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Inhalt: Die Flammen des Krieges wurden entzündet und brennen heller als je zuvor. Nachdem der schwarze Mond sich nun offen der Welt offenbart hat, entbrennt ein Machtkampf um die Herrschaft unter den großen Reichen. Inmitten des Chaos sucht Herm Pendrak Antworten auf seine Fragen und findet unerwartete Verbündete. Während der Prätor die Pläne seines dunklen Meisters weiter vorantreibt, kehrt eine alte Macht zurück aus dem Verborgenen. Die Blutkrallen fordern einen neuen Kaiser. "Der vergessene Mond Band III - Rückkehr der Blutkrallen" ist der dritte Teil der Fantasy-Saga "Der vergessene Mond". "Der vergessene Mond" - Die Fantasy-Saga Band I - Zeit des Erwachens Band II - Das schwarze Buch Band III - Rückkehr der Blutkrallen Band IV - In Planung
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.tredition.de
Für Achim, Victor & Heike
Lichter meines Lebens
Bernd Tannenbaum
Der vergessene Mond
Band III – Rückkehr der Blutkrallen
www.tredition.de
© 2014 Bernd Tannenbaum
Umschlaggestaltung: Martin Schlierkamp
Entwurf der Runenkreise: Lothar Peterhof
Karte: Bernd Tannenbaum
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-8495-9154-0
Hardcover
978-3-8495-9155-7
e-Book
978-3-8495-9156-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Altar des Blutes
Der Kristallturm
Dunkle Prophezeiungen
Terminus
Der große Rat
Der vergessene Mond
Band I
Zeit des Erwachens
Band II
Das schwarze Buch
Band III
Rückkehr der Blutkrallen
Altar des Blutes
Gedankenversunken fuhr Rakul durch seinen langen weißen Bart, während er einmal mehr von seinem Balkon aus die Konstellation der Sterne betrachtete. Beinahe teilnahmslos standen die vier Monde am Nachthimmel über dem Kristallturm, auf dessen hohem Balkon Rakul in die Nacht sah. „Ein neuer Kaiser. Es ist der einzige Weg!“ All seine Versuche, die Erzmagier der drei Türme noch einmal in der Halle der Spiegel zusammenzubringen, waren gescheitert. Es würde keine neue Barriere geben, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Der schwarze Mond war nach jahrhundertelanger Verbannung wieder erschienen und hatte seinen alten Platz neben den drei anderen Monden eingenommen.
Noch einmal stapfte Rakul wütend mit seinem Fuß auf den Boden des Balkons. Tirist, der neue Erzmagier des grünen Turms, hatte all seine Rufe über die Spiegel ignoriert und so eine erneute Zusammenkunft der Erzmagier verhindert. Ohne die Zustimmung aller Erzmagier aber war der Pakt von Windoshei hinfällig und der Aufbau einer neuen Barriere zur Utopie geworden.
„Wir müssen einen neuen Rat bilden. Der Vergessene hat bereits viel mehr in Bewegung gesetzt, als wir dachten. Wir brauchen einen neuen Anführer, einen neuen Kaiser. Aber wie soll ich einen Rat einberufen, wenn ich den Kristallturm nicht verlassen kann? Nicht einmal die Erzmagier erhören meinen Ruf.“ Mit hängenden Schultern durchdachte Rakul weiter seine Möglichkeiten, als Ragfan gewohnt lautlos neben ihn trat. Sein Diener, der Perkles als obersten Turmwächter vertrat, war der unauffälligste Mann, den er kannte. In allem durchschnittlich war er der graue Mann, der perfekte Agent, der in keiner Masse von Menschen jemals auffallen würde.
„Wir haben eine Nachricht erhalten, Meister.“ Überrascht sah Rakul seinen Diener an, der wie immer emotionslos ohne jede sichtbare Regung neben ihm stand. Es gab nur eine Handvoll Menschen auf der Welt, die von der Existenz des Kristallturms wussten und niemanden, von dem Rakul eine Nachricht erwarten würde. Genau genommen hatte ihm außer dem Bund der Wächter seit Jahrhunderten niemand mehr Nachrichten geschickt – und der Bund der Wächter war zerschlagen, seine Führer ermordet von den Schergen des Vergessenen.
„Jemand kannte das geheime Wort, um sich als Freund zu identifizieren, und übergab einer der Turmwachen eine Schriftrolle. Offenbar kannte er nicht das zweite Wort, dass man braucht, um die Turmwache zu mir zu schicken. Ich sah gerade durch Zufall bei meiner Inspektion, dass einer der Golems eine Schriftrolle in seiner Hand hielt. Wie lange er sie schon bei sich trug, kann ich nicht sagen. Es könnten Stunden, Tage oder bereits eine Woche sein.“
Langsam holte Ragfan eine lederne Schriftrolle unter seinem grauen Mantel hervor und übergab sie an seinen Meister. Begierig nahm Rakul die Rolle und inspizierte ihre Oberfläche, weder Runen noch Schriftzeichen befanden sich auf dem gegerbten Leder.
Ohne nachzudenken griff er nach der Macht der drei Monde und wirkte einen magischen Spruch auf die Rolle, der so mächtig war, dass die meisten Magier allein bei dem Versuch tot umgefallen wären. Zufrieden sah er, wie sein Gegenzauber verpuffte, die Rolle war mit keiner magischen Falle und keinem Fluch belegt. Schließlich spürte er etwas, was er schon lange nicht mehr gefühlt hatte - Neugierde, begleitet von einem leichten Kribbeln in seinen Fingern. Wer auch immer ihm die Nachricht geschickt hatte und was auch immer ihr Inhalt war, hatte ihm schon jetzt einen Gefallen getan. Er fühlte sich so lebendig wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ohne weiter zu zögern öffnete er schließlich die Rolle und zog ein kleines Pergament heraus.
Die Zeit des Erwachens ist gekommen. Ein Kaiser muss folgen. Wir werden bereit sein.
Die Nachricht war kurz und ohne Gruß geschrieben. Doch es war weniger ihr Inhalt, der Rakuls Atem stocken ließ. Es waren die fünf blutroten Linien, die sich anstelle einer Unterschrift am unteren Rand des Pergamentes befanden. Rakul wusste genau, wer die Nachricht gesandt hatte und noch in demselben Augenblick wusste er auch, dass er nicht so allein war, wie er befürchtet hatte.
„Die Blutkrallen sind zurück. Wenn die Chi Tsume wieder auf der Welt wandeln, wird es auch die Sikau bald wieder geben… und die Kagenoha.“ Mit einem Schaudern dachte Rakul an die rot gekleideten Attentäter, die dem Vergessenen als Garde und Mörder im großen Krieg gedient hatten. Es war die Aufgabe der Chi Tsume und der Sikau, den Kaiser vor diesen Attentätern zu schützen. Doch das konnten sie nur mit den singenden Waffen. Sie mussten gefunden werden, noch vor der Krönung eines neuen Kaisers.
„Gute Nachrichten?“ Ragfans Frage trug keine Emotion in seiner Stimme, doch Rakul wusste, dass sein Diener nicht weniger neugierig war als er selbst. „Ja, Ragfan. Die ersten guten Nachrichten seit einer langen Zeit. Wir sind nicht länger allein.“
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Bleich und geschwächt von der tagelangen Seereise sah Kira erleichtert auf den kleinen Hafen von Mito. Übelkeit stieg einmal mehr in ihr auf, während die vom Wind aufgepeitschten Wellen das Schiff in starkes Schaukeln versetzten. Es war noch nicht allzu lange her, da war ihr der Hafen von Mito groß und prächtig vorgekommen, als ihre Reise sie zum ersten Mal in die Hauptstadt des Fürsten Toga geführt hatte. Aber nun, nachdem sie die gewaltigen Häfen des großen Landes gesehen hatte, den Donnerfels Magystras und Phrygia selbst, kamen ihr die hölzernen Stege und Bauten an der Küste von Begos weder groß noch prächtig vor.
„Die Bewohner von Begos waren noch nie ein Volk von Seefahrern. Man sollte das Schwimmen den Fischen überlassen. Bei allen Kraken, ist mir übel.“ Einmal mehr beugte sich Kira über die Reling und entließ letzte Reste ihres Mageninhaltes in das schäumende Wasser, während der Kapitän der Komora das Anlegemanöver für das kleine Handelsschiff einleitete. Es war nun schon eine Woche her, seit sie und Herm sich verabschiedet hatten und sie vermisste ihn mit jedem Tag mehr.
„Drei Tage waren zu kurz, wir hätten uns mehr Zeit nehmen sollen.“ Wie schon so oft auf ihrer Seereise von Phrygia nach Mito biss Kira sich wütend auf die Unterlippe. Nach der Verbannung der dunklen Garde und dem Rückzug der Invasionstruppen aus der riesigen Stadt waren nur Tod und Chaos zurückgeblieben. Während Triumvirin Tertia umgehend damit begonnen hatte, den Wiederaufbau Phrygias zu organisieren, hatte Perkles darauf bestanden, dass sie gemeinsam mit ihr und Herm ihren Meister besuchen müssten. Herm war schnell zu begeistern gewesen, konnte er doch auf Antworten hoffen, nach denen er schon so lange suchte. Das schwarze Buch jedoch, dass Kira heute wie auch sonst immer in dunkle Leinen gehüllt um ihren Rücken gebunden bei sich trug, war weniger begeistert gewesen.
Das mächtige Artefakt aus der Zeit der Legenden hatte seinen eigenen Willen und Kira merkte schnell, dass es schwierig war, sich gegen die Präsenz des Buches zu stellen. Sie hatte noch nicht herausfinden können, woher die Feindschaft des Buches gegen Perkles und seinen Meister kam. Doch es war offensichtlich, dass es nicht zulassen würde, von Kira zu Perkles Meister gebracht zu werden. Also hatten sie einen Plan gefasst, Herm und sie. Ihr Geliebter würde den grauen Krieger ohne sie begleiten, während sie mit dem Buch nach Begos zurückkehrte. Das Buch schien einverstanden und so war sie unerkannt und ohne großen Abschied an Bord eines der kleineren Handelsschiffe in Phrygia gelangt, um ihre Heimreise zur weißen Blume anzutreten.
„Wie es den Anderen im Kloster wohl ergangen ist? Und wer hat die Nachfolge von Meister Yi angetreten?“ Kiras Wahl der weißen Blume als Ziel ihrer Reise war wohl überlegt gewesen. Zum einen war sie in Begos weit weg von den Kriegen des großen Landes, zum anderen konnte sie nun endlich ihren großen Lebenstraum verwirklichen, das Meistern des siebten Shitsu. Eigentlich war es Herm gewesen, der den Vorschlag gemacht hatte. Kira war in den letzten Monaten ihrer langen Reise stets seine Leibwächterin gewesen und so hatte er argumentiert, dass sie die Zeit, in der er bei Perkles Meister sein würde, damit verbringen sollte, den höchsten und letzten Grad ihrer Kampfkunst zu meistern. Sie hatte nicht lange dagegen argumentiert. Das Meistern des siebten Shitsu würde sie in die Lage versetzen, Magie mit ihrer puren Körperenergie parieren zu können und war damit eine überaus hilfreiche Fertigkeit.
„Hilfreich ja, aber wobei?“ Genau genommen war Kira ihre Zukunft noch nie so unklar gewesen wie in diesem Moment. Der schwarze Mond war erschienen und hatte die Zeit des Erwachens überall auf der Welt eingeläutet. Doch an den meisten Orten hatte er nur Krieg und Tod gebracht. Alte Reiche und Bündnisse, die seit Jahrhunderten existierten, schienen ebenso zu zerfallen wie die Ordnung auf der Welt. Kira war froh, wieder in Begos anzukommen, fernab von Krieg, blutigen Schlachten und Intrigen.
„Seht, es ist Krieg! Sie geben Flaggenzeichen.“ Der Ruf des Ausgucks der Komora riss Kira schockartig aus ihren Gedanken. „Krieg, hier? Unmöglich!“ Begos wurde schon seit Jahrhunderten von einer Vielzahl von Fürstentümern regiert, die sich immer mal wieder in kleineren Auseinandersetzungen bekriegten. Aber wer würde es wagen, die Hauptstadt des Fürsten Toga offen anzugreifen, und das gerade jetzt? Mit zusammengekniffenen Augen sah Kira in Richtung der Flaggenzeichen, die von den Hafentürmen gegeben wurden, doch sie hatte nie gelernt, sie zu lesen.
„Holt das Hauptsegel ein, Ruder hart steuerbord. Wir gehen zwei Meilen vor der Küste vor Anker.“ Die Befehle des Kapitäns bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen. Offenbar hatte der Ausguck die Flaggenzeichen richtig gedeutet und waren sie erst wieder zwei Meilen von der Stadt entfernt, würde sie keine Chance mehr haben, nach Mito zu gelangen. Sie konnte nicht umkehren, nicht jetzt. Einen kurzen Seufzer ausstoßend nahm sie eines der leeren Wasserfässer von Deck und warf es über Bord. Bevor einer der verdutzt schauenden Seemänner überhaupt reagieren konnte, sprang sie über die Reling hinter dem Fass her, jedoch nicht ohne ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend, das sie an eine allzu ähnliche Situation erinnerte.
„Wie es scheint, hat mich das Schicksal ebenso an einen sturköpfigen Kaldarrer gebunden wie auch an leere Wasserfässer und den Ozean. Ich muss unbedingt besser schwimmen lernen. “ Fluchend nahm sie den Schock des kalten Wassers auf ihrer Haut hin, als sie in die bewegte See eintauchte. Sekunden später hatte sie das Holzfass gegriffen und begann, mit ihren Füßen in Richtung des Hafens zu schwimmen, während hinter ihr das Rufen der Seemänner langsam leiser wurde und dann unter dem Getöse der Wellen verschwand.
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„Was für ein wundervoller Tag.“ Mit dem Gefühl unbeschwerter Leichtigkeit flog Lydia auf ihrem Adler über den dichten Nadelwald. Sie hatte absichtlich nicht den direkten Weg nach Phrygia gewählt, sondern war der nördlichen Route über die Nadelwälder Kaitains gefolgt. „Noch dreißig Meilen östlich, dann biegen wir nach Süden ab, bevor wir in den Einflussbereich Magystras geraten.“ Gut gelaunt klopfte sie Tork auf seinen Nacken. Der Riesenadler flog sie bereits seit sechs Stunden ohne Pause über das Gebiet der Stadtstaaten Kaitains, es wurde langsam Zeit für eine Rast.
Ein schneller Blick nach unten zeigte Lydia, dass sie hoch genug flog, um vom Boden aus unerkannt zu bleiben. Sie würde steil abtauchen und Tork auf einem der großen Bäume landen lassen, ohne irgendwelche Reisenden aufzuschrecken. Außerhalb von Meronis erregten die Riesenadler der königlichen Luftreiter stets Aufmerksamkeit und das war etwas, was Lydia im Moment nicht gebrauchen konnte. Wichtig war nur, ihren Bruder Lingard zu erreichen, bevor der erste Singer Bermon ihren Vater zu irgendeiner Dummheit bewegen konnte.
Sie hatte den Hof ihres Vaters mit einem flauen Gefühl im Magen verlassen, wohl wissend, dass Bermon nun ungehindert sein Gift würde verspritzen können. Sie würde schnell sein müssen, schneller als ihr Widersacher. Sie wusste nicht, was der Erste Singer plante, aber es war sicher nichts Gutes. Er hatte bereits die Verbannung Lingards bewirkt, sein Einfluss bei ihrem Vater war zu groß, um ihn bei Hofe wirkungsvoll bekämpfen zu können. Sie musste Lingard finden und zurückbringen. Das war der einzige Weg, Bermon als Intrigant und Verräter zu enttarnen.
Der laute Aufschrei Torks riss Lydia schlagartig aus ihren Gedanken. Ohne das sie ein derartiges Kommando gegeben hätte, scherte der Riesenadler plötzlich nach links aus und ging in einen rasanten Sturzflug über. Panisch suchte Lydia den Himmel nach etwas ab, was den plötzlichen Ausbruch ihres Reittiers bewirkt haben könnte, doch kein fliegender Jäger war zu sehen. Kein Drache stürzte sich auf sie und kein Greif hatte ihre Verfolgung aufgenommen, es ergab keinen Sinn.
Mit aller Kraft zog sie an den Lederriemen von Torks Zügeln, doch es war vergebens. Mit immer höher werdender Geschwindigkeit raste ihr Reittier in Richtung Boden und ignorierte dabei alle ihre Versuche, die Kontrolle zurück zu erlangen. „Magie! Verfluchte Magie, man will mich umbringen.“
Intuitiv schloss Lydia die Augen und konzentrierte sich auf ihre letzte Chance, den direkten Kontakt zu ihrem Riesenadler. Tork war nicht irgendein Reittier, dass sie zufällig gewählt hatte. Sie kannte ihn schon, seit sie ihn von ihrem Vater vor über zehn Jahren geschenkt bekommen hatte. Sie hatten viel zusammen erlebt und waren sich beinahe so nahe wie echte Familienmitglieder. Nun musste sie diesen Bund nutzen. Sie hatte nur noch einen Versuch, die Kontrolle zurück zu erlangen, der Boden war schon zu nah für Fehler. Schnell suchte Lydia nach seiner Lebensader und fand sie umgehend. Mit einem kräftigen Druck auf Torks Nacken versuchte sie, den Fluss der bösen Magie zu unterbrechen. Lydia war keine Magierin und auch keine Seherin, doch besaß sie schon seit ihrer Geburt besondere Kräfte. Manchmal, wenn sie ein Lebewesen berührte, konnte sie dessen Reinheit oder Verderbtheit sehen. Darum war sie Lingard so verbunden, denn ihr Bruder trug stets nur Reinheit in seinem Herzen. Doch jetzt spürte sie keine Reinheit, jetzt fühlte sie nur den faulen Fluss der Magie, die ihren geliebten Adler kontrollierte.
Schließlich erhöhte sie den Druck ihrer Hände und nutzte alle Kraft, die sie hatte. „Jetzt oder nie. Großer Baum, gib mir Stärke.“ Ein lauter Aufschrei Torks zeigte ihr den erhofften Erfolg, als die Reinheit in Tork zurückkehrte, die Kontrollmagie war gebrochen. Umgehend versuchte der riesige Adler, den Sturzflug zu bremsen und noch über den Baumwipfeln hinweg wieder in einen Gleitflug zu gelangen, doch es war bereits zu spät. Mit einem lauten Krachen schlugen Tork und Lydia in die Baumgipfel der großen Nadelbäume Kaitains. Ohne zu überlegen griff Lydia instinktiv nach einem der großen Äste, die mit wahnwitziger Geschwindigkeit an ihr vorbeirasten und löste sich aus ihrem Sattel. Der Schock des plötzlichen Bremsens durchfuhr ihren Körper, als ihre Hände den Ast umschlossen hielten und ihren gesamten Körper von ihrem Reittier hoben. Die Muskeln ihrer Arme spannten sich auf das maximal Mögliche und für einen Moment dachte sie, dass ihre Arme reißen würden. Dann war es vorbei und nur eine Sekunde später hing sie baumelnd an dem Ast, den ihre von Schmerz durchfluteten Arme noch immer steif umfassten.
Ein schneller Blick in Richtung Torks ließ ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Aufgespießt auf einen großen langen Ast hing ihr treuer Begleiter tot in einem der Bäume, kaum hundert Meter entfernt von ihr. Für einen Moment kam Trauer in Lydia auf, als sie auf ihren toten Freund und Gefährten sah, doch schnell wandelte sich ihre Trauer in Wut. „Bermon!“ Es gab keinen Zweifel, der erste Singer hatte einen Attentäter auf sie angesetzt. Einen Attentäter, der etwas von den dunklen Künsten der Magie verstand. Den Schmerz in ihren Armen ignorierend, versuchte sie fieberhaft, sich auf ihre eigene Situation zu konzentrieren. Es würde noch Zeit für Trauer geben, jetzt aber galt es, ihr eigenes Leben zu retten.
Vorsichtig begann sie, mit ihren Beinen in Richtung des Stammes zu schwingen, erst nur leicht, dann mit immer stärkeren Bewegungen. Schließlich nahm sie nach mehreren stärker werdenden Schwüngen den vollen Körper mit und löste ihren Griff auf den Ast, noch bevor die Kraft ihre Arme verließ. Mit einem Krachen schlug ihr Körper in das dichte Geäst in der Nähe des Stammes, während sie verzweifelt versuchte, sich mit ihren Beinen in einem der dickeren Äste zu verhaken. Ohne Kraft in den Armen waren die Beine ihre einzige Chance, doch das Glück war nicht mit ihr.
Erfolglos fiel sie mit ihrem Körper durch die Krone der großen Fichte, um kurz darauf mit ihrer Schulter auf einen großen Ast zu schlagen. Vom Schmerz betäubt konnte sie ihn nicht mehr umgreifen und fiel weiter in die Tiefe. Zweige besetzt mit Fichtennadeln rasten an ihr vorbei, während sie am Stamm des großen Baumes entlang dem Boden entgegen raste. Zwei weitere Äste schlugen gegen ihren Rücken, ohne ihr die Chance zu lassen, sie zu umgreifen. Schmerz durchfuhr Lydia ein weiteres Mal und brachte sie an den Rand der Bewusstlosigkeit, doch die Aufschläge bremsten auch ihren Fall und so fiel sie nun deutlich langsamer die letzten Meter in einen großen Busch, der sich am Fuß des Baumes befand. Im letzten Moment gelang es ihr noch, ihren Körper so zu drehen, dass sie mit dem Kopf voraus fiel und sich über ihre Schulter abrollen konnte, dennoch presste ihr der Aufschlag die Luft aus den Lungen.
Mit letzter Kraft versuchte Lydia, sich aufzurichten, doch es war vergebens. Zu kraftlos waren ihre geschundenen Arme und so sank sie schließlich zurück auf den Boden, als plötzlich ein Schatten zwischen sie und die Sonne trat. Ein unnatürliches, grausames Lachen war das Letzte, was sie hörte, dann wurde ihr schwarz vor Augen.
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„Verfluchte Legenden! Verfluchter Kaiser! Bei allen Drachen, wieso gerade jetzt?“ Kira kannte die Antwort und doch fluchte sie weiter still in sich hinein. Die Zeit des Erwachens war gekommen, doch sie wünschte sich, dass einiges von dem weiter verborgen geblieben wäre, was nun an die Oberfläche kam.
Ein großes Feuer prasselte neben Kira in dem Gastraum der Taverne und spendete ihr angenehme Wärme, die ihre nasse Leinenkleidung langsam aber sicher trocknete. Sie war unbemerkt an den Hafen von Mito gespült worden, so wie sie es gehofft hatte. Offenbar konzentrierten sich die Soldaten des Fürsten Toga auf die Stadtmauern und die Belagerer vor ihren Toren, ein Angriff von See wurde nicht erwartet.
Sie hatte nicht lange suchen müssen, um eine Taverne am Hafen zu finden und trotz ihrer nassen Erscheinung hatten ihr einige Münzen aus ihrem Geldbeutel den Weg zu einem Tisch am Feuer freigemacht. Nachdem sie einmal mit etwas frischem Brot und gewürztem heißen Wein an ihrem Tisch saß, hatte es nicht lange gedauert, bis sie den Grund für die Belagerung aus den zahlreichen Gesprächen der anderen Tavernengäste herausgehört hatte.
Offenbar waren vor etwa einem Monat alte Steintafeln aus der Zeit der Legenden in einer geheimen Kammer des Palastes der vier himmlischen Winde gefunden worden. Sie bestätigten, was viele Barden schon lange glaubten, nämlich dass der alte Kaiser aus Begos gekommen war. Fürst Hogun, der den Palast erst kurz zuvor in einem Grenzstreit erobert hatte, nahm das Auffinden der Tafeln als Zeichen dafür, dass er der neue Kaiser werden solle und es gab viele Fürsten, die ihm folgten. Nun brannte der Krieg über Begos zwischen Hogun’s Verbündeten und jenen, die sich selbst als zukünftigen Kaiser sahen oder einfach nur gegen Hogun waren.
Fürst Toga hatte den Erzählungen einiger Soldaten zufolge wohl lange versucht, neutral zu bleiben. Doch seine reiche Stadt mit dem großen Seehafen war eine zu reizvolle Beute. Wer Begos unter sich einen wollte, brauchte die Kontrolle über Mito und somit stand nun der Krieg vor den Stadttoren der einst friedlichen Stadt.
Mit einem Schaudern dachte Kira daran, dass Fürst Toga sich Hilfe in Magystra erbitten könnte. Die fruchtbaren Handelsbeziehungen zwischen dem Fürsten und dem mächtigen Stadtstaat Kaitains existierten schon seit Jahrzehnten und machten ein Eingreifen des Stadtherren Magystras zu einer möglichen Option. „Truppen aus Kaitain in Begos? Das würde einen Flächenbrand entzünden, der sich auf das gesamte große Land ausweiten könnte.“
Mit einem Kopfschütteln verwarf Kira die Gedanken an den Krieg und seine Auswirkungen. Es war Sache der Herrscher und Fürsten, sich damit zu beschäftigen. Sie hatte eine andere Aufgabe, und dafür musste sie aus der Stadt kommen. Es galt, keine Zeit zu verlieren, Herm würde sie schon bald wieder brauchen, sie und die Kenntnis des siebten Shitsu. „Aber wie komme ich nur aus der Stadt? Die zehntausend Soldaten, die die Stadt belagern, werden mich wohl kaum einfach passieren lassen.“
Plötzlich wurde Kira von einigen Wortfetzen, die sie von einem der Nachbartische aufschnappte, aus ihren Gedanken gerissen. „Gestern morgen habe ich einige von ihnen abheben sehen. Und nicht nur einen, es waren wenigstens ein Dutzend. Groß genug, um einen kräftigen Mann zu tragen. Und als Kind dachte ich noch, Greifen wären nur Legenden.“ Umgehend fokussierte Kira ihre Aufmerksamkeit auf das Gespräch an dem Tisch, an dem mehrere Soldaten den Erzählungen eines niederen Offiziers lauschten. „Greifen, wie in den alten Legenden. Das ist es!“ Kira hatte die Luftreiter von Meronis gesehen, als sie in Paitai war und wusste sehr wohl, dass fliegende Kreaturen, die ausgewachsene Männer tragen konnten, nicht nur in Legenden lebten. Wenn der Fürst von Mito tatsächlich Bestien aus der Welt der Legenden unter seine Kontrolle bringen konnte, musste sie einen dieser Greifen haben.
Nur wenige Stunden später stand Kira erneut frierend und durchnässt im Regen in einer Seitengasse mit Blick auf den Palast des Fürsten Toga. Der einst prunkvolle Palast, berühmt in allen Provinzen für seine Schönheit und die kunstvoll gearbeiteten Wasserspeier auf seinen Mauern, war notdürftig in eine Festung verwandelt worden. Die Mauern waren verstärkt und erhöht worden, hölzerne Türme ragten nun in regelmäßigen Abständen aus dem Innenbereich des Palastes und seinen Gärten, besetzt mit Bogenschützen und Speerträgern. Offenbar hatte Fürst Toga die berechtigte Sorge, dass die Belagerer den Weg in die Stadt finden könnten und daher eine letzte Verteidigungslinie um seinen Palast aufgebaut.
Was jedoch weit interessanter war als die verstärkten Mauern und Türme rund um den Palast, war ein größeres hölzernes Bauwerk, was nur einhundert Meter entfernt von Kira aus einem der Palastgärten ragte. Die große Plattform war hoch über den Boden gebaut und erinnerte Kira nur zu gut an die großen hölzernen Plattformen in Paitai. Sie hatte Windreiter auf ihren großen Adlern dort landen sehen und wusste, dass sie Raum für die Landung brauchten. Das neu errichtete Bauwerk hinter der Palastmauer war wie geschaffen als Landeplatz für Flugtiere, die Greifen mussten in der Nähe sein.
Dann kam der Moment, auf den Kira die letzten zwei Stunden gewartet hatte. Die Soldaten auf dem Turm, der ihr am nächsten war, wurden abgelöst. Sie hatte bereits eine Ablösung beobachtet, die Soldaten waren undiszipliniert und unaufmerksam während dieser Zeit. Es wurde viel gesprochen und wenig auf die Umgebung geachtet. Solange der Feind nicht in die Stadt eingedrungen war, fühlten sich die Wachen im Palast sicher. Kira zögerte nicht lang und nutzte den Augenblick der erneuten Wachablösung. Geschmeidig und lautlos wie eine Katze bewegte sie sich durch die Dunkelheit zur Mauer und sprang in einer fließenden Bewegung in drei geübten Sätzen über die Mauer, nur um auf der anderen Seite ebenso lautlos zu landen.
Ein schneller Blick zum Wachturm zeigte ihr, dass die Wachablösung noch im Gange war. Offenbar erzählte einer der neuen Soldaten einige anrüchige Witze, die er am Vorabend in einer der Tavernen aufgeschnappt hatte. Ohne zu zögern nutzte Kira die Chance und schlich geduckt und leise bis zu dem Holzgerüst, von dem sie hoffte, dass es ein Landeplatz war. Unter dem Gerüst, außer Sichtweite der Wachtürme, verschnaufte sie für einen Moment und überlegte, was sie als nächstes tun sollte, als sie plötzlich einen leisen Schrei hörte. Es war nicht der Schrei eines Menschen, eher der eines Vogels, nur dumpfer und tiefer. Während sie noch überlegte, ob sie gerade einen Greifen gehört hatte, gab es über ihr auf dem Holzgerüst plötzlich einen starken lauten Aufschlag, der Kira aus ihren Überlegungen riss. „Ich hatte recht, sie sind hier!“
Wie gebannt erstarrte Kira an ihrem Platz und sah mit angehaltenem Atem auf die Rampe, die von der Plattform durch ihr Sichtfeld auf den Boden führte. Schwere Schritte ließen das Holz über ihrem Kopf erbeben, während sich etwas Großes wie ein Riese langsam über ihr in Richtung der Rampe bewegte. Dann sah sie es und augenblicklich verkrampfte sich ihr Magen, als ob sie noch auf hoher See wäre. Majestätisch wie ein Löwe in der Savanne stolzierte die gewaltige Kreatur über die Rampe zu Boden. Ihr Körper glich dem eines riesigen Löwen, doch ihr Kopf war der eines Adlers, ehrfurchtgebietend und furchteinflößend zugleich. Kira kannte sie bisher nur aus Legenden. Ein Reiter in schwerer Rüstung saß im Sattel auf seinem Rücken, der lange Federschmuck auf seinem Helm wies ihn unmissverständlich als hohen Offizier aus. Während Kira noch überlegte, wie es dem Fürsten von Mito wohl gelungen war, die mächtigen Kreaturen zu Verbündeten seiner Armee zu machen, hielt der Greif plötzlich an. Unendlich langsam bewegte sich der Kopf der Bestie in ihre Richtung, bis sein Blick genau auf ihr Versteck gerichtet waren. Atemlos starrte sie in die Augen des Riesen, während die Zeit um sie herum still zu stehen schien.
Der Moment kam Kira wie eine Ewigkeit vor, bis plötzlich der Reiter des Greifen ungeduldig die Zügel anzog und die Bestie wieder ihren Blick nach vorne richtete, um ruhig mit seinem Reiter in Richtung eines großen Gebäudes zu gehen, dass offenbar der Stall der majestätischen Kreatur war.
„Und du glaubst, du kannst einfach auf den Rücken eines Greifen steigen, der dann mit dir in den Himmel aufsteigt?“ Die Stimme in ihrem Kopf traf Kira wie ein Hammerschlag. Das dunkle Buch hatte schon seit Wochen nicht mehr zu ihr gesprochen, nicht seit sie Phrygia in Richtung Begos verlassen hatte. „Warum sprichst du gerade jetzt wieder zu mir? Hast du vielleicht eine bessere Idee?“ Das leise Gelächter in ihrem Kopf brachte Kiras Blut umgehend zum Kochen. Sie hatte schon früher nervende Diskussionen mit der Präsenz des Buches geführt, das noch immer fest auf ihren Rücken geschnallt war, und jedes mal war sie am Ende eines solchen Gespräches schlecht gelaunt gewesen.
„Du musst erkennen, wer du bist. Deine Herkunft kann dir viele Türen öffnen und deinen Weg erleichtern.“ Wütend versuchte sie nun, die Stimme zu ignorieren. Das Buch hatte schon Andeutungen zu ihrer Herkunft gemacht, seit sie es in den unterirdischen Tempeln Phrygias an sich genommen hatte. Dabei war sie nur eine Weise, aufgenommen vom Kloster Weisse Blume. „Keine Eltern, keine Herkunft!“ Trotz all ihrer Versuche, die Stimme des dunklen Buches auszublenden, blieb sie weiter bei ihr. Der Wille der Präsenz schien übermächtig und nicht von ihr kontrollierbar. „Ein Greif wird aber keine Weise ohne Herkunft auf seinen Rücken lassen. Sehr wohl aber die Nachfahrin einer Königin.“
Augenblicklich stockte Kira der Atem. „Nachfahrin einer Königin? Unmöglich!“ Doch schon in dem Augenblick, in dem sie den Gedanken formte, wusste sie bereits, dass es wahr sein konnte. Das Buch hatte sich noch nie geirrt und schien ein umfassendes Wissen besonders von der Zeit der Legenden zu haben, dass es jedoch nur sehr widerwillig teilte. Sie wusste nichts von ihrer Herkunft, also konnte sie gleichwohl die Tochter von Bettlern wie von Königen sein.
„Unsinn! Es hat in Begos noch nie einen König gegeben.“ Mit einem Schütteln verwarf sie den absurden Gedanken und versuchte, sich wieder auf sich selbst zu konzentrieren. Sie stand immer noch geduckt in der Dunkelheit unter der Landeplattform und konnte nun beobachten, wie der gepanzerte Reiter des Greifen langsam aus dem Stall stapfte, in dem die Bestie verschwunden war. Sie wartete noch einige Minuten still in ihrem Versteck, dann schlich sie vorsichtig und lautlos zum Stalleingang.
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„Wer bist du?“ Nur langsam drangen die sanft gesprochenen Worte in Lydias Bewusstsein, während sie vorsichtig ihre Augen öffnete. Schmerz an mehreren Stellen ihres Körpers entlockte ihr ungewollt ein lautes Aufstöhnen, während sie sich auf ihre Arme aufstützte. Sie befand sich noch immer an der Absturzstelle, neben dem Busch unter dem großen Nadelbaum, durch dessen Äste sie so unsanft zu Boden gefallen war. Direkt neben ihr lag ein offensichtlich toter blauer Magier in einer großen Blutlache, seine Brust geöffnet von mehreren Klingenhieben, sein Gesicht gefroren zu einer Maske des Entsetzens. „Der Attentäter, tot. Aber wer kann ihn getötet haben, er war stark in der Magie?“ Noch bevor sich Lydias Gedanken klären konnten, schritt ein Mann in ihr Sichtfeld und bot ihr seinen muskulösen rechten Arm zur Hilfe. Der Mann war kräftig und groß, offensichtlich ein Krieger, doch sein junges Gesicht passte nicht zu dem weißen langen Haar, dass ihm bis zu den Schultern hing. Anstatt von Waffen waren metallische Krallen an seinen Armen befestigt, wie sie es sonst nur bei Gladiatoren gesehen hatte. Blut tropfte von den Armen des Kriegers, sein Kampf gegen den Magier hatte wohl auch ihn viel gekostet. „Aber das ist unmöglich. Ein einfacher Krieger ist kein Gegner für einen derart starken Magier. Wie kann er ihn allein besiegt haben?“
Ein schneller Blick in die Umgebung zeigte ihr keine weiteren Leichen oder Krieger, während sie schließlich seinen angebotenen Arm griff und sich hochziehen ließ. Dann ging alles blitzschnell, noch in der Vorwärtsbewegung zog sie ihren versteckten Dolch aus dem Beinhalter und hielt ihn an seine Kehle, ihren Blick fest auf ihn gerichtet. „Du magst stark sein, aber du bist nicht so schnell wie ich, also versuch es erst gar nicht. Sage mir, was hier passiert ist. Wer hat den Magier getötet und wer bist du?“
Der völlig überraschte Krieger hielt still, doch die Klinge an seiner Kehle schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken, während er ihrem Blick standhielt. Für einen Augenblick meinte sie, eine gewisse Faszination oder Bewunderung in seinen Augen zu sehen, doch dann härtete sich sein Blick. „Mein Name ist Kariss. Ich bin Chi Tsume und der Magier war keine Gefahr für mich. Ich spürte seinen magischen Angriff und tötete ihn, bevor er sein Werk vollenden konnte.“
Nun war es Lydia, die ihren Gegenüber fasziniert ansah. „Ein Chi Tsume. Dann ist es wahr, sie sind wieder erwacht.“ Augenblicklich überschlugen sich die Gedanken der Prinzessin von Meronis. Das Ende der Zeit des Vergessens war schon lange erwartet worden, und die Geschehnisse der letzten Wochen hatten den Beginn der Zeit des Erwachens deutlich am Nachthimmel gekennzeichnet, an dem nun ein schwarzer Mond sichtbar neben den anderen drei Monden stand. Das sich aber alte Geheimbünde derart schnell wieder offen zeigen würden, hätte sie nicht für möglich gehalten, bis jetzt.
Ohne zu zögern entfernte sie den Dolch von der Kehle des Kriegers und trat einen Schritt zurück. Der Mann war nicht weniger als beeindruckend. Es gab viele muskulöse Krieger auf der Welt, aber die Grazie seiner flüssigen Bewegungen und die Würde, die er ausstrahlte, ließ sie umgehend glauben, dass sie einen Adligen vor sich hatte. „Früher waren es meist die Söhne und Töchter der Mächtigen, die dem alten Kaiser als Chi Tsume dienten. Sicher ist auch er von adligem Blut.“
Schließlich trafen sich wieder ihre Blicke und sie konnte das Feuer in seinen Augen erkennen. Trotz seiner imposanten Erscheinung war er noch jung, hitzig und voll Tatendrang wie alle jungen Männer. Dann sah sie an sich selbst herab und errötete für einen kurzen Augenblick. Der lange Sturz durch das Geäst des Baums hatte nicht viel von ihrem Reisekleid übrig belassen. Nur von Blut und Stofffetzen bedeckt stand sie beinahe nackt vor ihrem Retter. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, reagierte der Krieger, der sich als Kariss vorgestellt hatte und zog einen langen Umhang aus seinem Reisegepäck, um ihn ihr zu reichen.
Dankbar nahm Lydia den Umhang entgegen und legte ihn um ihre Schultern, umgehend meldete sich der Schmerz an zahlreichen Stellen ihres Körpers zurück. „Du bist verletzt, lass mich dich verbinden.“ Doch Lydia konnte nicht mehr antworten. Der Adrenalinstoß, der sie aufrecht gehalten hatte, war verflogen und nun zollte der Blutverlust ihrer Verletzungen seinen Tribut. Dunkelheit legte sich erneut über sie, während sie zu Boden sank.
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„Verfluchter Mond. Es ging alles zu schnell, viel zu schnell.“ Innerlich fluchend sah Herzog Nurman, Stadtherr von Magystra, vom Balkon seines Palastes in den Himmel. Vier Monde standen klar sichtbar im Zelt der Nacht, einer mehr als noch vor wenigen Wochen. Sein ganzes Leben lang hatte er sich auf diese Zeit vorbereitet und dann war er doch überrumpelt worden. Kaum waren erste Gerüchte über die Zeit des Erwachens an den Hof des mächtigen Stadtstaates gelangt, war bereits auf der halben Welt der Krieg ausgebrochen. In Begos entzündete sich ein Flächenbrand, in dem sich die verschiedenen Fürsten des großen Inselreiches das Recht auf die Nachfolge des alten Kaisers zu sichern versuchten. Valkall war in einen blutigen Bürgerkrieg verstrickt, in dem sich beide Seiten kein Pardon zu geben schienen. Meronis schickte seine Armee in den Norden, um gegen einen Angriff Valkalls gerüstet zu sein. Die Tzarina von Kaldarra wiederum unterstützte mit ihren Truppen einen Putschversuch in Phrygia, um die Kontrolle in Keldur zu erlangen. Kaitain und Alterra waren momentan die einzigen Reiche, auf deren Boden noch kein Krieg geführt wurde.
Doch auch das könnte sich bald ändern. Ein Hilfegesuch mit der Bitte zur Unterstützung durch Soldaten Magystras war bereits von Fürst Toga aus Mito an ihn gerichtet worden. „Auf keinen Fall werde ich mich in einen Krieg auf Begos ziehen lassen, der Fürst wird selbst einen Weg aus seiner Bedrängnis finden müssen.“ Stumm sah der Stadtherr wieder in den Himmel, während sich seine Gedanken auf seinen ältesten Sohn konzentrierten. „Secan, wenn ich nur wüsste, wo du bist. War die dunkle Garde wirklich in Phrygia? Hast du sie überlebt, sind die Monster wirklich gebannt worden? Und wenn ja, von wem?“
Die Berichte aus Phrygia waren bestenfalls verwirrend und trugen nur wenig zur Beruhigung des Herzogs bei. Er hatte seinen Sohn Secan in die Stadt der Legenden geschickt, um mit Tertia Gilnos Kontakt aufzunehmen, die eine Eingeweihte in den Bund der Chi Tsume war. Durch einen glücklichen Zufall war sie gerade zu dieser Zeit in den Rang einer Triumvirin erhoben und somit eine mächtige Verbündete geworden.
Doch dann war alles zu schnell gegangen. Erst hatte die dunkle Garde ihren unheiligen Marsch nach Phrygia gelenkt und die Stadt verwüstet, dann war der Bürgerkrieg zwischen den Triumviren ausgebrochen, in dem auch Truppen der Tzarina eine Rolle spielten. Und nun wusste er nicht einmal, ob sein Sohn noch lebte, geschweige denn, ob er Tertia Gilnos überhaupt hatte erreichen können.
„Herr, euer Sohn ist zurück. Mit…einer Begleiterin.“ Überrascht sah der Stadtherr den Diener an, der ihm die Nachricht überbracht hatte. Es konnte nicht Secan sein, seine Dienerschaft wusste um seine Angst um ihn und hätte ihn anders angemeldet. „Kariss? So schnell?“ Das stumme Nicken des Dieners bestätigte seine Vermutung, dass der jüngere seiner beiden Söhne aus Meronis zurückgekehrt war. Anders als in Keldur hatten die Chi Tsume keine Verbündeten in dem Waldreich Meronis und so hatte er Kariss in die Grenzstadt Paitai geschickt, um Informationen zu sammeln. „Mit einer Begleiterin!“ Urplötzlich schoss das Adrenalin in den Körper des Stadtherren. Die Nachricht der Rückkehr seines Sohnes war ihm von einem der Diener des Donnerfelsen überbracht worden, also war Kariss direkt ins Hauptquartier gegangen. Dorthin konnte er unmöglich eine Unbeteiligte bringen, es musste etwas passiert sein.
Mit einem hektischen Fingerzeig bedeutete er seiner Leibwache, ihn zu begleiten und stürmte mit schnellen Schritten zu dem Tunneleingang, der aus seinen Gemächern direkt in den Donnerfels führte. Der Tunnel war ebenso geheim wie der Trakt unter der mächtigen Seefeste, in den er führte. Seine Vorfahren und Vorgänger als Stadtherren von Magystra und Führer der Chi Tsume hatten den Tunnel und die geheimen Hallen einst bauen lassen, vor langen Zeiten. Nun dienten sie seinen Chi Tsume als Ausbildungszentrum und Hauptquartier. Waren vor wenigen Wochen noch nur wenige Krieger dort zum Training und zur Durchführung des Blutrituals anwesend gewesen, hatten sich die Hallen nun prall gefüllt mit Dutzenden Männern und Frauen. „Aber kein Kaiser. Wofür nützen die Chi Tsume, wenn es keinen Kaiser gibt, den sie beschützen können? Und was ist mit den Sikau, warum hat uns keiner von ihnen kontaktiert?“
Weiter in seine Gedanken verstrickt, stürmte Herzog Nurman bereits mit seinen Leibwächtern durch den alten Tunnel, der unter das Meer zur Seefeste führte. Die Luft war warm und stickig so tief unter der Erde, einmal mehr war er froh, dass der Weg nur wenige Minuten dauerte. Zwei Wachen empfingen ihn am anderen Ende des Tunnels, sie erkannten ihren Anführer und Stadtherren sofort und öffneten umgehend das mit unzähligen Schutzrunen belegte schwere bronzene Tor.
Der Herzog war schon so oft in die unterirdischen Hallen getreten, dass er es nicht mehr zählen konnte, und doch beeindruckte ihn der Anblick jedes Mal aufs Neue. In der Mitte der Haupthalle, in die er nun eintrat, befand sich der Ring des Blutes, hier fanden die Trainings- und Ausbildungskämpfe der Elitekrieger statt. An den Seiten führten Gänge zu den Unterkünften, während ihm gegenüber ein breiter Durchgang zum Tempel des Ordens führte. Dort wurden die Blutrituale durchgeführt, dort wurde ein einfacher Krieger zu einem Chi Tsume geweiht, und dort würde er auch Kariss finden.
Mit schnellen Schritten durchquerte der alte Herrscher die Halle, während sich die anwesenden Krieger und Kriegerinnen respektvoll vor ihm verbeugten. Schließlich erreichte er den Tempel und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Mitten auf dem Altar des Blutes lag eine junge Frau, deren Anblick ihm den Atem raubte. Schlank, mit kleinen Brüsten versehen war sie nicht die Art Frau, die er sich für sein Bett wünschte. Doch war sie von einer Aura umgeben, die den Blick eines Mannes einfangen und an sich binden konnte. Langes blondes Haar legte sich um ihren Kopf, während der Rest ihres Körpers in elfenbeinfarbenem Glanz erstrahlte.
Es war nicht so sehr die Erscheinung der Frau, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anhalten ließ, sondern die Tatsache, dass sie sich mitten im Ritual des Blutes befand. Ihre Arme waren in das heiße Blut der Altarbecken getaucht, während sie sich unter Krämpfen auf der steinernen Platte wand. Unzählige kleine Wunden, die ihren Körper übersäten, schlossen sich langsam unter dem Einfluss des Rituals. Verrenkte und gebrochene Knochen richteten sich und erschufen so erneut ihren perfekten Körper als Chi Tsume.
„Kariss! Was hast du getan? Sie ist keine Kriegerin, sie wird das Ritual nicht überleben!“ Aufgeregt stürmte der Herrscher zu seinem jüngsten Sohn, der das laufende Ritual überwachte. „Vater, es ist die Prophezeiung, es gibt keinen Zweifel.“ Verdutzt sah der Stadtherr seinen Sohn an. Er hatte die Prophezeiung, die seinem jüngsten Sohn im zarten Alter von sechzehn Jahren weisgesagt worden war, beinahe schon vergessen.
„Es wird der Tag kommen, da wird die Eine zu dir herabfallen und deinen Schutz brauchen. Dann musst du entscheiden, ob ihr euch im Blut verbindet. Doch wisse, dass du mit deinem Blut auch dein Schicksal an sie bindest.“ Beinahe emotionslos rezitierte er die Weissagung, während er erneut zu der schlanken blonden Frau mit der beinahe weißen Haut sah, deren Wunden und Verletzungen nun komplett verheilt war. Er wusste, dass noch ein Schritt fehlte, um das Ritual zu vollenden und sah seinen Sohn fragend an.
„Ich bin mir sicher, Vater. Sie ist die Eine und ich werde mein Schicksal an sie binden.“ Kariss war bereits dreiundzwanzig Winter alt, doch hatte er seinen Sohn noch nie in Begleitung einer Frau gesehen. Die feste Stimme, mit der er nun aus voller Überzeugung über die Prophezeiung sprach, zeigte ihm einmal mehr, warum. Er hatte auf diesen Moment gewartet, auf diese Frau. „Und wenn er sich irrt? Sie ist keine Kriegerin.“ Noch einmal sah er auf die Frau auf dem Altartisch, dann gab er seinem Sohn ein bestätigendes Nicken und trat einen Schritt zurück.
Überrascht sah er, dass inzwischen auch die anderen Chi Tsume in den Altarraum gekommen waren. Stumm füllten sie den Raum hinter ihrem Anführer und sahen auf Kariss, wie er den letzten Teil des Rituals begann. Langsam nahm sein Sohn den gebogenen Dolch von der Altarplatte und schnitt mit einer schnellen Bewegung in seinen rechten Arm. Umgehend tropfte Blut aus der frischen Wunde aus seinem Arm in das Altarbecken und vermischten sich mit dem magischen Blut des Rituals. Er war nun mit der fremden Frau im Blute verbunden – wie auch im Schicksal, wenn die Weissagung recht behalten sollte. Schließlich griff Kariss zwei frische Blutkrallen und legte sie der noch immer unkontrolliert zuckenden Frau um die Arme. Sie verkraftete das Ritual erstaunlich gut, er hatte bereits ausgewachsene und kampferfahrene Krieger vor Schmerzen schreien hören, offenbar hatte die Fremde einen äußerst starken Geist.
Dann schlossen sich die Krallen um sie und verbanden sich mit ihrer Blutbahn, das Ritual war beendet. Sie wusste es noch nicht, aber nun war sie eine von ihnen. Ein Mitglied des mächtigsten Kriegerbundes der Welt, ein Chi Tsume.
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Wie versteinert sah Kira auf das mächtige Geschöpf, dessen intelligente Augen sie direkt ansahen, während die Worte des schwarzen Buches wieder und wieder durch ihre Gedanken wirbelten. „Sehr wohl aber die Nachfahrin einer Königin.“
Das geflügelte Wesen trug den Kopf eines Adlers auf seinen muskulösen Schultern, während sein Körper der eines riesigen Löwen war. Seine gefederten Flügel hatte es zu den Seiten eingeklappt, so wie es auch gelandete Vögel taten, doch die enorme Größe der Flügel gab einen Hinweis auf deren gewaltige Spannweite. „Groß genug, um einen gepanzerten Reiter zu tragen.“
Kira war unentdeckt bis zum Stall der Greifen gelangt und vorsichtig in die erste Box geschlichen. Doch ihre Hoffnung, von dem Greifen in der Box unbemerkt zu bleiben und diesen erst einmal beobachten zu können, hatte sich schnell zerschlagen. Der geflügelte Riese hatte wach und mit aufrechtem Kopf auf einem Bett aus Stroh gelegen, als ob er nur auf sie gewartet hatte.
Für einen Augenblick hielt sie inne und überlegte, was ihr nächster Schritt sein würde, dann ging sie langsam auf den Greifen zu, blieb in angemessenem Abstand stehen und verbeugte sich höflich vor ihm. „Sehr wohl aber die Nachfahrin einer Königin.“ Angestrengt versuchte Kira, sich an ihr geringes Wissen über höfisches Benehmen zu erinnern. Meister Yi selbst hatte ihr einige Grundlagen beigebracht, bevor er sie zum ersten Mal mit auf eine seiner seltenen Reisen genommen hatte, jedoch beschränkte sich ihre Erinnerung lediglich darauf, sich stets höflich zu verbeugen und still zu sein, damit die Weiseren und Älteren reden konnten. „Bei allen Monden, gerade jetzt brauche ich dich, Herm. Wo du wohl jetzt bist?“