Schöner denn je - Hans-Ulrich Treichel - E-Book

Schöner denn je E-Book

Hans-Ulrich Treichel

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Beschreibung

Mit unverwechselbar trockenem Humor lässt Hans-Ulrich Treichel seinen sehnsüchtig zaudernden Helden durch das ummauerte Westberlin streifen – einen Melancholiker, der wenig später das tut, wovon er eben noch behauptet hat, es besser bleiben zu lassen. Und man kann sich sicher sein: Am Ende hat alles eine Bedeutung.

Einmal so wie Erik sein! Das hatte sich Andreas immer gewünscht und sich von Jugend an um eine Freundschaft mit dem beneidenswert gelassenen, aber unnahbaren Erik bemüht. Erik, der immer besser war, was die Schulnoten, die Beliebtheit bei den Mädchen oder den Sport betraf. Auch als sie sich zwanzig Jahre später in Berlin zufällig begegnen, hat sich nichts geändert: Aus Andreas ist gerade mal ein Romanist in der Lehrerfortbildung geworden, während Erik es als Filmarchitekt in die glamouröse Welt Hollywoods und in die Nähe bekannter Filmstars geschafft hat – zum Beispiel Hélènes, einer weltberühmten Schauspielerin. Doch wer hätte gedacht, dass ausgerechnet diese Hélène, für die Andreas sein Leben lang geschwärmt hat, von der Leinwand herabsteigen und für einige Tage leibhaftig in sein Leben treten würde? Dank Erik zwar, aber ohne ihn.

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Seitenzahl: 224

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Titel

Hans-Ulrich Treichel

Schöner denn je

Roman

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

1

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Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1

Ich habe nie jemandem davon erzählt. Von meinem Auserwähltsein, wenn ich es einmal so nennen darf. Nicht meinen Freunden oder Bekannten – und auch nicht Erik. Was mir am schwersten gefallen ist. Schließlich waren Erik und ich, seit wir uns kannten, Wettbewerber. Wettbewerber des Lebens. Wettbewerber in allem und jedem. Zumindest aus meiner Sicht. Und mein sogenanntes Auserwähltsein war doch so etwas wie ein Sieg. Oder etwa nicht? Endlich war ich einmal der Gewinner in einem Wettstreit, der ansonsten immer nur zu meinen Ungunsten ausging. Erik war nicht nur der Bessere, was die Schulnoten, die Beliebtheit bei den Mädchen, den Sport oder das Berufsleben betraf, damit hätte ich zurechtkommen können. Nein, er schien auch das interessantere und ereignisreichere Leben zu führen. Und das schon zu Schulzeiten. Obwohl wir doch beide ganz normale norddeutsche Kleinstadtmenschen waren. Was gab es da schon zu erleben. Klamotten einkaufen in der nächsten größeren Stadt, dreißig Kilometer entfernt, die sich Einkaufsmetropole nannte, weil es dort zwei größere Kaufhäuser gab. Das sommerliche Jazzkonzert im Foyer der Stadtbibliothek, ein Wochenende an der Nordsee, in Döse oder Duhnen bei Cuxhaven, und dies zu jeder Jahreszeit. Nichts davon erfreute mich sonderlich, am ehesten noch das Jazzkonzert, wobei die Musiker, die dort auftraten, Dozenten und Studierende einer Kirchenmusikschule aus dem Lipperland waren und ihre Jazzleidenschaft geradezu ketzerisch als Nebenbeschäftigung betrieben, was aber in der Kirchenmusikschule niemanden zu stören schien.

Das waren schon die Höhepunkte meiner Jugend, und für Erik dürfte es nicht viel anders gewesen sein. Allerdings war er ein Mensch mit einer anderen Erlebnisfähigkeit. Es kommt eben nicht darauf an, was man tut, sondern wie man sich dabei fühlt. Erik schien eigentlich von allem, was er so trieb, beglückt zu sein. Wohin er auch ging und was er auch unternahm, er kehrte beseelt zurück. Reich beschenkt von welchen Erfahrungen auch immer. Ich dagegen durchsiebte wie ein verzweifelter Goldgräber meine Alltagserfahrungen wieder und wieder, um wenigstens ein paar Goldkörnchen darin zu finden. Auch das war schwierig genug.

Was letztlich der Grund für Eriks beneidenswertes Lebensgefühl war, wusste ich nicht. Dazu ließ er mich nicht nah genug an sich heran. Er war freundlich, er war kameradschaftlich, aber jeder wirklich engeren Verbindung wich er aus. Ich hätte einiges darum gegeben, sein bester Freund zu sein. Oder auch nur sein zweit- oder drittbester. Was hätte ich nicht alles von ihm lernen können. Und womöglich mit ihm erleben. Abgesehen von seinen Begabungen und seiner Art, den Alltag zu bewältigen. Die Lässigkeit beispielsweise, mit der er das Gymnasium als guter Schüler durchlief, gleichermaßen musisch, naturwissenschaftlich-technisch und sprachlich begabt, ohne jemals anzuecken, aber auch ohne ein Streber zu sein. Im Gegenteil, wo er helfen konnte, half er, und man konnte ihn durchaus bitten, während einer Klassenarbeit in Mathematik einen Zettel mit Lösungen auf der Toilette zu deponieren.

Statt mich zurückzuhalten und mit der gleichen lässig-freundlichen Distanziertheit meiner eigenen Wege zu gehen, verstärkte ich meine Bemühungen, ihm nahe zu sein. Oder gar, ich gestehe es, so zu sein wie er. Dies natürlich auch, weil ich so gänzlich anders war. Nicht groß und schlank und schlaksig, eher ein wenig rundlich, nicht der Mick-Jagger-Typ, den er für mich verkörperte, locker in der Hüfte, selbstbewusst, sinnlich, männlich, zugleich androgyn mit locker fallendem, dichtem Haar. Ich dagegen war eher der Buchhaltertyp, der schon als Abiturient Geheimratsecken hatte.

Womöglich übertreibe ich jetzt zu meinen Ungunsten. Denn ich bewunderte Erik nicht nur, ich neigte auch dazu, mich vor mir selbst in ein schlechteres Licht zu rücken, als angemessen war. Wahrscheinlich waren wir beide nichts anderes als ganz normale Oberschüler, der eine vielleicht etwas hübscher, schlanker und mit vollerem Haar als der andere, und ich hätte mir damals durchaus sagen können: Wen kümmert das schon, die Menschen sind eben verschieden. Die Antwort ist: Mich kümmerte es. Und zwar weitaus mehr und länger anhaltend, als es gut war. Von heute aus betrachtet würde ich zu der nicht gerade überraschenden Diagnose kommen: Ich idolisierte Erik. Er war der Star und ich der Fan. Er wusste und spürte es, blieb fair, hielt zugleich aber Abstand. So machen es Stars mit ihren Fans ja auch. Freundlich bleiben und Autogrammkarten verschicken – aber bitte keine engeren persönlichen Kontakte und erst recht keine Vertraulichkeiten.

Insofern habe ich auch nicht herausgefunden, was eigentlich Eriks Geheimnis war. Was ließ ihn so gelassen und zugleich so erfahren, erlebnisgesättigt und weltmännisch wirken? Eine Wirkung, die noch gesteigert wurde durch die Tatsache, dass er als Erster in der Klasse ein Auto hatte und damit auch zur Schule fuhr. Und zwar einen weißen BMW 2000 CS. Was er allerdings nicht sonderlich wichtig nahm. Wenn man ihn auf den Wagen ansprach, zuckte er nur mit den Schultern. Ist doch nur ein Auto. Ein gebrauchtes zudem. Für mich aber war so ein weißer BMW 2000 CS weitaus mehr als ein Auto. Es war ein Persönlichkeitsmerkmal. So ein Auto musste man sich im höheren Sinne verdient haben. Man musste an das Auto herangereift sein. Erik war an den BMW 2000 CS herangereift. Ein Renault 4 oder Citroën 2CV beispielsweise wäre bloße Kostümierung gewesen. Ein Studentenauto. Ein zweisitziger Sportwagen oder ein Cabriolet erst recht. Dieser leicht angegraute und doch sportliche BMW dagegen stand seinem Besitzer ausgezeichnet. Er verschmolz geradezu mit ihm.

Niemand nahm Erik den BMW übel, genauso wenig wie man ihm seine Frisur oder seine Kleidung übelnahm, die weiten Hosen beispielsweise, die er meist trug, wo wir doch damals alle Röhrenhosen anzogen. Es passte eben alles. Und nahm mich dementsprechend gefangen. Einmal so wie Erik sein! Allerdings fehlte mir das Rezept dazu. Denn sein Lebensgeheimnis – oder besser: das Geheimnis seines Lebensgefühls hatte ich während der gemeinsamen Schuljahre nicht entschlüsseln können. Ich konnte nur spekulieren. Kam aber nicht weit dabei, außer dass ich mir vorstellte, dass er noch ein zweites Leben führte. Die Spekulation wurde dadurch befördert, dass er in einem relativ weit entfernten Ort jenseits des Teutoburger Waldes wohnte, der zu einem anderen Landkreis gehörte und landschaftlich von den Ausläufern dieses zwar nicht hohen, aber durchaus anmutigen Gebirgszuges profitierte. Während sich der Ort, in dem ich aufwuchs, diesseits davon in einem von Gewerbegebieten zersiedelten Flachland befand. Wobei das Nummernschild an Eriks Wagen zu keinem der beiden Landkreise passte, sondern ein schlichtes D aufwies: Düsseldorf. Eriks Wagen war in Düsseldorf zugelassen, was dem Wagen wie dem Fahrer eine zusätzliche Weihe verlieh. Düsseldorf war zwar Nordrhein-Westfalen, aber zugleich mit pariserischem Flair behaftet. Eine Stadt der Mode und der reichen Leute. Womöglich gehörte Erik selbst oder seine Familie zu diesen reichen Leuten, oder er hatte zumindest so enge Verbindungen zu ihnen, dass er seinen Wagen dort anmelden konnte.

Bei Erik war eben alles ein bisschen anders. Fremdheit umwehte ihn, die er mit einer wohl freundlichen, zugleich aber immer entschiedenen Distanzbereitschaft kombinierte, was seine Anziehungskraft noch vergrößerte. Einsamkeitsgefühle kannte er anscheinend nicht. So etwas wie einen besten Freund hatte er offenbar ebenfalls nicht nötig. Denn er hielt – ich muss hinzufügen: glücklicherweise – nicht nur Distanz zu mir, sondern zu allen anderen auch. Zu den Jungen wie zu den Mädchen. Chancen genug hätte er gehabt. Eine Mitfahrgelegenheit in seinem BMW ließen sich die wenigsten unserer Mitschülerinnen entgehen. Eine Favoritin aber schien es nicht zu geben. Er ließ sich eben auf niemanden ein, und ich ertappte ihn auch nie bei irgendeinem Techtelmechtel mit einer Klassenkameradin. Und natürlich auch bei keinem Flirt mit einem der Jungen. Das schon gar nicht. Dazu kannte ich ihn wiederum zu gut. Wobei es mich nicht gestört hätte, wenn er dem männlichen Geschlecht zugetan gewesen wäre. Es hätte mich eher entlastet. Dann wäre der Wettbewerb zwischen uns beendet gewesen. Jungs oder gar Männer – das war nicht das Spielfeld, auf dem ich antreten wollte. Doch seines offenbar auch nicht. Auch wenn er damals zu Schulzeiten keine feste Freundin hatte, so hatte ich doch niemals auch nur den geringsten Zweifel daran, dass er nicht nur ein Mann war, der die Frauen liebte, sondern auch einer, der von ihnen geliebt wurde. Und dies, dessen war ich mir ebenfalls sicher, zumeist von Frauen, die auch mir gefallen würden und um die ich ihn schon allein um des Prinzips willen beneidete, ohne sie überhaupt kennengelernt zu haben.

Eine aus meiner damaligen Sicht allerdings unfreiwillige Entspannung unseres Lebenswettlaufes entstand, als wir nach dem Studium die norddeutsche Heimat verließen und nach Berlin, genauer: nach Westberlin gingen. Es war uns beiden seit langem klar gewesen, dass wir in Berlin studieren wollten. Das hatte jeder für sich entschieden, und es war ohnehin ein Trend. Wer nicht in Braunschweig oder Hannover studierte und dies gegebenenfalls sogar vom Elternhaus aus und als Pendler, der ging nicht selten nach Westberlin. In die geteilte Ausnahmestadt, was ihren Bewohnern und dem Leben dort eine gewisse Exklusivität und zeitgeschichtliche Brisanz verlieh. Hinzu kam die Befreiung vom Wehrdienst, ein nicht zu unterschätzendes Privileg für alle, die noch vor der Erfassung ihren ersten Wohnsitz in Westberlin anmeldeten.

Dass Erik und ich den Umzug nach Berlin unabhängig voneinander entschieden hatten, war mir wichtig. Vor mir selbst. Nicht, dass ich ihm etwa gefolgt wäre. Trotzdem wurmte es mich, dass er sich bereits vor dem Abitur in Berlin um eine Wohnung gekümmert und diese auch gefunden und angemietet hatte. Erst der Führerschein, dann der 2000 CS und nun auch noch eine eigene Wohnung. Er prahlte nicht damit, prahlen war nicht seine Sache, aber übermäßige Zurückhaltung ebenso wenig. Also erzählte er jedem, der es wissen wollte, dass er inzwischen eine Berliner beziehungsweise Charlottenburger Adresse besaß und die Wohnung auch schon eingerichtet hatte: drei Zimmer, Küche, Bad. Geräumig, hell und preiswert. Dazu in der Schlüterstraße und nur ein paar Minuten vom Kudamm entfernt. Mit anderen Worten: ein Traum! Wenn es wenigstens nur zwei Zimmer gewesen wären. Das hätte meine Neidgefühle zumindest gemildert. Aber es half nichts. Eriks gutes Leben konnte weitergehen, und ich würde mich ranhalten müssen, um es ihm gleichzutun. Und wenn ich es ihm nicht gleichtun konnte, dann wollte ich zumindest daran teilhaben. Freundschaftlich teilhaben. Schließlich waren wir Klassenkameraden. Provinzler in der großen grauen Stadt Berlin. Er genauso wie ich. Das schweißte doch zusammen.

Allerdings waren die Rollen auch in Berlin eher ungleich verteilt. Erst kam ich in einem Studentenheim am S-Bahnhof Tiergarten unter und dann in einer Wohnung gleich in der Nähe, von deren Küchenfenster ich einen Ausblick auf das Studentenheim hatte. Ein Zimmer, Küche und ein schlauchförmiges Bad mit Toilette und ohne Fenster. Aber immer noch besser als gar kein Bad oder ein Etagenklo. Von der Wohnung war es nicht weit zur Technischen Universität, wo ich mich für Architektur eingeschrieben hatte trotz einiger Unsicherheit, wie es mit meinen technischen Begabungen eigentlich stand. Immerhin waren meine Abiturnoten gut genug, um zum Studium zugelassen zu werden. Doch ich hätte mir genauso gut ein künstlerisches Studium vorstellen können, an der Hochschule der Künste, die auch nicht viel weiter entfernt war. Architektur und Kunst: hier gab es Schnittstellen. Doch im Grunde war alles, was man studierte, ein Risiko, wenn man nicht zu den speziell Begabten gehörte, die schon zu Schulzeiten wussten, was sie am besten konnten. Ich war eher universell orientiert, mich interessierte vieles, ob ich für das Viele aber begabt genug war, musste ich erst noch herausfinden. Warum nicht Biologie oder Sprachen, Französisch beispielsweise, an der Freien Universität. Nur hätte ich dann besser in Steglitz oder Dahlem wohnen sollen.

Dass ich mich in Architektur einschrieb, hatte in gewisser Weise auch mit Erik und unserem Lebenswettbewerb zu tun. Wohl wussten wir voneinander, dass wir beide in Westberlin studieren wollten, über unsere zukünftigen Studienfächer hatten wir uns aber nicht verständigt. Zu meinem Leidwesen. Ich hätte gern mit ihm zusammen studiert. Vielleicht sogar die gleichen Seminare und Praktika besucht. In solchen Fächern wie Architektur machte man sicherlich auch Praktika. Erik und ich am Zeichenbrett. Beim gemeinsamen Planen einer Reihenhaussiedlung. Gab es in Westberlin überhaupt Platz für neue Reihenhaussiedlungen? Möglicherweise nicht. War ja auch nicht so interessant. Ein Haus wie das andere. Interessant war die Sanierung alter Wohnviertel. Der Chamissoplatz in Kreuzberg beispielsweise. Den hätte ich gern zusammen mit Erik saniert, wenn auch nur am Zeichenbrett. In einem Projektseminar mit dem Titel Sanierungsbereich Chamissoplatz – Entwürfe und Konzepte. Oder so ähnlich. Gemeinsames Studium und Kooperation wären die beste Garantie für weiteren Kontakt und womöglich eine Chance auf echte Freundschaft gewesen.

Warum ich mich auch wegen Erik für Architektur entschied? Aus taktischen Gründen gewissermaßen, aus freundschaftstaktischen. Ich nahm an, dass er mit mir nicht über seine Pläne sprechen wollte, damit ich nicht auf die Idee kam, das Gleiche zu studieren wie er. Seinen Fan und Bewunderer aus Schulzeiten wollte er nicht auch noch während des Studiums in seiner Nähe haben. Mich dagegen störte nicht, dass ich ihn bewunderte. Er hatte ja auch was zu bieten. Lebensstil und Habitus, um es einmal so zu formulieren. Mich störte nur, dass er umso mehr auf Distanz ging, je mehr er meine Bewunderung und meinen Wunsch, ihm nahe zu sein, spürte. Also übte ich schon zu Schulzeiten Zurückhaltung. Und dies auch im Wortsinn. Ich trainierte Distanz und so etwas wie freundliche Gleichgültigkeit. Ich war ja schließlich kein Stalker. Und anderweitig psychisch gestört war ich auch nicht. Aber je besser ich in den Disziplinen Distanz und freundliche Gleichgültigkeit wurde, umso mehr entfernte ich mich notwendigerweise von ihm. Ich wurde zu einem freundlich distanzierten Mitschüler Eriks. Das brachte mir ohne Zweifel einigen Respekt seinerseits ein, aber was hatte ich davon? Er blieb, wie er war: freundlich, aber auf Abstand, ganz entspannt, aber unnahbar.

Gut, dass die Schulzeit irgendwann vorüber war und das Studium eine neue Perspektive bot. Für Erik. Für mich. Und für unsere zukünftige Freundschaft, die freilich nur eine Chance hatte, wenn ich mich möglichst diskret und unaufdringlich verhielt. Und ihm auf keinen Fall nachlief, auch nicht hinsichtlich des Studienfachs. Aber was tun? Es brauchte einige Zeit, bis ich darauf kam. Nicht nachlaufen reichte nicht. Vorauseilen war die Lösung. Und das hieß, mich so früh wie möglich im Fach Architektur einzuschreiben, denn ich war sicher oder so gut wie sicher, dass er es auch tun würde. Er hatte es mir nie gesagt, ich hatte ihn nie gefragt, aber es deuteten gewichtige Indizien darauf hin. Obwohl er trotz seiner technischen Interessen auch ein Künstlertyp war, würde er keinesfalls Sprachen oder Literatur studieren. Das wäre ihm sicherlich zu lehrerinnenhaft vorgekommen. Und Lehrerinnen lagen ihm nicht. So viel wusste ich. Und ich wusste ebenfalls, dass er fotografierte. Mit einer hochwertigen Kamera, wie sie auch Berufsfotografen benutzten. Zudem las er fotografische Fachliteratur und entwickelte seine Bilder selbst. Schwarz-weiß. Was sehr professionell wirkte. Einmal sah ich einen ganzen Stapel von Schwarz-Weiß-Bildern mit ihm durch. Er hatte sie im Auto und zeigte sie mir ungewohnt freimütig. Aber es waren ja auch keine privaten Bilder, sondern so etwas wie Architekturfotos. Fast immer ohne Menschen und fast immer waren darauf architektonische Details von Wohnhäusern zu sehen: Türen, Fenster, Treppen einschließlich der Treppengeländer. Auf meine Frage nach dem Sinn des Ganzen hatte er nur geantwortet: »Es interessiert mich halt.«

Ich fragte nicht weiter, denn er hatte ja recht. Es war interessant. Es war mehr als interessant. Türen, Fenster, Treppen und Treppengeländer – damit hatten wir ja tagtäglich zu tun. Haptisch, praktisch, ästhetisch. So ein Treppengeländer konnte ein wirkliches Kunstwerk sein, da musste man gar nicht an die Renaissance- oder Barockarchitektur denken, das galt doch eigentlich immer. Warum also nicht Architektur studieren. Und sich entsprechende Schwerpunkte suchen. Architektur war Teamarbeit. Und Erik hatte seine Schwerpunkte offenbar schon gefunden.

Ich wusste, dass er in Berlin war, ich wusste, wo er wohnte, ich hätte ihn anrufen oder auch an seiner Tür klingeln können, unterließ all das aber, um nicht in mein Fan-Verhalten von früher zurückzufallen. Der Zufall würde mir helfen. Die zufällige Begegnung auf den langen Fluren der TU. Du auch hier? Und auch Architektur? Wollen wir uns mal treffen? Dazu aber kam es nicht. Kein Erik, nirgends. Nicht auf den Fluren, nicht in der Mensa, nicht in den Seminarräumen, nicht auf der Straße des 17. Juni, wo sich das Hauptgebäude der TU befand, und auch nicht in den Kneipen und Cafés in der Hardenbergstraße oder rund um den Savignyplatz.

Eriks Abwesenheit war nicht die einzige Enttäuschung, auch das Architekturstudium war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zu mathematisch, zu technisch, zu ingenieurshaft und letztlich auch, ich gestehe es, zu schwierig für meine doch eher geringe technische Begabung. Das hätte ich mir vorher denken können, dass ein Studium an einer Technischen Universität vor allem technische Fähigkeiten verlangte. Aber ich war ja verblendet gewesen. Wobei ich immer noch denke, dass ich es gemeinsam mit Erik geschafft hätte. Er hätte mir nicht nur bei irgendwelchen Seminaraufgaben helfen können, er hätte mir auch gezeigt, wie man ohne Verkrampfung solch ein Studium insgesamt absolvierte. Aber das waren Träume. Ich war realistisch genug, um mich zu besinnen und das Studienfach und damit zugleich auch die Universität zu wechseln, obgleich das nicht unbedingt nötig gewesen wäre, auch an der TU konnte man Romanistik beziehungsweise Komparatistik studieren. Die Techniker schmückten sich mit einer kleinen, aber feinen geisteswissenschaftlichen Abteilung. Was der Historie geschuldet war. Vor allem der des 20. Jahrhunderts. Pure Technik kann ins Verderben führen.

Doch wechselte ich lieber zur FU und belegte dort die Romanistik. Wenn schon, denn schon. Ich hatte nur zwei Semester verloren. Das war tolerabel. Und mit Französisch konnte ich Französischlehrer werden. Und vieles andere auch. Bis hin zum diplomatischen Dienst, falls ich solche Ambitionen entwickeln würde. Ich würde sehen. Erst einmal studieren. Mein Schulfranzösisch war gut, besser als mein Schulenglisch. Das Frankophone lag mir und Frankreich ohnehin. Französische Filme. Französische Musik. Paris! Nach Paris war ich schon als Schüler mehrmals gereist und immerhin zweimal in Südfrankreich gewesen – als Rucksacktourist. Ich kannte den Pont du Gard, Saintes-Maries-de-la-Mer, Avignon und auch Cannes, allerdings nicht während der Filmfestspiele, wo François Truffaut in den fünfziger Jahren einen Preis für Sie küßten und sie schlugen ihn bekommen hatte. Vor meiner Zeit als Filmliebhaber, das wusste ich aus den Cahiers du Cinéma.

Dass ich Erik, der ebenfalls ein Filmliebhaber war, dann in Berlin zum ersten Mal wiedersah, als er sich vor dem Filmkunst 66 in der Bleibtreustraße die Plakate anschaute, auf denen ein Film von Claude Chabrol und mit Jean-Louis Trintignant angekündigt wurde, passte sozusagen ins Programm. Ins Französisch-Programm: Die neueren französischen Filme durfte meines Erachtens kein damaliger Romanistikstudent verpassen – und ein Mensch wie Erik ohnehin nicht. Er hätte schließlich selbst in einem dieser Filme mitspielen können, in denen viel geraucht, viel geliebt und viel durch Pariser Straßen gegangen wurde. Mal tagsüber und vorzugsweise im Regen, mal bei Nacht und gelegentlich auch im Morgengrauen – aber immer mit einer jungen und überwältigend schönen Frau im Arm. Wobei sich der Schauplatz auch gern einmal nach Saint-Tropez verlagern durfte.

Der Begegnung vor dem Kino bin ich insofern ausgewichen, als ich Erik nicht angesprochen habe. Aus einer Hemmung heraus. Und weil mein Puls sich beschleunigte und ich gleichsam innerlich errötete und befürchten musste, es auch äußerlich zu tun, wenn ich ihn ansprach. Mich überfiel auf der Bleibtreustraße eine Scheu, als wäre Erik Jean-Louis Trintignant persönlich gewesen. Den Schauspieler hätte ich ja auch nicht angesprochen, wenn ich ihn vor einem Kino-Schaukasten entdeckt hätte, sondern wäre klopfenden Herzens an ihm vorbeigegangen. Diese Scheu musste ich unbedingt wieder ablegen. Das war nicht akzeptabel. Ich war doch kein in einen Filmschauspieler verliebter Teenager. Ich war Student. Erik war Student. Beide waren wir auf die gleiche Schule gegangen. Das war doch schon alles, da musste man doch keine Scheu haben. Ich würde ihn anrufen. Seine Nummer hatte ich ja. Gleich morgen. Womöglich hatte er Lust, mit mir ins Kino zu gehen. Oder lieber doch nicht. Im Kino konnte man sich nicht unterhalten. Da konnte man höchstens Händchen halten. Aber das war es nicht, was ich wollte. Zumindest nicht mit Erik.

Ein paar Tage später habe ich ihn dann angerufen. Ganz gelassen und locker oder wenigstens so, wie ich mir ein ganz gelassenes Anrufen vorstellte. Was auch funktionierte. Mit einem verkrampften ehemaligen Schulkameraden hätte Erik sich gewiss nicht treffen wollen, mit dem entspannten Westberliner Romanistikstudenten, als der ich mich präsentierte, aber schon, und er schlug von sich aus ein Treffen in einem Café gleich in seiner Nähe vor: Kudamm, Ecke Leibnizstraße.

Zu meiner Überraschung kam er in Arbeitskleidung. Nicht im schlichten Blaumann, sondern in heller, cremefarbener Arbeitsjacke und Arbeitshose und mit schweren, mit Schutzkappen versehenen Schuhen an den Füßen. Aber auch diese Kleidung stand ihm gut, wirkte beinahe ein wenig modisch. Außerdem schien er bester Laune, hatte nichts von einem doch offenbar hart und diszipliniert arbeitenden Menschen an sich, so dass sich der Eindruck, dass er die Arbeitskleidung nur aus Stilgründen trug, noch verstärkte. Ein Arbeiter- beziehungsweise Techniker-Stil für die Freizeit. Falls es so etwas bisher noch nicht gab, dann hatte Erik es jetzt erfunden.

Was aber gar nicht stimmte. Noch ehe ich genauer nachfragen konnte, begann er auch schon, von sich und seiner Arbeit zu erzählen, und hatte gleich eine weitere Überraschung parat: Er machte eine Tischlerlehre! Tischler? Das hörte sich gar nicht gut an, zumindest in meinen Ohren. Tische, Stühle, Sägespäne. Und irgendwann geriet man mit der Hand in die Kreissäge. Welcher Tischler hatte noch alle seine zehn Finger? Aber ich sagte nichts dergleichen, verschwieg meinerseits meine zwei Semester Architektur und präsentierte mich als begeisterter, frankophiler Romanistikstudent. Dem nichts Besseres passieren konnte, als in Dahlem Französisch zu studieren. Französische Literatur, französische Filme, Aragon lesen, André Breton, Sartre, Camus, Der Fremde, Die Pest, Duras, Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Und nicht nur das. Foucault, Lacan, Derrida, Barthes und alle anderen rückten auch schon in mein Gesichtsfeld, auch wenn ich ihnen eher aus dem Weg ging. Ich war ja kein Hauptfachphilosoph. Und Derrida lesen, zumal im Original, das wollte ich mir für später aufheben. Erst einmal ging es um Spracherwerb und Französischdidaktik. Die wohlklingenden Namen von Sartre über Camus bis Barthes ließ ich natürlich trotzdem fallen, und von meinen angestrebten zukünftigen Frankreich- und vor allem Paris-Aufenthalten schwärmte ich auch. Vielleicht war ja sogar ein Gastsemester an der Sorbonne möglich, und wohnen würde ich in der Cité Internationale Universitaire im Heinrich-Heine-Haus. Die Cité Internationale Universitaire erwähnte ich gleich mehrmals, da war ich schließlich schon einmal gewesen, zumindest auf dem Gelände. Mir gefiel das Wort »Universitaire«. Wenn man es richtig aussprach, dorso-uvular, wie die Phonetiker sagen, klang es enorm französisch. Und ich sprach es richtig aus, daran hatte ich keinen Zweifel.

Erik hörte sich alles an, gelassen und freundlich interessiert, auch mein wiederholtes »Universitaire«, bis er mich schließlich fragte: »Französisch? Auf Lehramt? Und dann zurück in die Schule?« Ich sagte erst einmal nichts. Hatte er nicht zugehört? Sartre, Camus, Duras, de Beauvoir, Barthes, Lacan, Derrida. Reichte das nicht? Die Regisseure hatte ich ganz vergessen. Jean Renoir, Godard, Die Sammlerin fiel mir ein. Wer hatte den noch gleich gedreht? Alles intellektuelle Oberklasse. Der Name wollte mir nicht einfallen. Ich wollte aber, dass er mir einfiel. Ich sagte noch immer nichts. Und was hieß hier: »Auf Lehramt? Und dann zurück in die Schule?« Als wenn ich rückwärts studieren würde. Mit Bauchlandung in einem norddeutschen Provinzgymnasium als krönendem Abschluss? Dabei hatte ich doch die französische Fachdidaktik gar nicht erwähnt. Und den Fremdsprachenerwerb auch nicht. Das hätte ich ja noch verstanden, wenn ich von der Fremdsprachendidaktik erzählt hätte oder von den Schulpraktika, die irgendwann anstanden. Aber nichts davon, keine einzige Silbe. Ich sollte das Thema wechseln. Da saß mir Erik in Tischlermontur gegenüber, und ich musste mich dafür rechtfertigen, dass ich Französisch studierte? Mit Französisch konnte ich auch in den diplomatischen Dienst gehen. Oder sonst was werden. Und überhaupt. Hatte er etwas gegen den Lehrerberuf? Offenbar ja. Er hatte nicht nur etwas gegen Lehrerinnen, sondern auch gegen den Lehrerberuf als solchen. Und keinen Zweifel daran, dass das meine Zukunft war. Ich war mir dessen nicht so sicher. Aus mir konnte noch alles Mögliche werden. Nur kein Architekt. Leider nicht.

Wie schaffte es Erik nur, dass ich mich unterlegen fühlte, obwohl er mir als Tischlerlehrling gegenübersaß? Denn was anderes war er ja nicht. Aber er wirkte eben so, wie er schon immer gewirkt hatte. Egal, was er gerade tat. Und insofern konnte ich ihn auch nicht aus der Fassung bringen, als ich das Thema wechselte und ihn fragte, ob er sich eines Tages als Tischler selbständig machen oder etwa in einer Möbelfabrik arbeiten wolle. Das war boshaft gemeint, störte ihn aber nicht weiter. Er blieb freundlich und aufmerksam, und offenbar war auch seine Frage nach meiner möglichen Lehrerzukunft ohne jeden negativen Hintersinn. Es war ihm wahrscheinlich egal, auf freundliche Weise gleichgültig, ob ich Lehrer in Holzminden oder Uelzen wurde oder Professor für französische Literatur an der Sorbonne. An Letzteres dachte ich allerdings nicht mal im Traum, doch auch Ersteres erschien mir unwahrscheinlich.

Meine Frage nach der Möbelfabrik hatte ihn auch deshalb nicht gestört, weil er darauf eine Antwort parat hatte, die mich in gewisser Weise ein weiteres Mal schachmatt setzte. Er lernte nicht Tischler, um Tischler zu werden, sondern um nach Abschluss der Lehre an der TU Berlin Architektur zu studieren. Die Tischlerlehre wurde ihm angerechnet, es gab dafür irgendwelche Gratifikationen und Studienvorteile. Also doch Architektur. »Und warum Tischler und nicht Maurer?«, fragte ich ihn zurück. »Filmarchitektur«, antwortete er nur und schaute dabei im Café herum auf der Suche nach der Bedienung. Wollte er schon gehen? Wir waren gerade mal eine halbe Stunde hier. Er hatte anscheinend Besseres zu tun, als mit mir im Café herumzusitzen. Der Tischlerlehrling hatte Besseres zu tun. Der Tischlerlehrling wurde unruhig.

Vielleicht machte ihn die Bedienung unruhig, die auch mir sofort aufgefallen war. Das war garantiert keine hauptberufliche Kellnerin. Wohl eher eine Studentin, die nicht nur gut aussah, lockig wild, sondern uns mit der gleichen Unaufmerksamkeit bediente, wie Erik mir gerade zuhörte. Film-Architektur. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, dass man als Architekt auch zum Film gehen konnte. Das musste so etwas wie eine Kombination aus Außen- und Innenarchitektur sein. Filmarchitekten bauten ja auch Häuser. Aber gegebenenfalls im Studio. Aus Holz. Oder Pappe. Wer weiß. Ich hätte mich während meiner beiden TU-Semester wohl doch mehr anstrengen sollen. Filmarchitekt – das war die Lösung! Eriks Lösung. Hobelbank und Glamour. Sägespäne und Glanz. Die perfekte Synthese aus Handwerk, Kunst und einem aufregenden Arbeitsplatz. Jetzt fiel mir auch der Name des Regisseurs wieder ein. Éric Rohmer. Offenbar konnte es für mein Gedächtnis nur einen Erik geben. Der es wieder einmal geschafft hatte, mir zu zeigen, wie man richtig lebte. Ich beschloss, nicht neidisch und missgünstig zu sein, sondern mir ein weiteres Mal an Eriks Lebensführung ein Beispiel zu nehmen. Auch wenn ich nicht wusste, wie ich das Modell »Erst Tischler, dann Filmarchitekt« auf meine eigene Situation übertragen sollte.