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Eine Mutter hält ihren erwachsenen Sohn in den Armen. Er ist tot, wie sich bald herausstellt; sie hat ihn während der letzten Monate seiner Erkrankung gepflegt. Bevor die alte Frau den Arzt ruft, beginnt sie mit dem Sohn ein letztes Gespräch, einen Monolog, der zur Bilanz und zur Erinnerung wird: an ein Leben an der Seite eines kriegsversehrten Mannes, an das gemeinsam geführte Textilgeschäft im Nachkriegsdeutschland, an das Glück, ein Klavier anzuschaffen, »etwas von Dauer«, schwarzglänzend und für den einzigen Sohn, den sie liebte und der doch immer ein Fremder für sie geblieben ist. Denn seine Existenz verdankt sich womöglich einer traumatischen Gewalterfahrung, die sie zeitlebens bedrängt hat. »Tagesanbruch« führt ins Zentrum von Hans-Ulrich Treichels Schreiben, ganz nah heran an die Schmerzpunkte von Verlust und Verlorenheit. Es ist die eindringliche, tieftraurige Erzählung einer Frau, die am Totenbett ihres Kindes endlich all das auszusprechen versucht, was sie niemals ausgesprochen hat; und am Ende doch bekennen muss, dass ihr die Worte versagen. Denn »es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten«.
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Seitenzahl: 96
Veröffentlichungsjahr: 2016
Eine Mutter hält ihren erwachsenen Sohn in den Armen. Er ist tot, wie sich bald herausstellt, sie hat ihn während der letzten Monate seiner Erkrankung gepflegt. Bevor die alte Frau den Arzt ruft, beginnt sie mit dem Sohn ein letztes Gespräch, einen Monolog, der zur Bilanz und zur Erinnerung wird: an ein Leben mit einem kriegsversehrten Mann, an das gemeinsam geführte Textilgeschäft im Nachkriegsdeutschland, an das Glück, ein Klavier anzuschaffen, »etwas von Dauer«, schwarzglänzend und für den einzigen Sohn, den sie liebte und der doch immer ein Fremder für sie geblieben ist. Denn seine Existenz verdankt sich womöglich einer traumatischen Gewalterfahrung, die sie zeitlebens bedrängt hat.
Tagesanbruch führt ins Zentrum von Hans-Ulrich Treichels Schreiben, ganz nah heran an die Schmerzpunkte von Verlust und Verlorenheit. Es ist die eindringliche, tieftraurige Erzählung einer Frau, die am Totenbett ihres Kindes endlich all das auszusprechen versucht, was sie niemals ausgesprochen hat; und am Ende doch bekennen muss, dass ihr die Worte versagen. Denn »es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten«.
Hans-Ulrich Treichel, geboren 1952 in Versmold / Westfalen, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin; seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.
Bei Suhrkamp und Insel erschienen zuletzt die Bände:
Endlich Berliner! Erzählungen, it 4097
Mein Sardinien. Eine Liebesgeschichte, st 4496
Frühe Störung. Roman, 2014
Hans-Ulrich Treichel
TAGESANBRUCH
Erzählung
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:
Erste Auflage 2016
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Vasyl Helevachuk/Fotolia
eISBN 978-3-518-74526-7
www.suhrkamp.de
I.
DER AUGUSTWARIMMER unser liebster Monat. Du wurdest im August geboren, du warst ein Sommerkind, ein Hitzekind. Im August fühltest du dich am wohlsten. Wenn ich es recht bedenke, war der Sommer die einzige Zeit, in der du nicht gefröstelt hast. Ansonsten war dir meistens kalt. Im Herbst, im Winter, im Frühjahr, immer war dir zu kalt, immer hast du gefröstelt, und immer wolltest du, dass ich noch mehr heize, als ich es eh schon tat. Was mit einer Zentralheizung kein Problem ist. Ich drehe am Regler, stelle von eins auf zwei oder von zwei auf drei, und schon wird es wärmer. So wie es ja auch in den letzten Monaten kein Problem war, da habe ich durchgeheizt, dir zuliebe, dem Kranken zuliebe, und fast immer auf drei, den ganzen Sommer hindurch und bis heute Nacht, bis ich dich hochgehoben und auf meinen Schoß gezogen habe, wo du immer noch liegst. Es machte mir keine Mühe, so leicht wie du bist. Federleicht. Ein Fliegengewicht. Nur dein Kopf ist schwer. So schwer, dass ich ihn halten muss, so wie ich es früher auch getan habe, um dir zu trinken zu geben. Und wie du getrunken hast! Du warst ein durstiges Kind, konntest manchmal gar nicht genug bekommen. Und ich war eine gute Mutter. So gut eine Mutter eben sein kann.
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