Der unmögliche Duft von Sternen - Natalie Anders - E-Book

Der unmögliche Duft von Sternen E-Book

Natalie Anders

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Beschreibung

Für Rhys steht fest: Er wird niemals eine Beziehung eingehen. Nach dem Mord an seiner Mutter ist nicht nur seine Familie, sondern auch sein Vertrauen in andere zerstört. Er will sich in seinen Tätowier-Shop zurückziehen, seine Geschwister und das Rudel, das er anstelle seiner Mutter führen soll, hinter sich lassen und endlich den Schmerz vergessen. Doch dann tritt Finn in sein Leben. Finn, der auf tragische Weise mit Rhys' Vergangenheit verbunden ist. Finn, der immer wieder alte Wunden aufreißt und zu dem sich Rhys trotz allem hingezogen fühlt. Rhys will keine Beziehung und ganz bestimmt keinen Avatar. Doch was soll er tun, wenn Finn am Ende genau das ist?

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Seitenzahl: 241

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Der unmögliche Duft von Sternen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Kris Wiktor – shutterstock.com

© Roman S-photographer – shutterstock.com

© Michelle Lalancette – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-074-4

ISBN 978-3-96089-075-1 (epub)

Inhalt:

Für Rhys steht fest: Er wird niemals eine Beziehung eingehen.

Nach dem Mord an seiner Mutter ist nicht nur seine Familie, sondern auch sein Vertrauen in andere zerstört. Er will sich in seinen Tätowier-Shop zurückziehen, seine Geschwister und das Rudel, das er anstelle seiner Mutter führen soll, hinter sich lassen und endlich den Schmerz vergessen.

Doch dann tritt Finn in sein Leben.

Finn, der auf tragische Weise mit Rhys’ Vergangenheit verbunden ist.

Finn, der immer wieder alte Wunden aufreißt und zu dem sich Rhys trotz allem hingezogen fühlt.

1

Rhys hatte mal gelesen, dass es unzählige Welten gibt. Parallelwelten. Gleich neben unserer. Und in jeder dieser Welten gibt es eine andere Version von einem selbst.

Er fragte sich oft, ob es auch eine Welt gab, in der seine Mutter noch lebte und er eine Familie hatte. In der alles in Ordnung war. Oder zumindest besser. Eine Welt, in der er keine Angst vor den Anrufen seiner Schwester zu haben brauchte.

Die Leitung war wieder still. Er wartete darauf, dass Janine etwas sagte. Bestimmt wartete sie darauf, dass er es tat. Aber es gab seit Langem nichts mehr zu sagen.

„Wie geht es Dad?“, fragte er dann doch.

„Gut“, antwortete Janine und er sah praktisch ihr Schulterzucken. „Wie geht es dir?“

„Gut“, sagte er. Froh über die unzähligen Kilometer zwischen ihnen. So sah sie ihm die Lüge nicht an.

„Gut“, wiederholte sie. Seufzte. „Ich muss los. Pass auf dich auf, Rhys.“

„Du auch ...“

Sie hatte aufgelegt, bevor er mehr sagen konnte.

Er hasste das Schuldgefühl, das nach jedem Telefonat mit Janine an ihm nagte. Nichts von dem, was geschehen war, war seine Schuld. Es war nur die Tat eines Wahnsinnigen gewesen …

Das Telefon klingelte wieder. Rhys atmete durch. Machte sich auf ein Gespräch mit Blair gefasst. Oder mit James. Seit drei Jahren wollten seine Geschwister an diesem Tag plötzlich so tun, als wären sie eine Familie. Als gehörte Rhys dazu. Nachdem sie ihn hier alleine gelassen hatten.

„Hudson“, sagte er ins Telefon.

„Hallo, Rhys“, grüßte Mrs Woods am anderen Ende der Leitung. „Ich habe heute viel zu tun. Ich schicke jemanden vorbei, der die Pigmente bringt.“

„Danke“, sagte er erleichtert, weil die Druidin die Leitung für andere Anrufe besetzt hielt. „Ich mache heute früher Schluss. Schafft Toby es bis sechs?“

„Toby möchte nichts mehr zu dir liefern.“ Mrs Woods klang vorwurfsvoll.

Rhys rollte mit den Augen.

„Ich werde Finn Bescheid sagen“, fuhr sie fort.

„Wer ist Finn?“

Die alte Dame seufzte. Rhys hörte Papierrascheln und das Schließen einer Tür. „Finn Reeves“, antwortete Mrs Woods.

Sie schwiegen. Ganz genau wie bei Janine.

„Bis später, Rhys.“

„Ja.“ Er war dankbar dafür, dass die Druidin weder seine Mutter erwähnt noch ihr Beileid bekundet hatte. „Danke nochmal.“

„Sei nett zu ihm!“, warnte Mrs Woods und legte auf.

Rhys warf das Telefon auf die Couch, wo er es hoffentlich nicht so schnell wiederfinden würde. Er war immer nett. Toby war nur furchtbar überempfindlich.

Er griff nach den letzten beiden Müsliriegeln und seiner Kaffeetasse, fischte noch ein Buch aus dem Regal. Heute würde zwar niemand vorbeikommen, aber die Welt erwartete trotzdem von ihm, dass er sich wie ein erwachsener Mann benahm. Und dazu gehörte auch, den Laden aufzumachen und zu lesen und zu vergessen …

Es war kurz vor sechs und Rhys tigerte vor der Ladentür auf und ab. Manche Passanten schauten mitleidig, wenn sie seinen Blick auffingen. Rhys lächelte jedes Mal. Er war eben nett. Höflich. Was man von Finn nicht behaupten konnte. Alle wussten, was heute für ein Tag war. Gott, der Junge würde es bestimmt auch nicht vergessen haben! Außerdem war heute Vollmond und Rhys wollte weg von den mitleidigen Blicken und Schuldgefühlen. Weg von der Stadt, von den Betas, von seinem verfluchten Telefon. Aber er brauchte die Pigmente für die beiden Termine morgen. Er ging zur Theke, um Finn eine Nachricht zu schreiben, dass er die Sachen vor der Tür lassen sollte. Die Glocke an der Tür klingelte.

„Wir haben geschlossen“, sagte Rhys aus Gewohnheit, während er wütend auf dem Zettel kritzelte.

„Die Tür ist doch offen“, antwortete der Besucher.

Rhys sah auf. Warum hatte er nur geglaubt, dass er ihn nicht erkennen würde? Menschen veränderten sich nicht so sehr in drei Jahren. Rhys sah ihn wieder deutlich vor sich: Klein und zitternd im Gerichtssaal, während er allen Blicken auswich. Rhys hatte versucht, ihn zu hassen, damals. Und auch jetzt wartete er auf irgendein Gefühl. Aber die Abneigung, die er empfand, galt der Erinnerung. Dem Mann, der ihre Leben auf die gleiche Weise zerstört hatte.

„Du bist spät“, sagte Rhys.

Finn zuckte nur mit den Schultern. „Hatte viel zu tun.“

Rhys verzog das Gesicht.

Der Junge stellte das Paket auf der Theke ab. Er schien nervös zu sein. Hibbelig. „Ähm, Mrs Woods meinte, ich soll das Geld mitbringen.“

„Klar.“ Rhys öffnete das Paket und kontrollierte die Farben darin. Erst dann ging er zur Kasse, um das Geld abzuzählen.

Finns Blick flatterte unablässig durch den Ladenraum, über die Fotos von Tätowierungen und die Ordner. Blieb nie an Rhys hängen.

Rhys betrachtete ihn. Seinen ausgewaschenen Kapuzenpulli, das wilde Haar. Kein Wunder, dass Mrs Woods den Jungen aufgenommen hatte. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Streuner gehabt.

„Hier.“ Rhys reichte ihm die abgezählten Scheine.

„Nichts für ungut, Mann“, murmelte dieser und begann sie nachzuzählen.

Rhys unterdrückte ein Knurren. Er sah zu, wie Finns Finger geschickt Schein für Schein umdrehten. Es waren lange, elegante Finger, die einen an Klavierspieler denken ließen. Und an andere Dinge. Er sah sich den Jungen genauer an – wie ihm die Locken schwer in die Augen hingen, als versuchten diese seine unnatürlich grauen Augen zu verbergen, die jede seiner Sommersprossen leuchten ließen. Ja, das war jemand, den er unter anderen Umständen mit in sein Bett genommen hätte. So wie er fast jede Nacht jemanden mitnahm, unfähig, der Sehnsucht nach körperlicher Nähe zu widerstehen. Aber seit Nicole suchte er seine Bettpartner außerhalb der Stadt.

Finn räusperte sich und steckte hastig das Geld ein. Rhys wurde bewusst, dass er gestarrt hatte. Hoffentlich mit seinem Serienmörderblick, wie Amber ihn nannte.

„Ich gehe dann?“

Rhys schnaufte. Was fragte er ihn? „Man sieht sich“, zwang er sich zu sagen.

Der Junge flüchtete aus dem Laden, murmelte dabei: „Hoffentlich nicht.“

***

Rhys hatte oft genug versucht, Iris auf dem Grab zu pflanzen. Seine Mutter hatte sie geliebt. Aber der Eisenhut erstickte jede Pflanze. Nicht einmal Brennnesseln wuchsen hier.

„Hey, Mom.“ Mehr Worte brauchte er nicht. Anders als Janine und Blair – die wären jetzt pikiert gewesen, dass er nicht richtig mit ihrer Mutter sprach. Dabei hätte diese verstanden, dass Rhys nicht gut mit Worten war.

Rhys ließ sich nach hinten in das feuchte Gras fallen. Der Mond hing schwer und warm über den Baumwipfeln. Er schloss die Augen. Spürte, wie jede seiner Zellen im Takt seines Herzschlags mitschwang. Mikroskopisch Ebbe und Flut imitierte.

„Bis gleich“, sagte er zum Grab und legte seine gefaltete Kleidung ordentlich unter der Eiche daneben ab. Wäre seine Welt perfekt, würde er bei Vollmond nicht alleine laufen. Dann wären jetzt alle da. Seine Familie, seine Betas … Sein Rudel.

Es war einfach, dem Wolf die Kontrolle zu überlassen. So einfach, wie man bei einer optischen Täuschung den Blickwinkel ändern und je nach Perspektive ein anderes Bild sehen konnte. Mensch und Wolf. Er konnte problemlos zwischen beiden Perspektiven wechseln. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass er und nicht Janine ein Alpha geworden war.

Er schüttelte sein Fell aus und nahm Witterung auf. Die Luft roch nach Sommer und Sonne. Leben. Er hörte irgendwo Luke heulen, mit jungen und zittrigen Lauten, und lief in die entgegengesetzte Richtung.

Es muss Müdigkeit gewesen sein. Oder Nachlässigkeit. Sonst kam Rhys nie so nah an den Ort, an dem seine Mutter gestorben war.

Er wollte wieder zurück zu ihrem Grab, als der Wind drehte. Der Gestank von Blut, Feuer und Alkohol war so stark, dass er sich kurz auf dem Boden zusammenkauerte, um ihm zu entkommen. Es war lange nach Mitternacht und die Kombination dieser Gerüche verhieß nichts Gutes. Erst recht nicht an diesem Ort.

Rhys hörte einen Herzschlag. Unregelmäßig und angestrengt.

Es war Rhys’ Revier, alle wussten und respektierten das. Sogar die Menschen. Es lag also in seiner Pflicht, nachzusehen, was dem Menschen fehlte, dessen Herz so ungleichmäßig schlug. Auch wenn es ihm körperliche Schmerzen bereitete, sich dem knisternden Feuer zu nähern …

Rhys erkannte den Duft, bevor er den Jungen selbst erkannte. Finn. Selbstverständlich. Er war wohl der einzige Mensch, der das Recht besaß, hier zu sein.

Rhys wollte zurücklaufen, als er begriff, was der Junge tat. Der Mensch in ihm war schockiert. Der Wolf dagegen beobachtete hypnotisiert, wie die Klinge methodisch Risse in der Haut von Finns Unterarm hinterließ. Sie sahen wie unzählige Papierschnitte aus. Dem schweißnassen Gesicht des Jungen nach zu urteilen, taten sie genauso weh.

Finns Kopf schnappte plötzlich hoch. Er sah Rhys in dem hohen Gras stehen. Das Messer rutschte aus seinem Griff und er beugte sich fluchend hinunter, um es aufzuheben. Rhys fand, er hatte genug gesehen, und drehte sich weg.

„Hey, bleib hier!“, rief Finn ihm hinterher. Die Worte rollten träge von seiner Zunge.

Rhys sah zurück zu der fast leeren Whiskey-Flasche, die im Licht des Lagerfeuers neben Finn leuchtete.

„Braver Junge“, lallte Finn. „Komm her, Kumpel. Ich wollte dir keine Angst machen.“

Rhys schnaufte. Wunderbar! Finn hielt ihn wohl für einen Hund. Und das bedeutete, dass er total hinüber war. Rhys konnte ihn hier nicht alleine lassen, egal, wie sehr er diesen Ort verabscheute.

Er setzte sich in sicherer Entfernung zum Feuer hin. Starrte auf den Unterarm mit all den Schnitten.

Finn bemerkte seinen Blick. Er schob den Ärmel seines Sweatshirts herunter. Es war der gleiche, den er heute im Laden getragen hatte, wie Rhys am Logo erkannte.

Finn hob die Flasche auf und schwenkte sie hin und her. „Wusstest du, dass Alkohol zum Vergessen schlecht ist?“, fragte er und lächelte. „Er macht Erinnerungen sogar klarer. Lebendiger. Die gute Nachricht ist: Wenn du genug davon trinkst, macht es Boom! Und mit viel Glück sterben dann die Gehirnzellen ab, in denen die Erinnerung gespeichert ist …“

Er nahm einen großen Schluck und starrte ins Feuer, ohne Rhys weiter zu beachten. Der fragte sich, ob Finn das Gleiche in den Flammen sah wie er.

2

Es war lange nach acht, als Rhys endlich zu Hause war. Er warf seine Sachen in die Ecke und sprang noch schnell unter die Dusche, bevor sein 9-Uhr-Termin kam. Während das Wasser auf ihn niederprasselte, erlaubte er sich für einen Moment vom Schock überwältigt zu werden.

Er mochte nicht, wie Finn mit seiner Trauer umging. Nicht dass Rhys es viel besser machte, aber er verletzte sich immerhin nicht selbst. Aber es war nicht sein Körper und nicht seine Entscheidung, sagte er sich. Wenn Rhys diese einfache Tatsache nicht respektieren würde, wäre er falsch in seinem Beruf.

Der Wolf dagegen hatte sich zu einer warmen, satten Kugel unter seinem Magen zusammengerollt. Nur von dem bisschen Kuscheln mit Finn. Statt in Bars nach Bettpartnern zu suchen, sollte Rhys vielleicht lieber zu diesen Kuschelpartys gehen. Als Wolf oder so verkleidet. Er lachte kurz auf und zog sich an.

Es klingelte an der Tür. Er trank schnell ein Glas Wasser und stellte Major, der sich schnurrend um sein Bein wand, sein Futter hin, bevor er hinunterrannte.

Gegen 20 Uhr beendete Rhys die Talisman-Tätowierung an dem Handrücken des Druiden und erklärte ihm, dass stinknormale Salbe vollkommen ausreichen würde. Er sollte bloß nicht mit selbstgemischten Sachen darauf pantschen, weil die enthaltenen Kräuter die Pigmente beeinflussen könnten. Warum er einen Druiden darüber aufklären musste, ging über seinen Verstand hinaus. Anscheinend kapierte der nicht wirklich, was er in Zukunft auf seiner Haut tragen würde. Aber nicht Rhys’ Körper, nicht seine Entscheidung.

Sein Magen knurrte schmerzhaft. Er hatte seit dem vergangenen Tag nichts gegessen und musste noch alles reinigen und desinfizieren. Also bestellte er sich drei Pizzen, eine für jede verpasste Mahlzeit, und machte sich an die Arbeit.

Als eine halbe Stunde später die Türglocke klingelte, wusste der Wolf sofort, wer hereingekommen war. Rhys konnte nicht die Wärme unterdrücken, die der Wolf bei der Erinnerung an die Nähe verströmte. Er erinnerte sich nur daran, nicht auf die Finger zu schauen. Nicht an die Schnitte zu denken.

„Hey“, sagte Finn und zeigte ihm die Pizzakartons. „Macht genau 30. Wohin?“

Rhys nickte zur Theke und ging nach hinten, um das Geld zu holen. Finn sah diesmal die ganze Zeit auf den Boden, das Gesicht voller roter Flecken. Rhys roch immer noch das Blut, wunderte sich, wie ihm das am Vortag hatte entgehen können. Er wollte noch mehr von Finn riechen. Der Wolf wollte das. Aber Rhys war immer noch höflich.

Als er mit den Scheinen – inklusive Trinkgeld, das der Junge wohl dringend brauchte, wenn er mehrere Jobs machte – herauskam, stand Finn nicht mehr an der Theke. Rhys bemerkte ihn in einer Ecke, wo er sich Fotos von verschiedenen Schutztattoos anschaute. Finn beugte sich gerade hinunter, um einen Talisman besser zu sehen. Er strich mit den Fingern über die Linien aus Runen, die sich wie ein Armband um ein Handgelenk schlängelten.

„Das Geld“, sagte Rhys.

Der Junge nickte abwesend, kaute an seiner Unterlippe. Rhys beobachtete ihn, die scharfen Kanten und Winkel seines Gesichts, seines ganzen Körpers. Man könnte meinen, es gäbe nichts Weiches an ihm, aber seine Lippen, seine Haut, zogen ihn an … Sie waren unbestreitbar weich. Berührbar.

„Wie viel kostet so etwas?“, fragte Finn.

Rhys zwang seinen Blick zurück zum Bild. Die erste Antwort, die ihm auf der Zunge lag, war: ‚Du kannst es dir nicht leisten‘. Die zweite war: ‚Das hängt von dir ab‘. Stattdessen griff er nach dem Arm des Jungen, als dieser das Geld einstecken wollte, und schob dessen Ärmel hoch. „Du solltest das hier abheilen lassen, bevor du auch nur darüber nachdenkst“, war das, was am Ende herauskam. Und was Rhys augenblicklich bereute.

Zuerst war es Schock, dann Scham, dann Wut. Rhys brauchte keine übernatürlichen Fähigkeiten, um all diese Gefühle aus den weitaufgerissenen Augen des Jungen zu lesen.

Finn riss seinen Arm los. „Fick dich!“, zischte er und stürmte hinaus.

***

Lukes Nachricht war zwei Wochen alt, als Rhys sie endlich beantwortete. Ja, er würde ihm bei der College-Auswahl helfen. Nein, es war natürlich nicht zu spät dafür.

Die Schuldgefühle waren diesmal stärker. Rhys wusste, dass es an Finn lag. Daran, dass er ihn verletzt hatte …

Er sah zu den unzähligen Pizzakartons in der Küche, auf denen Major jetzt schlief. Das viele Pizzaessen hatte nichts gebracht. Finn war nicht wieder aufgetaucht. Rhys hätte natürlich Mrs Woods anrufen können, aber es war viel einfacher Luke zu texten und sich zu sagen, dass dieser wichtiger war. Dass Rhys bei Luke mehr gutzumachen hatte.

„Du denkst wirklich nicht, dass ich zu alt bin?“, fragte Luke zum zweiten Mal.

„Natürlich nicht“, antwortete Rhys. Er drückte kurz Lukes Schulter, bevor die Barista ihnen ihre Kaffeebecher reichte und ihm ein anzügliches Lächeln zuwarf. „Komm“, bat er Luke sofort. „Lass uns nach draußen gehen.“

Sie waren gerade durch Lukes beeindruckende Vorauswahl an Colleges gegangen, als Rhys den bekannten Duft von altem Blut auffing und Getuschel am Nachbartisch hörte. Er entdeckte Finn auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wie er mit dem Besitzer des Blumenladens sprach

„Armer Junge“, flüsterten die Frauen am Nebentisch. „Was aus ihm geworden ist …“

Sie merkten anscheinend nicht, dass Rhys und Luke direkt hinter ihnen saßen und sie somit gut hören konnten. Sie sagten Waise, als wäre es ein Schimpfwort.

Rhys blendete sie aus. Versuchte es zumindest. Ihre Worte hörten sich zu sehr nach dem an, was über ihn geflüstert wurde.

Er bemerkte, dass Luke immer noch den Jungen ansah, und erinnerte sich daran, dass sie damals in derselben Stufe gewesen waren. „Geht er auch aufs College?“, fragte Rhys unhörbar für Menschenohren.

Luke schüttelte den Kopf. „Finn hat die Schule nie beendet.“

Rhys wandte sich wieder Lukes Unterlagen zu und sie sprachen lange über die Bewerbungsessays. Eine furchtbare Aufgabe, wie Rhys fand. Er hatte damals Wochen an seinem für die Columbia-Universität gesessen. Vergeblich, wie sich am Ende herausgestellt hatte …

„Amber hat nach dir gefragt.“, sagte Luke. Er zuckte zurück, als Rhys sich daraufhin bewegte. Und auch dafür fühlte Rhys sich schuldig.

Er schüttelte nur den Kopf, denn es gab nichts wegen Amber zu sagen. Nur ein Gefühl, den Instinkt, sich von ihr fernzuhalten. Nicht sehen zu müssen, wie viel er falsch gemacht hatte. Wie viel nicht mehr zu retten war.

Luke schien zu verstehen. Er sammelte seine Unterlagen ein und nahm seinen leeren Becher mit. „Wir sehen uns dann, ja?“

„Selbstverständlich“, antwortete Rhys. Fragte sich, ob Luke inzwischen gelernt hatte, Unsicherheiten, die an eine Lüge grenzten, aus seinen Worten zu hören. „Viel Glück mit den Essays.“

Luke lächelte und winkte zum Abschied. Als er außer Hörweite war, seufzte Rhys. Luke verdiente mehr, als ein kurzes Treffen alle paar Wochen. Er dachte wieder einmal, dass Janine und nicht er der Alpha hätte werden sollen.

Major weckte Rhys, nur Sekunden, bevor er es selbst spürte. Eine Spannung unter seiner Haut wie bei einer Verbrennung.

Wenn zwei fremde Alphas um ein Uhr nachts auftauchten, hatte das keinen angenehmen Grund. Aber zum Glück steuerten sie Rhys’ Gebäude an, ohne sich zu verbergen. Was eine lange Nacht bedeuten konnte. Rhys textete Luke, dass die Betas sich keine Sorgen zu machen brauchten, und warf die Kaffeemaschine an.

Als er Minuten später den Laden aufschloss und die ganzen Werwölfe sah, wusste er ganz sicher, dass es eine lange und anstrengende Nacht werden würde. Sie gaben ihm keine Gelegenheit, sie hineinzubitten oder Fragen zu stellen. Es gab viel Geschrei und Anschuldigungen, bis er sie anbrüllte und befahl, dass alle Betas draußen zu warten hätten. Aber er verstand auch das Chaos, angesichts des Zustands, in welchem sich die Alphas befanden. Der Mann war gezwungen ruhig, bis zur Apathie. Die Frau presste verzweifelt die Hände gegen ihren Bauch, als würde es die Wehen und die Schmerzen aufhalten.

Ein junger Mann stand zwischen ihnen. Er war ein Mensch. Und wenn Rhys die Lage richtig erfasst hatte, der Grund für den bevorstehenden Krieg der beiden Rudel.

„Ich muss jemanden anrufen.“ Rhys zeigte auf das Sofa, auf dem die Frau sofort zusammensank. Er wechselte einen Blick mit dem männlichen Alpha und musste sofort wegsehen. Es kam Rhys vor, als sähe er seinen Vater von vor drei Jahren vor sich. Wie ihm das Leben aus dem Gesicht wich, je länger das Feuer brannte.

„Ich hoffe doch sehr, dass es ein Notfall ist“, sprach wenig später Mrs Woods am anderen Ende der Leitung.

„Ein Werwolf in Wehen, vor dem Termin“, sagte Rhys ohne Umschweife. „Und wenn ich es richtig verstanden habe: Rekalibrierung.“

Mrs Woods antwortete nicht sofort. Rhys hörte nur, wie sie sich anscheinend durch ihr Haus bewegte. „Ich bin gleich da. Und bis dahin solltest du sichergehen, dass du es richtig verstanden hast.“

3

Eine halbe Stunde später gab es draußen erneut Geschrei und Knurren. Mrs Woods’ Stimme schnitt durch den Lärm. Die Tür ging auf und ein verängstigter Beta schaute herein. „Ihr Avatar ist da“, sagte er zu Rhys, bevor Mrs Woods ihn zur Seite schob und hereinkam. Finn lief mit einer großen Tasche hinter ihr her. Er sah aus, als hätte man ihn geradewegs aus dem Bett gezerrt. Diesmal erwiderte er Rhys’ Blick, aber der sah nur Abneigung darin. Rhys fragte Mrs Woods nicht, warum sie Finn mitgebracht hatte und korrigierte auch nicht die Annahme, sie sei sein Avatar. Es ging die anderen nichts an und würde nur mehr Chaos verursachen.

Mrs Woods kümmerte sich als Erstes um die Frau, tastete ihren Bauch ab. Rhys konnte die ruckartigen Bewegungen des Kindes genau sehen. Als würde es sich winden.

„Sind Sie Arzt?“, fragte die Frau nach einer Wehe.

„Tierärztin“, antwortete Mrs Woods und winkte Finn heran. Sie holte ein großes Glas aus seiner Tasche. „Mach bitte eine Barriere um das Gebäude“, bat sie den Jungen, der erleichtert den Raum verließ. „Jetzt sollte jemand ganz schnell die Lage erklären“, befahl sie, aber niemand antwortete. „Rhys?“

Rhys seufzte. „Der Avatar“, erklärte er und zeigte auf den jungen Mann, „hat eine Beziehung mit dem Alpha des rivalisierenden Rudels. Ich denke, wenn ich ihn auf sie übertrage, gäbe es keinen Konflikt mehr.“

Mrs Woods murmelte ihre Zustimmung und Finn kam wieder herein. Rhys spürte, wie sich die Atmosphäre minimal entspannte, da die Betas ausgeschlossen worden waren.

„Ich nehme an, das Kind ist von dir?“ Mrs Woods sah den jungen Mann an, der ihrem Blick auswich und nickte. Die Druidin seufzte schwer. „Du solltest schnell anfangen“, sagte sie zu Rhys. „Das Baby schafft es sonst nicht.“

Die Frau schluchzte auf und klammerte sich an den Armen des Avatars, der definitiv so aussah, als würde er gleich kotzen. Rhys griff nach ihm. Er zerrte ihn in den Nebenraum und ignorierte das Knurren der beiden Alphas.

„Name?“, fragte er und begann die Geräte und die Silbernadeln bereitzulegen.

„Alec …“

„Du bist ein Idiot, Alec.“ Es war Rhys egal, dass die Alphas ihn hören konnten, denn Alec war wirklich ein ziemlicher Idiot. „Selbst wenn du fremdgehst, halten dir deine Meridiane immer die Treue.“

Alec schüttelte den Kopf und zuckte bei dem Geräusch, als Rhys eine Tätowierungsmaschine zur Probe einschaltete, zusammen. „Ich verstehe das einfach nicht. Ich bin nicht fremdgegangen!“ Er versuchte Rhys auszuweichen, als dieser ihn zu einer der Liegen schleifen wollte. „Muss das wirklich sein?“

Der Alpha kam herein und Alec lief sofort zu ihm. „Josh, muss das wirklich sein?“, fragte er.

Der Alpha sah Rhys an. Es tat weh, immer noch Hoffnung in seinem Blick zu sehen. Rhys hätte sie am liebsten beide durchgeschüttelt.

„Es ist dein Kind“, erklärte Rhys Alec, als wäre er selbst noch eins. „Du bist aber an deinen Alpha gebunden. Deine Magie wird von seinem Willen beeinflusst. Was dachtest du, welche Konsequenzen es hat, wenn du mit dem Feind schläfst? Was es für das Kind bedeutet?“

„Du willst, dass das Baby stirbt?“, fragte der Avatar den Alpha. Seine Stimme schlug nach oben aus, ließ ihn unerträglich jung klingen. Rhys nutzte den Moment und schubste ihn auf eine Liege.

„Natürlich will ich das nicht!“, antwortete der Alpha müde. „Ich will einfach nur, dass das alles vorbei ist …“

„Aber Josh …“

„Nein! Das reicht!“, unterbrach er ihn. „Meine eigenen Betas haben verlangt, dass ich dich töte! Meriels Rudel will einen Krieg anfangen und dich töten. Das hier ist die einzige Möglichkeit. Wenn du ihr gehörst, muss wenigstens keiner sterben.“

Rhys hörte die Lüge sofort, aber er würde den Alpha nicht darauf ansprechen. „Bist du soweit?“, fragte er den Avatar und rief nach Mrs Woods.

Der Alpha sah auf die Nadeln und die Tätowierungsmaschine in Rhys’ Hand. „Du solltest rausgehen“, sagte Rhys ihm. Eine Neutralisierung war keine schöne Erfahrung.

„Josh“, bat der Mensch jämmerlich und der Alpha blieb natürlich.

Rhys sah weg. Nicht sein Herz, nicht seine Entscheidung.

Finn stolperte in den Raum hinein.

„Was willst du hier?“, zischte Rhys ihn an. „Raus!“

„Du kannst mich mal!“, rief Finn zurück. „Mrs Woods schickt mich. Sie muss beim Baby bleiben.“

„Ich brauche sie aber! Mrs Woods?!“

„Finn wird das machen“, rief sie zurück. Sie klang entschieden genug, dass Rhys keinen Streit anfangen wollte. Stattdessen packte er Finn und drückte ihn gegen die Wand.

„Es ist ganz egal, was ich von dir halte oder du von mir, kapiert?“, knurrte er in das Gesicht des Jungen. „Wenn du dich gleich nicht konzentrierst, hat er nur Verbrennungen dritten Grades übrig. Und einer der beiden Alphas wird dich mit Vergnügen für die Transplantation häuten!“

Finns Blick flatterte über sein Gesicht. Er schluckte, bevor er nickte.

Rhys zog ihn mit und zeigte auf den Stuhl. „Weißt du, was zu tun ist?“

Finn rieb die Hände an seiner Hose und sah kurz zu dem Avatar auf der Liege daneben. „Theoretisch, ja.“

„Ist das ein Witz?“, fragte der Avatar. „Ich lass das doch nicht von einem Anfänger machen. Von einem Kind!“

„Ich bin kein Kind! Ich bin 19.“

„Oh, wunderbar! Er ist 19!“

„Das reicht“, sagte Josh und presste den Avatar zurück auf die Liege. Seine Augen leuchteten auf, das Gesicht kurz vor der Verwandlung. „Du hast nicht mehr die Wahl.“

„Ausziehen“, befahl Rhys.

Der Avatar knöpfte mit zitternden Fingern sein Hemd auf. Rhys fluchte innerlich, als er das komplizierte Muster auf dem Rücken sah. Wünschte, er hätte Zeit, nach Ohrstöpseln zu suchen. „Finn?“

Rhys atmete durch und wartete auf den Griff von Finns Fingern auf seinem Unterarm. Er zuckte vor der Berührung, vor der kalten, fremden Magie darin, zurück.

„Es wird laut werden“, warnte Rhys, als er die Maschine startete und die schrillen Schreie des Avatars ihr Summen übertönten. Finns Magie floss unablässig durch seinen Unterarm in die Silbernadel. Rhys sah erleichtert zu, wie sie zusammen jede Rune und jede Linie auslöschten. Jede Verbindung zu Josh.

Rhys hatte keine Uhr, um nachzusehen, wie lange das Neutralisieren gedauert hatte. Der Avatar war kaum noch bei Bewusstsein. Der Alpha dagegen sah aus, als hätte man ihn lebendig seziert. Und dem Geruch von Blut nach zu urteilen, war auch genau das geschehen. Jede Linie, die Alec verloren hatte, war eine zukünftige Narbe auf Joshs Rücken.

Rhys wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Seine linke Hand war fast taub, er spürte nur das Kribbeln von Finns Magie. Er drehte sich zu ihm um. „Alles okay?“

Der Junge war blass, seine Pupillen praktisch nicht vorhanden. Nur deren graue Kreise fixierten Rhys. Und endlich nickte Finn. Rhys wollte ihm sagen, dass er seine Sache gut gemacht hatte. Mehr als das. Sie hatten über keine einzige Linie ein zweites Mal drüber gehen müssen. Aber Rhys war nicht gut mit Worten. Egal welcher Art.

„Meriel …“, flüsterte Alec.

Sie schauten alle zum Avatar. Der Alpha ließ diesen sofort los, als hätte er sich verbrannt.

Rhys holte seine Schlüssel heraus und reichte sie dem Alpha. „Du solltest gehen“, sagte er. „Du kannst zurückgehen oder oben in meiner Wohnung warten.“

Der Alpha blickte zum Avatar und griff nach den Schlüsseln. Rhys hatte es nicht anders erwartet.

„Ich schaue nach Mrs Woods und dem Baby?“ Finn klang immer noch benommen.

Rhys nickte abwesend. Er holte zwei Wasserflaschen und drückte eine davon dem Avatar in die Hände.

„Josh?“, fragte dieser.

Die Alpha draußen schrie auf und Mrs Woods redete beruhigend auf sie ein. Erklärte ihr, dass sie noch nicht pressen durfte.

„Trink“, befahl Rhys und mischte das Obsidianpulver unter die Farbe. „Wenn ich gleich anfange, darfst du nur an deinen neuen Alpha denken, verstanden? An ihr Rudel und an euer Kind.“

„Wie geht es ihr? Das Baby …?“

„Es geht ihnen den Umständen entsprechend.“ Der Avatar sah jetzt selbst nicht älter als Finn aus und Rhys empfand doch noch Mitleid. „Trink aus“, wiederholte er. „Wir sollten fertig werden, bevor das Baby da ist.“

Rhys zog die Linien in die entgegengesetzte Richtung der ursprünglichen Linien. Wiederholte die kreisförmigen Meridiane aus Beschwörungen, die einen Avatar an einen Alpha banden. Die Pigmente nahmen die Magie des Avatars in sich auf, richteten sich nach dem Alpha aus. Er hatte zuerst befürchtet, die Entfernung zur Alpha wäre zu groß und die Bindung darum zum Scheitern verurteilt, aber seine Haut war warm vor Alecs Magie. Rhys’ Hand krampfte irgendwann. Er hörte nur noch die Schreie der Frau, Mrs Woods’ Stimme, die methodisch zählte und zu pressen befahl. Ein paar Mal hörte er Finn im Raum auftauchen und nach ihm und dem Avatar sehen. Wenn er dann zurück zu den anderen beiden ging, flüsterte er der Alpha zu, dass alles gut lief. Dass alles gut werden würde. Es war befremdlich, diese Worte ausgerechnet aus dem Mund von Finn zu hören. Zu wissen, dass es keine Lüge war, keine Floskel.