Wer braucht Superhelden - Lisz Hirn - E-Book

Wer braucht Superhelden E-Book

Lisz Hirn

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Beschreibung

Von Herakles bis Batman, von Boris Johnson bis Donald Trump: Superhelden stehen hoch im Kurs, und die Erzählung über sie ist fester Bestandteil aller Kulturen. Für unsere verweichlichte Gesellschaft, die weder Unsicherheit noch Schmerzen aushält, gleichzeitig aber dem Selbstoptimierungswahn verfallen ist, scheinen sie besonders wichtig zu sein. Sollen sie uns doch aus dem Schlamassel retten, in das wir uns durch unser Komfortdenken und übertriebenes Sicherheitsbedürfnis hineingeritten haben. Ist der Superheld überhaupt noch ein taugliches Rolemodel? Sogenannte „starke Männer“ zeigen heute, wie es sicher nicht gehen wird. Aber Lisz Hirn weiß: In Zeiten, wo Ängste Hochkonjunktur haben, kann Philosophie konkret helfen. Um unsere Welt auch noch für unsere Kinder lebenswert zu machen, sollten wir uns zum Beispiel lieber auf jene geheime Superkraft verlassen, die wir alle besitzen: die Vernunft.

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LISZ HIRN

WER BRAUCHT SUPERHELDEN

WAS WIRKLICH NÖTIG IST, UM UNSERE WELT ZU RETTEN

Für Niki

INHALT

1Ausgangslage: Untertan oder Übermensch

2Rückkehr der Superhelden

3Das geschwächte Geschlecht

4Alternative Ängste

5Sperma, Schweiß & Schmerzen – Sport, Militär und Erziehung

6Der optimierte Mensch

Anhang

Ausgangslage: Untertan oder Übermensch

„Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her! Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben.“

– Heinrich Mann: Der Untertan

Unsichere Zeiten: Alles rüstet sich für einen Krieg, mit verheißungsvollen Parolen wird zum Kampf aufgerufen. Unter nationalem Getöse kommt tüchtig voran, wer flexibel und skrupellos genug ist. In den USA ist Donald Trump zum Propheten einer Wählerschicht geworden, die sich zu den Verlierern der Globalisierung, Emanzipation und den Antidiskriminierungsprozessen in der Gesellschaft zählen muss. Sie haben am meisten Autorität im Verteilungskampf eingebüßt, vor allem diejenigen ohne College-Abschluss und ohne Kapital. Der Aufruf zur „Rückkehr zu echter Männlichkeit“ erfolgt mit viel Mediengetöse. Männer sind Weicheier geworden. Der „Verweiblichung“ muss verpanzerte, ja sogar heldenhafte Männlichkeit entgegengesetzt werden. Historisch ist das nichts Neues.

Einen Monat vor Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 vollendet Heinrich Mann sein Manuskript. In „Der Untertan“ beschreibt er die Geschichte Diederich Heßlings, und damit einen Mann, der mit der Zeit geht, einen Opportunist, der geht, wohin der Wind ihn treibt. Auf diese Weise sichert er sich seinen ökonomischen und sozialen Aufstieg in der wilhelminischen Gesellschaft, die wenig später hochgerüstet Russland und Frankreich den Krieg erklären wird. Diederich glaubt wie so viele an die Macht des deutschen „Übermenschen“. Ein Stereotyp, das schon vor Heinrich Manns „Untertan“ existierte und sich um die Jahrhundertwende seine Bahn brach.

Die ganze Sache mit dem „Übermenschen“ beginnt mit einem Buch, das anfangs keine Leser finden will. Als der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche seinen „Also sprach Zarathustra“ verfasst, meint er selbst darüber: „Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich beide, den grössten und den kleinsten Menschen: – Allzu ähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich – allzumenschlich!“1 Das Ziel der Menschheit liegt nach Nietzsche nicht in der Zukunft oder im allgemeinen Wohlergehen der derzeit bestehenden Gattung Mensch, sondern in den immer wieder auftretenden „höchsten Exemplaren“ – eben den Übermenschen. Einer von diesen zu sein, davon träumt schon der kleine Untertan Diederich.

Der Begriff Übermensch hat bei Nietzsche sowohl eine geistige als auch eine biologische Bedeutung. Letztere wird einige Jahrzehnte später für die Nationalsozialisten von Bedeutung sein. Gut gelesen haben sie Nietzsche aber nicht. Im Gegensatz zu der nationalsozialistischen Propaganda denkt der Philosoph den Übermenschen nicht als potenten strammen Arier, sondern vor allem als ein intelligentes, moralisches Subjekt. Eines, das jenseits der traditionellen Strukturen, befreit von den Hierarchien und unabhängig von Autoritäten vergangener Epochen ist.

Vom Übermenschen findet sich bei Diederich Heßling kein Hinweis. Zwar glaubt er an den Sozialdarwinismus und damit an das Recht des „Stärkeren“ Gewalt gegenüber den „Schwächeren“ auszuüben, muss aber ständig fürchten, von einem Stärkeren“ zermalmt oder in seiner Schwäche aufgedeckt zu werden – außer bei seinen lautstarken Auftritten im Bierkeller. Dort beschwört er stattdessen die „Wiederkehr des Deutschtums“, wie es wenig später Adolf Hitler tun wird. Heßling ist eine typische Figur seiner Zeit, die nach oben buckelt und nach unten tritt, sich flexibel an die kulturellen und politischen Strömungen anpasst, solange sie ihm nur die gewünschte Sicherheit versprechen.

Heinrich Mann erklärt in seinem Roman die Bereitschaft zur Obrigkeitshörigkeit und den deutschen Größenwahn, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts auffällig bestimmen sollten. Aber ist der Untertan typisch „deutsch“? Mann beantwortet die Frage selbst in seinem 1919 erschienenen Essay Kaiserreich und Republik: „Die Eigenschaften des Untertans sind die, worauf das Reich gegründet war. Sie machen nicht den Deutschen aus, nur den Untertan.“

Wer ist aber nun der typische Untertan? Nach Heinrich Mann ist es wohl der „weiche“ Mann, der so gern „hart“ sein will: in seinem Narzissmus, seiner Lügenhaftigkeit, im Nationalismus als ideologisches Fundament. Also sucht er sich weiche Frauen, bei denen er Trost findet und über die er Gewalt hat: von seiner Mutter über seine erste sexuelle Erfahrung mit Agnes bis zur reichen Guste, die er schließlich heiratet. So weit zu Manns Protagonisten.

Der moderne Untertan

100 Jahre später lässt sich der Roman unmöglich lesen, ohne die neuen Untertanen zu sehen. So wie Diederich Heßling Kaiser Wilhelm II abgöttisch als „Übermensch“ verehrte, so sind die Vorbilder des modernen Untertans – also seine Superhelden – ein Bild traditioneller Männlichkeit, deren Wesenszüge und Werte im Kern die gleichen geblieben sind: Härte, Mut, eiserner Wille, emotionale Verschlossenheit und wenn nötig Gewalt gehören dazu – Schwäche oder Verletzlichkeit finden keinen Platz in dieser männlichen Identität.

Der Psychologe Manfred Jens Förster schreibt in seinem Werk „Hitler und Speer“ 2016 über die Folgen der Defizite, die das Fehlen männlicher Vorbilder hervorruft: „Große und böse Männer behalten einige Charakteristika von mutwillig polymorph perversen Kindern, deren Triebausrichtung unentschlossen, archaisch und noch keiner eindeutigen Identität verhaftet sind.“2 Ob Alexander der Große, Nero, Hitler, Mao, Stalin, Saddam Hussein und Osama Bin Laden: Es betrifft demokratisch legitimierte Herrscher ebenso wie autoritäre, vergangene wie aktuelle. Gefährlich ist, „dass sie ihre persönlichen Marotten und psychischen Verwerfungen zum Zentrum ihrer Politik machen. Die politische Bühne bietet diesen Kreaturen die Möglichkeit, ihre innere Leere und psychische Schwäche in ungehemmte Macht zu transformieren.“3 Auch wenn sie es im privaten Leben nicht sind, im öffentlichen, politischen inszenieren sie sich um jeden Preis als „Supermänner“.

Ihre Einstellung zu den gegenwärtigen Problemen beschreibt Förster auch als „eine Widerspiegelung der muskelprotzenden totalitären Methoden eines unreifen und barbarischen Denkens. (…) Gerechtigkeit präsentiert sich allein als Sache persönlicher Stärke. Jede Einschätzung der politischen Tendenzen von ,Superman‘ (…) müßte das Eingeständnis enthalten, daß die Träume von Jugendlichen und Erwachsenen heute sowohl eine steigenden Ungeduld mit den mühsamen Vorgehensweisen des zivilisierten Lebens als auch eine rastlose Begierde nach gewalttätigen Lösungen zu verkörpern scheinen.“4

Es gibt Beispiele: Während sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei Befugnisse sichern will, die denen von Adolf Hitler ähneln5, wird er vom „Anführer der freien Welt“ gelobt. „Ich bin ein großer Fan des Präsidenten“, verkündete Trump bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Erdoğan im Weißen Haus. „Wir haben eine großartige Beziehung.“6 Das gelte für ihr persönliches Verhältnis wie auch für die Beziehungen beider Länder. Anfang Oktober 2019 hatte Trump noch anderes getwittert. „Wenn die Türkei irgendetwas unternimmt, was ich in meiner großartigen und unvergleichlichen Weisheit für tabu halte, werde ich die türkische Wirtschaft vollständig zerstören und auslöschen“7, drohte Trump, nachdem er aufgrund des von ihm angekündigten Rückzugs der US-Truppen aus Nordsyrien international unter Kritik gekommen war.

Oder wenn Putin mit nacktem, mehr oder weniger muskulösem Oberkörper auf einem Pferd inmitten wilder Landschaft posiert, macht er das, um Männern zu gefallen. Mit dieser Art zeigt er, dass er beharrlich an den alten Rollen und der „Dominanz der Männer“ festhält. Auch Trumps sexistische Beschämungen von Frauen versuchen gar nicht erst, Frauen zu gefallen, sondern die Stimmen der „abgehängten“ Männer zu lukrieren. „Wir leben“, klagt Trump, „in sehr beängstigenden Zeiten für junge Männer. Jemand beschuldigt dich, und dein Leben ist vorbei.“ Als Gegenmittel für die vorherrschende Moral der Frauen verordnete Trump Männern bereits 2005 Pussygrabbing: „Fass ihnen zwischen die Beine, dann kannst du ALLES machen.“ Die Trumps, Putins und Erdoğans führen es ihrer Wählerschaft unverfroren vor: Nimm dir, wenn nötig mit Gewalt, jedes Recht und zementiere damit deine privilegierte Rolle als Mann. Wenn Nationen (wirtschaftlich) unter Druck geraten oder sich für den nächsten Krieg rüsten, sollen die Untertanen ihre moralischen Hemmungen ablegen und ihre alte heldenhafte Mannhaftigkeit wiederentdecken: Frauen und „schwache“ liberal geprägte Männer haben da keinen Platz. Stärke wird zum Maß aller Dinge. Die Wahl dieser Charaktere ist also weder ein Unfall noch ein Zufall, mit ihnen soll auch die alte Größe zurückkehren.

Rückkehr der Superhelden

„Weißt du, mein Vater und meine Mutter haben sich getrennt, also hatte ich nicht viel männliche Energie in meinem Haus. Und außerdem bin ich mit einer Familie verheiratet, die nicht viel männliche Energie hat.“

– US-Rapper Kanye West erklärt seine Begeisterung für Donald Trump im Oktober 20188

November 2019. Die Amerikaner sind alarmiert, als der US-Präsident unangekündigt ins Walter Reed Medical Center gebracht wird – Fragen zum Gesundheitszustand werden aufgeworfen, und die Antwort von Trumps Kampagnenteam kommt prompt. Sie vergleichen Trump mit dem Superhelden „Superman“ von DC Comics. Der Vergleich löst Empörung aus, denn „Superman“ ist ein Einwanderer ohne Papiere, der in einer Rettungskapsel in den USA gelandet war, als sein Heimatplanet Krypton explodierte. Im zivilen Leben ist er Journalist beim Daily Planet, also einer der „Feinde des Volkes“, wie ihn Trump bezeichnen würde. Ironischerweise ist Superman in der Originalversion auch der schlimmste Feind jenes Milliardärs, der im Laufe der Story Präsident der Vereinigten Staaten wird. Trump als Superman? Hat da jemand etwas verwechselt?

Doch es ist nicht das erste Mal, dass sich Trump den Superheldennimbus gibt. So sagte der Rapper und Trump-Fan Kanye West bei einer Audienz im Weißen Haus, dass er Hillary Clinton liebe, aber ihr Wahlslogan „I'm with her“ gebe ihm nicht das Gefühl, der Typ Mann oder Vater zu sein, den sein Sohn verdiente. „Als ich diesen Hut (Anm.: die Baseballmütze von Trump) aufgesetzt habe, fühlte ich mich wie Superman. Das ist mein Lieblingssuperheld.“9 Damit ist der Musiker nicht allein, für viele amerikanische Männer hat Trump doch das Unmögliche mit seiner Wahl zum Präsidenten erreicht. „America first“: Keine Heldenfigur vermittelt diese Anschauung besser als der Prototyp aller Superhelden: Superman.

US-Superman gegen die deutschen „Übermenschen“

Er ist der erste in der langen Reihe von Superhelden, die ursprünglich nur ein Ziel eint: Hitler zu besiegen und den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zu propagieren. Viele der Comiczeichner der späten 1930er und 1940er Jahre sind jüdischer Abstammung – so auch die Superman-Erfinder Jerry Siegel und Joe Shuster sowie Joe Simon und Jack Kirby, die Väter von Captain America. Entsetzt über die Judenverfolgung im Dritten Reich, die Expansionspolitik der Nationalsozialisten und die faschistische Propaganda von Deutsch-Amerikanern in den USA leisten sie ihren Beitrag, indem sie den ersten Comic-Helden 1938 mobil machen, um die Moral zu heben. „Die Propaganda der Superhelden kam bei den Leuten so gut an, weil sie genau das bedienen, was die Leute haben wollten. Sie wollten einen Helden haben, der Amerika beschützt“, erklärt Comic-Historiker Cuno Affolter.10Gegen die deutschen „Übermenschen“ wurde also der US-Superman kryptonischer Abstammung ins Feld geschickt.

Um den Krieg zu beenden, brauchte es einen Helden, der „super“ zu sein hat, seine Fähigkeiten mussten über alle bekannten klassischen heldenhaften Eigenschaften und Tugenden hinausgehen. Superman musste den technologischen und sozialen Anforderungen des 20. Jahrhunderts gewachsen sein. So gelang Superman in den Comics, was kein Politiker, kein Soldat, kein Held hätte allein erreichen können: Diktatoren zu ohrfeigen, den Krieg zu beenden und die internationale Ordnung durch die gerechte Bestrafung der Übeltäter wiederherzustellen. Eine Ordnung, in der die USA den Ton angeben. Das Schema zieht sich durch die Geschichte der modernen Superhelden, die im 20. Jahrhundert beginnt. Sie bleibt jedoch in den Ursprüngen mit der Mythologie verbunden. Das Vorgängermodell des Superhelden ist das des klassischen Helden. Sein Stereotyp ist das eines körperlich gut aussehenden, starken Mannes, der durch seine außerordentlichen Taten Ruhm erlangt und so über den gewöhnlichen Menschen steht.

SUPERMAN UND DER KATEGORISCHE IMPERATIV

Wer sich schon einmal gefragt hat, warum Superman entschieden hat, für das Gute zu kämpfen, anstatt sich eigennützig an der Welt zu bedienen, wird möglicherweise von der Antwort überrascht sein: Er hat sich einfach aus freien Stücken und gutem Willen dazu entschlossen. Er tut es nicht, weil er sich davon einen persönlichen Vorteil wie Beliebtheit erhofft, sondern er handelt, weil es „richtig“ und „vernünftig“ ist, das zu tun.

Genau das macht auch der moralisch sittliche Mensch bei Kant. Wie bei Superman wird bei ihm der gute Wille zur Pflicht. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Der kategorische Imperativ gebietet allen endlichen vernunftbegabten Wesen, ihre Handlungen darauf zu prüfen, ob sie einer für alle, jederzeit und ohne Ausnahme geltenden Maxime folgen. Entscheidend ist, ob das Recht aller betroffenen Menschen, auch als Selbstzweck, also nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt zu werden, berücksichtigt wird.

Held ist nicht gleich Held

Helden sind ein wesentlicher Bestandteil von Mythen und ein essentielles Merkmal männlicher Inszenierung. Das ist nicht neu, interessant ist vielmehr, warum sich gerade das Modell des Helden als „harter Mann“, als Ideal archetypischer Männlichkeit durchgesetzt hat. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Eine verweist auf die Rolle Amerikas, „das der ganzen Welt seine Bilder der Männlichkeit aufzwang: von Cowboy über Rambo bis hin zu Terminator, verkörpert durch Schauspieleridole (John Wayne, Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger), fungierten diese Helden der großen Leinwand als Ventile und bringen immer noch Millionen Männer zum Träumen.“11

Vor allem nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs gab es ein großes Misstrauen gegen den Begriff des „Helden“. Zu stark war das Unbehagen, dass jeder Held immer schon die moralischen Kategorien seiner jeweiligen Gruppe propagiere. So vermitteln Helden und Superhelden nicht nur die von ihnen inkarnierte kulturelle Männlichkeit, sondern außerdem unsere moralischen Wertmaßstäbe, also was es in unserer Gesellschaft bedeutet, gut oder böse, Mann oder Frau zu sein. Kaum etwas steht so überzeugend für den Zeitgeist wie unsere Superhelden.

Was macht den Superhelden so besonders?

Während der Actionheld, quasi die moderne Variante des klassischen Helden, durch hartes physisches Training gestählt wird, erfährt der typische Superheld „… eine magische Wandlung, die in übernatürliche, bzw. übermenschliche/tierische Kräfte mündet. Physische, und das heißt hier: männliche Kraft wird zu etwas Symbolhaftem, das im Kampf bewiesen und moralisch verankert werden muss.“12

Der klassische Held in Sandalen hat heute zwar ausgedient, viele der „alten Motive“ tauchen aber bei den Superhelden wieder auf, sei es nun die spezielle Schwachstelle oder der obligatorische Kampf mit dem Erzfeind. Neu ist, dass sich das Grundkonzept eines Helden von der antiken Vorstellung von Superkräften hin zu einer modernen Auffassung gewandelt hat, welche sich vor allem auf außerordentliche Leistungen und hohe moralische Werte bezieht.13 Den aktuellen Missständen und modernen Katastrophen können die klassischen Helden mit ihren Fähigkeiten wenig entgegensetzen. Auch die Gefahr, die vom Helden selbst ausgeht, also dass er seine Stärke missbraucht, um die Herrschaft an sich zu reißen, wird beim Mythos des Superhelden entschärft.

Hatte Achilles' verletzter Stolz und Machtwille beinahe noch den Griechen den Sieg vor Troja gekostet, ist Clark Kent alias Superman ein braver Staatsbürger ohne den Willen zur Macht. Seine moralische Gesinnung verhindert, dass er mit seinen Kräften die Welt aus den Angeln hebt und sich als Diktator installiert. „Die Mission des Superhelden ist prosozial, selbstlos und universell. Das bedeutet, dass sein Kampf gegen das Böse sich den vorherrschenden Sitten der Gesellschaft anpassen muss und nicht auf persönlichen Nutzen abzielen (…) darf. (…) Dennoch ist es die Mission des Superhelden, die ihn von anderen Helden unterscheidet. Viele der Western- und Science-Fiction-Helden verfolgen nicht die allgemeine Mission des Superhelden oder die der Helden in Pulp-Magazinen, denn sie streben nicht danach, Gutes bloß um des Guten willen zu tun.“14Stellt der klassische Held noch eine Gefahr für die bestehende Ordnung dar, ist der Superheld der perfekte Untertan. Kämpften die klassischen Helden noch für ihre Gruppe oder Länder, geht es bei den Superhelden um nichts mehr als um die Rettung der Menschheit.

Jede Zeit hat ihre Helden

Der Mythologie-Experte Joseph Campbell war nicht der erste, der 1988 darauf hinwies, dass „jede Mythologie (des Helden oder auch anderer Art) mit einer Lebensweisheit zu tun hat, welche zu einer bestimmten Zeit mit einer bestimmten Kultur verbunden ist. Sie bindet das Individuum in seine Gesellschaft und diese in die Natur ein (…) sie ist eine harmonisierende Kraft.“15 Auch die Art, wie Superhelden erscheinen, ist wesentlich kulturgebunden. Wurden Heldengeschichten einst oral vor dem Lagerfeuer, später im Theater, dann via Buchdruck vermittelt, ist der Erfolg des Superhelden eng verknüpft mit dem Aufkommen der Massenmedien, zuerst dem Comicstrip, später dem Film.

Auf diesem Markt regieren von Anfang an nicht Konzepte wie Kooperation, Fürsorglichkeit oder Emanzipation, sondern gedeihen am besten Action-, Gewalt-, Helden-, Retter-, Rache- oder Porno-Fantasien. In der Monokultur der männlich dominierten Filmindustrie, wo circa 90 % aller Drehbücher von Männern verfasst werden, lässt sich nichts annähernd so gewinnbringend verfilmen wie die bewährten Heldenstereotypen. Supermännliche oder übermännliche Fähigkeiten zählen damit zu den wirkmächtigsten Fantasien unserer Gesellschaft. Fantasien mit Folgen?

So schreibt Vilém Flusser, ein bedeutender Kommunikationswissenschaftler und Medienphilosoph des 20. Jahrhunderts, über die Kinogeher, dass sie ins Kino gehen und dafür zahlen, um die vom Apparat erzeugte Illusion zu genießen und zu verbrauchen. Sie suchen sich unter den angebotenen Kinoprogrammen bewusst eines aus, um davon programmiert zu werden. Die globale Schlagkraft dieser Bildstrecken auf Bewusstsein, Identität und Sprache junger Menschen ist gewaltig. Sie zeigen gleichzeitig, dass unsere Fantasie keineswegs so frei und grenzenlos ist, wie wir gerne glauben wollen, sondern wird ganz im Gegenteil genauso von den Menschen und deren Ideen dominiert wie die Filmbranche, die sie hervorbringt. Am stärksten in den USA: Dort lag der Anteil von Frauen, die in den 250 populärsten Filmen Regie führten, zwischen 1998 und 2016 zwischen 5 und 9 %, in den 100 erfolgreichsten Filmen sogar bei nicht einmal 4 %.16 Mit einer Milliarde Dollar gilt Todds „Joker“ als erfolgreichster nicht jugendfreier Film aller Zeiten. Dicht gefolgt von „Deadpool“, „Wolverine“ und „Matrix“.17

Gegen die bald 80 Jahre alten Brachialfantasien wie „Batman“ und „Joker“ sind andere Fantasien scheinbar machtlos. Kaum eine andere Erzählung, in der Gesetze und Normen transportiert werden, kommt so gut bei der Masse an. Was biblische Erzählungen, Mythen, Fabeln, Märchen und Propaganda versuchten, gelingt noch besser in der Form der Superhelden, die in eingängiger Form präsentiert werden. Sie bedienen das menschliche Bedürfnis nach einfacher und verständlicher Welterklärung perfekt. Schnell machte die Comicforschung auf die eskapistische Wirkung der Superhelden-Comics aufmerksam, also die Möglichkeit den Problemen der reellen Welt zu entfliehen. Der Mythos des „Superhelden“ sei lediglich ein „Mythos kleinbürgerlicher Selbstüberhöhung“, wie Umberto Eco diagnostizierte. Die Superheldenfigur thematisiert archaische Fantasien: Jeder Mann will heldenhaft sein. Jeder Mann würde gern ein Superheld sein. Die Leser fänden nicht nur die bestehenden Konstrukte bestätigt, sondern auch die vorherrschende Ordnung. Superhelden repräsentieren den Zeitgeist.

Freilich gibt es seit seinem ersten Erscheinen Kritik an Supermans Männlichkeit. Damals schrieb der Psychiater Frederic Wertham über seine Bedenken in nietzscheanischer Terminologie: „In der Tat benötigt Superman (…) einen endlosen Zufluss immer neuer Untermenschen, Krimineller und ,ausländisch aussehender‘ Menschen, um seine Existenz nicht nur zu rechtfertigen, sondern überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Eigenschaft löst in Kindern eine von zwei Haltungen aus: Entweder stellen sie sich vor, selbst Superman zu sein, und entwickeln die dazugehörigen Vorurteile gegen die Untermenschen, oder sie werden gefügig und empfänglich für die Schmeicheleien starker Männer, die all ihre sozialen Probleme lösen werden – und das mit Gewalt.“18

Entweder Superman oder nichts

Zu Recht fragt man also, welche Weltanschauung der Superheld eigentlich stützt. In der westlichen Hemisphäre, in der Religion für einen guten Teil der Bevölkerung mehr Nostalgie als Überzeugung ist, muss es einen neuen Helden geben, der die Leerstelle füllt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und in Zeiten des Kalten Krieges tritt er zunächst interessanterweise als moralische Autorität auf. Superman ist der erste Held, der ohne Gott und religiöses Bekenntnis auskommt. Die Antwort auf die Frage, warum so viele Leute diesen Comic lesen würden, ist laut dem US-amerikanischen Psychologen William Moulton Marston simpel. Er ist einer der Schöpfer von „Wonder Woman“, und er schreibt: „Superman und seine unzähligen Nachfolger befriedigen die menschliche Sehnsucht danach, stärker als alle Widerstände zu sein. Sie erfüllen des Weiteren den ebenso universellen Wunsch, dass das Gute über das Böse siegen möge und Unrechtes beseitigt werde, dass Unterdrückte ihren Unterdrückern ein Schnippchen schlagen (…).“19