Der Untergeher - Thomas Bernhard - E-Book

Der Untergeher E-Book

Thomas Bernhard

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Beschreibung

Der Erzähler in dem zuerst 1983 publizierten Werk wohnt in Madrid und schreibt eine Arbeit über den kanadischen Pianisten Glenn Gould, »den wichtigsten Klaviervirtuosen des Jahrhunderts«, der, auf dem Gipfel seiner Kunst, aufhörte zu spielen. In Madrid erreicht den Erzähler ein Telegramm, das das Begräbnis seines Freundes Wertheimer anzeigt, der sich umgebracht hat. Die drei hatten sich in Salzburg bei einem Musikkurs von Horowitz kennengelernt. Bald stellte sich heraus: Glenn Gould war das größte Genie. Unter dem Eindruck der Übermacht dieses Genies wurde der Erzähler zu einem »Weltanschauungskünstler«, zum Kritiker seiner Zeit und besonders zum Kritiker Österreichs, Wertheimer dagegen stürzte in eine unumkehrbare Existenzdepression. Je mehr der Erzähler an seinen »Versuch über Glenn« dachte, um so deutlicher wurde ihm, daß es ihm eigentlich darum zu tun war, sich Klarheit über Wertheimer, den »Untergeher«, wie Glenn Gould schon früh zu ihm gesagt hatte, zu verschaffen.

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Seitenzahl: 226

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Thomas Bernhard

Der Untergeher

Roman

Suhrkamp Verlag

Lange vorausberechneter Selbstmord, dachte ich, kein spontaner Akt von Verzweiflung.

Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervirtuose des Jahrhunderts, ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus.

Nur hat der sich nicht wie Wertheimer umgebracht, sondern ist, wie gesagt wird, eines natürlichen Todes gestorben.

Viereinhalb Monate New York und immer wieder die Goldbergvariationen und Die Kunst der Fuge, viereinhalb Monate Klavierexerzitien, wie Glenn Gould immer wieder nur in Deutsch gesagt hat, dachte ich.

Vor genau achtundzwanzig Jahren hatten wir in Leopoldskron gewohnt und bei Horowitz studiert und (was Wertheimer und mich betrifft, nicht aber Glenn Gould naturgemäß), während eines völlig verregneten Sommers von Horowitz mehr gelernt, als die acht Jahre Mozarteum und Wiener Akademie vorher. Horowitz hat alle unsere Professoren null und nichtig gemacht. Aber diese fürchterlichen Lehrer waren notwendig gewesen, um Horowitz zu begreifen. Zweieinhalb Monate regnete es ununterbrochen und wir hatten uns in unseren Zimmern in Leopoldskron eingeschlossen und arbeiteten Tag und Nacht, die Schlaflosigkeit (des Glenn Gould!) war zu unserem entscheidenden Zustand geworden, in der Nacht erarbeiteten wir uns, was uns Horowitz am Tag gelehrt hatte. Wir aßen beinahe nichts und hatten auch die ganze Zeit keine Rückenschmerzen, die uns sonst immer gequält hatten, solange wir bei unseren alten Professoren studierten; unter Horowitz kamen diese Rückenschmerzen gar nicht auf, weil wir mit einer solchen Intensität studierten, daß sie nicht aufkommen konnten. Als wir den Unterricht bei Horowitz beendet hatten, war es klar, daß Glenn schon der bessere Klavierspieler war als Horowitz selbst, plötzlich hatte ich den Eindruck gehabt, Glenn spiele besser als Horowitz, und von diesem Augenblick an war Glenn der wichtigste Klaviervirtuose auf der ganzen Welt für mich, so viele Klavierspieler ich auch von diesem Augenblick an hörte, keiner spielte so wie Glenn, selbst Rubinstein, den ich immer geliebt habe, war nicht besser. Wertheimer und ich waren gleich gut, auch Wertheimer hat immer wieder gesagt, Glenn ist der beste, wenn wir auch noch nicht zu sagen gewagt haben, daß er der beste des Jahrhunderts sei. Als Glenn nach Kanada zurück ging, hatten wir tatsächlich unseren kanadischen Freund verloren, wir dachten nicht, ihn jemals wieder zu sehen, er war von seiner Kunst in einer Weise besessen gewesen, daß wir annehmen mußten, er könne diesen Zustand nicht mehr lange hinausschieben und werde in kurzer Zeit sterben. Aber zwei Jahre, nachdem wir mit ihm bei Horowitz studiert hatten, spielte Glenn bei den Salzburger Festspielen die Goldbergvariationen, die er zwei Jahre vorher mit uns am Mozarteum Tag und Nacht geübt und immer wieder einstudiert hatte. Die Zeitungen schrieben nach seinem Konzert, daß noch kein Pianist die Goldbergvariationen so kunstvoll gespielt habe, sie schrieben also nach seinem Salzburger Konzert das, was wir schon zwei Jahre vorher behauptet und gewußt hatten. Wir hatten uns mit Glenn nach seinem Konzert verabredet, im Ganshof in Maxglan, einem alten, von mir geliebten Gasthaus. Wir tranken Wasser und redeten nichts. Ohne zu zögern hatte ich bei unserer Wiederbegegnung zu Glenn gesagt, daß wir, Wertheimer (der aus Wien nach Salzburg gekommen war) und ich, nicht einen Augenblick an ein Wiedersehen mit ihm, Glenn, geglaubt hätten, wir hätten immer nur den einzigen Gedanken gehabt, Glenn würde nach seiner Rückkehr aus Salzburg in Kanada rasch zugrunde gehen, an seiner Kunstbesessenheit, an seinem Klavierradikalismus. Tatsächlich hatte ich das Wort Klavierradikalismus zu ihm gesagt. Mein Klavierradikalismus, hat Glenn dann immer wieder gesagt und ich weiß, daß er diesen Ausdruck auch in Kanada und in Amerika immer wieder verwendet hat. Schon damals, also beinahe dreißig Jahre vor seinem Tod, hat Glenn keinen anderen Komponisten mehr geliebt als Bach, als zweiten Händel, Beethoven verachtete er, selbst Mozart war nicht jener von mir wie kein anderer geliebte, wenn er über ihn redete, dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat. Nicht einen einzigen Ton hat Glenn jemals ohne seine Singstimme angeschlagen, dachte ich, kein anderer Klavierspieler hat diese Gewohnheit jemals gehabt. Von seiner Lungenkrankheit sprach er, als wäre sie seine zweite Kunst. Daß wir zur gleichen Zeit dieselbe Krankheit gehabt haben und dann immer gehabt haben, dachte ich, und letztenendes auch Wertheimer diese unsere Krankheit bekommen hat. Aber Glenn ist nicht an dieser Lungenkrankheit zugrunde gegangen, dachte ich. Die Ausweglosigkeit hat ihn umgebracht, in welche er sich in beinahe vierzig Jahren hineingespielt hat, dachte ich. Er hat das Klavierspiel nicht aufgegeben, dachte ich, naturgemäß, während Wertheimer und ich das Klavierspiel aufgegeben haben, weil wir es nicht zu dieser Ungeheuerlichkeit gemacht haben wie Glenn, der aus dieser Ungeheuerlichkeit nicht mehr herausgekommen ist, der auch gar nicht den Willen dazu gehabt hat, aus dieser Ungeheuerlichkeit herauszukommen. Wertheimer ließ seinen Bösendorferflügel im Dorotheum versteigern, ich verschenkte meinen Steinway eines Tages an eine neunjährige Lehrertochter aus Neukirchen bei Altmünster, um nicht mehr von ihm gequält zu werden. Das Lehrerkind hat meinen Steinway in der kürzesten Zeit ruiniert, mich schmerzte diese Tatsache nicht, im Gegenteil, ich beobachtete diese stumpfsinnige Zerstörung mit perverser Lust. Wertheimer war, so er selbst immer wieder, in die Geisteswissenschaft hineingegangen, ich hatte meinen Verkümmerungsprozeß aufgenommen. Ohne die Musik, die ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr aushalten konnte, verkümmerte ich, ohne die praktische Musik, die theoretische hatte vom ersten Augenblick an nur eine verheerende Wirkung auf mich. Von einem Augenblick auf den andern hatte ich das Klavier gehaßt, mein eigenes, mich nicht mehr spielen hören können; ich wollte mich nicht mehr an meinem Instrument vergreifen. So suchte ich eines Tages den Lehrer auf, um ihm mein Geschenk anzukündigen, meinen Steinway, ich hätte gehört, daß seine Tochter für das Klavier begabt sei, hatte ich zu ihm gesagt und ihm den Steinwaytransport in sein Haus angekündigt. Ich sei rechtzeitig zur Überzeugung gekommen, daß ich selbst nicht für eine Virtuosenlaufbahn geeignet sei, hatte ich zum Lehrer gesagt, da ich in allem immer nur das Höchste wolle, müsse ich mich von meinem Instrument trennen, denn auf ihm erreichte ich mit Sicherheit, wie ich plötzlich eingesehen habe, nicht das Höchste, so sei es selbstverständlich, daß ich seiner begabten Tochter mein Klavier zur Verfügung stellte, nicht ein einzigesmal werde ich den Deckel meines Klaviers mehr aufklappen, hatte ich zu dem verblüfften Lehrer gesagt, einem ziemlich primitiven Mann, der mit einer noch primitiveren Frau, ebenfalls aus Neukirchen bei Altmünster, verheiratet ist. Die Transportkosten übernehme ich selbstverständlich! hatte ich zu dem Lehrer gesagt, der mir von Kindheit an bekannt und vertraut ist, eben auch seine Einfältigkeit, um nicht sagen zu müssen Dummheit. Der Lehrer hat mein Geschenk sofort angenommen, dachte ich, als ich in das Gasthaus eintrat. Ich hatte nicht einen Augenblick an das Talent seiner Tochter geglaubt; über alle Landkinder von Lehrern wird immer behauptet, sie hätten Talent, vor allem Musiktalent, aber in Wahrheit haben sie für gar nichts Talent, alle diese Kinder sind immer ganz und gar talentlos und wenn ein solches Kind in eine Flöte blasen oder an einer Zither zupfen oder auf einem Klavier klimpern kann, so ist es noch kein Talentbeweis. Ich wußte, daß ich mein kostbares Instrument der absoluten Nichtswürdigkeit ausliefere und gerade deshalb ließ ich es zum Lehrer bringen. Die Lehrertochter hat mein Instrument, eines der besten überhaupt, eines der rarsten und also gesuchtesten und also auch teuersten, in der kürzesten Zeit zugrunde gerichtet, unbrauchbar gemacht. Aber gerade diesen Vorgang der Zugrunderichtung meines geliebten Steinway hatte ich ja haben wollen. Wertheimer ist in die Geisteswissenschaften hineingegangen, wie er immer wieder gesagt hat, ich bin in meinen Verkümmerungsprozeß eingetreten und indem ich mein Instrument in das Lehrerhaus geschafft habe, war dieser Verkümmerungsprozeß von mir auf die bestmögliche Weise ein

geleitet. Wertheimer hatte aber noch jahrelang, nachdem ich meinen Steinway an die Lehrertochter verschenkt hatte, Klavier gespielt, weil er noch jahrelang geglaubt hat, Klaviervirtuose werden zu können. Er spielte im übrigen tausendmal besser, als die meisten unserer öffentlich auftretenden Klaviervirtuosen, aber schließlich hatte es ihn nicht befriedigt, bestenfalls ein solcher Klaviervirtuose zu sein wie alle anderen in Europa und hatte aufgehört, war in die Geisteswissenschaften eingetreten. Ich selbst hatte, wie ich glaube, noch besser als Wertheimer gespielt, aber ich hätte niemals so gut spielen können wie Glenn und ich habe aus diesem Grund (also aus demselben Grund wie Wertheimer!) das Klavierspiel von einem Augenblick auf den andern aufgegeben. Ich hätte besser spielen müssen als Glenn, das war aber nicht möglich, war ausgeschlossen, also verzichtete ich auf das Klavierspiel. Ich wachte an einem, ich weiß nicht mehr genau an welchem, Apriltag auf und sagte mir, kein Klavierspiel mehr. Und ich rührte das Instrument auch nicht mehr an. Ich ging sofort zum Lehrer und kündigte ihm den Klaviertransport an. Dem Philosophischen werde ich mich von jetzt an widmen, dachte ich, wie ich zum Lehrer ging, wenn ich naturgemäß auch nicht die geringste Ahnung haben konnte, was dieses Philosophische sei. Ich bin absolut kein Klaviervirtuose, sagte ich mir, ich bin kein Interpret, ich bin kein reproduzierender Künstler. Überhaupt kein Künstler. Das Verkommene meines Gedankens hatte mich sofort angezogen. Die ganze Zeit auf dem Weg zum Lehrer hatte ich immer wieder diese drei Wörter gesprochen: überhaupt kein Künstler! Überhaupt kein Künstler! Überhaupt kein Künstler! Hätte ich Glenn Gould nicht kennengelernt, ich hätte wahrscheinlich das Klavierspiel nicht aufgegeben und ich wäre ein Klaviervirtuose geworden und vielleicht sogar einer der besten Klaviervirtuosen der Welt, dachte ich im Gasthaus. Wenn wir dem Ersten begegnen, müssen wir aufgeben, dachte ich. Glenn habe ich merkwürdigerweise auf dem Mönchsberg kennengelernt, auf meinem Kindheitsberg. Ich hatte ihn zwar schon vorher im Mozarteum gesehen, aber kein Wort mit ihm gesprochen gehabt vor dieser Begegnung auf dem Mönchsberg, der auch der Selbstmordberg genannt wird, weil er wie nichts sonst für den Selbstmord geeignet ist und es stürzen sich ja auch wenigstens drei oder vier allwöchentlich von ihm aus in die Tiefe. Die Selbstmörder fahren mit dem Lift im Innern des Berges auf ihn hinauf, gehen ein paar Schritte und stürzen sich in die Stadt hinunter. Die auf der Straße Aufgeplatzten haben mich immer fasziniert und ich selbst bin (wie übrigens Wertheimer auch!) sehr oft auf den Mönchsberg hinaufgestiegen oder hinaufgefahren in der Absicht, mich von ihm hinunterzustürzen, aber ich habe mich nicht hinuntergestürzt (wie auch Wertheimer nicht!). Mehrere Male hatte ich mich (wie Wertheimer auch!) schon zum Absprung aufgestellt, aber bin, wie Wertheimer, nicht abgesprungen. Ich habe umgedreht. Natürlich haben sich bis jetzt mehr umgedreht, als daß abgesprungen sind, dachte ich. Glenn traf ich auf dem Mönchsberg auf der sogenannten Richterhöhe, von wo aus man den besten Blick nach Deutschland hat. Ich hatte ihn angesprochen, ich hatte gesagt, wir studieren beide bei Horowitz. Ja, hatte er geantwortet. Wir schauten auf die deutsche Ebene hinunter und Glenn setzte sich sofort mit der Kunst der Fuge auseinander. Ich bin an einen hochintelligenten Wissenschaftsmenschen gekommen, hatte ich gedacht. Er habe ein Rockefellerstipendium, sagte er. Im übrigen sei sein Vater ein reicher Mann. Häute, Felle, sagte er, er sprach besser deutsch als unsere Mitstudenten aus der österreichischen Provinz. Ein Glück, daß Salzburg hier und nicht vier Kilometer weiter unten in Deutschland liegt, sagte er, nach Deutschland wäre ich nicht gegangen. Es war vom ersten Augenblick eine Geistesfreundschaft. Die meisten selbst allerberühmtesten Klavierspieler haben keine Ahnung von ihrer Kunst, sagte er. Aber so ist es in allen Kunstsparten, sagte ich, genauso in der Malerei, in der Schriftstellerei, sagte ich, auch die Philosophen sind sich der Philosophie nicht bewußt. Die meisten Künstler sind sich ihrer Kunst nicht bewußt. Haben eine dilettantische Kunstauffassung, bleiben zeitlebens im Dilettantismus hängen, selbst die allerweltberühmtesten. Wir hatten uns gleich verstanden, waren, das muß ich sagen, vom ersten Augenblick an angezogen von unseren Gegensätzen, die tatsächlich die entgegengesetztesten waren in unserer selbstverständlichen gleichen Kunstauffassung. Erst ein paar Tage nach dieser Begegnung auf dem Mönchsberg ist Wertheimer zu uns gestoßen. Glenn, Wertheimer und ich, die wir die ersten zwei Wochen getrennt gewohnt hatten, alle in völlig unzulänglichen Behausungen in der Altstadt, mieteten uns schließlich auf die Dauer unseres Horowitzkurses ein Haus in Leopoldskron, in welchem wir machen konnten, was wir wollten. In der Altstadt hatte alles lähmend auf uns gewirkt, die Luft war nicht einzuatmen, die Menschen waren nicht auszuhalten, die Mauerfeuchtigkeit hatte uns und unseren Instrumenten zugesetzt. Überhaupt hatten wir den Horowitzkurs nur deshalb fortsetzen können, weil wir aus der Stadt ausgezogen sind, die im Grunde die kunst- und geistfeindlichste ist, die man sich denken kann, ein stumpfsinniges Provinznest mit dummen Menschen und kalten Mauern, in welchen mit der Zeit alles zum Stumpfsinn gemacht wird, ausnahmslos. Es ist unsere Rettung gewesen, unsere Habseligkeiten zu packen und nach Leopoldskron hinauszuziehen, das damals noch eine grüne Wiese war, auf welcher die Kühe weideten und Hunderttausende von Vögeln Heimat hatten. Die Stadt Salzburg selbst, die heute, bis in die kleinsten Winkel hinein frisch gestrichen, noch viel scheußlicher ist als damals vor achtundzwanzig Jahren, war und ist gegen alles in einem Menschen und vernichtet es mit der Zeit, das hatten wir sofort erkannt und waren aus ihr weg nach Leopoldskron. Die Salzburger waren immer fürchterlich wie ihr Klima und komme ich heute in diese Stadt, bestätigt sich nicht nur mein Urteil, es ist alles noch viel fürchterlicher. Aber gerade in dieser geist- und kunstfeindlichen Stadt bei Horowitz zu studieren, war sicher der größte Vorteil. Ist die Umgebung, in welcher wir studieren, uns feindlich gesinnt, so studieren wir besser, als in einer solchen uns freundlich gesinnten, der Studierende tut immer gut daran, einen Studienort zu wählen, der ihm feindlich gesinnt ist, keinen, der ihm freundlich gesinnt ist, denn der ihm freundlich gesinnte Ort nimmt ihm einen Großteil der Konzentration auf das Studium, der ihm feindlich gesinnte dagegen ermöglicht ihm ein hundertprozentiges Studium, weil er sich auf dieses Studium konzentrieren muß, um nicht zu verzweifeln, insofern ist Salzburg wahrscheinlich wie alle anderen sogenannten schönen Städte für ein Studium absolut zu empfehlen, allerdings nur für einen starken Charakter, ein schwacher geht unweigerlich in der kürzesten Zeit zugrunde. Drei Tage sei Glenn in den Zauber dieser Stadt vernarrt gewesen, dann habe er plötzlich gesehen, daß dieser Zauber, wie gesagt wird, ein fauler sei, daß diese Schönheit im Grunde abstoßend ist und die Menschen in dieser abstoßenden Schönheit gemein seien. Das Voralpenklima macht gemütskranke Menschen, die schon sehr früh dem Stumpfsinn anheim fallen und die mit der Zeit bösartig werden, sagte ich. Wer hier lebt, weiß das, wenn er ehrlich ist, wer hierher kommt, sieht es nach kurzer Zeit und er muß, bevor es für ihn zu spät ist, wieder weggehen, will er nicht werden, wie diese stumpfsinnigen Bewohner, wie diese gemütskranken Salzburger, die mit ihrem Stumpfsinn alles abtöten, das noch nicht so ist wie sie selbst. Zuerst habe er gedacht, wie schön es sei, hier aufzuwachsen, aber schon zwei, drei Tage nach seiner Ankunft erschien es ihm al

s ein Alptraum, hier hereingeboren zu werden und aufzuwachsen, erwachsenwerden zu müssen. Dieses Klima und diese Mauern töten die Sensibilität ab, sagte er. Ich hatte nichts mehr hinzuzufügen. In Leopoldskron konnte uns der Ungeist dieser Stadt nicht mehr gefährlich werden, dachte ich bei meinem Eintritt in das Gasthaus. Im Grunde war es nicht Horowitz allein, der mich das Klavierspiel in seiner höchsten Konsequenz lehrte, es war der während des Studiums bei Horowitz tagtägliche Umgang mit Glenn Gould, dachte ich. Es waren diese zwei, die mir überhaupt die Musik ermöglichten, den Musikbegriff, dachte ich. Mein letzter Lehrer vor Horowitz war Wührer gewesen, einer jener Lehrer, die einen in der Mittelmäßigkeit ersticken, ganz zu schweigen von den vorher absolvierten, die alle, wie gesagt wird, hervorragende Namen haben, alle Augenblicke in den großen Städten auftreten und hochdotierte Lehrstühle an unseren berühmten Akademien haben, aber sie sind nichts anderes als klavierspielende Zugrunderichter, die keine Ahnung vom Musikbegriff haben, dachte ich. Überall spielen und sitzen diese Musiklehrer und ruinieren Tausende und Hunderttausende von Musikschülern, als wäre es ihre Lebensaufgabe, die außerordentlichen Talente junger Musikmenschen im Keim zu ersticken. Nirgendwo herrscht eine solche Verantwortungslosigkeit wie an unseren Musikakademien, die sich neuerdings Musikuniversitäten nennen, dachte ich. Von zwanzigtausend Musiklehrern ist nur ein einziger der ideale. Horowitz war dieser ideale, dachte ich. Glenn wäre, wenn er sich dafür hergegeben hätte, ein solcher gewesen. Glenn hatte, wie Horowitz, das ideale Gefühl und den idealen Verstand für diese Lehre, für diesen Kunstvermittlungszweck. Jährlich gehen Zehntausende Musikhochschüler den Weg in den Musikhochschulstumpfsinn und werden von ihren unqualifizierten Lehrern zugrunde gerichtet, dachte ich. Werden unter Umständen berühmt und haben doch nichts begriffen, dachte ich bei meinem Eintritt in das Gasthaus. Werden Gulda oder Brendel und sind doch nichts. Werden Gilels und sind doch nichts. Auch Wertheimer wäre, hätte er Glenn nicht getroffen, sicher einer unserer wichtigsten Klaviervirtuosen geworden, dachte ich, er hätte so wie ich sozusagen das Philosophische, die Geisteswissenschaften nicht mißbrauchen müssen, denn wie ich seit Jahrzehnten die Philosophie oder das Philosophische, mißbrauchte Wertheimer bis zum Schluß die sogenannten Geisteswissenschaften. Er hätte seine Zettel nicht vollgeschrieben, dachte ich, wie ich nicht meine Manuskripte, Geistesverbrechen, wie ich dachte, als ich ins Gasthaus eintrat. Wir treten als Klaviervirtuosen an und werden Stöberer und Wühler in den Geisteswissenschaften und in den Philosophien und verkommen. Weil wir nicht bis zum Äußersten und über das Äußerste hinausgegangen sind, dachte ich, aufgegeben haben im Hinblick auf ein Genie in unserem Fach. Aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich ja auch niemals der Klaviervirtuose werden können, weil ich im Grunde niemals ein Klaviervirtuose sein wollte, weil ich dagegen immer die größten Vorbehalte gehabt habe und das Klaviervirtuosentum nur mißbraucht habe in meinem Verkümmerungsprozeß, ja den Klavierspieler immer als lächerlich empfunden habe von Anfang an; verführt von meinem ganz und gar außerordentlichen Talent auf dem Klavier, habe ich es in das Klavierspiel hineingetrieben und dann, nach eineinhalb Jahrzehnten Tortur, verjagt, urplötzlich, skrupellos. Es ist nicht meine Art, der Sentimentalität meine Existenz zu opfern. Ich bin in Gelächter ausgebrochen und habe das Klavier in das Lehrerhaus transportieren lassen und habe mich tagelang an meinem eigenen Gelächter über den Klaviertransport amüsiert, das ist die Wahrheit, mich über meine in einem einzigen Augenblick von mir zerschlagene Klaviervirtuosenlaufbahn lustig gemacht. Und wahrscheinlich war diese aufeinmal von mir zerschlagene Klaviervirtuosenlaufbahn ein notwendiger Teil meines Verkümmerungsprozesses, dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat. Wir probieren alles Mögliche aus und brechen es immer wieder ab, werfen Jahrzehnte urplötzlich auf den Abfallhaufen. Wertheimer war immer langsamer, nie so entschieden in den Entscheidungen wie ich, er hat sein Klaviervirtuosentum erst Jahre nach mir auf den Abfallhaufen geworfen und zum Unterschied von mir, es nicht und niemals überwunden, immer wieder hörte ich ihn jammern, er hätte das Klavierspiel nicht aufgeben sollen, es weitermachen sollen, ich sei zu einem gewissen Grad der Schuldige, immer sein Vorbild in wichtigen Fragen gewesen, in Existenzentscheidungen, so er einmal, dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat. Der Besuch des Horowitzunterrichts war für mich wie für Wertheimer tödlich, für Glenn jedoch sein Genie gewesen. Nicht Horowitz hatte Wertheimer und mich, was das Klaviervirtuosentum und im Grunde genommen überhaupt die Musik betrifft, getötet, sondern Glenn, dachte ich. Glenn hat uns das Klaviervirtuosentum unmöglich gemacht schon zu einem Zeitpunkt, in welchem wir beide noch fest an unser Klaviervirtuosentum geglaubt hatten. Noch jahrelang nach dem Horowitzkurs hatten wir an unser Virtuosentum geglaubt, während es schon tot gewesen war in dem Augenblick, in welchem wir Glenn kennengelernt hatten. Wer weiß ob ich, wäre ich nicht zu Horowitz gegangen, hätte ich also auf meinen Lehrer Wührer gehört, nicht doch heute ein Klaviervirtuose wäre, einer, wie ich dachte, jener berühmten, die das ganze Jahr über zwischen Buenos Aires und Wien hin- und herreisen mit ihrer Kunst. Und Wertheimer auch. Sofort sagte ich mir selbst aber ein entschiedenes Nein, denn ich haßte von Anfang an das Virtuosentum mit seinen Begleiterscheinungen, ich haßte vor allem den Auftritt vor der Menge und ich haßte wie nichts den Applaus, ich ertrug ihn nicht, lange Zeit wußte ich nicht, ertrage ich die schlechte Luft in den Konzertsälen nicht oder den Applaus oder beides nicht, bis mir klar war, daß ich das Virtuosentum an sich und vor allem das Klaviervirtuosentum nicht ertragen konnte. Denn ich haßte wie nichts sonst das Publikum und alles, das mit diesem Publikum zusammenhängt und also haßte ich den (und die) Virtuosen selbst auch. Und Glenn spielte ja auch nur zwei oder drei Jahre öffentlich, dann ertrug er es nicht mehr und blieb zuhause und wurde da, in seinem Haus in Amerika, der beste und der wichtigste aller Klavierspieler. Als wir ihn vor zwölf Jahren das letzte Mal aufsuchten, hatte er schon zehn Jahre kein öffentliches Konzert mehr gegeben. Er war in der Zwischenzeit der hellsichtigste aller Narren geworden. Er hatte den Gipfel seiner Kunst erreicht und es war nur eine Frage der allerkürzesten Zeit, daß ihn der Gehirnschlag treffen mußte. Wertheimer hatte damals das gleiche Gefühl, daß Glenn nurmehr noch die kürzeste Zeit zu leben habe, daß ihn der Schlag treffen werde, hatte er zu mir gesagt. Wir waren zweieinhalb Wochen in Glenns Haus, in welchem er sich ein Studio eingerichtet hatte. Wie während des Horowitzkurses in Salzburg, spielte er mehr oder weniger Tag und Nacht Klavier. Jahrelang, ein Jahrzehnt lang. Ich habe vierunddreißig Konzerte gegeben in zwei Jahren, das genügt für mein ganzes Leben, hatte Glenn gesagt. Wertheimer und ich spielten mit Glenn Brahms von zwei Uhr nachmittags, bis ein Uhr in der Nacht. Glenn hatte drei Wärter um sein Haus aufgestellt, die ihm die Leute vom Leib hielten. Zuerst hatten wir ihn nicht belästigen wollen mit einer einzigen Übernachtung, dann aber blieben wir zweieinhalb Wochen und mir und Wertheimer war wieder klar geworden, wie richtig es gewesen ist, das Klaviervirtuosentum aufzugeben. Mein lieber Untergeher, hatte Glenn Wertheimer begrüßt, mit amerikanisch-kanadischer Kaltblütigkeit hatte er Wertheimer immer nur als Untergeher bezeichnet, mich immer ganz trocken als Philosoph, was mir nichts ausmachte. Wertheimer, der Untergeher, ging für Glenn

immer unter, ununterbrochen unter, ich hatte für Glenn alle Augenblicke und wahrscheinlich in unerträglicher Regelmäßigkeit das Wort Philosoph im Mund, so waren wir ganz naturgemäß für ihn der Untergeher und der Philosoph, dachte ich, in das Gasthaus eintretend. Der Untergeher und der Philosoph waren nach Amerika gekommen, um den Klaviervirtuosen Glenn wiederzusehen, zu keinem anderen Zweck. Und um viereinhalb Monate in New York zu verbringen. Zum Großteil mit Glenn zusammen. Nach Europa habe er keine Sehnsucht, hatte Glenn gleich zur Begrüßung gesagt. Europa komme für ihn nicht mehr in Frage. Er habe sich in seinem Haus verrammelt. Auf lebenslänglich. Den Wunsch nach Verrammelung haben wir drei lebenslänglich immer gehabt. Alle drei waren wir die geborenen Verrammlungsfanatiker. Glenn aber hatte seinen Verrammelungsfanatismus am weitesten vorangetrieben. In New York wohnten wir neben dem Hotel Taft, eine bessere Lage für unsere Zwecke gab es nicht. Glenn hatte sich in einem Hinterzimmer des Taft einen Steinway aufstellen lassen, spielte dort täglich acht bis zehn Stunden, oft auch in der Nacht. Er war keinen Tag ohne Klavierspiel. Wertheimer und ich liebten New York von Anfang an. Es ist die schönste Stadt der Welt, die gleichzeitig die beste Luft hat, sagten wir immer wieder, nirgendwo auf der Welt haben wir eine bessere Luft eingeatmet. Glenn bestätigte, was wir fühlten: New York ist die einzige Stadt auf der Welt, in welcher ein Geistesmensch ungehindert aufatmet, sobald er sie betritt. Alle drei Wochen kam Glenn zu uns, zeigte uns die verborgenen Winkel Manhattans. Das Mozarteum war eine schlechte Schule, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus, andererseits gerade für uns die beste, denn sie hat uns die Augen geöffnet. Alle Hochschulen sind schlecht und die wir besuchen, ist immer die schlechteste, wenn sie uns nicht die Augen öffnet. Was für miserable Lehrer haben wir zu erdulden gehabt, haben sich an unseren Köpfen vergriffen. Kunstaustreiber waren sie alle, Kunstvernichter, Geisttöter, Studentenmörder. Horowitz war eine Ausnahme, Markewitsch, Vegh, dachte ich. Aber ein Horowitz macht noch keine erstklassige Akademie, dachte ich. Die Stümper beherrschten das Gebäude, das wie kein zweites in der Welt berühmt war und auch heute noch ist; sage ich, ich komme vom Mozarteum, gehen den Leuten die Augen über. Wertheimer war wie Glenn Sohn reicher Eltern, nicht nur wohlhabender. Ich selbst hatte auch keinerlei wirtschaftliche Sorgen. Es ist immer von Vorteil, Freunde aus dem gleichen Milieu und in der gleichen wirtschaftlichen Verfassung zu haben, dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat. Da wir im Grunde keine Geldsorgen hatten, war es uns möglich gewesen, uns ausschließlich unseren Studien zu widmen, sie so radikal als nur möglich voranzutreiben, wir hatten auch nichts anderes im Kopf, nur mußten wir fortwährend unsere Entwicklungsverhinderer aus dem Weg räumen, unsere Professoren und deren Minderwertigkeiten und Scheußlichkeiten. Das Mozarteum ist noch heute weltberühmt, aber es ist die denkbar schlechteste Musikhochschule, dachte ich. Aber wäre ich nicht auf das Mozarteum gegangen, ich hätte niemals Wertheimer und Glenn kennengelernt, dachte ich, meine Lebensfreunde. Ich kann heute gar nicht mehr sagen, wie ich auf die Musik gekommen bin, alle in meiner Familie waren sie unmusikalisch, antikünstlerisch, hatten zeitlebens nichts mehr gehaßt als Kunst und Geist, das aber wahrscheinlich war das Ausschlaggebende für mich, mich eines Tages in das zuerst nur gehaßte Klavier zu verlieben und einen alten Familienehrbar gegen einen tatsächlich wunderbaren Steinway einzutauschen, um es der gehaßten Familie zu zeigen, den Weg zu gehen, von welchem sie von Anfang an erschüttert gewesen war. Nicht die Kunst, nicht die Musik, nicht das Klavierspiel ist es gewesen, nur die Opposition gegen die Meinigen, dachte ich. Das Klavierspiel auf dem Ehrbar hatte ich gehaßt, es war mir von den Eltern aufgezwungen gewesen wie allen andern in der Familie, der Ehrbar war ihr Kunstmittelpunkt gewesen und sie hatten es darauf bis zu den letzten Brahms- und Regerstücken gebracht. Diesen Familienkunstmittelpunkt hatte ich gehaßt, aber den mir von meinem Vater erzwungenen, unter den fürchterlichsten Umständen aus Paris herbeigeschafften Steinway geliebt. Ich mußte auf das Mozarteum gehen, um es ihnen zu zeigen, ich hatte ja überhaupt keinen Musikbegriff und das Klavierspiel war mir niemals eine Leidenschaft, aber ich benützte es als Mittel zum Zweck gegen meine Eltern und die ganze Familie, ich nützte es aus gegen sie und ich begann es gegen sie zu beherrschen