Der Vampir, den ich liebte - Beth Fantaskey - E-Book

Der Vampir, den ich liebte E-Book

Beth Fantaskey

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Beschreibung

***Sie sind für einander bestimmt. Doch seine Liebe birgt ein dunkles Geheimnis*** Als der umwerfende Lucius Vladescu an ihrer Schule auftaucht, ahnt Jessica bald, dass er etwas mit ihrer dunklen Vergangenheit zu tun hat, über die sie so gut wie nichts weiß. Aber das, was er ihr eröffnet, ist so unglaublich wie lächerlich: Jessica soll eine Vampirprinzessin sein ... und ist angeblich seit ihrer Geburt mit Lucius verlobt. Viel zu spät erkennt Jessica, wer Lucius wirklich ist. Und dass eine Macht hinter ihm steht, die ein grausames Spiel mit ihnen beiden treibt.

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Seitenzahl: 508

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Über dieses Buch
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Danksagung

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link Digitale Originalausgabe

Über dieses Buch

Als der umwerfende Lucius Vladescu an ihrer Schule auftaucht, ahnt Jessica bald, dass er etwas mit ihrer dunklen Vergangenheit zu tun hat, über die sie so gut wie nichts weiß. Aber das, was er ihr eröffnet, ist so unglaublich wie lächerlich: Jessica soll eine Vampirprinzessin sein ... und ist angeblich seit ihrer Geburt mit Lucius verlobt. Viel zu spät erkennt Jessica, wer Lucius wirklich ist. Und dass eine Macht hinter ihm steht, die ein grausames Spiel mit ihnen beiden treibt.

Für meine Eltern,

Donald und Marjorie Fantaskey

Impressum

digi:tales Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2019 Covergestaltung: Frauke Schneider

unter Verwendung eines Fotos von Rachel de Joode © gettyimages

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk erschien erstmals 2009 bei Harcourt Children’s Books, einem Imprint von Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company, Boston, Massachusetts, unter dem Titel »Jessica’s Guide to Dating on the Dark Side«.

Copyright © 2009 by Beth Fantaskey

Published by special arrangement with

Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company.

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link

Das Werk ist in deutscher Sprache erstmals 2011 unter dem Titel Der Vampir, den ich liebte im Arena Verlag erschienen. E-Book-Herstellung: Arena Verlag GmbH 2019 ISBN: 978-3-401- 84070-3www.arena-verlag.dewww.arena-digitales.de Folge uns!www.facebook.com/digitalesarenawww.instagram.com/arena_digitaleswww.twitter.com/arenaverlagwww.pinterest.com/arenaverlag

»Vergiss nicht: Der junge männliche Vampir ist von Natur aus ein Raubtier. Manche Jungen betrachten dich vielleicht nicht nur als mögliche Partnerin, sondern als Beute . . .«

Kapitel 1, »Auf dem Weg zum erwachsenen Vampir«,aus: Jung und Untot: Alles, was ein Vampir über Dates, Gesundheit und Gefühle wissen muss

Kapitel 1

Als ich ihn zum ersten Mal sah, lag ein dichter grauer Nebel über den Feldern. Dunstschwaden waberten zwischen den fahlen Maisstängeln. Es war früh an einem trostlosen Morgen Anfang September und ich wartete an der Stelle, wo der unbefestigte Weg zu unserer Farm von der Hauptstraße in die Stadt abzweigt, auf den Schulbus und langweilte mich.

Ich dachte gerade darüber nach, wie oft ich in den letzten zwölf Jahren wohl schon auf diesen Bus gewartet hatte, und um die Zeit totzuschlagen, fing ich an, die genaue Zahl auszurechnen. Da bemerkte ich ihn.

Und plötzlich kam mir die vertraute Straße schrecklich verlassen vor.

Er stand unter einer gewaltigen Buche auf der anderen Straßenseite, die Arme vor der Brust verschränkt. Die niedrigen, knorrigen Äste des Baums verbargen ihn beinahe vollständig. Trotzdem konnte ich erkennen, dass er großwar und einen langen dunklen Mantel trug, der beinahe wie ein Umhang aussah.

Mir wurde auf einmal ganz flau im Magen und ich schluckte. Wer steht im Morgengrauen in einem schwarzen Umhang unter einem Baum mitten im Nirgendwo?

Er musste bemerkt haben, dass ich ihn beobachtete, denn er bewegte sich ein wenig, als wüsste er nicht recht, ob er gehen sollte oder nicht. Oder ob er vielleicht die Straße überqueren sollte.

Mir war nie aufgefallen, wie schutzlos ich die vielen Male gewesen war, die ich allein dort draußen gewartet hatte, aber in diesem Moment traf mich die Erkenntnis mit voller Wucht.

Ich schaute die Straße entlang und mein Herz raste. Wo bleibt nur der blöde Bus? Warum musste mein Dad ein so sturer Befürworter öffentlicher Verkehrsmittel sein? Warum konnte ich keinen eigenen Wagen haben wie alle anderenOberstufenschüler? Aber nein, ich sollte »Mitfahrgelegenheiten« nutzen, um die Umwelt zu schonen. Wenn ich von dem bedrohlichen Typen unter dem Baum entführt werde, wird Dad wahrscheinlich darauf bestehen, dass mein Gesicht nur in Zeitungen aus recyceltem Papier erscheint. . .

In dem kostbaren Sekundenbruchteil, den ich damit verschwendete, auf meinen Vater wütend zu sein, setzte sich der Fremde tatsächlich in Bewegung. Er trat unter dem Baum hervor und kam auf mich zu und ich hätte schwören können – gerade in dem Moment, als der Bus, Gott sei Dank, auf der nur fünfzig Meter entfernten Anhöhe erschien –, ich hätte schwören können, dass er »Antanasia« sagte.

Mein alter Name . . . der Name, den ich bei meiner Geburt in Osteuropa bekommen habe, bevor ich adoptiert und nach Amerika gebracht wurde, wo man mich in Jessica Packwood umgetauft hat . . .

Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, denn das Wort ging unter im Geräusch der Reifen, die auf der nassen Straße zischten, dem Knirschen des Getriebes und dem Quietschen der Türen, die der Fahrer, der alte Mr Dilly, für mich öffnete. Wunderbarer, wunderbarer Bus Nr. 23.Ich war noch nie so glücklich gewesen einzusteigen.

Wie jeden Morgen begrüßte mich Mr Dilly mit einem gegrunzten »Morgen, Jess«, bevor er den Gang einlegte und ich auf der Suche nach einem freien Platz oder einem freundlichen Gesicht unter den halb benommenen Fahrgästen durch den Bus stolperte. Manchmal war es einfach nur ätzend, im ländlichen Pennsylvania zu leben. Die Kinder aus der Stadt schliefen wahrscheinlich immer noch sicher und geborgen in ihren Betten.

Ich erspähte einen Platz ganz hinten im Bus und ließ mich erleichtert fallen. Vielleicht hatte ich überreagiert. Vielleicht war meine Fantasie mit mir durchgegangen oder es hatten sich in meinem Kopf zu viele Episoden von America’s Most Wanted vermischt. Oder vielleicht hatte der Fremde mir wirklich etwas antun wollen . . . Ich drehte mich um, lugte durch das Rückfenster und mein Magen krampfte sich zusammen.

Er war immer noch da, aber jetzt stand er mitten auf der Straße, die Stiefel zu beiden Seiten der gelben Mittellinie, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt, während er dem Bus nachschaute und mich beobachtete.

»Antanasia . . .«

Hatte er mich wirklich bei meinem alten, lang vergessenen Namen genannt?

Und wenn er dieses Geheimnis kannte, was wusste der dunkle Fremde, der im Nebel hinter mir zurückblieb, sonst über meine Vergangenheit?

Und wichtiger noch, was suchte er in meiner Gegenwart?

Kapitel 2

Tja, so viel zu meinem Sommer im Camp.« Meine beste Freundin Melinda Sue Stankowicz seufzte und zog die schwere Glastür zur Woodrow Wilson High School auf. »Heimwehkranke Kinder, Sonnenbrand, Giftefeu und dicke, fette Spinnen in den Duschen.«

»Klingt ganz so, als wär dein Job als Ferienaufsicht echt furchtbar gewesen«, bemitleidete ich sie, während wir in den vertrauten Flur traten, der nach Reinigungsmitteln und frischem Bohnerwachs roch. »Wenn es dir hilft: Ich habe beim Kellnern mindestens fünf Pfund zugenommen. Ich hab echt in jeder Pause Kuchen gegessen.«

»Du siehst großartig aus.« Mindy tat meine Klage mit einem Achselzucken ab. »Außer auf dem Kopf vielleicht . . .«

»Hey!«, protestierte ich und strich mir über die wirren Locken, die in der spätsommerlichen Feuchtigkeit mal wieder zu rebellieren schienen. »Würdest du bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich meine Haare eine Stunde lang mit demFöhn und dieser ›Glättungskur‹ bearbeitet habe, die mich das Trinkgeld einer ganzen Woche gekostet hat . . .« Ich brach ab, als mir klar wurde, dass Mindy abgelenkt war und mir nicht mehr zuhörte. Ich folgte ihrem Blick den Flur hinunter zu den Schließfächern.

»Apropos ›gut aussehen‹ . . .«, sagte sie.

Jake Zinn, der auf einem Bauernhof in der Nähe meines Elternhauses wohnte, kämpfte mit seiner neuen Schließfachkombination. Stirnrunzelnd starrte er auf einen Fetzen Papier in seiner Hand, drehte das Schloss und rüttelte am Griff. Ein offensichtlich brandneues weißes T-Shirt ließ seine Sommerbräune besonders dunkel wirken. Unter dem Stoff zeichneten sich seine Muskeln ab.

»Jake sieht umwerfend aus«, flüsterte Mindy, während wir auf ihn zugingen. »Anscheinend geht er neuerdings ins Fitnessstudio. Und hat er sich Strähnchen machen lassen?«

»Er hat den ganzen Sommer lang in der Sonne Heuballen geschleppt, Min«, flüsterte ich zurück. »Er braucht kein Fitnessstudio – oder Blondierungen.«

Jake sah zu uns auf, als wir vorbeigingen, und lächelte.

»Hey, Jess.«

»Hey«, antwortete ich. Dann war mein Kopf plötzlich vollkommen leer.

Mindy plapperte drauflos und verhinderte ein peinliches Schweigen. »Sieht so aus, als hätten sie dir die falsche Kombination gegeben«, stellte sie fest und deutete mit dem Kopf auf Jakes immer noch verschlossenes Schließfach. »Hast du es mal mit einem kräftigen Tritt versucht?«

Jake ignorierte den Vorschlag. »Du hast gestern Abend nicht gearbeitet, oder, Jess?«

»Nein, ich arbeite nicht mehr im Restaurant«, erwiderte ich. »Es war nur ein Ferienjob.«

Jake wirkte ein wenig enttäuscht. »Oh. Na ja, dann werde ich dich wohl in Zukunft in der Schule treffen müssen.«

»Ja. Wir haben bestimmt einige Kurse zusammen«, sagte ich und spürte, wie meine Wangen warm wurden. »Bis dann.« Ich zerrte Mindy mehr oder weniger hinter mir her.

»Was war das denn?«, fragte sie, als wir außer Hörweite waren. Sie schaute über ihre Schulter zu Jake zurück.

Mein Gesicht wurde noch wärmer. »Was war was?«

»Jake schien ja ganz traurig, weil du mit dem Kellnern aufgehört hast. Und du bist knallrot geworden . . .«

»Das war gar nichts«, erwiderte ich. »Er ist gegen Ende meiner Schicht ein paarmal vorbeigekommen und hat mich nach Hause gefahren. Wir haben nur ein bisschen zusammenherumgehangen . . . Und ich bin nicht rot.«

»Wirklich?«

Mindy lächelte süffisant. »Du und Jake, hm?«

»Das ist keine große Sache«, beharrte ich.

Der Glanz in Mindys Augen sagte mir, dass sie wusste, dass ich nicht ganz ehrlich war. »Das wird ein sehr interessantes Jahr«, prophezeite sie.

»Apropos interessant . . .« Ich hatte meiner besten Freundin bisher noch nichts von dem beängstigenden Fremden an der Bushaltestelle erzählt. Aber als ich jetzt an ihn dachte, stellten sich die feinen Härchen in meinem Nacken auf, beinahe so, als würde ich beobachtet.

»Antanasia . . .«

Die leise, tiefe Stimme hallte in meinem Kopf wider wie ein halb vergessener Albtraum.

Ich rieb mir den Nacken. Vielleicht würde ich Mindy die Geschichte später erzählen. Oder vielleicht würde auch einfach Gras über die ganze Sache wachsen und ich würde nie wieder auch nur einen Gedanken an den Typ verschwenden.

Ja, genau das würde wahrscheinlich passieren.

Und doch wollte dieses merkwürdige Kribbeln in meinem Nacken einfach nicht verschwinden.

Kapitel 3

Dieser Kurs wird ungemein spannend«, versprach Mrs Wilhelm, die schier überschäumte vor Begeisterung, als sie die Leseliste für den Oberstufenkurs in englische Literatur austeilte: Shakespeare bis Stoker. »Ihr werdet die Klassiker,die ich ausgesucht habe, lieben. Bereitet euch vor auf ein Jahr voller epischer Abenteuer, atemberaubender Romanzen und großer Schlachten. Und das alles, ohne die WoodrowWilson High School jemals zu verlassen.«

Anscheinend war nicht jeder so begeistert von zusammenprallenden Armeen und klopfenden Herzen wie Mrs Wilhelm, denn man hörte eine Menge Seufzer, während die Leseliste die Runde durch die Klasse machte. Ich nahm die Kopie von Frank Dormand entgegen, den ich hasste, seit ich denken konnte und der sich wie ein gewaltiger Haufen Pferdemist auf den Sitz vor mir hatte fallen lassen, und überflog die Liste schnell. Oh nein. Nicht Ivanhoe. Und Moby Dick . . . Wer hat Zeit für Moby Dick? Ich wollte etwas erleben in diesem Jahr. Ganz zu schweigen von Dracula. . . also bitte. Wenn es eines gab, das ich hasste, dann waren es gruselige Märchen, die jedwede Realität oder Logik vermissen ließen. Das war das Spezialgebiet meiner Eltern und ich hatte nicht das geringste Interesse, ihnen dorthin zu folgen.

Als ich einen verstohlenen Blick in Mindys Richtung warf, erkannte ich in ihren Augen die gleiche Panik. Sie flüsterte: »Was ist denn ›Sturmhöhe‹?«

»Keine Ahnung«, flüsterte ich zurück. »Werden wir dann schon sehen.«

»Außerdem möchte ich, dass ihr euch in diesen Sitzplan eintragt«, fuhr Mrs Wilhelm fort, während sie in ihren unförmigen Gesundheitsschuhen umherstapfte. »Das Pult, an dem ihr jetzt sitzt, wird euer fester Platz in diesem Kurs sein. Ich sehe einige neue Gesichter und ich möchte euch alle so schnell wie möglich kennenlernen, also wechselt nicht die Plätze.«

Ich sank auf meinem Stuhl in mich zusammen. Na toll. Ich war dazu verdammt, mir ein ganzes Jahr lang Frank Dormands idiotische, aber gemeine Bemerkungen anzuhören,die er garantiert jedes Mal machen würde, wenn er sich umdrehte, um etwas nach hinten weiterzureichen. Und die unglaublich zickige Cheerleaderin Faith Crosse hatte den Platz direkt hinter mir in Beschlag genommen. Ich war also eingekeilt zwischen zwei der unangenehmsten Typen der Schule. Zumindest saß Mindy mir gegenüber und – ich schaute nach links hinten – Jake hatte sich auch ganz in meine Nähe gesetzt. Er grinste, als unsere Blicke sich begegneten. Wahrscheinlich hätte es schlimmer sein können. Aber nicht viel schlimmer.

Frank drehte sich auf seinem Stuhl um, um mir den Sitzplan hinzuwerfen. »Bitte schön, Fettbacke«, höhnte er. Mit dem Namen hatte er mich schon im Kindergarten beehrt. »Trag dich genau so ein.« Ja. Idiotisch und gemein, genauwie ich vorhergesagt hatte. Und vor mir lagen nur noch hundertachtzig Schultage.

»Zumindest kann ich meinen Namen richtig schreiben«, zischte ich ihm zu. Vollidiot.

Dormand verzog das Gesicht und drehte sich wieder um und ich wühlte in meinem Rucksack nach einem Kuli. Als ich meinen Namen schreiben wollte, war die Spitze knochentrocken, wahrscheinlich, weil der Stift den ganzen Sommer unverschraubt in meinem Rucksack gelegen hatte. Ich schüttelte ihn und versuchte es noch einmal. Nichts.

Gerade wollte ich mich nach links drehen, weil ich hoffte, dass Jake mir vielleicht einen seiner Stifte leihen würde, doch noch bevor ich ihn fragen konnte, spürte ich, wie mich jemand auf die rechte Schulter tippte. Nicht jetzt . . .nicht jetzt . . . Ich dachte kurz daran, es einfach zu ignorieren, aber da war schon wieder dieses Tippen.

»Entschuldigung, benötigst du vielleicht ein Schreibgerät?«

Die tiefe Stimme mit dem ungewöhnlichen europäischen Akzent war ganz dicht hinter mir. Ich hatte keine andere Wahl, als mich umzudrehen.

Nein.

Es war der Typ von der Bushaltestelle. Ich hätte das seltsame Outfit – den langen Mantel, die Stiefel – überall wiedererkannt, ganz zu schweigen von seiner imposanten Größe. Aber diesmal stand er nicht auf der anderen Straßenseite, sondern saß keine zwei Meter von mir entfernt. Nah genug, um seine Augen sehen zu können. Sie waren so dunkel, dass sie schwarz wirkten, und ihr Blick schien sich mit einer kühlen, irgendwie beunruhigenden Intelligenz in meine Augen zu bohren. Ich schluckte mühsam und erstarrte auf meinem Stuhl.

Hatte er schon die ganze Zeit im Klassenraum gesessen? Und wenn ja, wie war es möglich, dass ich ihn nicht bemerkt hatte?

Vielleicht deshalb, weil er irgendwie abseits vom Rest der Klasse saß. In einer schummrigen Ecke unter einer defekten Leuchtstoffröhre. Aber das war es nicht allein. Es war beinahe so, als ginge die Dunkelheit von ihm aus. Das ist lächerlich, Jess . . . Er ist ein Mensch, kein schwarzes Loch...

»Du benötigst ein Schreibgerät, ja?«, wiederholte er und streckte den Arm über den Gang – einen langen muskulösen Arm –, um mir einen glänzenden goldenen Stift hinzuhalten. Nicht einen von diesen Plastikkulis, die die meisten Leute benutzten. Einen Füller aus echtem Gold. Schon die Art, wie er glänzte, zeigte, dass er teuer war. Als ich zögerte, legte sich ein Ausdruck der Verärgerung auf das ebenmäßige Gesicht des Fremden und er hielt mir den Stift unter die Nase. »Du weißt doch, was ein Füller ist, oder? Du hast doch sicher schon mal einen benutzt, hm?«

Mir gefiel weder der Sarkasmus noch die Art, wie sich dieser Typ zweimal an einem Tag anmich herangeschlichen hatte, und ich starrte ihn einfach nur weiter idiotisch an, bis Faith Crosse sich vorbeugte und mich in den Arm kniff. Fest. »Jetzt trag dich einfach auf dem Plan ein, Jenn, ja?«

»Hey!« Ich rieb meinen Arm, auf dem sicher bald ein blauer Fleck erscheinen würde, und wünschte, ich hätte den Mumm, Faith die Meinung zu sagen – weil sie mich gezwickt hatte und darüber hinaus noch nicht einmal meinen Namen zu kennen schien. Aber die letzte Person, die sich mit Faith Crosse angelegt hatte, war am Ende auf die Saint Monica’s gewechselt, die katholische Schule des Ortes. So sehr hatte Faith ihr das Leben auf der Woodrow Wilson High School zur Hölle gemacht.

»Beeil dich, Jenn«, blaffte Faith zum zweiten Mal.

»Okay, okay.« Widerstrebend streckte ich die Hand nach dem Fremden aus und nahm den schweren Stift entgegen. Als unsere Finger sich berührten, durchfuhr mich ein absolut seltsames Gefühl. Es war wie ein Déjà-vu und zugleich eine Vorahnung. Die Vergangenheit, die mit der Zukunft zusammenstößt.

Der Fremde lächelte – mit den perfektesten, gleichmäßigsten weißen Zähnen, die ich je gesehen hatte. Über ihm erwachte die Leuchtstoffröhre für eine Sekunde zischend zum Leben und flackerte auf wie ein Blitz.

Okay, das war unheimlich.

Ich drehte mich wieder um und meine Hand zitterte ein bisschen, als ich meinen Namen in den Sitzplan eintrug. Es war total bescheuert, so auszuflippen. Er war einfach irgendein Schüler. Offensichtlich ein neuer. Vielleicht wohnte er irgendwo in der Nähe unseres Hofs. Er hatte wahrscheinlich genau wie ich auf den Bus gewartet und es dann irgendwie versäumt einzusteigen. Sein einigermaßen rätselhaftes Auftauchen im Englischkurs – wenige Meter von mir entfernt – war wahrscheinlich auch kein Grund zur Besorgnis.

Ich sah Mindy an, in der Hoffnung auf seelische Unterstützung. Sie hatte offensichtlich nur darauf gewartet. Mit weit aufgerissenen Augen deutete sie unauffällig auf den Typen und formte mit den Lippen übertrieben deutlich: Er ist so heiß!

Heiß? »Du bist verrückt«, flüsterte ich. Ja, oberflächlich betrachtet sah der Typ nicht schlecht aus. Aber er war zugleich echt beängstigend mit seinem Umhang und seinen Stiefeln und der Fähigkeit, scheinbar aus dem Nichts in meiner Nähe aufzutauchen.

»Der Sitzplan«, nörgelte Faith hinter mir.

»Hier.« Ich reichte den Sitzplan nach hinten. Faith riss mir das Papier ungeduldig aus der Hand, sodass ich mir eine tiefe, rasierklingendünne Schnittwunde zuzog. »Au!«

Ich schüttelte den brennenden, blutenden Finger, dann steckte ich ihn in den Mund und schmeckte Salz auf der Zunge, bevor ich mich wieder umdrehte, um den Füller zurückzugeben.Je schneller, desto besser . . »Hier. Danke.«

Der Junge, von dem die Dunkelheit ausging, starrte auf meine Finger und ich merkte, dass mein Blut auf seinen teuren Stift getropft war. »Ähm, tut mir leid«, sagte ich und wischte den Stift in Ermangelung eines Papiertaschentuchs an meinem Bein ab. Na toll. Wird dieser Fleck je wieder aus meiner Jeans rausgehen?

Sein Blick folgte meinen Fingern, ich vermutete, dass die Tatsache, dass ich blutete, ihn wahrscheinlich abstieß. Und doch hätte ich schwören können, einen Moment lang in seinen Augen etwas ganz anderes als Abscheu zu sehen. . . Dann fuhr er sich mit der Zunge langsam über die Unterlippe.

Was zur Hölle sollte das?

Ich warf ihm den Stift zu und drehte mich schnell nach vorne um. Ich könnte die Schule wechseln wie dieses Mädchen, das sich mit Faith angelegt hat. Auf die Saint Monica’s gehen. Das ist die Lösung. Es ist noch nicht zu spät . . .

Der Sitzplan kehrte zu Mrs Wilhelm zurück. Sie las die Namen durch, dann blickte sie mit einem Lächeln auf, das direkt an meinem Pult vorbeiging. »Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um unseren neuen Austauschschüler zu begrüßen, Lucius . . .« Stirnrunzelnd schaute sie wieder auf ihren Plan. »Vlades. . .cuuu. Habe ich es richtig ausgesprochen?«

Die meisten Schüler hätten einfach gemurmelt: »Ja, egal.« Ich meine, wer scherte sich schon um einen Namen?

Mein Stalker, der scherte sich darum.

»Nein«, erwiderte er. »Nein, das ist nicht korrekt.«

Hinter mir war das Scharren eines Stuhls auf Linoleum zu hören, dann fiel ein Schatten auf mein Pult. Wieder kribbelte es mir im Nacken.

»Oh.« Mrs Wilhelm wirkte leicht erschrocken beim Anblick eines hochgewachsenen Teenagers in schwarzem Samtumhang, der zwischen den Sitzreihen auf sie zukam. Sie hob mahnend einen Finger, als wolle sie ihm sagen, dass er sich wieder hinsetzen sollte, aber er ging einfach an ihr vorbei.

Er nahm sich einen Marker aus der Schale unter der weißen Wandtafel, schraubte den Verschluss ab und schrieb in eleganter Handschrift das Wort Vladescu an die Tafel.

»Mein Name ist Lucius Vladescu«, erklärte er und deutete auf das Wort. »Vla-DES-cu. Betonung auf der mittleren Silbe bitte.«

Dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und begann auf und ab zu gehen, als sei er der Lehrer. Dabei stellte er nach und nach mit jedem Schüler im Raum Blickkontakt her, als unterzöge er uns alle einer Musterung. SeinemGesichtsausdruck nach fiel diese nicht gerade zu unserem Vorteil aus.

»Der Name Vladescu wird in Osteuropa hoch geschätzt«, informierte er uns. »Es ist ein adliger Name.« Er hielt in seinem Auf und Ab inne und blickte mir in die Augen. »Ein königlicher Name.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.

»›Klingelt da nicht etwas‹, wie ihr Amerikaner sagt?«, fragte er die Klasse. Wobei er immer noch mich anstarrte.

Gott, waren seine Augen schwarz.

Ich zuckte zurück und blickte zu Mindy hinüber, die sich Luft zufächelte und mich überhaupt nicht wahrnahm. Es war, als stünde sie unter einem Bann. Das galt eigentlich für alle in der Klasse. Niemand zappelte oder flüsterte und kritzelte mehr.

Beinahe gegen meinen Willen richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Typen – den Teenager! –, der den Kurs für englische Literatur gerade an sich gerissen hatte. Es war wirklich so gut wie unmöglich, ihn zu ignorieren. Lucius Vladescus eher langes, glänzend schwarzes Haar wirkte in Lebanon County, Pennsylvania, deplatziert, aber zu den europäischen Models in Mindys Cosmopolitan- Heften hätte es gut gepasst. Er war muskulös und schlank wie ein Model, mit hohen Wangenknochen, gerader Nase und ausgeprägtem Kinn. Und diese Augen . . .

Warum hörte er nicht auf, mich anzustarren?

»Gibt es sonst noch etwas, was du uns gerne über dich erzählen würdest?«, fragte Mrs Wilhelm schließlich ziemlich lahm.

Lucius Vladescu fuhr auf dem Absatz zu ihr herum und schraubte den Marker energisch zu. »Nicht unbedingt.Nein.« Die Antwort war nicht unhöflich – aber er sprach mit Mrs Wilhelm auch nicht gerade wie ein Schüler mit einer Lehrerin.

Eher so, als seien sie einander gleichgestellt.

»Wir würden bestimmt alle liebend gern mehr über deine Herkunft hören«, setzte Mrs Wilhelm nach und fügte hinzu: »Es klingt wirklich interessant.«

Aber Lucius Vladescu hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder auf mich gerichtet.

Ich machte mich auf meinem Stuhl so klein wie möglich. Fällt das eigentlich sonst noch jemandem auf?

»Ihr werdet zu gegebener Zeit mehr über mich erfahren«, sagte Lucius. In seiner Stimme lag ein Anflug von Frustration. Ich hatte keine Ahnung, warum. Aber es machte mir irgendwie schon wieder Angst. »Das ist ein Versprechen«, fügte er hinzu und sah mich durchdringend an. »Ein Versprechen.«

Ich konnte mir nicht helfen, aber es klang eher wie eine Drohung.

Kapitel 4

Hast du mitbekommen, wie der Neue dich im Literaturkurs angesehen hat?«, rief Mindy, als wir uns nach der Schule trafen. »Er ist zum Anbeißen und er steht total auf dich! Und er hat blaues Blut.«

Ich drückte ihr Handgelenk und versuchte, sie zu beruhigen. »Min . . . bevor du dir Gedanken über ein Geschenk für unsere ›königliche‹ Hochzeit machst . . . muss ich dir dringend etwas ziemlich Beunruhigendes über diesen Typen erzählen, den du so zum Anbeißen findest.«

Meine Freundin verschränkte skeptisch die Arme vor der Brust. Mindy hatte sich bereits eine Meinung zu Lucius Vladescu gebildet – und diese Meinung basierte auf nichts anderem als seinen breiten Schultern und seinem ausgeprägten Kinn. »Was kannst du denn schon Beunruhigendes über ihn wissen? Wir haben ihn doch gerade erst kennengelernt.«

»Genau genommen habe ich ihn heute früh schon mal gesehen«, sagte ich. »Dieser Typ – Lucius – stand an meiner Bushaltestelle. Und hat mich angestarrt.«

»Das ist alles?« Mindy verdrehte die Augen. »Vielleicht fährt er auch mit dem Bus?«

»Er ist nicht eingestiegen.«

»Also hat er den Bus verpasst.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist blöd, aber nicht beängstigend.«

Mindy kapierte überhaupt nichts. »Es ist viel unheimlicher », beharrte ich. »Ich . . . ich glaube, er hat meinen Namen gesagt. Gerade als der Bus anhielt.«

Mindy wirkte verwirrt.

»Meinen alten Namen«, klärte ich sie auf.

Meine beste Freundin holte tief Luft. »Okay. Das ist tatsächlich ein kleines bisschen unheimlich.«

»Niemand kennt diesen Namen. Niemand.«

Ehrlich gesagt hatte ich nicht einmal Mindy viel von meiner Vergangenheit erzählt. Die Geschichte meiner Adoption war mein streng gehütetes Geheimnis. Wenn das jemals herauskam . . . Die Leute würden mich für einen Freak halten. Ich selbst fühlte mich wie ein Freak, wann immer ich an die Geschichte dachte. Meine Adoptivmutter, eine Kulturanthropologin, hatte einen bizarren Untergrundkult in Zentralrumänien erforscht. Sie war mit meinem Adoptivvater dort gewesen, um die Rituale dieses Kults zu beobachten, in der Hoffnung, sie für einen weiteren ihrer bahnbrechenden Insiderartikel über einzigartige Subkulturen verwenden zu können. Die Recherche in Osteuropa war jedoch anders gelaufen als geplant. Der Kult war ein wenig zu bizarr gewesen, ein wenig zu ausgeflippt, und einige rumänische Dorfbewohner hatten sich zusammengerottet, in der Absicht, der Sache ein Ende zu bereiten. Ein für alle Mal.

Kurz vor dem Angriff des Mobs hatten meine leiblichen Eltern mich, einen Säugling, den amerikanischen Forschern anvertraut und sie angefleht, mich in die Vereinigten Staaten mitzunehmen, wo ich sicher sein würde.

Ich hasste diese Geschichte. Hasste die Tatsache, dass meine leiblichen Eltern ignorante, abergläubische Leute gewesen waren, die man hatte überreden können, irgendeinem seltsamen Kult beizutreten. Ich wusste nicht einmal, was für Rituale das waren. Allerdings wusste ich, womit sich meine Mom so beschäftigte. Tieropfer, Baumanbetung, Jungfrauen, die in Vulkane geworfen wurden . . . vielleicht hatten meine leiblichen Eltern sogar mit irgendwelchen abartigen Sexualpraktiken zu tun gehabt. Vielleicht war das der Grund, warum sie ermordet worden waren.

Wer wusste das schon? Wer wollte das wissen?

Ich fragte nicht nach den Einzelheiten und meine Adoptiveltern belästigten mich nicht damit. Ich war einfach glücklich, Jessica Packwood zu sein, Amerikanerin. Was mich betraf, existierte eine Antanasia Dragomir nicht.

»Bist du dir ganz sicher, dass er deinen Namen genannt hat?«, fragte Mindy.

»Nein«, gab ich zu. »Aber ich dachte, ich hätte ihn gehört.«

»Oh, Jess.« Mindy seufzte. »Niemand kennt diesen Namen. Du hast dir das Ganze wahrscheinlich bloß eingebildet. Oder er hat etwas gesagt, das wie Antanasia klingt.«

Ich sah Mindy schief an. »Was klingt denn wie Antanasia?«

»Keine Ahnung. Wie wär’s mit ›Ah, da bist du ja?‹«

»Ja, klar.« Aber das brachte mich dann doch irgendwie zum Lachen. Wir gingen vor zur Straße, wo meine Mom mich abholen wollte. Ich hatte sie in der Mittagspause angerufen und ihr erklärt, dass ich nicht mit dem Bus nach Hause fahren würde.

Mindy gab noch nicht auf. »Ich mein ja bloß, dass du diesem Lucius wenigstens eine Chance geben solltest.«

»Warum?«

»Weil . . . weil er so groß ist«, erklärte Mindy, als sei Größe ein Beweis für guten Charakter. »Und habe ich schon erwähnt, dass er Europäer ist?«

Der rostige alte VW-Bus meiner Mutter hielt klappernd am Straßenrand und ich begrüßte sie mit einem Winken.

»Ja. Ein auffällig großer Europäer ist als Stalker so viel besser als ein Amerikaner von durchschnittlicher Größe.«

»Na ja, zumindest beachtet Lucius dich.« Mindy schniefte.

»Mich beachtet nie jemand.«

Wir erreichten den VW-Bus und ich öffnete die Tür. Bevor ich auch nur Hallo sagen konnte, stieß Mindy mich beiseite, beugte sich über den Beifahrersitz und plärrte:

»Jess hat einen Freund, Dr. Packwood!«

Mom sah mich verwirrt an. »Ist das wahr, Jessica?«

Jetzt war es an mir, Mindy aus dem Weg zu stoßen. Ich stieg ein und schlug meiner Freundin die Tür vor der Nase zu. Mindy winkte lachend, während Mom und ich losfuhren.

»Ein Freund, Jessica?«, fragte Mom noch einmal. »Am ersten Schultag?«

»Er ist nicht mein Freund«, grummelte ich und schnallte mich an. »Er ist ein unheimlicher Austauschschüler aus Europa, der mich verfolgt.«

»Jessica, du übertreibst mal wieder«, erwiderte Mom. »Männliche Jugendliche benehmen sich in der Öffentlichkeit häufig ein bisschen unbeholfen. Du deutest wahrscheinlich einfach nur ein unschuldiges Benehmen falsch.«

Wie alle Kulturanthropologen glaubte Mom, alles über menschliche soziale Interaktion zu wissen.

»Du hast ihn nicht heute Morgen an der Bushaltestelle gesehen«, wandte ich ein. »Er stand da in diesem großen schwarzen Umhang . ...Und als mein Finger geblutet hat, hat er sich die Lippen geleckt . . .«

In diesem Moment trat Mom so fest auf die Bremse, dass ich mit dem Kopf beinahe gegen die Frontscheibe geknallt wäre. Hinter uns wurde wütend gehupt.

»Mom! Was sollte das denn?«

»Entschuldige, Jessica«, sagte sie und sah jetzt doch ein wenig blass aus. Sie trat wieder aufs Gas. »Es war nur, weil du gesagt hast . . . dass du dich geschnitten hast.«

»Ich habe mir in den Finger geschnitten und er hat deswegen praktisch gesabbert. Als wär mein Finger eine ketchuptriefende Fritte.« Ich schauderte. »Es war echt widerlich.«

Mom wurde noch blasser und da wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

»Wer . . . wer ist dieser Junge?«, fragte sie schließlich, als wir in der Nähe des Grantley College, wo Mom unterrichtete, vor einem Stoppschild stehen blieben. »Wie heißt er?« Ich konnte spüren, dass sie sich alle Mühe gab, es beiläufig klingen zu lassen, und das machte mich nur noch nervöser.

»Er heißt . . .« Noch bevor ich seinen Namen aussprechen konnte, entdeckte ich ihn. Er saß auf der niedrigen Mauer, die den Campus umgab. Und er beobachtete mich. Schon wieder. Sofort brach mir der Schweiß aus. Aber diesmal war ich wirklich sauer. Genug ist genug. »Er ist gleich dort drüben«, rief ich und deutete mit dem Finger aus dem Fenster. »Und er starrt mich schon wieder an!« Das war kein »unbeholfenes Benehmen in der Öffentlichkeit«. Das war Stalking. »Er soll mich einfach in Ruhe lassen!«

In diesem Moment tat meine Mom etwas völlig Unerwartetes. Sie fuhr an den Straßenrand – und hielt genau dort, wo Lucius saß und mich beobachtete. »Wie heißt er, Jess?«, fragte sie noch einmal, während sie ihren Sicherheitsgurtöffnete.

Ich nahm an, dass Mom ihn zur Rede stellen wollte, daher hielt ich sie am Arm fest. »Mom, nein. Er ist, na ja, ziemlich unausgeglichen.«

Aber meine Mutter schob nur sanft meine Finger von ihrem Arm. »Sein Name, Jessica.«

»Lucius«, antwortete ich. »Lucius Vladescu.«

»Großer Gott«, murmelte Mom. Sie schaute an mir vorbei zu dem Stalker hinüber. »Ich nehme an, das war unvermeidlich . . .« In ihren Augen stand ein seltsamer, geistesabwesender Ausdruck.

»Mom?« Was war unvermeidlich?

»Warte hier«, sagte sie, wobei sie mich immer noch nicht ansah. »Rühr dich nicht von der Stelle.« Sie klang so ernst, dass ich nicht wagte zu protestieren. Ohne ein weiteres Wort stieg Mom aus und ging direkt auf den unheimlichen Jungen zu, der mich den ganzen Tag lang verfolgt hatte. War sie verrückt? Würde er versuchen wegzulaufen? Oder durchdrehen und ihr etwas antun? Aber nein, stattdessen ließ er sich anmutig von der Mauer gleiten und machte eine Verbeugung – eine richtige Verbeugung, aus der Hüfte.Was zum . . .?

Ich kurbelte das Fenster herunter, aber sie sprachen so leise, dass ich kein Wort verstehen konnte. Das Gespräch schien eine Ewigkeit zu dauern, dann schüttelte meine Mutter ihm die Hand.

Lucius Vladescu wandte sich zum Gehen und Mom stieg wieder ein und ließ den Motor an.

»Was war das denn?«, fragte ich völlig perplex.

Meine Mutter sah mir direkt in die Augen. »Dein Vater und ich müssen mit dir reden. Heute Abend.«

»Worüber?« Da war es wieder, das Kribbeln. Ein unangenehmes Kribbeln. »Kennt ihr diesen Typen?«

»Wir werden es dir später erklären. Wir haben dir so ungeheuer viel zu erzählen. Und wir müssen uns beeilen, bevor Lucius zum Abendessen kommt.«

Meine Kinnlade hing immer noch auf dem Boden, als Mom mir die Hand tätschelte und sich in den Verkehr einfädelte.

Kapitel 5

Meine Eltern bekamen jedoch nie die Chance zu erklären, was genau da vor sich ging. Als wir zu Hause ankamen, gab mein Dad draußen im Studio hinterm Haus gerade seinen Kurs Tantrisches Yoga, an dem lauter durchgeknallte, sexbesessene Hippies teilnahmen. Also beschlossMom, dass ich erst mal meinen Teil der Hausarbeit erledigen sollte.

Und dann erschien Lucius zu früh zum Abendessen. Ich war gerade in der Scheune und mistete die Ställe aus, als ich aus dem Augenwinkel einen Schatten wahrnahm, der auf die offene Scheunentür fiel.

»Wer ist da?«, rief ich nervös, immer noch schreckhaft nach den Ereignissen des Tages.

Ich erhielt jedoch keine Antwort. Eine ungute Ahnung beschlich mich. Mom hat ihn eingeladen, rief ich mir ins Gedächtnis, während ich zusah, wie ein hochgewachsener europäischer Austauschstudent über das staubige Gelände auf mich zustolzierte. So gefährlich kann er also nicht sein.

Moms Billigung hin oder her, ich hielt meine Mistgabel fest umklammert. »Was machst du hier?«, fragte ich, als er näher kam.

»Was sind denn das für Manieren?«, beklagte Lucius sich mit seinem hochnäsigen Akzent. Jeder seiner langen Schritte wirbelte kleine Staubwolken auf. Er blieb etwa zwei Meter vor mir stehen und wieder staunte ich über seine Größe. »Eine Dame brüllt nicht quer durch die Scheune«, fuhr er fort. »Und was für eine Art von Begrüßung war das?«

Hält mir der Typ, der mir den ganzen Tag nachspioniert hat, etwa gerade einen Vortrag über Etikette? »Ich hab dich gefragt, was du hier willst«, wiederholte ich und packte die Mistgabel noch ein wenig fester.

»Deine Bekanntschaft machen, natürlich«, antwortete er und warf mir einen langen, prüfenden Blick zu. Er ging sogar um mich herum und betrachtete meine Kleidung. Als ich mich umdrehte, um ihn ja nicht aus den Augen zu lassen, sah ich, wie er die Nase rümpfte. »Gewiss brennst du darauf, mich ebenfalls kennenzulernen.«

Nicht wirklich . . . Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, aber die Art, wie er mich von oben bis unten musterte, fand ich alles andere als angenehm. »Warum starrst du mich so an?«

Er blieb stehen. »Du reinigst hier doch nicht etwa die Ställe? Sind das Fäkalien an deinen Schuhen?«

»Ja«, antwortete ich, verwirrt von seinem Tonfall. Was kümmert es ihn, was an meinen Schuhen klebt? »Ich miste jeden Abend die Ställe aus.«

»Du?« Er wirkte verblüfft – und entsetzt. »Irgendjemand muss es ja tun«, erklärte ich. Warum denkt er, das ginge ihn etwas an?

»Ja, also . . . da, wo ich herkomme, haben wir Leute dafür. Personal.« Er rümpfte die Nase. »Du – eine Dame von deinem Rang – solltest niemals eine so niedere Arbeit verrichten. Das ist anstößig.«

Bei diesen Worten umklammerte ich die Mistgabel wieder fester – aber diesmal nicht aus Furcht. Lucius Vladescu war nicht nur einschüchternd. Er war entnervend. »Hör mal, ich habe die Nase ziemlich voll davon, dass du mir ständig hinterherschleichst. Und dein Getue geht mir erst recht auf die Nerven«, fuhr ich ihn an. »Wofür hältst du dich eigentlich? Und warum verfolgst du mich dauernd?«

In Lucius’ schwarzen Augen flackerten Ärger und Ungläubigkeit auf. »Deine Mutter hat dich immer noch nicht informiert, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Dr. Packwood hat geschworen, dass sie dir alles erzählen würde. Deine Eltern sind allem Anschein nach nicht besonders gut darin,Versprechen zu halten.«

»Wir . . . wollten später reden«, stammelte ich. Sein Zorn schwächte meine Empörung ein wenig ab. »Dad unterrichtet Yoga . . .«

»Yoga?« Lucius lachte auf. »Ihm ist es wichtiger, seinen Körper in einer Abfolge lächerlicher Stellungen zu verbiegen, als seine Tochter über den Pakt zu informieren? Und was für eine Art Mann praktiziert ein derart pazifistisches Hobby? Männer sollten für den Krieg trainieren, statt ihre Zeit damit zu verschwenden, ›Om‹ zu singen und von innerem Frieden zu philosophieren.«

Vergiss das Yoga und das Philosophieren. »Pakt? Was für ein Pakt?«

Aber Lucius starrte nur in das Gebälk der Scheunendecke hinauf, lief mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf und ab und murmelte aufgebracht vor sich hin. »Das läuft nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Ich habe die Ältesten gewarnt, dass man dich schon vor Jahren nach Rumänien hätte zurückrufen sollen, dass du niemals eine geziemende Braut sein würdest . . .«

Moooment mal. »Braut?«

Lucius hielt inne und drehte sich auf dem Absatz zu mir um. »Ich werde deiner Unwissenheit langsam überdrüssig.« Er kam auf mich zu, beugte sich vor und blickte mir fest in die Augen. »Da deine Eltern sich weigern, dich in Kenntnis zu setzen, werde ich dir die Neuigkeit selbst überbringen. Ich werde es für dich so einfach wie möglich ausdrücken.« Er zeigte auf sich und erklärte, als rede er mit einem Kind: »Ich bin ein Vampir.« Er deutete auf mich. »Du bist ein Vampir. Und wir werden heiraten, sobald du volljährig bist. Das ist seit unserer Geburt so verfügt.«

Ich war nicht imstande, seinen Worten zu folgen. »Heiraten«, »verfügt« – keine Chance. Mein Verstand hatte bei"Vampir« dichtgemacht.

Verrückt. Lucius Vladescu ist vollkommen verrückt und ich bin allein mit ihm, in einer leeren Scheune.

Also tat ich, was jede vernünftige Person an meiner Stelle getan hätte. Ich rammte die Mistgabel ungefähr dorthin, wo sein Fuß sein musste, und rannte wie der Teufel zum Haus, ohne die Schmerzensschreie hinter mir zu beachten.

Kapitel 6

Ich bin so was von überhaupt nicht untot«, jammerte ich.

Aber natürlich achtete niemand auf mich. Meine Eltern waren zu sehr mit Lucius Vladescus verletztem Fuß beschäftigt.

»Setz dich, Lucius«, befahl Mom, die nicht besonders glücklich schien, uns so zu sehen.

»Ich ziehe es vor zu stehen«, erwiderte Lucius.

Mom deutete entschlossen auf die Stühle am Küchentisch. »Setz dich. Sofort.«

Unser verletzter Besucher zögerte, als überlegte er, den Gehorsam zu verweigern, dann nahm er leise vor sich hin brummend Platz. Mom zog ihm den Stiefel vom Fuß, der den sichtbaren Abdruck eines Mistgabelzinkens trug, während mein Dad in der Küche herumwuselte, unter der Spüle nach dem Erste-Hilfe-Kasten suchte und darauf wartete, dass der Tee lange genug gezogen hatte.

»Es ist nur ein blauer Fleck«, verkündete Mom.

»Oh, gut.« Dad kam unter der Spüle hervorgekrochen.

»Ich kann das Verbandszeug ohnehin nicht finden. Aber wir können ja trotzdem Tee trinken.«

Der schlaksige Möchtegernblutsauger, der sich meinen Platz am Küchentisch unter den Nagel gerissen hatte, funkelte mich an. »Du hast großes Glück, dass mein Schuhmacher nur das feinste Leder benutzt. Du hättest mich aufspießen können. Und einen Vampir solltest du besser nicht aufspießen. Überhaupt – begrüßt man so seinen künftigen Ehemann? Oder einen Gast? Mit einer Mistgabel?«

»Lucius«, fiel meine Mutter ihm ins Wort. »Du hast Jessica überrumpelt. Wie ich heute Mittag schon erklärt habe, wollten ihr Vater und ich zuerst mit ihr sprechen.«

»Na ja, Sie haben sich dabei ordentlich Zeit gelassen – siebzehn Jahre lang. Irgendjemand musste den ersten Schritt machen.« Lucius befreite seinen Fuß aus Moms Griff, stand auf und humpelte auf einem Stiefel in der Küche umher wie ein rastloser König in seiner Burg. Er griffnach der Kanne mit Kamillentee, schnupperte daran und verzog das Gesicht. »Sie trinken das?«

»Es wird dir schmecken«, versprach Dad. Er verteilte den Tee auf vier Tassen. »In stressigen Momenten wie diesem ist Tee sehr beruhigend.«

»Jetzt lasst doch mal den Tee. Erzählt mir lieber, was los ist«, bat ich und setzte mich, um meinen Stuhl zurückzuerobern. Er war kühl. Nicht so, als hätte dort vor wenigen Sekunden noch jemand gesessen. »Irgendjemand. Bitte. Erklärt’s mir.«

»Wie es der Wunsch deiner Eltern ist, werde ich diese Pflicht ihnen überlassen«, informierte Lucius uns. Er hob seinen dampfenden Becher an die Lippen, nippte und schauderte. »Gütiger Gott, das ist ja abscheulich.«

Ohne auf Lucius zu achten, warf Mom Dad einen Blick zu, als hätten sie ein Geheimnis. »Ned . . . was denkst du?«

Anscheinend verstand er, worauf sie hinauswollte, denn er nickte und sagte: »Ich werde die Schriftrolle holen.« Dann verließ er die Küche.

»Schriftrolle?« Schriftrollen. Pakte. Bräute. Warum sprechen alle in Rätseln? »Welche Schriftrolle?«

»Ach herrje.« Mom setzte sich auf den Stuhl neben meinem und griff nach meinen Händen. »Das ist alles ziemlich kompliziert.«

»Versuch’s einfach«, drängte ich.

»Du weißt ja, dass wir dich in Rumänien adoptiert haben«, begann Mom. »Und dass deine leiblichen Eltern bei einer Auseinandersetzung in ihrem Dorf getötet wurden.«

»Von Bauern ermordet.« Lucius runzelte finster die Stirn. »Abergläubischen Menschen, die dazu neigen, sich in bösartigen Horden zusammenzurotten.« Er schraubte den Deckel von Dads Bio-Erdnussbutter auf, kostete und wischte sich den Finger dann an seiner schwarzen Hose ab, die sich beinahe wie eine Reithose um seine langen Beine schmiegte. »Bitte sagen Sie mir, dass es irgendetwas Genießbares in diesem Haus gibt.«

Mom wandte sich zu Lucius um. »Könntest du freundlicherweise eine Weile ruhig sein, während ich Jessica alles erkläre?«

Lucius verneigte sich leicht, sein glänzendes blauschwarzes Haar schimmerte unter der Küchenlampe. »Natürlich. Fahren Sie fort.«

Mom richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Aber wir haben dir nicht die ganze Geschichte erzählt, weil das Thema dich damals zu sehr aufzuregen schien.«

»Dann ist jetzt wohl ein guter Zeitpunkt«, schlug ich vor. »Schlimmer als gerade könnte ich mich nicht aufregen.«

Mom nippte an ihrem Tee und schluckte. »Ja, also, die Wahrheit ist: Deine Eltern wurden von einem wütenden Mob getötet, der versuchte, sein Dorf von Vampiren zu befreien.«

»Von Vampiren?« Das war nicht lustig.

»Ja«, bestätigte Mom. »Vampire. Deine Eltern gehörten zu der Gruppe Vampire, die ich damals erforschte.«

Okay, ich war es gewöhnt, Worte wie Elfen oder Erdgeist oder sogar Troll aus ihrem Mund zu hören. Ich meine, folkloristische Kulturen und Legenden waren das Forschungsgebiet meiner Mom. Und Dad hatte in seinem Yoga-Studio durchaus schon Seminare über »Engelkommunikation« abgehalten. Aber bisher war ich eigentlich ziemlich sicher gewesen, dass selbst meine durchgeknallten Eltern nicht an Filmmonster à la Hollywood glaubten. Sie konnten nicht ernsthaft davon ausgehen, dass meine leiblichen Eltern sich in Fledermäuse verwandelt oder in Sonnenlicht aufgelöst hatten oder dass ihnen große Reißzähne gewachsen waren. Oder etwa doch?

»Ihr habt gesagt, ihr hättet eine Art Kult studiert«, flüsterte ich. »Eine Subkultur mit einigen ungewöhnlichen Ritualen . . . Aber ihr habt niemals etwas von Vampiren gesagt.«

»Du warst immer schon sehr rational veranlagt, Jessica«, erwiderte Mom. »Du hast nichts übrig für Dinge, die man nicht mit Mathematik oder Naturwissenschaft erklären kann. Dein Vater und ich hatten Angst, dass die Wahrheit über deine leiblichen Eltern dich zutiefst verstören könnte. Also haben wir uns bewusst . . . vage ausgedrückt.«

»Das heißt, meine leiblichen Eltern haben tatsächlich geglaubt, sie seien Vampire?«, kiekste ich.

Mom nickte. »Also . . . ja.«

»Sie haben nicht nur gedacht, sie seien Vampire«, brummte Lucius. Er hatte sich seinen Stiefel zurückgeholt und hüpfte nun auf einem Fuß herum, während er versuchte, ihn wieder anzuziehen. »Sie waren Vampire.«

Während ich unseren Gast ungläubig anstarrte, ging mir der abscheulichste Gedanke der Welt durch den Sinn. Diese Rituale, auf die meine Mom angespielt hatte, diese Rituale meiner leiblichen Eltern . . . »Sie haben doch nicht . . .wirklich Blut getrunken . . .«

Der Ausdruck auf Moms Gesicht sagte alles und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Meine leiblichen Eltern: perverse, geistig gestörte Blutsauger.

»Sehr, sehr lecker übrigens«, bemerkte Lucius. »Sie haben nicht zufällig etwas davon hier, anstelle dieses Tees . . .«

Mom warf ihm einen Blick zu.

Lucius runzelte die Stirn. »Nein, vermutlich nicht.«

»Menschen trinken kein Blut«, beharrte ich. Meine Stimme klang ungewöhnlich schrill. »Und es gibt keine Vampire!«

Lucius verschränkte ärgerlich die Arme vor der Brust. »Entschuldigung. Ich stehe direkt vor dir.« »Lucius, bitte«, sagte Mom mit dem ruhigen, aber ernsten Tonfall, den sie für schwer kontrollierbare Schüler reservierte. »Jess braucht jetzt etwas Zeit, das alles zu verdauen. Sie hat eine analytische Neigung, die dazu führt, dass sie sich allem Paranormalem widersetzt.«

»Ich widersetze mich allem Unmöglichen«, rief ich. »Allem Unrealistischen.«

An diesem Tiefpunkt der Unterhaltung kehrte Dad mit einer modrigen Schriftrolle zurück, die er sehr vorsichtig in den Händen hielt. »Historisch gesehen ist die Vorstellung von der Existenz Untoter vielen Menschen unerträglich«, bemerkte Dad, während er das Dokument behutsam auf den Tisch legte. »Und die späten Achtziger waren für Vampire in Rumänien eine besonders verheerende Zeit. Alle paar Monate gab es große Säuberungen. Viele sehr nette Vampire wurden ausgelöscht.«

»Deine leiblichen Eltern – die innerhalb ihrer Subkultur ziemlich mächtig waren – begriffen, dass sie wahrscheinlich dem Untergang geweiht waren. Bevor sie ermordet wurden, baten sie uns deshalb, dich bei uns aufzunehmen, in der Hoffnung, dass wir dich hier in den Vereinigten Staaten besser beschützen können«, übernahm Mom.

»Menschen trinken kein Blut«, wiederholte ich. »Sie tun’s einfach nicht. Ihr habt nicht gesehen, wie meine Eltern sich wie Vampire benommen haben, oder?«, fragte ich herausfordernd. »Ihr habt nie gesehen, dass ihnen Reißzähne wuchsen und sie in irgendwelche Hälse bissen? Ich weiß, dass ihr es nicht gesehen habt, denn es ist ja nicht passiert.«

»Nein«, gestand Mom und griff wieder nach meinen Händen. »Das war uns verwehrt.«

»Weil es nicht passiert ist«, wiederholte ich.

»Nein«, warf Lucius ein. »Weil das Beißen etwas sehr Privates ist, etwas sehr Intimes. Man lädt nicht einfach irgendjemanden ein, dabei zuzusehen. Vampire sind sehr sinnlich, aber wir sind keine Exhibitionisten, ich bitte dich.Wir sind diskret.«

»Aber wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass man uns in diesem Punkt belogen hat«, ergänzte Mom. »Und es ist kein Grund, sich aufzuregen, Jess. Für sie war es ziemlich normal. Wärst du in dieser Subkultur in Rumänien aufgewachsen, wäre es auch dir ganz natürlich erschienen.«

Ich entriss ihr meine Hände. »Ich glaube euch kein Wort.«

Mit einem tiefen Seufzer begann Lucius wieder, auf und ab zu wandern. »Ehrlich, ich kann dieses Drumherumgerede nicht länger ertragen. Die Geschichte ist ganz einfach. Du, Antanasia, bist die Letzte einer langen Reihe mächtiger Vampire. Der Dragomirs. Alter Vampiradel.«

Ich fing an zu lachen, ein schrilles, irgendwie hysterisches Lachen. »Vampiradel. Klar.«

»Ja. Hochadel. Und das ist der letzte Teil der Geschichte, die zu erzählen deinen Eltern immer noch zu widerstreben scheint.« Lucius beugte sich über den Tisch, stützte die Ellbogen auf und sah mich herausfordernd an. »Du bist eine Vampirprinzessin – die Erbin der Dragomirs. Ich bin ein Vampirprinz. Der Erbe eines ebenso mächtigen Clans, der Vladescus. Noch mächtiger, würde ich sagen, aber darum geht es jetzt nicht. Wir wurden einander in einer Verlobungszeremonie kurz nach unserer Geburt versprochen.«

Hilfe suchend blickte ich meine Mom an, aber alles, was sie sagte, war: »Die Zeremonie war ziemlich dramatisch, sehr ausgefeilt.«

»In einer riesigen Höhle in den Karpaten«, fügte Dad hinzu. »Mit Hunderten von Kerzen.« Er betrachtete meine Mom mit liebevoller Bewunderung. »Kein anderer Außenstehender hatte jemals Zugang dazu.«

Ich funkelte sie an. »Ihr wart dabei? Bei dieser Zeremonie?«

»Oh, wir haben auf diese Weise eine Menge Vampire kennengelernt und viele interessante kulturelle Eigenheiten erfahren.« Bei der Erinnerung lächelte Mom ein wenig. »Du solltest die Zusammenfassung meiner Forschungen im Journal osteuropäischer Volkskultur lesen. Es war ein ziemlich bahnbrechender Bericht, möchte ich behaupten.«

»Lassen Sie mich zu Ende erzählen, bitte«, murrte Lucius.

»Immer mit der Ruhe«, tadelte Dad sanft. »In unserer kleinen Demokratie bekommt jeder die Gelegenheit zu sprechen.«

An dem abschätzigen Blick, den Lucius meinem Dad zuwarf, konnte ich erkennen, dass er nicht viel von Demokratie hielt. Der unter Wahnvorstellungen leidende Möchtegerndracula begann von Neuem, auf und ab zu gehen. »Die Verlobungszeremonie hat unser Schicksal besiegelt, Antanasia. Wir sollen heiraten, kurz nachdem du volljährig geworden bist. Wenn unsere Blutlinien vereint sind, festigt das die Stärke unserer Clans und setzt Jahren der Rivalität und des Krieges ein Ende.« Seine schwarzen Augen glänzten und sein Blick war in die Ferne gerichtet. »Es wird ein glorreicher Augenblick in unserer Geschichte sein, wenn wir die Macht ergreifen. Fünf Millionen Vampire – deine Familie und meine vereint –, alle unter unserer Regentschaft.« Mein angeblicher Verlobter kehrte ruckartig in die Realität zurück und sah mich naserümpfend an. »Den Hauptteil der Verantwortung werde natürlich ich übernehmen.«

»Ihr seid alle wahnsinnig«, erklärte ich, während ich fassungslos von einem Gesicht zum nächsten blickte. »Das ist doch total verrückt.«

Lucius kam näher und beugte sich vor, sodass unsere Gesichter sich beinahe berührten. Zum ersten Mal sah ich in seinen dunklen Augen Neugier, nicht bloß Geringschätzung oder Spott oder Überlegenheit. »Wäre es denn wirklichso abstoßend, Antanasia? Mit mir zusammen zu sein?«

Ich war mir nicht sicher, was er meinte. Sprach er von . . . uns beiden zusammen, nicht als vereinte politische Führung, sondern als Liebespaar?

Ich sagte nichts. Glaubte Lucius Vladescu wirklich, ich würde mich in ihn verlieben, nur weil er ein attraktives Gesicht hatte? Einen atemberaubenden Körper? Dass es mich interessieren würde, dass er nach dem erotischsten, würzigsten Rasierwasser roch, das ich je gerochen hatte . . .

»Zeigen wir ihr die Schriftrolle«, durchbrach Dad die Stille.

»Ja, es ist an der Zeit«, pflichtete Mom ihm bei. Ich hatte das modrige Papier beinahe vergessen, aber jetzt nahm Dad Platz und entrollte die Schriftrolle vorsichtig auf dem Küchentisch. Das brüchige Papier knisterte, als er es mit den Fingern glatt strich. Die Worte – wahrscheinlich Rumänisch – waren für mich unleserlich, aber es sah aus wie ein juristisches Dokument, mit einer Menge Unterschriften am unteren Rand. Ich drehte mich weg, weil ich keine Lust hatte, mir diesen Unsinn länger anzuschauen.

»Ich werde übersetzen.« Lucius stand auf. »Es sei denn natürlich, Antanasia hätte Rumänisch gelernt?«

»Das ist der nächste Punkt auf meiner To-do-Liste«, entgegnete ich zähneknirschend. Multilingualer Angeber.

»Du wärest gut beraten, mit dem Lernen anzufangen, meine zukünftige Braut«, erwiderte Lucius, der nun noch näher heranrückte und sich über meine Schulter beugte, um zu lesen. Ich konnte seinen Atem an meiner Wange spüren. Er war unnatürlich kühl und süß. Obwohl ich esgar nicht wollte, atmete ich wieder dieses ungewöhnliche Rasierwasser ein. Lucius war mir so nahe, dass mein lockigesdunkles Haar sein Kinn berührte. Geistesabwesend schob er die verirrten Locken weg, wobei er mit der Rückseite seiner Finger über meine Wange strich. Bei der Berührung zuckte ich zusammen. Das Gefühl traf mich mitten in der Magengrube.

Wenn es Lucius ähnlich ging, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Er schien ganz auf das Dokument konzentriert. Bin ich benebelt von zu viel Rasierwasser? Fange ich schon an, mir Dinge einzubilden?

Ich rutschte leicht auf meinem Stuhl herum, um zu vermeiden, dass wir uns noch einmal berührten, während unser arroganter Besucher mit den Fingern die erste Zeile der Schriftrolle nachzeichnete. »Dieses Dokument erklärt, dass du, Antanasia Dragomir, mir, Lucius Vladescu, zur Ehe versprochen wurdest, kurz nachdem du im Alter von achtzehn Jahren deine Volljährigkeit erreichst, und dass alle Parteien, die das Dokument unterzeichnet haben, sich in diesem Punkt einig sind. Und nach der Heirat werden unsere Clans in Frieden geeint sein.« Er lehnte sich zurück. »Wie gesagt, es ist eigentlich ganz einfach. Und sieh mal hier: Die Unterschrift deines Adoptivvaters. Und die deiner Adoptivmutter.«

Ich konnte der Versuchung, einen Blick auf das Dokument zu werfen, einfach nicht widerstehen, als er das sagte. Und tatsächlich, Moms und Dads hingekritzelte Unterschriften standen auf dem Papier, inmitten Dutzender unvertrauter rumänischer Namen. Verräter. Ich schob die Schriftrolle weg, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte meine Eltern an. »Wie konntet ihr ein solches Versprechen geben, als sei ich eine . . . eine . . . eine Kuh?«

»Das haben wir nicht getan, Jessica«, versuchte Mom, mich zu besänftigen. »Du warst damals noch nicht unsere Tochter. Wir waren lediglich anwesend, um ein einzigartiges Ritual zu bezeugen, im Interesse meiner Forschungen. Das war Wochen vor der Säuberung, Wochen, bevor wir dich adoptierten. Wir hatten keine Ahnung, was die Zukunft für irgendeinen von uns bereithielt.«

»Außerdem verspricht niemand Kühe«, spottete Lucius. »Wer würde Vieh versprechen? Du bist eine Vampirprinzessin. Dein Schicksal gehört nicht nur dir allein.«

Prinzessin . . . er denkt wirklich, ich sei eine Vampirprinzessin. . . Das seltsame, beinahe angenehme Gefühl, das ich verspürt hatte, als er über meine Wange gestrichen hatte, war vergessen, als die Realität mich wieder einholte.

Lucius Vladescu war ein Irrer.

»Wenn ich ein Vampir wäre, würde ich jemanden beißen wollen. Ich hätte Durst auf Blut«, sagte ich in einem letzten kläglichen Versuch, vernünftig zu argumentieren in einem Gespräch, das sich zum Absurden entwickelt hatte.

»Deine wahre Natur wird sich schon noch bemerkbar machen«, versprach Lucius. »Du wirst jetzt bald volljährig. Und wenn ich dich zum ersten Mal beiße, dann wirst du ein Vampir sein. Ich habe dir ein Buch mitgebracht – ein Handbuch sozusagen –, das dir alles erklären wird.«

Ich sprang so schnell auf, dass mein Stuhl umkippte und zu Boden krachte. »Er wird mich nicht beißen«, schrie ich und deutete mit einem zittrigen Finger auf Lucius. »Und ich werde nicht nach Rumänien gehen und ihn heiraten! Es ist mir egal, was das für eine ›Verlobungszeremonie‹ war!«

»Ihr werdet dem Pakt folgen«, knurrte Lucius. Es war kein Vorschlag.

»Jetzt beruhig dich erst einmal, Lucius.« Dad lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich sich über den Bart. »Wie schon gesagt: Dies ist eine Demokratie. Lasst uns alle erst mal tief durchatmen. Wie Ghandi sagte: ›Wir müssen selbst die Veränderung werden, die wir erleben wollen.‹«

Lucius hatte sich offensichtlich noch nie zuvor mit einem Meister des passiven Widerstands angelegt, denn Dads energische, aber sanfte und total verquere Einschätzung der Situation schien ihn tatsächlich aus dem Konzept zu bringen. »Was soll das denn heißen?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Niemand trifft heute irgendwelche Entscheidungen«, übersetzte Mom. »Es ist schon spät und wir sind alle müde und ein wenig überwältigt von den Ereignissen der letzten Stunden. Außerdem, Lucius, ist Jessica noch nicht bereit, über die Ehe nachzudenken. Sie hat ja noch nicht einmal einen Jungen geküsst.«

Lucius feixte und zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Keine Verehrer? Wie schockierend. Ich hätte gedacht, dass deine Fähigkeiten mit der Mistgabel für gewisse Junggesellen hier in der ländlichen Umgebung doch recht attraktiv wären.«

Ich wollte sterben. Auf der Stelle. Ich wollte zur Messerschublade laufen, mir die größte Klinge greifen, die ich finden konnte, und sie mir ins Herz rammen. Als ungeküsst bloßgestellt zu werden . . . das war beinahe schlimmer, als eine Vampirprinzessin zu sein. Die Vampirsache war eine lächerliche Fantasie, aber mein totaler Mangel an Erfahrung . . . der war real. »Mom! Das ist so peinlich! Musstest du ihm das auf die Nase binden?«

»Na ja, Jessica, aber es stimmt doch. Ich möchte nur verhindern, dass Lucius denkt, du wärst eine erfahrene junge Frau und bereit für die Ehe.«

»Ich werde es nicht ausnutzen«, versprach Lucius ernsthaft. »Und man kann sie natürlich nicht zu einer Ehe zwingen. Dies ist ein neues Jahrhundert. Bedauerlicherweise. Aber ich fürchte, dass ich gezwungen bin, mein Werben fortzusetzen, bis Antanasia begreift, dass ihr Platz an meiner Seite ist. Und sie wird es begreifen.«

»Werde ich nicht.«

Lucius tat den Einwand mit einem Achselzucken ab. »Die Verbindung unserer Clans wurde von den ältesten, mächtigsten Mitgliedern festgelegt: den Ältesten der Familien Vladescu und Dragomir. Und die Ältesten bekommen immer, was sie wollen.«

Mom stand auf. »Es ist ganz allein Jessicas Entscheidung, Lucius.«

»Natürlich.« Das herablassende Lächeln auf Lucius’ Gesicht sagte jedoch etwas anderes. »Also, wo soll ich wohnen?«

»Wohnen?« Dad blinzelte verwirrt.

»Ja. Schlafen«, erklärte Lucius. »Ich hatte eine lange Reise und habe meinen ersten lähmend langweiligen Tag an dieser sogenannten öffentlichen Schule hinter mich gebracht. Und nun bin ich erschöpft.«

»Du gehst nicht zurück in die Schule«, protestierte ich voller Panik. Die Schule hatte ich ganz vergessen. »Auf keinen Fall!«

»Natürlich werde ich die Schule weiter besuchen«, erwiderte Lucius.

»Wie hast du dich überhaupt angemeldet?«, erkundigte sich Mom.

»Ich habe ein ›Studentenvisum‹«, antwortete Lucius. »Die Ältesten dachten, andernfalls sei es schwierig, meine fortgesetzte Anwesenheit hier zu erklären. Vampire erregen nicht gern Aufmerksamkeit, wie Sie sich vorstellen können. Wir passen uns gern an.«

Anpassen? In einem Samtmantel im Sommer? In Lebanon County, Pennsylvania? Wo schon Ohrringe als so radikal gelten, dass sie einen auf direktem Wege in die Hölle bringen könnten?

»Du bist also wirklich ein Austauschschüler?« Dad runzelte die Stirn.

»Ja. Ihr Austauschschüler, um genau zu sein«, verbesserte Lucius.

Mom hob abwehrend die Hand. »Aber dem haben wir nie zugestimmt.«

»Ja«, pflichtete Dad ihr bei. »Hätten wir da nicht etwas unterschreiben müssen? Gibt es keinen Papierkram?«

Lucius lachte. »Oh, Papierkram. Eine Kleinigkeit, die in Rumänien erledigt wurde. Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, lehnt eine Bitte des Vladescu-Clans ab. Das wäre einfach schlechter Stil. Und die Konsequenzen, die es hätte, uns eine Gefälligkeit auszuschlagen . . . nun, sagen wir einfach, die Leute halten gern ihren Hals für uns hin.«

»Lucius, das hättest du trotzdem zuerst mit uns besprechen müssen«, wandte Mom ein.

Lucius’ Schultern sackten herab, aber nur ein klein wenig. »Ja. Na ja, vielleicht sind wir da etwas zu weit gegangen. Aber genau genommen, sind Sie verpflichtet, mich willkommen zu heißen. Sie wussten, dass dieser Tag – und ich – kommen würden.«

Dad räusperte sich und sah Mom an. »Wir haben den Dragomirs tatsächlich vor Jahren versprochen, dass wir, wenn es so weit ist . . .«

»Oh, Ned, ich weiß nicht. Wir müssen Rücksicht auf Jessicas Gefühle nehmen . . .«

»Sie haben meiner Familie einen Eid geleistet«, Lucius blieb hartnäckig. »Außerdem kann ich sonst nirgendwohin. Ich werde nicht in dieses sogenannte Landgasthaus im Stadtzentrum zurückkehren, wo ich letzte Nacht geschlafen habe. Der Raum hatte das Thema Schweine, verdammt noch mal. Schweinetapeten, Schweinekrempel überall. Und ein Vladescu schläft nicht bei Schweinen.«

Mom seufzte und legte mir beruhigend die Hände auf die Schultern. »Ich schätze, für den Augenblick kann Lucius im Gästeappartement über der Garage wohnen, während wir uns etwas überlegen. In Ordnung, Jessie? Es ist nur vorübergehend, da bin ich mir sicher.«

»Hey, es ist eure Farm«, murmelte ich, wohl wissend, dass ich geschlagen war. Meine Eltern nahmen ständig Streuner auf. Boshafte Katzen, bissige Hunde . . . Wer heimatlos war, konnte auf unserem Bauernhof leben, selbst wenn er drohte, einen zu beißen.

Und so kam es, dass ein Teenager, der von sich behauptete, ein Vampir zu sein, zu Beginn meines lang ersehnten Abschlussjahres Quartier in unserer Garage bezog. Und nicht irgendein Vampir. Mein arroganter, überheblicher Vampir- Verlobter. Die letzte Person, zur Hölle – oder aus der Hölle –, mit der ich auch nur eine Busfahrt gemeinsam erleben wollte, ganz zu schweigen davon, mich für die Ewigkeit mit ihm zu verbinden.

Ich lag die halbe Nacht wach und dachte über mein zerstörtes Leben nach. Meine leiblichen Eltern: Mitglieder eines Kultes, die angeblich Blut tranken. Ich nahm mir vor, nie, nie wieder an sie zu denken. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als sie aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Ihre Geschichte konnte – und würde – ein für alle Mal in der Vergangenheit verschwinden.

Aber die Zukunft . . . Alles, was ich gewollt hatte, war eine Chance, mit Jake Zinn auszugehen, einem ganz normalen Jungen. Stattdessen bekam ich einen durchgeknallten Verlobten direkt in die Garage geliefert. Als würden nicht ohnehin schon alle in der Schule meine Familie für bizarr halten, mit Dads Yoga und seinem unproduktiven Antifleischbiobauernhof und meiner Mom als Brötchenverdienerin, die sich mit irgendwelchem fantastischem Hokuspokus beschäftigte. Aber jetzt . . . jetzt würde ich wirklich zur totalen Außenseiterin werden. Das Highschool-Mädchen, das mit einem Freak verlobt war. Und mit was für einem Freak.

Während ich im Bett lag, konnte ich nicht aufhören, an den Duft von Lucius’ Rasierwasser zu denken, als er sich über mich gebeugt hatte. Die Macht, die er ausgestrahlt hatte, als er in meinem Literaturkurs auf und ab gelaufen war. Die Berührung seiner Finger auf meiner Wange. Seine Ansage, dass er mich eines Tages beißen würde.

Gott, was für ein Psychopath.

Ich schlug die Bettdecke zurück, setzte mich auf und zog den Vorhang beiseite, um durchs Fenster zur Garage hinüberschauen zu können. In dem Appartement im ersten Stock brannte noch immer Licht. Lucius war dort draußen. Er war wach und tat – was?

Ich schluckte schwer, ließ mich wieder auf mein Kissen fallen und zog mir die Decke bis zum Hals – meinem empfindlichen, verletzbaren und noch ungeküssten Hals –, während ich den Morgen halb herbeisehnte, halb fürchtete.

Kapitel 7

LIEBER ONKEL VASILE,

ich schreibe dir aus meinem »Loft« über der baufälligen Garage der Packwoods, wo ich einquartiert bin wie ein unerwünschtes Automobil oder ein vergessenes Gepäckstück. Zweifellos werde ich Tag und Nacht abgestandene Autoabgase einatmen.