Der Vater eines Mörders - Alfred Andersch - E-Book + Hörbuch

Der Vater eines Mörders E-Book

Alfred Andersch

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Beschreibung

In seinem letzten vollendeten Werk, 1980 postum erschienen, kehrt Alfred Andersch in seine Jugend zurück. München, Mai 1928. Der Schüler Franz Kien erleidet eine Unterrichtsstunde bei Herrn Himmler, Direktor des Wittelsbacher Gymnasiums, Altphilologe, großbürgerlicher Katholik und Vater des späteren Reichsführers der SS. Im Nachwort stellt der Autor die Frage: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?« "

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Alfred Andersch

Der Vater eines Mörders

Eine Schulgeschichte

Die Erstausgabe erschien 1980 im Diogenes Verlag; als Taschenbuch erschien der Text erstmals 1982 (detebe 20498)

Der Text der vorliegenden Ausgabe entspricht demjenigen in Band 5 der 2004 im Diogenes Verlag erschienenen textkritisch durchgesehenen und kommentierten EditionAlfred Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden, herausgegeben von Dieter Lamping

Editorische Notiz und Seitenkonkordanz der Ausgaben von 1982, von 2004 und der hier vorliegenden Ausgabe unter

www.diogenes.ch/andersch/vater

Bibliographie der Sekundärliteratur zum Werk von Alfred Andersch unter www.diogenes.ch/andersch/biographie

Umschlagillustration: Gabriele Münter, ›Straßenbahn in München‹, 1910/12 (Ausschnitt) Copyright © 2012 ProLitteris, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ein unbegabter Gymnasiast

widmet diese Erzählung

einem hoch-begabten,

der einer der größten Meister

deutscher Sprache

und Dichtung wurde:

seinem Altersgenossen

[7] Diesen, hör ich, sind wir losgeworden

Und er wird es nicht mehr weiter treiben

Er hat aufgehört, uns zu ermorden

Leider gibt es sonst nichts zu beschreiben

Diesen nämlich sind wir losgeworden

Aber viele weiß ich, die uns bleiben.

Bertolt Brecht

Auf den Tod eines Verbrechers

Fast niemand scheint zu fühlen, daß die Sünde, die allstündlich an unseren Kindern begangen wird, zum Wesen der Schule gehört. Aber es wird sich noch einmal an den Staaten rächen, daß sie ihre Schulen zu Anstalten gemacht haben, in denen die Seele des Kindes systematisch gemordet wird.

[9] Inhalt

Der Vater eines Mörders[11]

Nachwort für Leser

[11] Der Vater eines Mörders

[13] Die Griechisch-Stunde sollte gerade beginnen, als die Türe des Klassenzimmers noch einmal aufgemacht wurde. Franz Kien schenkte dem Öffnen der Türe wenig Aufmerksamkeit; erst, als er wahrnahm, daß der Klaßlehrer, Studienrat Kandlbinder, irritiert, ja geradezu erschreckt aufstand, sich der Türe zuwandte und die zwei Stufen, die zu seinem Pult über der Klasse hinaufführten, herunter kam – was er nie getan hätte, wenn es sich bei dem Eintretenden um niemand weiter als um einen verspäteten Schüler gehandelt hätte –, blickte auch er neugierig zur Türe hin, die sich vorne rechts befand, neben dem Podest, auf dem die Tafel stand. Da sah er aber auch schon, daß es der Rex war, der das Klassenzimmer betrat. Er trug einen dünnen hellgrauen Anzug, seine Jacke war aufgeknöpft, unter ihr wölbte sich ein weißes Hemd über seinem Bauch, hell und beleibt hob er sich einen Augenblick lang von dem Grau des Ganges draußen ab, dann schloß sich die Türe hinter ihm; irgend jemand, der ihn begleitet hatte, aber unsichtbar blieb, mußte sie geöffnet und wieder zugemacht haben. Sie hatte sich in ihren Angeln bewegt wie ein Automat, der eine Puppe frei gab. So, wie auf dem Rathausturm am Marienplatz die Figuren herauskommen, dachte Franz Kien. Der perplexe Kandlbinder – er machte noch immer ein Gesicht, als murmle er ein Gott steh’ mir bei! vor sich hin – rief einen Moment zu spät »Aufstehen!«, aber die Schüler hatten sich schon erhoben, ohne seinen Befehl abzuwarten, und sie setzten sich auch nicht erst, als ihr Lehrer ein – wieder, wenn auch nur um Sekundenbruchteile verzögertes – »Setzen!« herausbrachte, sondern bereits, als der Rex [14] abwehrend die Hände hob und zu dem jungen Studienrat sagte: »Lassen Sie doch setzen!« Von den Doppelbänken aus, die mit Doppelpulten fest zusammengeschreinert waren – zwischen die Bänke und die Pulte mußten sie sich hineinzwängen, denn die meisten von ihnen waren in ihrem Alter, vierzehn Jahre, schon zu hoch aufgeschossen –, beobachteten sie, wie verwirrt Kandlbinder war und wie der Rex dessen Versuch, sich zu verbeugen, geschickt abfing, indem er ihm die Hand reichte. Obwohl Kandlbinder einen halben Kopf größer war als der auch nicht gerade kleine Rex – Franz Kien schätzte ihn auf eins siebzig –, konnten sie auf einmal alle sehen, daß ihr Ordinarius, wie er so neben dem offensichtlich gesunden und korpulenten Oberstudiendirektor stand, nichts weiter als ein magerer, blasser und unbedeutender Mensch war, und eine Sekunde lang ging ihnen ein Licht darüber auf, warum sie von ihm nichts wußten, als daß auch er von ihnen nichts wußte und stets mit einer Stimme, die sich so gut wie nie hob oder senkte, einen Unterricht gab, der wahrscheinlich tip-top war, nur daß sie, besonders gegen Ende der Stunden, nahe daran waren, einzuschlafen. Heiliger Strohsack, was ist der Kandlbinder doch für ein Langweiler, hatte Franz manchmal gedacht. Dabei ist er noch jung! Sein Gesicht ist farblos, aber seine schwarzen Haare sind immer ein bißchen ungekämmt. Franz und alle seine Mitschüler hatten eine Zeitlang gespannt beobachtet, ob Kandlbinder, als er nach Ostern, zum Schuljahresbeginn, ihre Klasse in der Untertertia übernahm, sich einen Liebling aussuchen würde, oder auch einen, bei dem es klar wäre, daß er ihn nicht leiden konnte, aber inzwischen waren fast zwei Monate vergangen, in denen der Lehrer sorgfältig darauf geachtet hatte, sich nichts dergleichen anmerken zu lassen. Nur bei dem Zusammenstoß mit Konrad Greiff ist er aus den Pantinen gekippt, dachte Franz. Wenn sie in den Pausen oder auf dem Schulweg [15] über Kandlbinders Vorsicht sprachen, was nicht häufig vorkam, denn dieser Lehrer nötigte ihnen wenig Interesse ab, gab es immer einen, der achselzuckend bemerkte: »Der will sich bloß aus allem raushalten.«

Der Rex hatte sich der Klasse zugewendet, er trug eine Brille mit dünnem Goldrand, hinter der blaue Augen scharf beobachteten, das Gold und das Blau ergaben zusammen etwas Funkelndes, Lebendiges und jetzt ins Gütige Gewandtes, anscheinend herzlich Geneigtes in einem hell geröteten Gesicht unter glatten weißen Haaren, aber Franz hatte sofort den Eindruck, daß der Rex, obwohl er sich ein wohlwollendes Aussehen geben konnte, nicht harmlos war; seiner Freundlichkeit war bestimmt nicht zu trauen, nicht einmal jetzt, als er, jovial und wohlbeleibt, auf die in drei Doppelreihen vor ihm sitzenden Schüler blickte.

»So, so«, sagte er, »das ist also meine Untertertia B! Ich freue mich, euch zu sehen.«

Er ist wirklich ein Rex, dachte Franz, nicht bloß ein Mann, dessen Titel man im Wittelsbacher Gymnasium auf dieses Wort abgekürzt hatte. Auch in den anderen Münchner Gymnasien wurden die Oberstudiendirektoren Rexe genannt, aber Franz glaubte nicht, daß die meisten von ihnen wie Könige aussahen. Der da schon. Hellgrau und weiß – über dem Hemd lag, tadellos, eine glänzend blaue Krawatte –, mit diesem an den Ecken abgerundeten Visier aus Gold und Blau im Gesicht, stand er vor dem Hintergrund der großen Schultafel, und weder Kandlbinder noch die Schüler schienen Anstoß daran zu nehmen, daß er die Klasse mit dem besitzanzeigenden Fürwort bedachte. Bin ich der Einzige, fragte Franz sich, dem es auffällt, daß er uns so anredet, als gehörten wir ihm? Er nahm sich vor, wenn die Stunde zu Ende war, Hugo Aletter zu fragen, ob nicht auch er es eigentlich anmaßend fand, daß der Rex, bloß weil er der Direktor der Schule war, [16] sich für berechtigt hielt, ihre Klasse als die seine zu bezeichnen. Hugo Aletter, sein Nebenmann auf der Bank, war nicht sein bester Freund in der Klasse – Franz hatte unter seinen Klassenkameraden überhaupt keinen Intimus –, aber der einzige, dem er eine solche Frage überhaupt stellen durfte, weil er mit Hugo sogar politisieren konnte, sie politisierten manchmal zusammen, während der Pausen, in einer Ecke des Schulhofs, in dem Wortschatz, den sie aus den Reden ihrer deutschnational gesinnten Väter aufschnappten. Und deswegen – nicht aus Freundschaft – hatten sie sich in der Klasse nebeneinander gesetzt. Auch die anderen hörten sich zu Hause die Wörter an, aus denen das politische Gerede des Münchner Mittelstandes sich zusammensetzte, aber sie blieben ihnen gegenüber gleichgültig; diese Kinder, wie Franz und Hugo sie deswegen verächtlich nannten, interessierten sich nicht für Politik. Aber nicht einmal Hugo würde vielleicht verstehen, dachte Franz, was mir nicht daran gefällt, daß der Rex uns mit ›meine Untertertia B‹ anredet, ich weiß es ja selber nicht genau, und es ist ja auch gar keine politische Frage. Plötzlich fiel ihm sein Vater ein, der im vergangenen Krieg Offizier gewesen war, wenn auch nur Reserve-Offizier; der sprach auch immer von ›seinen Männern‹, wenn er in Front-Erinnerungen kramte, und ich bin noch nie auf die Idee gekommen, dachte Franz, daß diese Bezeichnung nicht so selbstverständlich ist, wie wenn ich von meinem Vater denke: mein Vater.

»Griechisch!« sagte der Rex. »Hoffentlich fällt es euch nicht so schwer wie der Untertertia A!« Er schüttelte den Kopf. »Die haben sich vielleicht angestellt! Tz, tz, tz!«

Er gab damit bekannt, daß er ihre Parallelklasse schon inspiziert hatte, und zwar mußte dies gerade eben geschehen sein – es war jetzt elf Uhr –, denn wenn er schon am Tag vorher oder auch nur vor der Pause am heutigen Vormittag in [17] der A aufgekreuzt wäre, hätten die Schüler der B es von ihren Freunden aus der A erfahren, mit den nötigen Warnungen: »Macht euch auf den Rex gefaßt!« So war es klar, daß der Rektor es darauf anlegte, die Klassen zu überrumpeln, offensichtlich verstand er sich darauf, von seinen Absichten im Lehrerkollegium nichts verlauten zu lassen, denn nicht einmal Kandlbinder hatte eine Ahnung von seinem Besuch im Unterricht gehabt, sonst wäre er nicht so entgeistert gewesen, als der Rex hereinkam.

Diesem war es, insbesondere mit dem seiner Mitteilung angefügten Zungenschnalzen, gelungen, bei seinen Zuhörern den Eindruck zu erwecken, als traue er ihnen zu, seine Sorge über das schlechte Abschneiden der Parallelklasse teilen zu können. Er war bekümmert, und er ließ sie an diesem Gefühl teilnehmen; die B-Klasse stimmte selbstverständlich mit ihm darin überein, daß es ungehörig, ja geradezu unverständlich war, im Griechischen zu versagen, nicht um eine Krankheit handelte es sich dabei, schwer, aber doch heilbar, sondern um einen Makel, unverständlich, ein verärgertes, ungeduldiges Tz-tz-tz hervorrufend, als sei damit das letzte Wort gesprochen, jedenfalls kam es Franz so vor, ohne daß er aus diesem – übrigens recht unbestimmten – Eindruck den Schluß zog, der Rex sei vielleicht ein schlechter Schulmann. Im Gegenteil – auch er fiel auf den Tz-tz-tz-Trick des Rex herein, fühlte sich von dem Vertrauen, das jener ihnen entgegenzubringen schien, geschmeichelt und nahm sich vor, sich in Zukunft im Griechischen etwas mehr anzustrengen als bisher.

Er gab sich nicht die Mühe, festzustellen, wie Kandlbinder auf die zwei Sätze reagierte, mit denen der Rex bekanntgab, er habe die A-Klasse bereits gewogen und zu leicht befunden. Betrachtete er sie als Drohung, als Warnung vor dem, was ihm, dem Ordinarius blühte, wenn auch seine Klasse in der Prüfung durch den Rex durchfiel? Oder witterte er in ihnen [18] eher eine Chance, weil er es für ausgeschlossen hielt, angesichts seines zwar umständlichen, aber ausgezeichneten Unterrichts, dessen vorzügliche Resultate doch unbezweifelbar waren, könne irgend etwas schief gehen? Franz machte sich weiter keine Gedanken darüber; dieser dürre Pauker, durch dessen Griechischstunden er sich bisher mit Erfolg gemogelt hatte, interessierte ihn einfach zu wenig, als daß er ihm Aufmerksamkeit geschenkt und dabei versäumt hätte, den Rex zu beobachten, der sich – im Gegensatz zu dem Studienrat – so spannend, wenn auch gefährlich spannend, in Szene setzte.

»Lassen Sie sich nicht stören, Herr Doktor!« sagte er jetzt. »Fahren Sie ruhig fort!«

Fortfahren ist gut, dachte Franz entrüstet, er ist buchstäblich in der ersten Minute des Unterrichts hereingekommen, da war es doch glatt unfair, so zu tun, als habe Kandlbinder überhaupt schon anfangen können. Andererseits tat er sogleich etwas für das Ansehen des Lehrers vor den Schülern, indem er sie darauf hinwies, daß jener den Doktor-Titel trage. Es war der Klasse neu. Herr Doktor. Es schien nichts Besonderes in einer Schule zu sein, in der die Pennäler gehalten waren, alle ihre Lehrer, vom jüngsten Referendar bis zum grauhaarigen Oberstudienrat, mit Herr Professor anzureden, zeichnete den Ordinarius aber doch aus, denn so viel wußten sie schon von akademischen Titeln und Rängen, daß ein Lehrer, der seinen Doktor ›gebaut‹ hatte – wie sie, sogar als Vierzehnjährige, sich schon auszudrücken gelernt hatten, wobei sie ihre sich fachmännisch gebärdenden Brüder oder Väter nachäfften –, mehr darstellte als ein Studienrat, der zwar als Herr Professor angeredet werden mußte, aber keine Doktorarbeit geschrieben hatte, nicht ›promoviert‹ war.

»Selbstverständlich, Herr Direktor«, sagte Kandlbinder und rief Werner Schröter auf. »Schröter«, sagte er, »komm du doch mal nach vorn!«

[19] So reden sie sich also untereinander an, dachte Franz. Herr Doktor. Herr Direktor. Uns duzen sie. Erst ab Obertertia werden wir gesiezt. Wenn ich in der Untertertia sitzenbleibe – und wahrscheinlich werde ich sitzenbleiben, wegen Fünf in Griechisch und Mathematik, mit der Note Fünf in zwei Hauptfächern bleibt man eben sitzen –, dann werde ich ein weiteres Jahr geduzt werden. Na, meinetwegen. Ist ja wurscht. Es gibt Dringenderes. Was es für ihn Dringenderes gäbe, hätte Franz Kien nicht sagen können.

»Schröter«, sagte Kandlbinder, »wir sind ja bei der Lautlehre. Schreib doch mal die Konsonantenverbindungen an die Tafel!«