Grunewaldsee - Hans-Ulrich Treichel - E-Book

Grunewaldsee E-Book

Hans-Ulrich Treichel

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Paul liebt Berlin, vor allem Westberlin, sofern man Westberlin lieben kann, wenn man in einer dunklen Hinterhofwohnung in Kreuzberg lebt. Und er liebt Maria, die Spanierin mit den graugrünen Augen und der Motorradjacke. Die beiden lernen sich in Málaga kennen, wo er als Sprachlehrer jobbt, während er auf eine Referendariatsstelle wartet. Maria, die angehende Ärztin, wird für ihn zur Liebe seines Lebens, und doch muß er sie bald verlassen: Sie ist verheiratet und erwartet ein Kind. Aber bei seinem Abschied aus Spanien ruft sie ihm nach: »Permanecemos juntos!« - »Wir bleiben zusammen!« Marias Versprechen soll kein leeres bleiben: Sie sehen sich wieder, in Deutschland. Von der Lobby des Münchner Hotels Vier Jahreszeiten aus brechen sie auf zu einer Reise, die freilich nur einen halben Tag dauert ... Auf einem olivenbestandenen Grundstück hoch über dem Meer in Südspanien und an den mit Hunde-Urin verseuchten Stränden rund um den Grunewaldsee verwickelt Bestsellerautor Hans-Ulrich Treichel seinen Helden in eine Liebesgeschichte, wie sie nur dieser Meister der heiteren Melancholie und des lakonischen Spotts erzählen kann: voller Abstürze und in höchstem Maß vergnüglich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 287

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans-Ulrich Treichel

Grunewaldsee

Roman

Suhrkamp

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.suhrkamp.de

Erste Auflage 2010

eISBN 978-3-518-74100-9

I

Bei ihrer ersten Begegnung waren sie beide Mitte Zwanzig und lebten zwar in der gleichen südlichen Hafenstadt, aber in vollkommen unterschiedlichen Welten. Sie hatte alles, was zu einem sorgenfreien Leben gehört. So empfand er es zumindest. Sie war mit einem erfolgreichen Mann verheiratet, der in Málaga als leitender Beamter in der Regionalverwaltung arbeitete. Sie besaß eine großzügige Eigentumswohnung in der Nähe der Strandpromenade, die ihre Eltern ihr vorausschauend zu einer Zeit gekauft hatten, als sie noch ein Kind war, und die sie seit ihrer Hochzeit mit ihrem Mann bewohnte. Darüber hinaus würde sie irgendwann ein auf den olivenbestandenen Hügeln außerhalb der Stadt gelegenes Grundstück mit Meerblick erben, das den Eltern gehörte. Mit einem Grundstück in solch einer Lage würde sie mehr als ausgesorgt haben, auch wenn María ihm versichert hatte, daß ihr das Grundstück heilig sei und sie es nie verkaufen würde.

Das Grundstück war bereits über mehrere Generationen in Familienbesitz und lange schon als Bauland ausgewiesen. Früher war es nur ein einfaches Stück Land gewesen, auf dem ihre Großeltern väterlicherseits Gemüse und Obst für den Eigenbedarf angebaut hatten und das von ihren Eltern auf die gleiche Weise genutzt wurde. Vor Jahren hatte ihr Vater dort sogar einmal ein paar Ziegen gehalten, was ihm aber irgendwann zuviel geworden war, denn es bedeutete, jeden Tag das Grundstück aufzusuchen, sich um Wasser, Futter und Stroh für den Stall zu kümmern, den Zaun in Ordnung zu halten und sich um Klauenpflege, Parasitenbehandlung und anderes mehr zu kümmern. María hatte Paul einmal ausführlich über die Vor- und Nachteile der Ziegenhaltung aufgeklärt. Sie kannte sich überraschend gut damit aus, dabei war sie nicht gerade der ländliche Typ, auch wenn sie aus Südspanien stammte. Sie war nicht dunkel- oder gar schwarzhaarig, sondern blond, allerdings in einem dunklen, honigfarbenen Ton, was in Andalusien gar nicht so selten vorkam und möglicherweise ein Erbe der Wikinger oder Normannen war. Paul beneidete María und die Familie um das Grundstück. Nicht so sehr wegen des Geldes, das man mit ihm gegebenenfalls erzielen konnte, sondern wegen der Sicherheit, die sein Besitz vermittelte. Wer Bauland, dazu noch mit Meerblick, in dieser Region besaß, der brauchte sich zumindest in finanzieller Hinsicht um nichts mehr Sorgen zu machen und würde für immer von Existenzängsten verschont bleiben.

Existenzängste hatte es in Pauls Familie immer gegeben, was auch damit zusammenhing, daß sein Vater einer einfachen Handwerkerfamilie entstammte. Der Großvater war Tischler gewesen, sein Vater hatte nach der Schule ebenfalls eine Tischlerlehre absolviert und sich unter größten Anstrengungen und in Abendkursen zum technischen Zeichner weitergebildet. Seine Mutter dagegen hatte noch nicht mal eine vernünftige Berufsausbildung, sondern bis zur Heirat und Familiengründung als ungelernte Kraft in einem Textilgeschäft gearbeitet. Zwar hatten sie es zu einem eigenen Haus im Braunschweiger Ortsteil Gliesmarode gebracht, waren aber viele Jahre mit dem Abzahlen der Kredite beschäftigt. Seine Eltern waren stolz auf ihr Haus, aber so sehr von den jahrelangen Schulden geprägt, daß sie sich auch dann nur wenig leisteten, als das Haus schon längst abbezahlt war. Wenn überhaupt, investierten sie in das Haus. Damit es immer anständig aussah. Der Gartenzaun, die Fassade, die Terrasse, die Fenster und das Dach – alles wurde beständig in einem perfekt renovierten Zustand gehalten, und sobald sich irgendwo kleine Schäden oder Spuren von Verwitterung zeigten, bestellte der Vater die Handwerker, falls er sich nicht selbst um die Reparaturen kümmerte. Seine Eltern wollten keinesfalls unangenehm auffallen, was allerdings mit den Jahren immer schwieriger wurde, da die ehemals bescheidene Wohngegend zusehends mit größeren Häusern von weitaus wohlhabenderen Besitzern bebaut wurde, als sie es waren. Die Siedlung für Arbeiter und kleine Angestellte verwandelte sich mit den Jahren in eine Siedlung für Bessergestellte, und das Häuschen seiner Eltern strahlte trotz der regelmäßigen Renovierungen eine zunehmende Ärmlichkeit aus, was die Mutter mehr als den Vater beschämte. Dem Vater genügte das Haus. Er war überhaupt ein genügsamer Mensch, ein wenig zu korrekt und pedantisch vielleicht, aber im Grunde gutartig und warmherzig.

Paul konnte sich über seine Eltern nicht beklagen. Sie hatten alles für ihren Sohn getan und auch sein Studium unterstützt. Daß er studierte und Akademiker wurde, war ihr größter Wunsch. Für Paul dagegen war das Studium der einzige Ausweg, da er handwerklich unbegabt war. Ihm schien es viel schwieriger, eine Tischlerlehre oder eine Ausbildung zum technischen Zeichner zu absolvieren, als beispielsweise Geschichte zu studieren. Die Tischlerei war eine hohe Kunst, das Anfertigen von Bau- oder Konstruktionszeichnungen ebenfalls, der Besuch von Seminaren und das Lesen und Referieren von Büchern fiel ihm dagegen nicht allzu schwer. Genausowenig wie das Schreiben von Referaten. Im Grunde mußte man ja gar nicht selbst denken als Student. Man mußte nur das bereits Gedachte halbwegs verstehen, speichern und gegebenenfalls wieder von sich geben. Das genügte. Irgendwo hatte er einmal gelesen, daß es zwei Sorten von Gelehrten gebe: zum einen die wahrhaften Denker und zum anderen die Denker von Gedachtem. Er zählte die meisten seiner Kommilitonen und auch viele Dozenten, die er während des Studiums kennengelernt hatte, zu letzteren. Und sich selbst natürlich auch. Er war ein Denker von Gedachtem und würde damit sicher keine glänzende akademische Laufbahn machen, aber die Prüfungen in Geschichte und Sozialkunde konnte man damit bestehen, und selbst der Doktortitel war nicht ausgeschlossen. Allenfalls Fremdsprachen empfand er als eine Herausforderung, denn er hatte sich nie für sonderlich sprachbegabt gehalten – und gerade deshalb und gleichsam aus Trotz während des Studiums beschlossen, neben Geschichte und Sozialkunde auch noch Spanisch zu studieren. Die spanische Sprache war ihm schließlich leichter gefallen, als er vermutet hatte. Und dies vielleicht allein deshalb, weil er Spanisch beziehungsweise Hispanistik nur nebenbei betrieb. Es kam nicht darauf an, wie gut oder schlecht er Spanisch sprach, und weil es nicht darauf ankam, entwickelte er eine ungehemmte Lernfreude, ging so oft wie möglich ins Sprachlabor, kaufte sich die entsprechenden Lehr- und Wörterbücher, darunter den zweibändigen Diccionario del uso del español und den Diccionario de la lengua española de la Real Academia Española, und war geradezu euphorisch, als er zum ersten Mal einen spanischen Text, und zwar einen mehrseitigen Auszug aus Juan Rulfos Pedro Páramo, lesen konnte, ohne ein einziges Mal im Wörterbuch nachschlagen zu müssen.

Die steinschweren Wörterbücher gehörten zu den Büchern aus seiner Studienzeit, von denen er sich wohl niemals trennen würde. Vieles andere war nicht nur dem Zeitgeist oder den verschiedenen Umzügen zum Opfer gefallen, sondern auch seiner Aufräum- und Wegwerfwut, die ihn des öfteren überkam. Er ertrug es nicht, wenn die Wohnung sich mit Dingen füllte. Wozu auch Bücher, Zeitschriften, Broschüren und Zeitungen gehörten, die für einen Studenten der Geschichte unerläßlich waren. Er hatte Kommilitonen, die lebten in ihren Wohnungen oder Wohngemeinschaftszimmern auf eine Weise, wie man sich das bei alten Gelehrten vorstellte. Die waren im vierten Semester und hatten Zimmer, die mit Büchern, Broschüren und Papieren vollgestopft waren. Paul hatte das eine Zeitlang enorm beeindruckt, diese bis unter die Decke reichenden Bücherregale und die Bücher- und Zeitschriftenstapel neben Schreibtisch und Bett. Hier waren geistige Existenzen zu Hause, hatte er immer gedacht, bis er irgendwann feststellen mußte, daß es sich dabei oft genug nur um Menschen handelte, die ihren Sammeltrieb nicht bändigen und keine Ordnung halten konnten und beileibe nicht alles, was sie um sich herum an geistigen Schätzen anhäuften, gelesen oder gar durchdacht hatten. Ein mit Büchern vollgestopftes Haus garantierte noch längst keine geistige Existenz. Im Gegenteil: Der Historiker Gerber, einer der Professoren, die Paul am meisten geschätzt hatte und noch immer schätzte, war seiner Meinung nach kein Denker von Gedachtem, sondern ein wirklicher Denker. Gerber lebte ohne viele Bücher um sich herum. Und dies trotz seiner Forschungstätigkeit und den zahlreichen Publikationen vor allem zur preußischen Geschichte einschließlich einer Monographie über den Großen Kurfürsten, die als Standardwerk galt. Aber auch zur Kultur- und Kunstgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts hatte Gerber publiziert, und hier wiederum speziell zu Karl Friedrich Schinkel und zum preußischen Klassizismus.

Paul hatte einmal ein Schinkel-Seminar bei Gerber besucht, das mit einer Exkursion auf die Berliner Pfaueninsel abschloß, für die Schinkel unter anderem das Palmenhaus entworfen hatte. Gerber hatte in der Sitzung zuvor zwei Gemälde des Malers Carl Blechen gezeigt, die das Innere des Palmenhauses darstellten. Paul waren die Bilder bekannt gewesen, was aber weniger seiner ohnehin nur fragmentarischen kunsthistorischen Bildung, sondern einem Zufall zu verdanken war. Paul hatte sich während des Studiums um eine Kommilitonin namens Birgit bemüht und sie, nachdem sie schon einige Male in die Cafeteria gegangen waren und sich dort vor allem über Studienangelegenheiten unterhalten hatten, zu einem Spaziergang auf die Pfaueninsel eingeladen. Birgit hatte die Einladung mit einem freundlichen Lächeln abgelehnt und ihm statt dessen einen Spaziergang um den Grunewaldsee vorgeschlagen. Paul stimmte dann nur noch aus Höflichkeit zu, denn er wußte, daß ein Spaziergang um den Grunewaldsee allenfalls so etwas wie ein Arbeitsspaziergang werden würde, da hätten sie sich genausogut ein weiteres Mal in der Cafeteria verabreden können. Ein Spaziergang auf der Pfaueninsel dagegen war ein Fest – wie immer dieses Fest auch ausgehen mochte.

Nach einem Fest war Birgit offenbar nicht zumute, zumindest nicht mit ihm, obwohl sie zu dem Spaziergang um den Grunewaldsee in kunstvoll zerfetzten Jeans erschien, die an einigen Stellen nackte Haut durchschimmern ließen, was auf irritierende Weise mit ihrem brünetten Lockenkopf und der runden, musterschülerhaften Nickelbrille kontrastierte. Mit anderen Worten: Paul war hingerissen von Birgit, und er hätte sie während des Spaziergangs gern geküßt. Er hätte sie nicht nur gern geküßt, er hätte ihr in gewissem Sinne auch gern die Jeans zerfetzt, wenn sie nicht schon zerfetzt gewesen wären. Birgit aber war für solche Vergnügungen wohl nicht zu haben. Sie hatte irgendwann, als sie auf der Höhe des kleinen Strandes waren, der als Nacktbadestrand unter dem Namen Bullenwinkel eine gewisse Berühmtheit erlangen sollte, damit begonnen, ihm von ihrer derzeitigen Beschäftigung mit dem Maler Carl Blechen zu erzählen. Sie studierte Kunstpädagogik, wollte Kunsterzieherin werden und war besonders an Carl Blechen interessiert, von dem Paul bisher nicht viel mehr als den Namen gehört hatte. Blechen hatte zwei Innenansichten des Palmenhauses auf der Pfaueninsel gemalt, und Birgit wurde nicht müde, Paul davon zu erzählen. Die Bilder waren zwischen 1832 und 1834 entstanden und stellten das Palmenhaus auf eine Weise dar, als handele es sich um einen orientalischen Palast: reichverzierte Loggien und Säulen, üppige Palmen, auf einem Teppich hingelagerte Odalisken. Und das alles auf einer Havelinsel. Je ausführlicher Birgit erzählte, um so mehr bedauerte Paul, daß sie sich nicht auf einen Spaziergang auf der Pfaueninsel eingelassen hatte. Er bedauerte es nicht nur, es kränkte ihn auch.

Für ihn war der Grunewaldsee offenbar gut genug, obwohl der für viele Berliner ja nichts anderes als ein Hundeauslaufgebiet war. Wer in Zehlendorf, Steglitz oder Dahlem einen Hund hatte, der ging mit ihm um den Grunewaldsee. Und man brauchte keine allzu empfindliche Nase zu haben, um den Uringeruch zu bemerken, der besonders im Sommer und an heißen Tagen rings um den See in der Luft hing. Paul störte das freilich nicht sonderlich, er ging immer gern in den Grunewald und um den Grunewaldsee. Im Gegenteil: Er hätte selbst gern einen Hund gehabt, beneidete die Berliner Hundebesitzer um ihre Hunde und nutzte die Spaziergänge um den Grunewaldsee so oft wie möglich dazu, einem Hund das Fell zu kraulen. Fremdstreicheln nannte er das für sich. Manche Hundebesitzer duldeten das, andere reagierten unfreundlich oder gar eifersüchtig und riefen ihre Tiere sofort zurück. Dann blieb Paul nur übrig, den Tieren das Fell zu kraulen, wenn ihre Besitzer nicht in Sicht oder gerade unaufmerksam waren. Und manchmal konnte er am Hundestrand, der dem Bullenwinkel direkt gegenüberlag, für ein paar Minuten einen der Hunde sogar in ein Apportierspiel verwickeln, ehe die Besitzer merkten, daß jemand mit ihrem Hund Herrchen spielte.

Diesmal aber war er selbst möglicherweise der Hund, der wiederum von Birgit um den See geführt wurde. Vielleicht spielte Birgit gerade Herrchen mit ihm und führte ihn mit Hilfe von Blechens Innenansichten des Palmenhauses an der Nase herum. Warum sonst hatte sie sich die zerfetzten Jeans angezogen? Durch die nicht nur an den Knien und Oberschenkeln ihre nackte Haut hindurchschimmerte, sondern auch an einigen Stellen, die von einem Slip bedeckt hätten sein müssen. Aber er sah keinen Slip. Oder war dieser ebenfalls zerfetzt? Vielleicht kombinierten modebewußte junge Frauen zerfetzte Jeans mit zerfetzten Slips. Das hätte er gern genauer gewußt. Er hätte sich und Birgit gern in den schmutzigen und nach Hundeurin riechenden Grunewaldsand geworfen und ihre Kleidersitten erkundet. Wenn er ehrlich war. Aber er war lieber nicht ehrlich. Statt dessen hörte er sich gelehrte Ausführungen über Blechens Innenansichten des Palmenhauses an und tat so, als gäbe es für ihn nichts Schöneres und Befriedigenderes als solch ein Gespräch. Er tat so, weil sie so tat. Beziehungsweise wohl wirklich so empfand. Er hatte selten einen Menschen so beseelt von einer Sache erzählen hören wie Birgit von Blechens Innenansichten, wobei es insgesamt nicht nur zwei Bilder gab, sondern sogar vier. Es existierten zwei Vorstudien und zwei spätere Fassungen, die sich nicht zuletzt durch die Art der Palmendarstellung unterschieden, wobei sie besonders von einem der Bilder fasziniert schien, auf dem im Vordergrund eine mächtige Palme zu sehen war, auf deren Stamm sich eine üppige und zum Teil farbig blühende Vegetation ausbreitete.

Je mehr der Spaziergang sich seinem Ende näherte, desto größer wurde Birgits Erzählfreude. Natürlich hatte Paul den Verdacht, daß Birgit deshalb so begeistert erzählte, weil sie immer sicherer sein konnte, den Spaziergang ohne einen Annäherungsversuch von Seiten Pauls zu überstehen. Paul hatte in der Tat bisher kein einziges Mal versucht, sie zu berühren, und er würde es auch nicht mehr versuchen. Er würde sie zur Bushaltestelle bringen, sie mit Handschlag verabschieden und dann weiter zu Fuß zum nächsten U-Bahnhof gehen, um in seine Kreuzberger Wohnung zu fahren. Und bis er sie verabschiedete, würde sie ihm weiter von Blechen erzählen, um nur ja keine Peinlichkeit oder irgendeine Art von Abschiedsintimität aufkommen zu lassen. Wenn sie schließlich mit dem Bus Richtung Schöneberg davonrollte, würde er aus dem Stand heraus eine Magisterarbeit über Blechens Innenansichten des Palmenhauses schreiben können, so gut fühlte er sich informiert. Einzige Quelle: Birgits Erzählungen. Ansonsten hatte er schon während des Spaziergangs die übliche Enttäuschung gespürt, die er nach solchen sogenannten freundschaftlichen Spaziergängen mit Frauen immer gespürt hatte. Zumal dann, wenn er mehr als nur Freundschaft wollte. Wobei er meistens mehr als nur Freundschaft wollte. Er gab zu, daß er in dieser Hinsicht ziemlich simpel gestrickt war und ihn auch ein Feminismusstudium oder die Lektüre sämtlicher Bücher von Simone de Beauvoir nicht dazu gebracht hätten, anders zu fühlen, als er fühlte. Das war wahrscheinlich angeboren, und es fiel ihm trotz gegenteiliger Erfahrungen noch immer schwer, es einigen seiner männlichen Bekannten abzunehmen, daß sie nicht genauso waren wie er, auch wenn diese nicht müde wurden, von ihren rein intellektuellen Frauenfreundschaften zu schwärmen. Daß er sich nun auf dem Weg zur Bushaltestelle vornahm, Birgit für immer zu vergessen, war sozusagen auch angeboren. Und darum war er auch mehr als überrascht, als sie ihn beim Abschied umarmte, ihm einen Kuß auf den Mund drückte und anschließend sagte: »Das sollten wir wiederholen.« Der Kuß erschütterte sofort seinen Vorsatz, sich auf Nimmerwiedersehen von Birgit zu verabschieden. Am liebsten hätte er sie schon am nächsten Tag angerufen, aber er war sich nicht sicher, ob er ihr »Das sollten wir wiederholen« überhaupt richtig verstanden hatte. Meinte sie den Kuß – oder nur den Spaziergang? Oder beides zusammen? Wie auch immer. Offenbar hatte ihr die Tatsache gefallen, endlich einmal einen Mann getroffen zu haben, der nicht gleich mit ihr ins Bett wollte. Der ihr nicht auf die zerrissenen Jeans starrte und die nackte Haut, die durch die Hose hindurchschimmerte. Vielleicht war er der erste Mann ihres Lebens, mit dem sie beinahe zwei Stunden über nichts anderes als über Blechen sprechen konnte, ohne daß er irgendwelche Annäherungsversuche machte. Das hatte sie für ihn eingenommen. Daß er so zurückhaltend war. Und einige kluge Bemerkungen über die Berliner Architekturgeschichte und speziell über Schinkel hatte er auch gemacht. Sie wußte ja nicht, daß er sie am liebsten in die Grunewaldbüsche gezerrt hätte und daß die Kombination aus Mädchenlocken, Nickelbrille und zerrissenen Jeans Phantasien in ihm hervorgerufen hatte, die auch noch dem schmuddeligsten Bahnhofskino Ehre gemacht hätten. Und zum Dank dafür war er von Birgit mit einem Kuß und dem Wunsch nach einem weiteren Treffen verabschiedet worden – weil er so zurückhaltend und kultiviert gewesen war.

Er blieb auch bei ihrem nächsten und allen weiteren Treffen zurückhaltend und kultiviert. Das war er seiner Mannesehre sozusagen schuldig. Sie gingen ins Museum, ins Kino, ins Theater und auch weiterhin gelegentlich um den Grunewaldsee, und am Ende verabschiedeten sie sich jedesmal mit einem Kuß und einer Umarmung. Bis sie ihn eines Tages zum Abendessen in ihre Schöneberger Wohnung einlud und ihn nach dem Essen ohne alle Umstände fragte, ob er bei ihr bleiben und mit ihr schlafen wolle. Natürlich wollte er. Wenn auch nicht mehr mit ganz so brennender Begierde wie am Anfang und auch nicht unbedingt auf staubigem und nach Hundeurin riechendem Grunewaldboden. Allerdings stellte sich heraus, daß der Sex mit Birgit ganz ähnlich war wie ihr Spaziergang um den Grunewaldsee. Eine nicht zu schnelle und nicht zu langsame körperliche Betätigung. Ein gepflegter Dialog. So daß niemand außer Atem kam. Und keiner zu sehr dabei schwitzte. Und niemand benachteiligt wurde. Weder was die Erregung noch was die Befriedigung anging. Vollkommen ausgewogen. Erotisch und menschlich wertvoll. Und ohne Meinungsverschiedenheiten über die einmal eingeschlagene Richtung. Das war das Schöne an Spaziergängen um den Grunewaldsee. An Rundwegen überhaupt. Hatte man sich einmal für eine Richtung entschieden, ging es immer nur geradeaus. Der Sex mit Birgit war ein Rundweg, bei dem es ebenfalls immer nur geradeaus ging. Eine durch und durch harmonische und zielgerichtete Angelegenheit, die einer von beiden gern mit dem Satz »Es war schön« kommentierte, wenn sie sich danach maßvoll erschöpft auf dem Bett ausstreckten. Und der sie sich darum auch immer öfter widmeten, bis sie unversehens zu einem Paar dabei wurden.

Kaum verwunderlich, daß der Rundweg irgendwann zu einer Sackgasse wurde und daß sie sich auf ebenso kultivierte Weise, wie sie zueinandergefunden hatten, auch wieder voneinander trennten. Zwar dachte jeder für sich, daß der andere schuld sei an der Trennung, aber keiner machte dem anderen Vorwürfe. Was hätte Paul Birgit auch vorwerfen sollen? Daß ihre zerrissenen Jeans nur ein leeres Versprechen gewesen waren? Daß sie keine kunstvoll zerrissenen Slips darunter trug, sondern ganz normale Tangas, wie er nach ihrem ersten Schöneberger Abendessen herausfand? Daß sie gar nicht wünschte, daß er ihr die Kleider vom Leib riß und sie in die Büsche zerrte? Einmal hatte er es sogar versucht, das In-die-Büsche-Zerren. Zumindest ansatzweise. Bei dem einzigen gemeinsamen Spaziergang über die Pfaueninsel, den sie dann doch noch machten. Es war an einem warmen Oktobertag, die Insel war fast leer, als er sie zum Sex im Freien überreden wollte. Im hohen Gras ganz in der Nähe des Schlosses und mit Blick auf die Zonengrenze und das östliche Havelufer. Ein paar hundert Meter weiter stand die ins Wasser ragende Sacrower Heilandskirche, deren Arkaden-Architektur einen glauben machen konnte, man würde sich nicht an der Havel, sondern am Ufer des Tiber befinden. Es fehlten nur noch die Pinien und Zypressen. Sonniges Oktoberwetter mit beinahe südlichen Temperaturen hatten sie ja bereits, und die überraschende Herbstwärme trug vielleicht mit dazu bei, daß Birgit sich ohne viele Widerstände mit Paul ins Gras legte und sich die Bluse aufknöpfen ließ. Und sie hatte auch nichts dagegen, ihren Büstenhalter auszuziehen, ihre weißen Brüste von der Oktobersonne bescheinen und sich von seinen Händen und Lippen verwöhnen zu lassen. Die Hose aufknöpfen ließ sie sich allerdings nicht. »Pubertär«, sagte sie nur, als sie seine Hand wegschob, die sich an ihrer Gürtelschnalle zu schaffen machte. Paul erwiderte: »Na und, Hauptsache, es macht Spaß«, worauf Birgit sagte, daß es ihr ganz und gar keinen Spaß mache, im Freien und möglicherweise auch noch unter den Augen der Grenzer, die in ihren Booten hockten und mit Ferngläsern gen Westen und Richtung Pfaueninsel schauten, Sex zu haben. »Da müßten die Grenzer schon auf der Silberpappel über uns sitzen, um uns zu beobachten«, sagte Paul, worauf Birgit nur erwiderte, daß der Baum garantiert keine Silberpappel sei. Zugleich versuchte sie ein weiteres Mal, seine Hand von der Gürtelschnalle zu schieben, aber Paul verhakte seine Finger in Birgits Hosenbund und sagte: »Mal sehen, wer stärker ist.«

Er hätte jetzt gern ein kleines Vergewaltigungsspiel gespielt. Das machten Liebespaare doch manchmal, auch wenn sie beide es noch nie gemacht hatten. Birgit hatte sich bisher immer freiwillig ausgezogen – aber eben niemals unter freiem Himmel. Um das Spiel ein wenig voranzutreiben, verstärkte er erst den Griff seiner Hand, löste dann die unter dem Gürtel verhakten Finger, schob die ganze Hand in ihre Hose bis zum Ansatz ihrer Scham und beugte sich zugleich über ihre noch immer entblößten Brüste. Jetzt war die Pubertät sozusagen perfekt. Aber Spaß machte es trotzdem. Oder gerade deshalb. Und hoffentlich nicht nur ihm. Dann schloß er die Augen, um sich ganz auf ihre Brüste zu konzentrieren, und hörte, noch bevor seine Lippen sie berührten, ein leises und kindliches Schluchzen. Birgit weinte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie ihn gekratzt, gekniffen oder gebissen hätte. Begleitet von den bösesten Beschimpfungen, die ihr zur Verfügung standen. Das traute er ihr durchaus zu. Mit Tränen hatte er nicht gerechnet, und mit der Wehrlosigkeit, mit der sie jetzt halb unter ihm lag, auch nicht. Sie rührte sich nicht. Er hätte ihr jetzt in aller Ruhe den Gürtel öffnen und die Hose ausziehen können. Er hätte alles mit ihr machen können. Sie schien vollkommen wehrlos – und Paul schämte sich plötzlich dafür, daß er noch immer seine Hand in ihrer Hose hatte und sie hier mit entblößten Brüsten im Gras der Pfaueninsel lag. Er setzte sich auf, sagte »Tut mir leid« und ärgerte sich im gleichen Moment darüber, daß sie ihn beschämte und er sich entschuldigte. Er war schließlich kein Vergewaltiger. Er hatte nur ein wenig herumgespielt. Mit ihr zusammen. Sie hatten Dutzende Male miteinander geschlafen. In allen Varianten, deren sich zwei moderne und aufgeklärte Menschen bedienen durften. Und es war sozusagen immer schön gewesen. Da muß es doch wohl erlaubt sein, unter einer noch immer wärmenden Oktobersonne im ungemähten Gras der Pfaueninsel seiner Liebsten die Bluse aufzuknöpfen und seine Hand in ihre Hose zu schieben. Mehr war schließlich nicht geschehen.

Anscheinend war doch mehr geschehen. Denn danach war es für sie beide nicht mehr schön gewesen, miteinander zu schlafen. Obwohl er natürlich niemals wieder versucht hatte, auch nur andeutungsweise ein Vergewaltigungsspiel zu spielen. Ihre Starre hatte sich nicht wieder gelöst, und sie begann immer öfter über Blasenentzündungen oder Unterleibsschmerzen zu klagen. Das konnte er ihr nicht übelnehmen. Aber er nahm es ihr übel. Zum Glück waren sie nie zusammengezogen und hatten sich immer nur gegenseitig in ihrer jeweiligen Kreuzberger oder Schöneberger Wohnung besucht. Insofern war eine Trennung undramatisch. Birgit war es, die zuerst davon sprach, daß sie es ja mit Freundschaft versuchen könnten. Kinobesuche, Museumsbesuche, gemeinsame Abendessen – aber ohne Sex danach.

Paul erklärte sich mit allem einverstanden und bestätigte Birgit, daß Sex schließlich nicht alles sei, es gebe ja auch noch die menschliche Bindung. Allerdings glaubte er kein Wort von dem, was er sagte. Er war vielmehr überzeugt davon, daß Sex doch alles war. Aber eine radikale Trennung von Birgit konnte er sich ebenfalls nicht vorstellen. Er hing an ihr. Am liebsten wäre ihm Freundschaft mit Sex gewesen. Das sagte er Birgit natürlich nicht, zumal sie ihn damit lockte, daß sie sich bald an ihre Examensarbeit machen wolle und sich das ohne einen Gesprächspartner wie ihn gar nicht vorstellen könne. Paul fühlte sich geschmeichelt. Auch wenn er etwas blechenmüde war. Aber sie wollte zu seiner Überraschung gar nicht über Blechen schreiben, sondern über Walter Leistikow. Den Grunewaldmaler. Paul kannte ein düsteres Grunewaldsee-Gemälde von Leistikow. Eine Abendstimmung aus Schwarz und Orange. Das Schwarz war ihm immer ziemlich realistisch vorgekommen. Oft genug hatte er bei abendlichen Spaziergängen um den See beobachten können, wie alles um ihn herum in Schwärze versank: der Wald, das Wasser, der Weg und schließlich auch der Himmel. Und je schwärzer alles wurde, um so lauter dröhnte der Autoverkehr von der Avus herüber. Und um so furchterregender konnte eine Begegnung mit den Wildschweinen werden, die im Grunewald umherstreiften, was ihm allerdings nur ein einziges Mal passiert war: daß plötzlich wenige Meter vor ihm und genau dort, wo vorher nur Schwärze gewesen war, mitten auf dem Weg ein Wildschwein stand. Dunkelgraues Wildschwein vor schwarzem Hintergrund. Beinahe wäre er mit dem Schwein kollidiert. Zum Glück war das Tier friedlich gewesen und genauso schnell, wie es aufgetaucht war, wieder verschwunden.

So ein orangefarbenes Abendrot wie auf Leistikows Gemälde hatte Paul allerdings noch nie über dem Grunewaldsee gesehen. Das Abendrot dort war immer rot gewesen. Rubinrot. Glutrot. Und manchmal, wenn der Berliner Himmel auf seine preußische Strenge verzichtete, auch rosarot. Vielleicht hing das mit der Luftverschmutzung zusammen. Leistikows Bild stammte immerhin von 1895. Da war die Luft noch ganz anders gewesen. Da konnte das Abendrot möglicherweise noch so orangen strahlen, als würde die Sonne nicht in Berlin, sondern in Granada untergehen.

Die Freundschaft mit Birgit war nach zwei weiteren und ziemlich verquälten Treffen dann ebenso gescheitert wie die Liebesbeziehung mit ihr. Was Paul nicht daran hinderte, seine Liebe zur Pfaueninsel weiter zu pflegen und immer wieder mit der Fähre dorthin überzusetzen. Für ihn war die Insel die echteste und unberührteste Natur, die Berlin zu bieten hatte, auch wenn er gut genug wußte, daß die Pfaueninsel ein von Architekten und Landschaftsgestaltern sorgfältig angelegtes Kunstprodukt war: Kein Baum und kein Strauch war ohne Bedacht gepflanzt worden. Aber manchmal schafft die Kunst eben die schönste Natur, hatte Gerber nach der Exkursion gesagt, als er das gesamte Seminar noch in sein Haus einlud, das sich im Ortsteil Wannsee in der Nähe des Kleistgrabes am Ende einer Straße befand, die unmittelbar in einen für den öffentlichen Verkehr gesperrten Waldweg überging. Gerber hatte in größter Abgeschiedenheit gewohnt, zumindest bis zu dem Tag, als die Bahnstrecke nach Potsdam wiedereröffnet wurde, die direkt hinter Gerbers Haus vorbeiführte und seit dem Mauerbau nicht mehr befahren worden war. Nach der Wiedervereinigung fuhr nicht nur die S-Bahn im Zehnminutentakt an Gerbers Haus vorbei, jetzt donnerten auch Regionalbahnen und rauschten ICE-Züge gleichsam mitten durch Gerbers Leben hindurch. Wobei Gerber keine der repräsentativen Wannseevillen mit schmiedeeisernem Tor und Karyatiden über dem Eingang bewohnte, sondern einen überraschend modernen Bungalow, der offenbar aus den späten sechziger Jahren stammte, schon einige Patina angesetzt hatte, aber von seiner Bauweise her noch immer das modernste Haus weit und breit war.

Dem Bungalowstil entsprachen die Inneneinrichtung und die Ordnung, die im Hause herrschte. Das Haus schien beinahe leer. Alles andere als eine Gelehrtenklause. Das Erdgeschoß war rundum verglast und ließ schon deshalb keine Bücherwände zu. Aber auch das von Gerber so genannte Studio war weit entfernt von dem, was man sich unter dem Arbeitszimmer eines Professors vorstellte. Eine schwarze Holzplatte mit Stahlbeinen als Schreibtisch, in der Ecke ein runder Glastisch und zwei Stühle sowie vor dem Fenster, das zum Garten und den dahinterliegenden und damals noch grasbewachsenen Bahngleisen hinausging, ein freistehendes Bücherbord mit vielleicht zwei oder drei Dutzend Büchern darauf. Paul bewunderte Gerber. Für sein Gelehrtentum, für sein Kunstinteresse, das keineswegs jeder Historiker aufbrachte, und er bewunderte ihn auch für seinen Bungalow ohne Bücher. Das hatte Stil: Bücher schreiben, aber keine besitzen. Bücher nur im Kopf, aber nicht im Haus haben.

Paul dagegen, der noch kein Buch geschrieben hatte und außer seiner Doktorarbeit wohl auch keines mehr schreiben würde, wenn überhaupt, hatte ständig das Bedürfnis, Platz zu schaffen. Das war wahrscheinlich ein Kindheitserbe. Das Haus seiner Eltern war ein sehr kleines Haus und immer zu voll. Mehr ein Häuschen als ein Haus. Ein Wohn-, ein Arbeits- und ein Eßzimmer sowie die Küche im Erdgeschoß. Und im ersten Stock Schlaf- und Kinderzimmer mit schrägen Wänden, an denen man sich den Kopf stieß, wenn man nicht aufpaßte. Hinzu kam noch das sogenannte Arbeitszimmer des Vaters, das aber kein Arbeitszimmer, sondern ein mit Aktenordnern und Kartons vollgestellter Raum war, in dem es nicht mal mehr Platz für einen Schreibtisch gab. Hier wurde alles gesammelt, was sich im Lauf der Jahre an Papieren angesammelt hatte. Jede Rechnung, jede Quittung, jeder Kontoauszug wurde vom Vater aufgehoben. Auch die Bauunterlagen waren noch alle vorhanden.

Der Mutter war der Raum schon immer ein Dorn im Auge, aber der Vater ließ nicht mit sich reden und niemanden an den Raum heran. Dafür durfte sich die Mutter für den Rest des Hauses zuständig fühlen und ihrer Neigung zur Raumgestaltung nachgehen. Sie schmückte und dekorierte gern, sie liebte Vasen, Stickbilder, Gestecke aus Strohblumen, Wandteller, Kissen und Teppiche und stopfte damit das Haus förmlich aus. Ihr Lieblingsstück war ein altertümliches Spinnrad mit Fußpedal und allem, was dazugehörte, das sie im ohnehin viel zu engen Wohnzimmer aufgestellt hatte. Das Spinnrad war ungefähr so günstig plaziert wie das Tigerfell in Freddie Frintons Dinner for One. Wer immer sich im Wohnzimmer aufhielt, stieß sich an dem Spinnrad, bis es dem ansonsten immer geduldigen Vater irgendwann zuviel wurde, er einen heftigen Streit vom Zaun brach und das Spinnrad auf den Dachboden trug, was die Mutter zwar akzeptierte, ihr aber trotzdem die Tränen in die Augen trieb. Nicht so sehr wegen des Spinnrads, sondern vor allem wegen der Heftigkeit, mit der der Vater reagiert hatte.

Wenn die Mutter weinte, was nicht selten und auch wegen noch nichtigerer Anlässe vorkam, drückte sie oft gleich darauf ihren Sohn an sich und überschüttete ihn mit Zärtlichkeiten, was Paul mit einer Mischung aus Widerwillen und Wohlgefühl über sich ergehen ließ. Wobei der Widerwillen daraus resultierte, daß es eben seine Mutter war, die ihn an sich drückte. Das Wohlgefühl sich aber der Tatsache verdankte, daß ihm hierbei kein schwerer und übermächtiger Mutterleib die Luft abdrückte, sondern eine schlanke und sportliche Frau mit einem eher kleinen, aber festen Busen, an den sie bei solchen Gelegenheiten, und als er die entsprechende Körpergröße erreicht hatte, seinen Kopf preßte und der sie auch in mittleren Jahren gelegentlich noch dazu ermutigte, keinen Büstenhalter zu tragen. Vor allem nicht unter den von ihr so geliebten Kaschmirpullovern mit V-Ausschnitt, die sie vorzugsweise zu Hause trug und von denen ein halbes Dutzend in ihrem Schrank lag. Paul mochte die Pullover seiner Mutter, und in gewisser Weise bedauerte er, daß sie sich irgendwann und als er älter geworden und in die Pubertät gekommen war, abgewöhnt hatte, ihn weiterhin an ihre Brust und die nach Wollwaschmitteln duftenden Pullover zu drücken. Wobei diese jugendliche und schlanke Mutter in einem verwirrenden Kontrast zu der Frau stand, die eine Neigung zu kitschigen Einrichtungsgegenständen hatte und mit hausfraulicher Emsigkeit das Haus dekorierte. Sich selbst dekorierte sie nicht. Mit sich selbst ging sie weitaus zurückhaltender und stilsicherer um und machte aus sich diesen sportlich-skandinavischen Typ, der so manche Männer auch noch nervös machte, als sie bereits im fortgeschrittenen Alter war.

María war nicht der skandinavische Typ, sondern gehörte unverkennbar nach Spanien, auch wenn sie weder schwarzhaarig noch glutäugig war, sondern blondes Haar und je nach Wetterlage zwischen Grün und Grau oszillierende Augen hatte. Aber sie besaß einige Charakterzüge, die gewissermaßen schwarzhaarig und glutäugig waren, was für Paul eine unwiderstehliche Mischung darstellte. Als Paul ihr zum erstenmal begegnete, wohnte er in der Altstadt von Málaga bei Janet und Andrew, einem englischen Pärchen. Beide waren wie er an der Universität als Sprachlehrer beschäftigt und arbeiteten im selben Instituto de Lingüística wie Paul. Nur daß er eben nicht Englisch, sondern Deutsch unterrichtete, und dies, ohne es überhaupt studiert zu haben. Das war bisher aus seiner akademischen Laufbahn als Historiker geworden: ein dilettierender Deutschlehrer in Spanien, der auf der Basis eines Einjahresvertrages vor allem Anfänger unterrichtete. Aber es war besser als nichts. Und länger als ein Jahr konnte und wollte er ohnehin nicht in Spanien bleiben. Die Stelle hatte er einem Spanischdozenten des Romanistischen Instituts zu verdanken, der offenbar Kontakte zur Universität Málaga hatte und irgendwann die Anfrage bekam, ob er jemanden kenne, der schnell und unbürokratisch eine Stelle als Sprachlehrer übernehmen würde. Der Dozent sprach Paul an, Paul sagte zu und war ohne viele Umstände als sogenannte Ortskraft eingestellt worden, allerdings zu äußerst schlechten Bedingungen. Das Gehalt war so niedrig, daß er davon kaum leben konnte. Darum wurde seine Tätigkeit normalerweise auch von echten Ortskräften ausgeübt: zumeist deutschen Frauen, die in Málaga verheiratet waren und sich etwas Geld dazuverdienten. Das Geld, das Paul hier verdiente, reichte nicht mal, um sich eine vernünftige Wohnung oder ein Apartment zu mieten. Doch in Deutschland hatte er zur Zeit buchstäblich nichts außer der Hoffnung auf das Referendariat. Das war ihm allerdings sicher, mit dem ersten Staatsexamen hatte er einen Anspruch darauf. Allerdings gab es eine Warteliste, und nach Auskunft der Schulbehörde mußte er zur Zeit mindestens zwei bis drei Jahre auf eine freie Stelle warten, so groß war der Andrang. Wobei dieser Andrang auch dazu führte, daß es einen ebenso großen Andrang auf freie Lehrerstellen gab und es keinesfalls sicher war, so eine Stelle zu bekommen.

Eine Zeitlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich für ein Zweitstudium einzuschreiben und Landschaftsgestaltung zu studieren. Er hatte sich sogar schon die entsprechenden Informationen über den Studiengang besorgt, der an der Technischen Universität angeboten wurde. Mit der U-Bahn war er von Kreuzberg aus schneller an der TU als an der FU. Aber es gab einen Numerus clausus für das Fach Landschaftsgestaltung, und das bedeutete wiederum Wartezeiten oder aber die Möglichkeit, einen Studienplatz in Dortmund oder Bamberg oder sonstwo zugewiesen zu bekommen. Wenn überhaupt. Landschaftsgestaltung war seit einigen Jahren sehr nachgefragt, hatte ihn der Studienberater wissen lassen. Nachdem es jahrelang ein eher kleines und vor allem auch technisches Fach gewesen war, kamen jetzt sowohl die Schöngeister, so der Berater, als auch die Grünen und wollten Landschaftsgestaltung an der TU studieren. Der Mann schien darüber nicht erfreut zu sein. Die Schöngeister und die Grünen ärgerten ihn. Sie verstopften den Studiengang. Er rate darum auch