird. Ans Äußerste gedrängt, wäre ihr schließlich gar nichts anderes übrig geblieben, als die Welt zu verändern, sie zu einem anderen Ort zu machen. Oder sich zum Zweck des Überlebens in die Abhängigkeit von technologischen Gerätschaften und künstlicher Intelligenz zu begeben, deren wesentlichster Beitrag einst war, sie aus der Rolle simpler »menschlicher Tiere«1 zu befreien. Dieser Betrug wird seit Beginn des abendländischen Geisteslebens durch die einflussreichsten Positionen der Philosophie aufrechterhalten. Die Abgrenzung zwischen »Tier« und »Mensch« stellt eine ihrer wichtigsten Aufgaben dar. Während sich die Religion mithilfe eines metaphysischen Sprungs auf eine göttliche Erwähltheit der menschlichen Spezies stützen konnte, nahm die Philosophie eine exklusive Vernunftbegabung an, um die außerordentliche Stellung des Menschen nicht nur auf der Erde, sondern sogar im Kosmos zu legitimieren. Vielfach wurde das Menschliche anhand von Differenzierungen bis hin zu Defiziten beschrieben. Man stellte schlicht und einfach fest, was »nichtmenschlich« ist. »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Gewaltiger als Kants Versuch, den Menschen anhand von drei Fragen zu skizzieren und seine Weltoffenheit in der Frage »Was ist der Mensch?« anklingen zu lassen, ist die Übereinkunft, dass der Mensch kein »Tier« ist. Zumindest keines im klassischen Sinne, das sich eindeutig in der zoologischen Nomenklatur und im Rahmen der Nahrungskette einordnen ließe.

Als unspezifischer Gegenbegriff zum Menschen geistert »das Tier« in einem verallgemeinerten Singular durch die Philosophiegeschichte. Als ein Wesen, das näher dem pflanzlichen als dem menschlichen Leben steht. Begründet wird das erstmals bei Aristoteles, der das niedrigere Seelenvermögen als Fundament für das nächsthöhere bestimmte. Pflanzen existieren um der Tiere willen; Pflanzen und Tiere existieren um des Menschen willen. Das Anorganische ist schließlich um des Organischen willen da.2 Seine durch »Seelenstufen aufgebaute Hierarchie der Naturreiche« prägt bis heute unseren Alltagsverstand und die aktuellen tierphilosophischen Diskurse.3 Von diesem Punkt an wird eine unüberwindbare phänomenologische Kluft zwischen dem bloßen »Dasein« des Tiers und der »Existenz« des Menschen behauptet. Die Manier, von dem »Tier« im Singular zu sprechen, ist laut Jacques Derrida »eine der größten — und systematischsten — Dummheiten derer, die sich Menschen nennen«.4

Eine weitere wäre wohl der Großteil politischer Diskurse zu Tierrechten und -haltung, die selten der Vielfalt tierischen Lebens auch nur annähernd gerecht werden. Vielmehr werden sie gewohnt parteilich geführt. Es ist wenig verwunderlich, dass sich viele Tierethiker von Tierfreunden distanzieren, die aus Tierliebe zu handeln meinen. Denn diese Tierfreunde unterscheiden klar zwischen »beliebten«, sprich den kuscheligen Haustieren, Nutztieren und »unbeliebten« Tieren wie zum Beispiel Spinnen, Ratten und Tauben, über deren Existenz jederzeit verfügt werden kann, wie es Geschmack und Nutzen gebieten. Wobei leicht überprüfbar ist, »wie sehr unsere Vorstellungen von ›Tieren‹ — gerade in unserer mediendominierten Gesellschaft — von Bildern sowie gesellschaftlich und kulturell vermittelten Auffassungen abhängig sind«.5

Und Gott segnete die Menschen und sprach zu ihnen: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.«6 Diese biblische Segnung und gleichzeitige Erklärung des Menschen zum Herrscher der Erde bedeutet vor allem eines für ihn: nicht mehr essbar zu sein. Die Krone der Schöpfung steht nicht nur am Ende der »Scala Naturae« des Aristoteles, sondern auch am Ende der Nahrungskette. »Ecce homo!« Der Mensch als das Tier, das nicht von anderen Tieren gegessen wird. Dieser Bruch mit der eigenen Fleischlichkeit macht unseren etablierten Mensch-Tier-Dualismus in all seiner Radikalität erst möglich.

Doch wenn weder die Spezies »Tier« existiert, noch sich eine menschliche Universalie fassen lässt, die den Menschen als das vollkommen Andere des Tieres ausweist: Was ist dann dieses Unwesen zwischen Tier und Übermensch, das die Verletzlichkeit des Ersteren teilt, dem aber die Bestimmung des Zweiten zugemutet wird? Bisher wurde mit der Substantialisierung des Begriffs »Mensch« das animalische Leben im Inneren des Menschen abgetrennt. »Nur (…) weil Distanz und Nähe zum Tier im Innersten und Unmittelbarsten ermessen und erkannt worden sind, ist es möglich, den Menschen den anderen Lebewesen entgegenzusetzen und zugleich die komplexe — und nicht immer erbauliche — Ökonomie der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren zu organisieren. Aber wenn das zutrifft, wenn die Zäsur zwischen Mensch und Tier in erster Linie das Innere des Menschen durchzieht, dann muss die Frage nach dem Menschen — und dem ›Humanismus‹ — als solche neu gestellt werden.«7 Klingt hier nicht auch Nietzsches »Zarathustra« an? »Bleibt mir der Erde treu«, predigt Zarathustra seinen Jüngern. Diese Erde ist der Ort des Fleisches, der Verletzlichkeit und der Verwesung.

Gerade wir, die wir durch die uns drohende Vernichtung Fragliche geworden sind, erleben diese Kluft zwischen Fleisch und Geist, bedürfen einer neuen Anthropologie, die sich nicht jenseits, sondern in unserer Verletzlichkeit verortet. Einer Fleischlichkeit, die wir bisher überschätzten, aber nicht ernst genug genommen haben. »In unserer Kultur ist der Mensch immer als Trennung und Vereinigung eines Körpers und einer Seele gedacht worden, eines Lebewesens und eines lógos, eines natürlichen (oder tierischen) und eines über-natürlichen, sozialen oder göttlichen Elements.«8 Den Menschen stattdessen als Ergebnis der Entkoppelung dieser zwei Elemente zu denken macht es möglich, das Praktische und Politische der Trennung zwischen Tier und Mensch, Fleisch und Fleischwerdung zu erforschen. Ich möchte dort zu suchen beginnen, wo es unsere Eitelkeit am meisten schmerzt: entlang der Nahrungskette.

Kapitel 1

ESSEN

Der Mensch? Der ist eine lebendige Figur aus Fleisch.

Vierjährige Philosophieschülerin

Im beinahe vergessenen Science-Fiction-Film »Soylent Green« aus dem Jahr 1973 spielt Charlton Heston einen New Yorker Polizisten namens Robert Thorn, der einem ungeheuerlichen Geheimnis auf die Spur kommt. 2022 mangelt es an allem, aber vor allem am Lebensnotwendigen: Wasser, Nahrung und Wohnraum. Lediglich einige Politiker und reiche Bürger können sich noch sauberes Wasser und natürliche Lebensmittel leisten. Inmitten dieses Chaos fristen der Polizist Robert Thorn und sein älterer Mitbewohner Sol Roth ihr Dasein. Viele kennen die Welt mit Tieren und richtiger Nahrung kaum mehr, Roth kann noch von ihr erzählen. Nun kontrolliert ein Unternehmen die Lebensmittelversorgung und vertreibt künstlich hergestellte Nahrungsmittel. Das neueste Produkt ist »Soylent Green«, ein Konzentrat in Form grüner Täfelchen, deren Bestandteile keiner genau kennt. Im Laufe seiner Ermittlungen kommt Heston alias Thorn dem Geheimnis von Soylent Green auf die Spur. Sol erfährt es schon davor und will daraufhin nicht mehr weiterleben. In einer öffentlichen »Euthanasieklinik« lässt er sich einschläfern. Als Thorn Sols Nachricht findet, eilt er in die Tötungsanstalt, wo er noch kurz mit dem Sterbenden sprechen kann. Sol erzählt ihm alles und bittet ihn, die Beweise ans Licht zu bringen. Daraufhin folgt Thorn dem Leichentransporter: Er fährt in die Fabrik von Soylent Green. Dort werden die Leichen zu grünen Crackern verarbeitet. Während seiner Entdeckung wird Thorn angeschossen. »Soylent Green is people!« »Soylent Green ist Menschenfleisch!«

Eine der ersten Öko-Dystopien der Geschichte lässt sich gleichzeitig auch als Metapher lesen. Die Menschen, gefangen im endlosen Verbrauchen und Gebrauchen, verzehren sich schließlich gegenseitig. Was löst mehr Angstvorstellungen aus als der bloße Gedanke an menschliche Kadaver, die von unseresgleichen verzehrt werden? Seit jeher lösen anthropophagische Geschichten Grauen aus. »Im nachrömischen Europa wurde Kannibalismus als derart schlimmes Verbrechen erachtet, daß nur Werwölfe, Hexen, Vampire und Juden seiner für fähig gehalten wurden.«1 Oder fremde Völker, die man ohnehin nur aus exotischen Schauergeschichten kannte. Berichte von »Menschenfresserei« aus Afrika und aus der »Neuen Welt«, Erzählungen von blutsaugenden Untoten, von hässlichen, kinderfressenden Hexen wie die in »Hänsel und Gretel«, sowie haufenweise Filme und Serien über Zombies, die mit Vorliebe die Hirne ihrer lebenden Opfer verspeisen. Menschen, die von anderen Menschen gegessen werden — das eigentlich Unvorstellbare ist das absolut Böse.

»Ich rieche, rieche Menschenfleisch!« Dieses Zitat stammt vom Teufel höchstpersönlich. Der Erzählung nach entkommt es ihm, als er nach Hause zurückkehrt und den jungen Mann wittert, der sich unter seinem Bett versteckt. Im Märchen »Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren« lenkt ihn seine Frau, oft auch als seine Großmutter gezeichnet, mit der Bemerkung ab: »Du hast den Schnupfen, und da steckt dir immer der Geruch von Menschenfleisch in der Nase, wirf mir nicht alles durcheinander, ich habe eben erst gekehrt.« Dank ihrer Intervention bleibt der Jüngling unentdeckt, der schließlich seine Mission, dem Teufel seine drei goldenen Haare zu stehlen, erfolgreich beenden kann. Die Nase hatte den Teufel also nicht getäuscht. Nichts ist so beharrlich und so unumgänglich wie der Geruch. Glücklich, wer die Augen schließen und sich die Ohren zuhalten kann, doch eine unangenehme Körperlichkeit lässt sich nicht ignorieren. Der Geruch des anderen Fleisches drängt sich auf. Dennoch gibt es wohl nur dieses eine Nahrungstabu, das universelle Gültigkeit besitzt und dem sich sogar der Teufel beugen muss.

Jedenfalls widerspricht jegliche Form des Kannibalismus den guten Sitten. Er beleidigt das Anstandsgefühl aller »moralisch und gerecht Denkenden (Erwachsenen) in der Gesellschaft, deshalb ist er rechtswidrig. Auch einen Toten zu verzehren, ob von diesem erwünscht oder nicht, gilt als Störung der Totenruhe. So formuliert es zumindest das Gesetz. Eine Tötung nach einer Einwilligung, möglicherweise sogar mit der Absicht, den Getöteten anschließend zu verspeisen, ist ein strafrechtlich umfangreiches Problemfeld. Das wohl prominenteste Urteil ist im ›Kannibalenmord von Rotenburg‹ ergangen.«2 Kannibalistische Handlungen stellen den Straftatbestand der Störung der Totenruhe dar. Die Begründung ist simpel: da sie den Menschen auf eine Stufe mit einem Nutztier stellt. Dabei ist nicht ausschlaggebend, in welchem Kontext der Verzehr stattfand. Der Affront liegt darin, die Grenze zwischen Tierischem und Menschlichem auf brutale Weise zu verwischen.

Es ist das Verdienst des Kulturanthropologen Marvin Harris, die bekannten Formen kannibalistischer Praktiken ohne den Anflug von entsetztem Empören erklärt zu haben. So stellt er fest, »daß Menschenfleisch aus den prinzipiell gleichen Gründen seine Eignung zum Verzehr einbüßte wie das Rindfleisch bei den Brahmanen und das Hundefleisch bei den Amerikanern: Die Bilanz zwischen Kosten und Nutzen sprach dagegen.«3 Eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung erschlösse, ob der Wert von Kriegsgefangenen größer wäre, wenn sie lebendig blieben. Auch Harris erschließt den Umgang mit dem Fleisch als zentrale politische Aufgabe. Je ausgeprägter die staatlich organisierte Gesellschaft, desto stärker die Tabuisierung von Menschenfleisch. Dieses sei niemals nur zur Nahrungsgewinnung, sondern zur Steigerung des »materiellen Gewinns aus dem Krieg« verzehrt worden. »Mit Entstehen von Zentralgewalten wurden Kriegsgefangene als Steuerzahler und Landarbeiter wichtiger denn als Fleisch für eine Mahlzeit.«4

Kannibalische Praktiken sind ebenso wie Praktiken der Kriegsführung weder eine Pervertierung noch ein Selbstausdruck einer irgendwie determinierten menschlichen »Natur«. Sie sind oft eine Reaktion auf materielle Herausforderungen wie Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit. Diesem ökonomischen Druck ist jede Gesellschaft ausgesetzt. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist eine entscheidende, sie entscheidet über Leben und Tod. Der Krieg ist nicht nur der Vater aller Dinge, sondern, nach Heraklit, auch der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien. Der tiefere Sinn des Zitats beschreibt aber den Kampf um die materielle Absicherung des Lebens, die wesentlich von der Ernährung abhängt. »Weit davon entfernt, das Gegenteil des Lebens zu sein, ergänzte der Tod das Leben nur, ganz so wie Jagd und letzten Endes Krieg sich in einem komplementären System zur Landwirtschaft fügten und so auf der elementarsten Ebene demonstrierten, dass Zerstörung notwendig ist, damit es Produktion geben kann.«5 Als Resümee ließe sich feststellen, dass beispielsweise die aztekische Religion, im Gegensatz zu anderen Heilsreligionen wie dem Christentum, ihrer Logik bis zum Schluss gefolgt war. Nützlicher für den europäischen Kolonialismus war es allerdings, die »fremden Völker« in die Nähe von wilden Monstern zu rücken, um ihre Unterwerfung und Ausbeutung rechtfertigen zu können. Schließlich darf man mit Ungeheuern brutal und ohne Gewissensbisse umgehen, stehen sie doch nicht einmal auf einer Ebene mit dem Tier. Was aber könnte monströser sein als der Verzehr von Menschenfleisch?

Vertrauen erweckt die Möglichkeit nicht, von einer feindlichen Gruppe verzehrt zu werden. Ein stabiles, politisches System scheint unter solchen Bedingungen nicht realisierbar. Neben dem Faktum, dass Kriegskannibalismus, wie es Kulturanthropologen unter anderem bei den Azteken belegten, sozial destabilisierend wirkt, kommt auch noch hinzu, dass Fleisch ein potenziell gefährliches Nahrungsmittel ist. »Ich glaube, daß diese augenscheinliche Gleichgültigkeit gegenüber dem potentiellen Nährwert der auf friedlichem Weg erlangten Leichname (eine Gleichgültigkeit, die in deutlichem Gegensatz zu der Haltung gegenüber Körpern steht, derer man sich gewaltsam mittels Krieg bemächtigte) zum Teil als Reaktion auf die Unergiebigkeit und die gesundheitsgefährdende Natur solcher Nahrungsquellen zu verstehen ist.«6

Zweifellos finden wir die Vorstellung, Menschen zu essen, abstoßend und geradezu unerträglich. Doch warum wir diese unerträglicher finden als die, dass Menschen »zwar als geeignet zur Vernichtung, aber ungeeignet zum Verzehr gelten«7, diese Frage können wir schwer rational beantworten. Ernährungsphysiologisch bietet jedenfalls nicht tierisches Fleisch das hochwertigste Protein, sondern menschliches. Ein Hinweis, den ich nicht als Aufforderung verstanden wissen will. Es geht vielmehr darum, die Widersprüchlichkeiten einiger unserer Vorstellungen zu zeigen. So können Menschen lernen, »den Geschmack von Menschenfleisch zu schätzen oder zu verabscheuen, ebenso wie sie lernen können, auf Folterung amüsiert oder angewidert zu reagieren«.8 Menschenleben werden und wurden fast allerorts (rituell) geopfert, aber selten oder nur im übertragenen Sinn verzehrt.

Selbst in der deutschen Sprache zeigt sich der Konnex zwischen leiblichem und verzehrbarem Fleisch deutlich: die Lust am Verzehren und am Verzehrtwerden. Die Fleischeslust spielt auf die Begierde nach einem bestimmten Körper an, gleichzeitig kann es auch die ungezügelte Begierde nach genießbarem Fleisch sein, von menschlicher oder von göttlicher Seite. Abraham wollte aus Gottesfurcht seinen Sohn opfern und wurde in letzter Sekunde zum Einhalt bewogen. Seitdem hat sich Gott gewandelt, von einem blutdürstigen, rachsüchtigen zu einem vergebenden und liebenden Gott, der seinen Sohn für die Erlösung aller anderen Menschen opfert. Diese Episode läutete das Ende der Menschenopfer ein. Von da an und bis heute reichen tierische Alternativen aus, um die Liebe zum Göttlichen zu beweisen. Gewohnt scharfzüngig deklassiert Nietzsche diese hingebungsvolle Leidenschaft als einen »feineren Parasitismus, ein Sich-Einnisten in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch«.9

Eine besondere Form der Anthropophagie ist den meisten bekannt. In der christlichen Eucharistie findet der transzendente Kannibalismus seinen Ausdruck. Der Leib und das Blut Christi werden metaphorisch, nämlich als Brot und Wein, verspeist. Die spirituelle Ernährung steht hier natürlich im Vordergrund und die physiologische im Hintergrund. Doch diese ist nicht die einzige Anthropophagie, die im Westen praktiziert wurde. So wurden angebliche Reliquien zu Heilmitteln verarbeitet und zu sich genommen. Zum einen, um sich die Kraft dieses speziellen Heiligen einzuverleiben, und zum anderen, um für die Ernährung des spirituellen Leibs zu sorgen.

Das Verhältnis zum Fleischlichen hat sich im Laufe verschiedener Epochen gewandelt. Wurde zuerst gejagt, geopfert, geschlachtet, also tierisches Fleisch zu Ernährungszwecken ganz öffentlich getötet, wurde der Umgang damit im Rahmen von gesellschaftlichen Umbrüchen und ökonomischen Prozessen, wie der Arbeitsteilung und neuen Hygienevorstellungen, tabuisiert, und zu etwas gemacht, das hinter den Kulissen des öffentlichen Lebens stattzufinden hatte. Eine unüberschaubare Anzahl an Menschen lebt vom kollektiven »Fleischhunger«, den man zu niedrigen Preisen zu stillen versucht. Was in der Wurst drin ist, will man lieber nicht wissen, sonst vergeht einem der Appetit. Das billigste und minderwertigste Produkt sieht auch am wenigsten nach dem aus, was drin ist. Fast gewinnt man den Eindruck, man möchte verdrängen, dass ein Tier gegessen wird.