Der Verlorene - Hans-Ulrich Treichel - E-Book

Der Verlorene E-Book

Hans-Ulrich Treichel

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Beschreibung

Hans-Ulrich Treichels Erzählung handelt von einer Familie, an deren Leben nichts außergewöhnlich scheint: Der Flucht aus den Ostgebieten im letzten Kriegsjahr folgt der erfolgreiche Aufbau einer neuen Existenz in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Doch es gibt für sie nur ein einziges, alles beherrschendes Thema: die Suche nach dem auf dem Treck verlorengegangenen Erstgeborenen, nach Arnold.

»Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert«. Das erfährt der kleine Bruder und Ich-Erzähler eines Tages von seinen Eltern: »Jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir die Nebenrolle zugewiesen hatte.« In der Vorstellung des Jungen wird das, was der Eltern größter Wunsch ist, zum Alptraum: daß Der Verlorene gefunden wird.

Lakonisch-distanziert und zugleich ungemein komisch erzählt Treichel von den psychischen Auswirkungen der Brudersuche, von den emotionalen Höhen und Tiefen und den subtilen Mechanismen, die die Eltern und auch der Sohn im Umgang mit dieser alle belastenden Situation entwickeln.

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Seitenzahl: 149

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Hans-Ulrich Treichel

Der Verlorene

Suhrkamp

Mein Bruder hockte auf einer weißen Wolldecke und lachte in die Kamera. Das war während des Krieges, sagte die Mutter, im letzten Kriegsjahr, zuhaus. Zuhaus, das war der Osten, und der Bruder war im Osten geboren worden. Während die Mutter das Wort »Zuhaus« aussprach, begann sie zu weinen, so wie sie oft zu weinen begann, wenn vom Bruder die Rede war. Er hieß Arnold, ebenso wie der Vater. Arnold war ein fröhliches Kind, sagte die Mutter, während sie das Photo betrachtete. Dann sagte sie nichts mehr, und auch ich sagte nichts mehr und betrachtete Arnold, der auf einer weißen Wolldecke hockte und sich freute. Ich weiß nicht, worüber Arnold sich freute, schließlich war Krieg, außerdem befand er sich im Osten, und trotzdem freute er sich. Ich beneidete den Bruder um seine Freude, ich beneidete den Bruder um die weiße Wolldecke, und ich beneidete ihn auch um seinen Platz im Photoalbum. Arnold war ganz vorn im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern und den Porträts der Großeltern, während ich weit hinten im Photoalbum war. Außerdem war Arnold auf einem ziemlich großen Photo abgebildet, während die Photos, auf denen ich abgebildet war, zumeist kleine, wenn nicht winzige Photos waren. Photos, die die Eltern mit einer sogenannten Box geschossen hatten, und diese Box konnte anscheinend nur kleine beziehungsweise winzige Photos machen. Die Photos, auf denen ich abgebildet war, mußte man schon sehr genau betrachten, um überhaupt irgend etwas erkennen zu können. Eines dieser winzigen Photos zeigte beispielsweise ein Wasserbecken mit mehreren Kindern, und eines dieser Kinder war ich. Allerdings war von mir nur der Kopf zu sehen, da ich, der ich damals noch nicht schwimmen konnte, im Wasser saß, das mir wiederum fast bis zum Kinn reichte. Außerdem war mein Kopf teilweise verdeckt von einem im Wasser und vor mir stehenden Kind, so daß das winzige Photo, auf dem ich abgebildet war, nur einen Teil meines Kopfes direkt über der Wasseroberfläche zeigte. Darüber hinaus lag auf dem sichtbaren Teil des Kopfes ein Schatten, der wahrscheinlich von dem vor mir stehenden Kind ausging, so daß von mir in Wahrheit nur das rechte Auge zu sehen war. Während mein Bruder Arnold schon zu Säuglingszeiten nicht nur wie ein glücklicher, sondern auch wie ein bedeutender Mensch aussah, war ich auf den meisten Photos meiner Kindheit zumeist nur teilweise und manchmal auch so gut wie überhaupt nicht zu sehen. So gut wie überhaupt nicht zu sehen war ich beispielsweise auf einem Photo, das anläßlich meiner Taufe aufgenommen worden war. Die Mutter hielt ein weißes Kissen auf dem Arm, über dem eine wiederum weiße Decke lag. Unter dieser Decke befand ich mich, was man daran erkennen konnte, daß die Decke sich am unteren Ende des Kissens verschoben hatte und die Spitze eines Säuglingsfußes darunter hervorschaute. In gewisser Weise setzten alle weiteren Photos, die von mir in meiner Kindheit gemacht worden waren, die Tradition dieses ersten Photos fort, nur daß auf späteren Photos statt des Fußes der rechte Arm, die halbe Gesichtshälfte oder wie auf dem Schwimmbadphoto ein Auge zu sehen war. Nun hätte ich mich mit der nur teilweisen Anwesenheit meiner Person im Familienalbum abfinden können, hätte es sich die Mutter nicht zur Angewohnheit gemacht, immer wieder nach dem Album zu greifen, um mir die darin befindlichen Photos zu zeigen. Was jedesmal darauf hinauslief, daß über die kleinen und winzigen und mit der Box geschossenen Photos, auf denen ich beziehungsweise einzelne Körperteile von mir zu sehen waren, ziemlich schnell hinweggegangen wurde, während das mir gleichsam lebensgroß erscheinende Photo, auf dem mein Bruder Arnold zu sehen war, Anlaß zu unerschöpflicher Betrachtung bot. Das hatte zur Folge, daß ich zumeist mit verkniffenem Gesicht und mißlaunig neben der Mutter auf dem Sofa saß und den fröhlichen und gutgelaunten Arnold betrachtete, während die Mutter zusehends ergriffener wurde. In den ersten Jahren meiner Kindheit hatte ich mich mit den Tränen der Mutter zufriedengegeben und mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht, warum die Mutter beim Betrachten des fröhlichen Arnold so häufig zu weinen begann. Und auch die Tatsache, daß Arnold wohl mein Bruder war, ich ihn aber noch niemals leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte, hatte mich die ersten Jahre nur beiläufig beunruhigt, zumal es mir nicht unlieb war, mein Kinderzimmer nicht mit ihm teilen zu müssen. Irgendwann aber klärte mich die Mutter insoweit über Arnolds Schicksal auf, als sie mir offenbarte, daß Arnold auf der Flucht vor dem Russen verhungert sei. »Verhungert«, sagte die Mutter, »in meinen Armen verhungert.« Denn auch sie selbst sei mehr oder weniger gänzlich ausgehungert gewesen während des langen Trecks vom Osten in den Westen, und sie habe keine Milch und auch sonst nichts gehabt, um das Kind zu ernähren. Auf meine Frage, ob denn niemand außer ihr Milch für das Kind gehabt habe, sagte die Mutter nichts, und auch alle meine anderen Fragen nach den näheren Umständen der Flucht und dem Verhungern meines Bruders Arnold beantwortete sie nicht. Arnold war also tot, was wohl sehr traurig war, mir aber den Umgang mit seinem Photo erleichterte. Der fröhliche und wohlgeratene Arnold war mir nun sogar sympathisch geworden, und ich war stolz darauf, einen toten Bruder zu besitzen, der zudem noch so fröhlich und wohlgeraten ausschaute. Ich trauerte um Arnold, und ich war stolz auf ihn, ich teilte mit ihm mein Kinderzimmer und wünschte ihm alle Milch dieser Welt. Ich hatte einen toten Bruder, ich fühlte mich vom Schicksal ausgezeichnet. Von meinen Spielkameraden hatte kein einziger einen toten und schon gar nicht einen auf der Flucht vor dem Russen verhungerten Bruder.

Arnold war mein Freund geworden, und er wäre auch mein Freund geblieben, hätte mich die Mutter nicht eines Tages um das gebeten, was sie eine »Aussprache« nannte. Eine Aussprache war etwas, worum mich die Mutter noch nie gebeten hatte, und auch der Vater hatte mich noch nie um eine Aussprache gebeten. Überhaupt bin ich während meiner gesamten Kindheit und ersten Jugendjahre niemals um eine Aussprache oder um etwas gebeten worden, was einer Aussprache auch nur annähernd gleichgekommen wäre. Dem Vater reichten kurze Befehle und Arbeitsanweisungen, um sich mit mir zu verständigen, und die Mutter redete wohl gelegentlich mit mir, doch meist lief das Gespräch auf den Bruder Arnold und damit auf Tränen oder Schweigen hinaus. Die Aussprache wurde von der Mutter mit den Worten eröffnet, daß ich nun alt genug sei, um die Wahrheit zu erfahren. »Was für eine Wahrheit«, fragte ich die Mutter, denn ich befürchtete, daß es hierbei vielleicht um mich gehen könnte. »Es geht«, sagte die Mutter, »um deinen Bruder Arnold.« In gewisser Weise war ich erleichtert, daß es wieder einmal um Arnold ging, andererseits aber ärgerte es mich auch. »Was ist mit Arnold«, sagte ich, und die Mutter schien schon wieder den Tränen nahe, worauf ich die spontane, aber nicht sehr überlegte Frage stellte, ob Arnold etwas zugestoßen sei, was die Mutter mit einem irritierten Blick quittierte. »Arnold«, sagte die Mutter ohne ein weiteres einleitendes Wort, »Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert.« Ich war nun ebenfalls irritiert und auch ein wenig enttäuscht. Doch statt zu schweigen, fragte ich die Mutter, wiederum ohne lange nachzudenken, woran Arnold denn dann gestorben sei. »Er ist gar nicht gestorben«, sagte die Mutter noch einmal und ohne jegliche Regung, »er ist verlorengegangen.« Darauf erzählte sie mir die Geschichte vom verlorengegangenen Arnold, die ich zum Teil verstanden und zum Teil auch nicht verstanden habe. Die Geschichte deckte sich einerseits mit der vom gestorbenen und verhungerten Arnold, und andererseits war es eine gänzlich neue Geschichte. Arnold hatte tatsächlich auf dem Treck vom Osten in den Westen Hunger gelitten, und die Mutter hatte tatsächlich weder Milch noch eine andere Nahrung für das Kind gehabt. Doch war Arnold nicht verhungert, sondern abhanden gekommen, und es fiel der Mutter schwer, den Grund für Arnolds Verschwinden auch nur annähernd begreiflich zu machen. Irgendwann, soviel verstand ich, ist auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert. Was es war, sagte die Mutter nicht, sie sagte nur immer wieder, daß auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert sei und daß ihr auch der Vater nicht habe helfen können und daß ihr niemand habe helfen können. Wohl seien in dem Treck Tausende von Menschen gen Westen gezogen, und lange Zeit habe es auch so ausgesehen, als würden sie den Treck einigermaßen unbeschadet überstehen und den Abstand zwischen sich und dem Russen Tag für Tag ein wenig vergrößern. Doch eines Morgens, sie hatten gerade ein kleines, westlich von Konin gelegenes Bauerndorf hinter sich gelassen, stand plötzlich der Russe vor ihnen. Der Russe war völlig überraschend aus dem Morgennebel aufgetaucht. Die ganze Nacht hätten sie weder etwas gehört noch gesehen, keinen Motorenlärm, keine Stiefelschritte, keine »Dawai! Dawai!«-Rufe. Doch plötzlich war der Russe da. Wo eben noch ein leeres Feld war, standen dreißig, vierzig bewaffnete Russen, und ausgerechnet an der Stelle, an der die Mutter mit dem Vater und dem kleinen Arnold unterwegs war, unterbrachen sie den Flüchtlingstreck und suchten sich ihre Opfer heraus. Da sie sofort gewußt hatte, daß nun etwas Schreckliches passieren würde, und da einer der Russen dem Vater bereits ein Gewehr vor die Brust gedrückt hatte, gelang es der Mutter gerade noch, einer neben ihr hergehenden Frau, die zum Glück von keinem der Russen aufgehalten wurde, das Kind in die Arme zu legen. Doch geschah dies so schnell und in Panik, daß sie keine Gelegenheit hatte, mit der Frau auch nur ein einziges Wort zu wechseln, nicht mal den Namen des kleinen Arnold konnte sie der Frau zurufen, die auch sofort in der Menge der Flüchtenden verschwand. Das Schreckliche, sagte die Mutter, sei dann insofern doch nicht passiert, als die Russen weder sie noch den Vater erschossen hätten. Denn das sei das erste gewesen, was sie befürchtet hatten, und darum habe sie auch den kleinen Arnold der fremden Frau in die Arme gedrückt. Andererseits aber, so die Mutter, sei das Schreckliche dann doch passiert. »Das Schreckliche aber«, sagte die Mutter, »ist dann doch passiert.« Daraufhin weinte sie wieder, und ich war mir sicher, daß sie um Arnold weinte, und um sie zu trösten, sagte ich ihr, daß sie Arnold schließlich das Leben gerettet habe und nicht zu weinen brauche, worauf die Mutter sagte, daß das Leben Arnolds gar nicht bedroht gewesen sei. Und auch das Leben des Vaters sei nicht bedroht gewesen und auch ihr eigenes nicht. Wohl sei ihr etwas Schreckliches zugefügt worden von den Russen, aber die Russen hätten es gar nicht auf ihr Leben oder das ihrer Familie abgesehen gehabt. Die Russen hätten es immer nur auf eines abgesehen gehabt. Aber sie habe voreilig Angst um ihr eigenes Leben und das Leben ihres Kindes gehabt, und in Wahrheit habe sie auch voreilig das Kind weggegeben. Nicht einmal Arnolds Namen habe sie der Frau noch zurufen können, so groß seien die Panik und das Durcheinander gewesen, und auch die Frau habe nur das Kind an sich drücken und weiterlaufen können. »Arnold lebt«, sagte die Mutter, »aber er trägt einen anderen Namen.« »Vielleicht«, sagte ich darauf, »hat er ja Glück gehabt, und sie haben ihn wieder Arnold genannt«, worauf mich die Mutter so verständnislos und traurig ansah, daß mir das Blut in den Kopf schoß und ich mich schämte. Dabei hatte ich die Bemerkung nur gemacht, weil ich wütend auf Arnold war. Denn erst jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir eine Nebenrolle zugewiesen hatte. Ich begriff auch, daß Arnold verantwortlich dafür war, daß ich von Anfang an in einer von Schuld und Scham vergifteten Atmosphäre aufgewachsen war. Vom Tag meiner Geburt an herrschte ein Gefühl von Schuld und Scham in der Familie, ohne daß ich wußte, warum. Ich wußte nur, daß ich bei allem, was ich tat, eine gewisse Schuld und eine gewisse Scham verspürte. So verspürte ich beispielsweise immer während des Essens eine Schuld und eine Scham, ganz unabhängig von der Speise, die mir vorgesetzt wurde. Wenn ich ein Stück Fleisch aß, regte sich mein Gewissen, und ebenso regte es sich, wenn ich eine Kartoffel oder meinen Nachtisch aß. Ich fühlte mich schuldig, weil ich aß, und ich schämte mich, weil ich aß. Wohl spürte ich sehr genau, daß ich mich schuldig fühlte und daß ich mich schämte, aber es war mir gänzlich unerklärlich, warum ich, der ich doch nichts weiter als ein unschuldiges Kind war, mich wegen eines Stückes Fleisch oder einer Kartoffel schämen oder gar schuldig fühlen mußte. Ebenso unerklärlich war mir, warum ich mich schuldig fühlen mußte, wenn ich Radio hörte, Fahrrad fuhr, mit den Eltern einen Ausflug oder Spaziergang machte. Doch gerade die Spaziergänge oder Ausflüge mit den Eltern, die ausschließlich sonntags stattfanden, drückten mein Gewissen und lösten große Schamgefühle in mir aus. Wenn ich mit dem Vater und der Mutter die Hauptstraße unseres Ortes entlangging, schämte ich mich dafür, daß ich mit ihnen die Hauptstraße unseres Ortes entlangging. Wenn wir mit der schwarzen Limousine, die der Vater in seinen beruflich erfolgreichen Zeiten angeschafft hatte, den Ort verließen, um den nahegelegenen Teutoburger Wald anzusteuern, schämte ich mich und fühlte mich schuldig, weil wir den Teutoburger Wald ansteuerten. Hatten wir schließlich unser Ziel erreicht und gingen den immer gleichen Waldweg entlang, der uns zum sogenannten Bismarckturm

führte, dann schämte ich mich und fühlte mich schuldig, weil wir den immer gleichen Waldweg entlanggingen. Natürlich schämte ich mich auch und fühlte mich schuldig, wenn wir endlich angekommen waren und auf den Bismarckturm hinaufstiegen, um von dort aus in die Ebene zu schauen, wo sich in der Ferne der Kirchturm meines Heimatortes erhob. Die Spaziergänge und die Ausflüge, die ich mit den Eltern unternahm, waren wahre Schuld- und Schamprozessionen. Wobei auch die Eltern während dieser Ausflüge einen bedrückten und gepeinigten Eindruck machten und es mir immer so vorkam, als schleppten sie sich jeden Sonntag regelrecht aus dem Haus. Andererseits wäre es ihnen nie in den Sinn gekommen, auf die sonntäglichen Ausflüge zu verzichten, denn die sonntäglichen Ausflüge dienten erstens der Erhaltung der Arbeitskraft und waren zweitens dem christlichen Respekt vor dem Sonntag geschuldet. Doch waren die Eltern unfähig, Freizeit oder Erholung auch nur in Ansätzen zu genießen. Anfangs hatte ich mir diese Unfähigkeit mit ihrer einerseits schwäbisch-pietistischen und andererseits ostpreußischen Herkunft erklärt, denn ich wußte aus den Erzählungen der Eltern, daß weder der schwäbisch-pietistische noch der ostpreußische Mensch auch nur annähernd in der Lage ist, so etwas wie Freizeit oder Erholung zu genießen. Dann aber hatte ich begriffen, daß ihre Unfähigkeit zur Freizeit und zur Erholung mit dem verlorengegangenen Bruder Arnold und dem Schrecklichen, was die Russen ihnen und speziell der Mutter angetan hatten, zusammenhing. Allerdings bildete ich mir ein, mehr als die Eltern unter den verdorbenen Ausflügen zu leiden, denn für die Eltern, die der Überzeugung waren, daß der Mensch nicht auf der Welt sei, um Ausflüge zu machen, sondern um zu arbeiten, waren die Ausflüge in gewisser Weise ohnehin verdorben. Ich dagegen liebte Ausflüge und hätte am liebsten meine Tage mit Ausflügen verbracht. Freilich nicht mit solchen, die ich nun mit den Eltern machte. Gegen diese Ausflüge entwickelte ich mit der Zeit eine so große Abneigung, daß die Eltern mich nur noch unter Androhung von Strafe dazu bewegen konnten, sie zu begleiten. Die schönste Strafe, die mir die Eltern androhten, war Hausarrest. Doch in den Genuß des sonntäglichen Hausarrestes kam ich erst, nachdem ich mir eine spezielle Form von Reisekrankheit zugelegt hatte, die auch bei kleineren Ausflügen bereits Wirkung zeigte. Hauptsymptom der Reisekrankheit war eine körperliche Unverträglichkeit von Bewegung, wobei ein gewisser Unterschied darin bestand, ob ich mich selbst bewegte oder bewegt wurde. Bewegte ich mich selbst, während unserer Spaziergänge im Ort beispielsweise, wurde mir zumeist schwindlig, so daß ich mich auf eine Bank setzen mußte. Wurde ich bewegt, dann mußte ich mich erbrechen. Am meisten mußte ich mich während unserer Ausflugsfahrten mit der neuen schwarzen Limousine erbrechen, wogegen ich mich bei unseren Fahrten mit dem silbergrau lackierten Ford, dem sogenannten Buckeltaunus, niemals erbrechen mußte. Der alte Ford war das einzige Gefährt meiner Kindheit, in dem mir nicht schlecht wurde. Allerdings hatte der Vater den Wagen schon nach den ersten geschäftlichen Erfolgen wieder veräußert, um zuerst einen Opel Olympia und dann die schwarze Limousine mit den Haifischzähnen anzuschaffen. Im Opel Olympia hatte ich mich nicht regelmäßig, aber doch häufig erbrochen. Wogegen ich mich in der schwarzen Limousine regelmäßig erbrach. Was nicht nur bedeutete, daß ich oft mit verschmutzter Kleidung, bleich und geschwächt wieder nach Hause transportiert wurde. Auch der Wagen mußte nach jedem unserer mißglückten Ausflüge gründlich gereinigt und gelüftet werden, bevor er wieder einsatzfähig war. Schließlich beschlossen die Eltern, die Sonntagsausflüge nun nicht mehr mit dem Wagen, sondern mit der Eisenbahn zu unternehmen, die zwischen meinem Heimatort und dem Teutoburger Wald verkehrte und sich darum auch Teutoburger-Wald-Eisenbahn nannte. Wohl mußte ich mich auch in der Teutoburger-Wald-Eisenbahn erbrechen, doch waren die Waggons mit Holzbänken ausgestattet, und außerdem konnte ich auf die Zugtoilette ausweichen, wenn die Zeit dazu ausreichte. Die Eltern hätten sich mit dem regelmäßigen Erbrechen in der Teutoburger-Wald-Eisenbahn ohne weiteres arrangiert, wären da nicht die anderen Mitreisenden gewesen, die vor allem dann an meinem Erbrechen Anstoß nahmen, wenn es mir nicht mehr gelang, die Zugtoilette aufzusuchen und ich mich auf den Fußboden oder die Sitzbänke erbrach. Schließlich kapitulierten