Endlich Berliner! - Hans-Ulrich Treichel - E-Book

Endlich Berliner! E-Book

Hans-Ulrich Treichel

4,6
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Endlich Berliner! Mit diesem Begeisterungsruf entrinnt so mancher der deutschen Provinz und zieht nach Berlin, in die Hauptstadt. Endlich Kreuzberg, endlich die Museumsinsel, endlich Clubs und Theater. Es gibt zahllose Gründe, endlich Berliner zu werden. Eigentlich kaum zu glauben, daß einem hier auch der Himmel auf den Kopf fallen kann. Touristenfallen am Hackeschen Markt, verdreckte S-Bahnen, und der Monat November scheint kälter, feuchter und dunkler als irgendwo sonst auf der Welt. Also doch lieber raus aus Berlin? Auf jeden Fall! Aber nur für drei Wochen im Jahr. Und niemals im Mai und schon gar nicht im Sommer.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 168

Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
13
2
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Endlich Berliner! Mit diesem Begeisterungsruf entrinnt so mancher der deutschen Provinz und zieht nach Berlin, in die Hauptstadt. Endlich Kreuzberg, endlich die Museumsinsel, endlich Clubs und Theater. Es gibt zahllose Gründe, endlich Berliner zu werden. Eigentlich kaum zu glauben, daß einem hier auch der Himmel auf den Kopf fallen kann. Touristenfallen am Hackeschen Markt, verdreckte S-Bahnen, und der Monat November scheint kälter, feuchter und dunkler als irgendwo sonst auf der Welt. Also doch lieber raus aus Berlin? Auf jeden Fall! Aber nur für drei Wochen im Jahr. Und niemals im Mai und schon gar nicht im Sommer.

HANS-ULRICH TREICHEL

ENDLICH BERLINER!

Umschlagfoto: Andreas Levers / Getty Images

eBook Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Umschlaggestaltung: bürosüd, München

Vorwort

Kürzlich entdeckte ich zu Hause beim Büchersortieren ein Buch mit dem Titel: Kreuzberger Wanderbuch. Wege ins widerborstige Berlin. Wandern in Kreuzberg? Widerborstiges Berlin? Das Buch muß ich irgendwann in den achtziger Jahren gekauft haben, denn damals blühte hier das alternative Leben. Ich wollte gerne wissen, wann das Buch erschienen ist, konnte aber im Impressum keine Jahreszahl finden. Also schaute ich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nach und fand: 1984.

1984 – das war die Zeit, in der auch ich in Kreuzberg gelebt habe. In der Lausitzer Straße. SO 36 nannte man die Gegend damals, was die Abkürzung von Berlin Südost 36 war, so hieß der entsprechende Postzustellbezirk. Vorher hatte ich in »61« gelebt, am Tempelhofer Ufer, direkt gegenüber der Schaubühne am Halleschen Ufer. Diesseits vom Landwehrkanal war das Tempelhofer und jenseits das Hallesche Ufer. Der Bezirk 61 war einst das bessere Kreuzberg. Einigen Häusern am Mehringdamm sieht man das noch an. Meine Wohngemeinschaft war allerdings sozial eher schwach und bestand aus Leuten, die alles mögliche machten: in der Gastronomie arbeiten, Autos nach Spanien überführen, fotografieren, musizieren, eine Konzertagentur gründen (und diese wieder aufgeben), eine Firma für die Beleuchtung von Freiluftkonzerten gründen (und diese ebenfalls wieder aufgeben), an der Schaubühne als Bühnenarbeiter arbeiten. Wie ich auch. In den Semesterferien. Wir bauten Kulissen auf und ab, trugen Möbel hin und her und gelegentlich, wenn bei den Malern Not am Mann war, bemalten wir auch die Bühnenwände. Für Kleists Prinz Friedrich von Homburg beispielsweise oder Die Hypochonder von Botho Strauß.

Das waren noch Zeiten. Berliner Zeiten. Ich könnte jetzt zu schwärmen beginnen und Anekdoten erzählen von meinen Begegnungen mit den bedeutendsten Theaterleuten dieser Jahre in der Kantine der Schaubühne am Halleschen Ufer. Aber in Wahrheit bin ich ihnen gar nicht begegnet, sondern habe sie nur gesehen. Sowohl in der Kantine als auch bei den Proben. Bruno Ganz, Michael König, Jutta Lampe, Edith Clever, Otto Sander und viele andere. Von Peter Stein ganz zu schweigen. Ob sie auch mich gesehen haben, möchte ich allerdings bezweifeln. Wir Bühnenarbeiter und Bühnenhilfsarbeiter sahen alle irgendwie gleich aus. Aber schön war es doch, so mitten im Zentrum der Theaterkunst zu sein. Die Arbeit war meistens Nachtarbeit und so erschöpfend, daß man keine Lust mehr hatte, auch noch in eine der Vorstellungen zu gehen. Trotz der Möglichkeit, günstig an Karten zu kommen. Ich bin in meinem Leben noch nie so wenig ins Theater gegangen wie zu der Zeit, als ich als Bühnenarbeiter an der Schaubühne arbeitete.

Ich bin allerdings auch nicht in Kreuzberg wandern gegangen. Weder damals noch später. Trotzdem habe ich mir das Kreuzberger Wanderbuch gekauft. Warum nur? Ich wohnte doch dort. Wohin sollte ich da noch wandern? Nach »Klein-Istanbul« etwa, wie eines der Kapitel in dem Wanderbuch heißt? Oder zu Riehmers Hofgarten. Der kommt auch in dem Buch vor. Da kam ich doch ohnehin vorbei, denn unweit davon hat meine Zahnärztin ihre Praxis, der ich nun auch schon dreißig Jahre die Treue halte. Und sie mir. Noch immer in der gleichen Praxis. Auch das Paul-Lincke-Ufer wird als Wanderziel gewürdigt. In einem Kapitel mit dem Titel »Ein Dorf wächst aus den Hinterhöfen«. Ich weiß im Moment nicht, wie das gemeint ist. Was für ein Dorf? Und wie wächst es aus den Hinterhöfen heraus? Ich müßte das Kapitel noch einmal lesen. Und mir ein weiteres Mal mein Kreuzberg von damals erklären lassen. Denn das war wohl der Grund, warum ich mir ein solches Buch über meinen eigenen Stadtteil gekauft habe. Ich wollte wissen, wo ich war.

Ich habe mir auch später immer wieder Bücher über Berlin gekauft. Oder in einer Stadtteilbibliothek ausgeliehen. Ich wollte auch später offenbar immer wieder wissen, wo ich war. Und das seit nunmehr fast vierzig Jahren. Erst kürzlich habe ich mir ein Buch über Südende gekauft. In einem Zeitungsladen in der Nähe des S-Bahnhofs Südende. Mir war gar nicht klar, daß man auch über diese Gegend ein Buch schreiben kann. Denn hier ist nun wirklich gar nichts los. Wenn hier einer eine Geschäftsidee hat, dann macht er einen Laden für Hörgeräte auf. Oder, noch besser, einen Notfall-Eil-Reparaturservice für Rollstühle, wie ich kürzlich gesehen habe. Darauf muß man erst einmal kommen. Hier, rund um den S-Bahnhof Südende herum, kommt man darauf. Aber ich will meine eigene Gegend nicht allzu schlecht machen, schließlich handelt es sich um eine sogenannte Landhauskolonie. Außerdem gibt es in dem Buch einen Abschnitt, der überschrieben ist mit der Feststellung »Südende findet mehr und mehr Beachtung«. Das klingt vielversprechend, ist aber leider nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Jahre 1884 bis 1903 gemünzt. Beachtenswert aber erscheint mir, daß Otto Lilienthal in Südende einige Flugversuche unternahm: vom Dach eines Holzschuppens, den er an einem Abhang auf der sogenannten Steglitzer Maihöhe errichtet hatte. Aber das ist Geschichte. Doch etwas wirklich Einzigartiges gibt es hier auch heute noch: Ich meine nicht das 1. KFZ-Pfandleihhaus in Berlin, das bei seiner Gründung in der Tat einzigartig war und wo man sein Auto verpfänden kann. Sechstausend zufriedene Kunden, heißt es in der Eigenwerbung des Pfandleihhauses. Ich meine den Natur-Park Schöneberger Südgelände, der nur eine S-Bahn-Station von Südende entfernt ist und sich auf dem Gelände des ehemaligen Tempelhofer Rangierbahnhofs befindet. Man kann noch immer eine alte Lokomotive bewundern, die aber nicht weiter stört und friedlich auf der Stelle steht.

Hinzugekommen sind Pflanzen und Tiere, die es hier vormals nicht gegeben hat. So hat sich im Südgelände die Gottesanbeterin angesiedelt, auch Mantis religiosa genannt. Ein wahrhaft mythisches Tier, dem der französische Kulturphilosoph Roger Caillois eine eigene Studie gewidmet hat und dem man normalerweise im Mittelmeerraum begegnet. Allein schon deshalb lohnt es sich, den einen Euro Eintrittsgeld zu investieren und das Südgelände zu besuchen. Wegen des Mittelmeergefühls, das einen hier ergreift. Die Gottesanbeterin selbst bekommt man wahrscheinlich nicht zu Gesicht. Ich jedenfalls habe sie dort noch nie gesehen. Nur darüber gelesen. In einer Informationsbroschüre über das Schöneberger Südgelände. Seit ich die Broschüre gelesen habe, höre ich im Südgelände die Zikaden singen.

Daran sieht man, wie wichtig das Lesen ist. Das Lesen generell. Aber auch das Lesen über Berlin. Ich habe schon in vielen Berliner Stadtteilen gewohnt und immer auch über diese Stadtteile gelesen. Und dies eben nicht, weil ich so ein fleißiger und bildungshungriger Mensch bin, sondern weil ich wissen wollte, wo ich war. Weil mir die Orientierung manchmal schwerfällt. Und auch das genaue Hinschauen. Weil ich aus Ostwestfalen stamme und mir gelegentlich und besonders in melancholischen Momenten alles zu Ostwestfalen wird. Beziehungsweise zu Bielefeld. Auch Berlin. Moabit, Charlottenburg, Steglitz, Friedrichshain, Oberschöneweide, Pankow – alles Bielefeld. Aber das muß ja nicht sein. Dann könnte ich ja gleich in Bielefeld leben. Wenn ich schon in Berlin lebe, dann will ich mich auch wie in Berlin fühlen. Großstädtisch. Geschichtsbewußt. Geschichtsbetroffen. Weltoffen. Gebildet. Berlin-gebildet. Dann soll sich alles, was zur Metropole Berlin gehört, auch in mir versammeln.

Das funktioniert natürlich nicht immer, weil auch Berlin selbst nicht immer in sich versammelt ist. Sondern manchmal so öde und leer, kleinkariert und provinzlerisch, verregnet und traurig, daß man weinen möchte. Und zuweilen auch eklig, weil voller Hundekot. Der seit einiger Zeit von einigen Hundehaltern zwar in Plastiktüten gesammelt, dann aber an Zäune und in die Büsche gehängt wird. Im Grunewald beispielsweise und rund um den Grunewaldsee. Das habe ich selbst schon oft genug gesehen, daß im Grunewald die Hundekacke in Plastiktüten an Zäunen und Büschen hängt. Auf Augenhöhe sozusagen. Da sehnt man sich dann nach Bielefeld. Packt aber trotzdem nicht seine Koffer. Einmal Berlin, immer Berlin. Es sei denn, man findet hier keine vernünftige Arbeit. Dann geht man auch gerne woandershin. Zum Beispiel nach Leipzig, wo ich schon seit vielen Jahren einen ersten Arbeitsplatz und einen zweiten Wohnsitz habe.

Von Leipzig aus gesehen ist Berlin sehr schön. Noch schöner vielleicht, als wenn man immer mittendrin hockt. Distanz schärft die Wahrnehmung. Wobei natürlich auch die Geschichte dafür gesorgt hat, daß es für die Berliner in Berlin nie so richtig gemütlich geworden ist. Am gemütlichsten war es vielleicht noch im berühmten Soziotop beziehungsweise Archipel Westberlin der siebziger und achtziger Jahre. Wenn man mal von der Wohnungsproblematik absieht. Keine Moabiter oder Weddinger Wohnung mit Außenklo war schlecht genug, um sie am Ende nicht doch noch zu mieten. Aus Mangel an bezahlbaren Alternativen. Und die Mauer? Die galt ja nur für die anderen. Die Ostberliner. Von Westen aus gesehen. Die diente der Verkehrsberuhigung. So mancher Pfad in Mauernähe war zudem eine prima Joggingstrecke. Man kann schließlich nicht ununterbrochen politisch denken.

Mit dem Westberliner Soziotop war es 1989 vorbei. Falls es so etwas wie ein Ostberliner Soziotop gegeben haben sollte, dann endete dieses ebenfalls. Nun machte sich Berlin auf den Weg zur internationalen Metropole und folgt inzwischen, was die Besucherzahlen angeht, direkt auf Paris und London. Und liegt noch vor Rom. Das stellt natürlich eine Herausforderung für das eigene Berlin-Gefühl dar. Die Stadt hat sich wiedervereinigt, erneuert, modernisiert und historisiert zugleich – und damit auch aufs neue fremd gemacht. Und muß zurückerobert werden. Das geht am besten lesend und schreibend. Ich kaufe mir wieder Berlin-Bücher, denn ich will einmal mehr und jetzt erst recht wissen, wo ich eigentlich bin, wenn ich in Berlin bin.

Wobei neuerdings zwei spezielle Arten von Berlin-Büchern hinzugekommen sind, die es früher meines Wissens gar nicht gegeben hat. Zumindest sind sie mir nie aufgefallen. Zum einen handelt es sich um Berlin-Beschimpfungsbücher. Und zum anderen um Bücher über das »unbekannte« Berlin. Erstere sind wahrscheinlich ein deutliches Indiz dafür, daß Berlin sich seinen Ruf als internationale Metropole gesichert hat. Solange die Stadt noch schwächelte – historisch, politisch, demographisch, ökonomisch oder kulturell – und zudem geteilt war, hat es niemandem Vergnügen gemacht, sie zu attackieren. Jetzt liegen Bücher mit Titeln wie Berlin ist das Allerletzte gleichberechtigt neben allen anderen Berlin-Büchern in den Buchhandlungen. Aber: Who cares? Beziehungsweise: Wen kratzt es? Mein Exemplar von Berlin ist das Allerletzte habe ich für zwei Euro in einem Antiquariat in der Kreuzberger Bergmannstraße erstanden.

An den anderen Typ von Berlin-Büchern, die Bücher über das unbekannte Berlin, muß ich mich erst noch gewöhnen. Ebenso an Buch(unter)titel, die Aufforderungen enthalten wie »Entdecken Sie die Schönheiten und Geheimnisse der Stadt«. Will ich das wirklich? Die Schönheiten und Geheimnisse meiner Stadt entdecken? In dem Buch gibt es ein Kapitel über »Das unbekannte Ostberlin«. Und eines über »Die rote Insel Schöneberg«. Schöneberg kenne ich. Meines Wissens ist Schöneberg weder besonders schön, noch hat es ein Geheimnis. Aber beschimpfen würde ich den Stadtteil auch nicht. In Schöneberg habe ich eine weitere, mehrere Jahre dauernde Wohngemeinschaftsphase verlebt. Nicht wie in Keuzberg in einer verschatteten Ladenwohnung, sondern in einer großen und halbwegs bürgerlichen Altbauwohnung und auf eher akademischem Niveau. Wohngemeinschaft mit Hochschulabschluß sozusagen. Wer ihn nicht schaffte und danach seine Doktorarbeit nicht wenigstens plante, fühlte sich bald auch in der Wohngemeinschaft nicht mehr wohl.

Das unbekannte Ostberlin dagegen kenne ich nicht. Ich kenne noch nicht mal das bekannte Ostberlin wirklich gut. Nur so, wie man es als Westberliner eben kennenlernte: das Berliner Ensemble, das Pergamonmuseum, das Gastmahl des Meeres, das Internationale Buch, der Müggelsee und schließlich die Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle im Bahnhof Friedrichstraße, der später Tränenpalast genannt wurde, was mir allerdings etwas gekünstelt witzig vorkommen will und gar nicht nach echtem Volksmund. Aber so ist es mir mit der Schwangeren Auster (Kongresshalle), dem Langen Lulatsch (Funkturm) und dem Palazzo Prozzo (Palast der Republik) auch schon gegangen. Wie auch immer: Berliner Ensemble, Pergamonmuseum, Gastmahl des Meeres usw. waren die Stationen, die man als Westberliner in Ostberlin ansteuerte. Aber hatten die wirklich etwas mit Ostberlin zu tun? Dem Ostberlin der Ostberliner? Wenn ich an meine Verwandten denke, die in Ostberlin lebten und die ich zu DDR-Zeiten gelegentlich besuchte, bin ich mir da nicht so sicher. In diesem meinem Ostberlin haben sie jedenfalls nicht gelebt. Welches ihres war, habe ich nicht erfahren.

Und heute? Wie soll man denn einen von Touristen überlaufenen Hackeschen Markt beispielsweise kennenlernen? Die Entdeckung des Hackeschen Marktes steht noch aus. Der von Berlinern und Touristen gleichermaßen überlaufene Hackesche Markt einschließlich der Hackeschen Höfe ist sozusagen das größte Berliner Geheimnis für mich. Hingehen hilft nicht. Vielleicht hilft Lektüre. Oder aber das Schreiben.

Der vorliegende Band versammelt eine Auswahl von Texten aus mehr als dreißig Jahren. Solange ich schreibe, habe ich immer auch über Berlin geschrieben. Sei es in Artikeln, Glossen, Gedichten, Essays, Erzählungen oder Romanen. Mein letzter Roman, Grunewaldsee

Endlich Berliner

Endlich Berliner

Endlich Berliner! hätte ich am liebsten ausgerufen, als man mir in der Meldestelle den grauen bundesrepublikanischen Personalausweis ungültig stempelte und einen grünen und sogenannten behelfsmäßigen Westberliner Personalausweis überreichte. Mein neuer Wohnsitz befreite mich nicht nur vom Dienst bei der Bundeswehr, er erlaubte mir auch, mich nun als Westberliner zu fühlen – und damit einer exklusiven Spezies Mensch anzugehören. Ich hatte im Meldeamt des Bezirks Charlottenburg die größtmögliche evolutive Abkürzung genommen, die mir überhaupt möglich schien: Vom Ostwestfalen zum Westberliner! Aus der Steinzeit in die Gegenwart. Aus dem Neandertal an die Freie Universität.

Denn hier herrschte der Homo sapiens sapiens, besonders im Fach Philosophie, wenn ich an die dort Lehrenden denke. Was die alles wußten. Und was ich selbst alles nicht wußte – aber zugleich wissen wollte, auch wenn ich es nicht immer verstand. Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes etwa, in der sich ganz erstaunliche, aber für mich schier unverständliche Sätze fanden. Später lernte ich, daß sich mit Hegelsätzen auch ein Büffet eröffnen ließ, wie es einer meiner Professoren anläßlich einer Feier einmal getan hatte: »Alles ist zum Verzehr bestimmt.« Wobei sich auch ein Satz von Platon angeboten hätte, der im Timaios sagt: »Denn von nirgendwärtsher fand ein Zugang oder Abgang statt (…), sondern ein Sichselbstverzehren gewährt der Welt ihre Nahrung (…).«

Daß Westberlin nicht nur ein Ort des Geistes, sondern auch ein sich selbst und so manche Menschen verzehrender sozialer und politischer Organismus sein konnte, mußte ich erst noch lernen. Ich hatte Westberlin lange Zeit vor allem an Ostwestfalen gemessen. Das aber war nicht gerecht – Ostwestfalen gegenüber. Keine Chance für Ostwestfalen. Wäre ich in Nordhessen aufgewachsen, hätte ich Westberlin an Nordhessen gemessen, was Nordhessen gegenüber ungerecht gewesen wäre. Aber so waren die zugezogenen neuen Westberliner eben. Gestern noch Dorfbewohner – und jetzt schon Weltbürger. Gestern noch die Freizeit im CVJM-Jugendheim verbracht oder an der einzigen Frittenbude des Ortes herumgelungert, heute bereits am Puls der Zeit. Im Inneren des Weltgeschehens. An der Frontlinie des Kalten Krieges. Auf den Barrikaden der revolutionären Studentenbewegung. Gestern noch Kuhmist an den Schuhen. Heute schon eiskalte Provinzverächter. Gnadenlose Bielefeldhasser. Halb in Moskau, geographisch gesehen, und halb in Paris, kulturell gesehen.

Zumindest was die Gegend um den Savignyplatz anging. Und das Charlottenburger Kinoprogramm. Stundenlang und mit nicht enden wollender Begeisterung haben wir uns im Filmkunst 66 Die Mama und die Hure angesehen. Daß der überlange Film (220 Minuten) vor allem langweilig war, wollten wir uns keinesfalls eingestehen. Und sind hinterher zwar nicht ins Deux Magots, wohl aber Richtung Paris Bar gegangen, wo sich bald darauf die Neuen Wilden und Neoexpressionisten ihre Zigarillos mit Hundertmarkscheinen ansteckten. Wir haben die Bar aber nicht betreten, sondern nur durch die Scheiben geschaut. Es war dort wie immer zu voll und zu schick und zu prominent besetzt. So daß wir uns nach Sichtung der Lage mit dem Satz »Laßt uns woanders hingehen« ins Ali Baba aufgemacht haben, wo es Pizza auf die Hand gab und ganz gemütlich war.

Sehr aufregend war das alles. Aber auch ziemlich traurig. Nur war nicht ganz klar, woher die Traurigkeit eigentlich kam, die einen in Westberlin so plötzlich überfallen konnte. In Ostwestfalen unter dem steinschweren Himmel wußte ich immer, warum mich der Katzenjammer packte: wegen Ostwestfalen. Heute weiß ich, daß es weniger mit Ostwestfalen und mehr mit dem zu tun hatte, was meine Eltern während des Krieges erlebt hatten. Meine Eltern hatten die Traurigkeit nach Ostwestfalen importiert. Sie hatten eine Hülle von Traurigkeit über Ostwestfalen gestülpt, die mich mit der Zeit zu ersticken drohte. Jedes Haus und jede Straßenkreuzung, jede Wiese, jeder Bach und jeder Vorgarten: alles unsagbar deprimierend. Von Umgehungsstraßen und Kreissparkassen, von Klärwerken und Fleischfabriken gar nicht zu reden.

Es gab also viele Gründe, endlich Berliner zu werden. Um so schlimmer, daß einem auch hier der Himmel auf den Kopf fallen konnte, was vor allem an den Wohnungen lag, die man in Westberlin den Menschen zumutete. Ich habe in Westberlin in Wohnungen gelebt, darin hätte man in Ostwestfalen nicht mal eine Mülltüte abgestellt. Und man mußte auch noch monatelang suchen und alle möglichen Bescheinigungen vorlegen, um so eine laute, dunkle, muffige, immer kalte, mit Kohleofen beheizte Hinterhofwohnung ohne Balkon und mit Etagenklo überhaupt zu bekommen. Das war offenbar der Preis, den ich für die Flucht vor der Bundeswehr zu zahlen hatte. Die sanitären Verhältnisse waren in dem ukrainischen Geburtsort meines Vaters im Jahr 1910 wahrscheinlich nicht sehr viel schlechter gewesen als die sanitären Verhältnisse in so mancher Berliner Wohnung um 1970 herum.

Zum Glück sind Wohnungen nicht so wichtig, wenn man jung ist. Man ist dann ohnehin selten zu Hause. Allerdings mußte ich feststellen, daß in Westberlin auch alte Menschen in solchen Wohnungen lebten. In einer Tiergartener Wohnung, in der ich einige Zeit mit Blick auf die S-Bahn wohnte, teilte ich mir meine Etagentoilette mit zwei alleinstehenden älteren Damen und einem chilenischen Emigranten mit glänzendem schulterlangen Haar und der Figur eines Tänzers. Zu viert nutzten wir die Etagentoilette, was eine delikate, aber zum Glück von allen Beteiligten mit größter hygienischer Disziplin betriebene Angelegenheit war.