Der Weg aus der Finsternis - Ingrid Zellner - E-Book

Der Weg aus der Finsternis E-Book

Ingrid Zellner

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Beschreibung

Vikram Sandeep leitet gemeinsam mit seiner Frau Sameera das Waisenhaus Dar-as-Salam in Kashmir. Als eines Tages sein Kleinbus in Srinagar mit einer Reifenpanne liegenbleibt, kommt ihm ein Tourist zu Hilfe, der sich ihm als Raja Sharma aus Shivapur bei Pune vorstellt. Auf Bitten seiner Pflegekinder lädt Vikram den sympathischen Fremden zum Übernachten in das Dar-as-Salam ein. Noch ahnen er und Sameera nichts von der dunklen Vergangenheit dieses Mannes… In der Kashmir-Saga erzählen Simone Dorra und Ingrid Zellner in sieben Bänden die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.

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EPUB
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Seitenzahl: 704

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ingrid Zellner

Der Weg aus der Finsternis

Roman

Band II der Kashmir-Saga

© 2017 Ingrid Zellner

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

Umschlaggestaltung: Kai S. Dorra

Coverfoto: szefei/ Shutterstock.com

Ornament: iStock.com/ AnnaPoguliaeva

www.kashmirsaga.de

www.ingrid-zellner.de

ISBN

 

Paperback:

978-3-7439-6471-6

e-Book:

978-3-7439-6472-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

»Das größte Leid bringt die stärksten Seelen hervor;

die stärksten Charaktere sind mit Narben übersät.«

Khalil Gibran

Für Simone Dorra –

die mich dazu inspiriert hat,

meine in den Jahren 2009 bis 2012 entstandene Raja-Sharma-Saga

noch einmal völlig neu zu erzählen.

Ohne sie gäbe es diese Version der Geschichte nicht.

Vorwort

Band zwei der Kashmir-Saga… und dann spielt fast das gesamte Buch nicht in Kashmir, sondern im indischen Bundesstaat Maharashtra (plus ein paar Sequenzen in Goa). Das Dar-as-Salam, Vikram, Sameera, all die vertrauten Gesichter aus Band eins (Das Haus des Friedens) – sie erscheinen diesmal nur sozusagen am Rande. Was soll das, wird sich da manch ein Leser fragen. Der Weg aus der Finsternis ist in gewisser Weise ein »Ausreißer« in der Romanserie von Simone Dorra und mir, und das verlangt nach einer Erklärung.

Also: Im weiteren Verlauf unserer Kashmir-Saga gesellen sich zu Vikram, Sameera und Co. neue Protagonisten, nämlich Raja Sharma und seine Familie aus Shivapur bei Pune/Maharashtra. Nun hat dieser Raja eine Vorgeschichte, über die könnte man Romane schreiben… ich weiß das, denn genau das habe ich von 2009 bis 2012 gemacht. Natürlich haben Simone und ich, als wir seinerzeit ihren Vikram und meinen Raja in Kashmir zusammenführten, die zum Verständnis für Raja und sein Umfeld notwendigen Informationen tröpfchenweise in die Geschichte mit eingebaut, je nach Bedarf. Aber um Raja und die Sharmas wirklich zu begreifen und sich in sie hineinfühlen zu können, waren mir diese Einsprengsel im Nachhinein einfach zu wenig. Ich wollte auch seine Geschichte in einem Stück erzählen, so wie Simone Dorra in Das Haus des Friedens die Geschichte der in Kashmir lebenden Protagonisten erzählt hat – damit dann beide Welten, die in Srinagar und die in Shivapur, bereits bekannt sind, wenn sie ab Ein Geschenk der Götter (Band drei der Kashmir-Saga) den weiteren Weg unserer Romanserie gemeinsam gehen.

Als ich Simone deshalb vorschlug, Rajas Vorgeschichte als eigenen Band in die Kashmir-Saga zu integrieren, war sie zu meiner Freude sofort damit einverstanden. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um die Geschichte noch einmal völlig neu zu erzählen – neu, anders und selbst für mich teilweise ausgesprochen überraschend. Der Weg aus der Finsternis mag ein »Ausreißerband« sein, aber viele seiner Protagonisten wie Raja, Sita, Surya und Vishal werden im weiteren Verlauf der Kashmir-Saga noch wichtige Rollen spielen – und deshalb gehört die Geschichte dieses zweiten Bandes zur Kashmir-Saga dazu. Auch wenn sie zum überwiegenden Teil nicht in Kashmir spielt.

Übrigens – wie schon im ersten Band gibt es auch diesmal am Ende des Buches ein ausführliches Glossar.

Ingrid Zellner

Vorspiel

Begegnung

Der Mai brachte die Mandelblüte nach Kashmir und frisches Grün auf die Weiden und die tiefer liegenden Abhänge der Berge. Die ersten Touristen kamen in das Tal, bevölkerten die Hausboote auf dem Dal-See und dem Nagim-See und genossen die milde Frühlingssonne.

An einem Nachmittag gegen Ende dieses Monats wartete Vikram Sandeep vor der Jehangir School in Srinagar auf den Schulschluss, um die jungen Bewohner des Waisenhauses, das er seit nunmehr fast vier Jahren leitete, möglichst rasch einzusammeln und nach Hause zu bringen. Möglichst rasch deswegen, weil dort Sameera auf ihn wartete – seine Frau. Ihre gemeinsame Liebesgeschichte war bislang mindestens so dramatisch wie ein Hindi-Film gewesen, und obwohl sie jetzt schon sieben Monate miteinander verheiratet waren, konnte er es manchmal immer noch nicht glauben, dass er tatsächlich jeden Morgen neben ihr aufwachte.

Endlich öffneten sich die Tore der Schule. Routiniert sortierte Vikram die vertrauten Gesichter aus den fast dreihundert Schülern heraus und verfrachtete seine Schützlinge in den alten Schulbus, den er sich eigens für sie zugelegt hatte. Der Bus blies eine gewaltige blaue Rauchwolke aus dem Auspuff und rollte die Straße hinunter; in etwa hundert Metern würden sie in die Boulevard Road einbiegen, die sie ein langes Stück der Strecke heimwärts am Dal-See entlangführte. Die Kinder wurden es nie müde, die Nasen gegen die Seitenfenster zu pressen und auf das blaue Wasser hinauszuschauen.

Doch so weit kamen sie diesmal gar nicht. Vikram hörte das unheilverkündende Geräusch von platzendem Reifengummi, und gleich darauf begann der Bus, unruhig über den Asphalt zu rumpeln. Verdammt. Nicht einmal einen halben Kilometer gefahren und immer noch in der Stadt. Auf der Herfahrt war er schon in eine Militärkontrolle geraten. Bei dem Glück, das er heute hatte, würde todsicher auch noch der marode Generator des Dar-as-Salam wieder einmal in den Streik treten.

Er trat auf die Bremse.

»Endstation, Kinder! Alle raus… ich muss einen Reifen wechseln.«

Die Kinder stiegen aus, wimmelten um ihn herum und redeten wild durcheinander. Er musste sich zusammennehmen, um die Ruhe zu bewahren und sie weder beiseite zu schubsen noch anzuschnauzen, und er ärgerte sich über die eigene Ungeduld. Er wuchtete den Ersatzreifen aus dem Gepäckraum und fragte sich mit wachsender Frustration, wie er gleichzeitig den Bus aufbocken und das riesige, sperrige Teil befestigen sollte, ohne dass ihn jemand, der größer und kräftiger war als die Kinder, dabei unterstützte.

»Verzeihung, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

Er wandte den Kopf und blinzelte in die Sonne. Vor ihm stand ein Mann, den er noch nie gesehen hatte, und lächelte ihn freundlich an. Er trug Jeans, Sandalen und ein leichtes Sommerhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Von seiner rechten Schulter baumelte ein kleiner, vollgestopfter Rucksack. Vikram musterte sein Gesicht, nahm geübt jedes Detail in sich auf. Es hatte Zeiten gegeben, da von seiner Beschreibung das Leben vieler Kameraden abhing… das war etwas, das man nicht verlernte.

Hochgewachsen – etwa genauso groß wie er selbst – und schlank. Ein gutes, klares Gesicht, dunkelbraune Augen und ebenso dunkles, kurzgeschnittenes Haar, durchzogen von für sein Alter (Vikram hielt ihn für drei, vier Jahre jünger als sich selbst) überraschend vielen ersten Silberfäden. Eine tief eingekerbte Narbe auf der rechten Wange, aber die war bestimmt schon viele Jahre alt. Eine weitere Narbe auf dem rechten Unterarm, noch zu dunkel, um alt zu sein… langgezogen und bösartig, Vikram tippte auf die Begegnung mit einem Messer. Ein Kerl mit Vergangenheit, aber höchstwahrscheinlich trotzdem harmlos, sagte sein Instinkt. Lästig, der Mann, sagte der Drang, der ihn dazu trieb, so schnell wie möglich das Problem zu lösen, das ihn hier festhielt.

»Wie bitte?«

»Ich will mich nicht aufdrängen.« Lästig und hartnäckig obendrein. »Aber ich dachte, Sie könnten vielleicht Hilfe brauchen.« Zu dumm, dass er recht hatte.

»Ich weiß, wie man einen Reifen wechselt, vielen Dank«, knurrte Vikram schroff und ablehnend. Irgendwie irritierte ihn dieser Mann, der da aus heiterem Himmel auftauchte und ihm einfach so seine Hilfe anbot.

»Natürlich, daran zweifle ich nicht.« Die Freundlichkeit des Mannes war geradezu penetrant. »Aber Sie geben mir doch sicher recht, wenn ich sage, dass es mit vier Händen leichter geht als mit zwei?«

Bevor Vikram antworten konnte, ließ sich plötzlich eine helle, neugierige Jungenstimme vernehmen.

»Kannst du Vikram baba tatsächlich helfen?«

Es war Yussuf, mit acht Jahren der jüngste unter seinen Schützlingen, der den Fremden ungeniert am Ärmel zupfte und fragend zu ihm aufsah. Vikram schnaubte leise. Typisch. Dass dieser kleine Tunichtgut doch nie seine Klappe halten konnte.

Der Fremde wechselte einen kurzen Blick mit Yussuf, dann mit Vikram – und dann umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen.

»Ich glaube, euer Vikram baba braucht keine Hilfe«, sagte er zu Yussuf. »Das hätte ich eigentlich gleich merken müssen. Ihr müsst ihn einfach nur in Ruhe lassen, dann geht es ganz schnell. Kommt mal hier rüber, ihr alle – ja, ihr beiden auch –, dann hat Vikram baba den Platz, den er braucht, und bevor ihr bis drei zählen könnt, sitzt ihr wieder im Bus und könnt losfahren.«

»Eins, zwei, drei!«, zählte Yussuf im Rekordtempo und lachte laut auf. »Ätsch! Der Reifen ist immer noch platt!«

»Yussuf, jetzt benimm dich doch mal!« Vikram seufzte. Manchmal hatte ein Knebel durchaus seine Berechtigung, verdammt noch mal. »Bitte entschuldigen Sie…«

»Keine Ursache«, erwiderte sein Gegenüber und hob kurz die gefalteten Hände zum Gruß. »Ich bin Raja Sharma.«

»Vikram Sandeep.« Er räusperte sich. »Tut mir leid, wenn der Kleine Sie…«

»Überhaupt nicht«, fiel Raja Sharma ihm lachend ins Wort. »So – was, meinen Sie, ist jetzt sinnvoller: Soll ich mit anpacken oder besser die Kinder auf Abstand halten?«

Mit einem Mal fiel Vikram auf, dass nicht nur Yussuf, sondern alle Kinder diesen Raja Sharma voller Faszination anstarrten. Normalerweise waren sie Fremden gegenüber sehr misstrauisch… diesmal fehlte ihre übliche Scheu komplett, was ihn ziemlich verblüffte.

Vielleicht war der Mann ja einfach nur ein netter Kerl.

»In Ordnung«, sagte Vikram schließlich. »Wenn Sie mir quasi den Rücken freihalten könnten…«

»Nein, er soll mit anpacken, dann geht’s schneller!«, mischte sich Yussuf noch einmal ein. »Sameera ammi wartet doch schon auf uns! Und außerdem knurrt mir der Magen!«

»Wartet mal.« Sharma zückte eine große Tüte. »Ich hab mir gerade Mandelgebäck in dem Café hier gegenüber gekauft. Bitte schön, bedient euch –dann ist der schlimmste Hunger schon mal gestillt.«

»Dürfen wir, Vikram baba?«, fragte Anjali mit sehnsüchtigem Blick.

»Na gut.« Vikram nickte gnädig. »Aber lasst dem armen Mann auch noch was übrig, ja?«

»Kein Problem, notfalls holen wir Nachschub«, schmunzelte Sharma, während die Kinder sich begeistert auf die Tüte stürzten. »Also, wo darf ich denn nun anpacken?«

Vikram streckte die Waffen, wies einladend auf seine Baustelle, und mit vereinten Kräften machten sie sich an die Arbeit. Wenig später saß der Ersatzreifen an seinem Platz. Während Vikram die letzten Schrauben festzog, ging sein unerwarteter Helfer hinüber in das Café von Ali Rafiq, das Vikram seit Jahren sehr gut kannte. Als er zurückkam, hatte er erneut eine große Tüte bei sich, die er Vikram entgegenhielt. »Bitte schön – darf ich Ihren kleinen Fahrgästen noch ein bisschen Mandelkuchen für unterwegs mitgeben?«

»Nein, den bringen wir Sameera ammi mit!«, ging Zooni dazwischen und nahm die Tüte rasch an sich. »Die mag ihn doch auch so gern!«

»Wer ist denn Sameera ammi?«, fragte Sharma lächelnd.

»Sameera ist meine Frau«, erklärte Vikram. »Und das hier sind unsere Kinder.«

Sharma starrte ihn mit offenem Mund an.

»Der ganze Haufen? Ich meine – alle?«

Vikram grinste amüsiert. »Ja. Aber vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich der Leiter eines kleinen Waisenhauses bin.«

»Das Dar-as-Salam«, sagte Ahmad neben ihm leise. »Das Haus des Friedens. Da wohnen wir.«

»Das Haus des Friedens«, wiederholte Raja Sharma sichtlich beeindruckt. »Klingt wunderschön.«

»Ist es auch«, bestätigte Yussuf eifrig. »Komm doch mit und schau’s dir an!«

»Yussuf!« Vikram beschloss, der Sache ein Ende zu machen. »Du kannst Sharma sahab nicht noch mehr von seiner Zeit stehlen; er hat heute bestimmt noch andere Dinge vor.«

Er sah Raja Sharma an.

»Vielen Dank noch einmal. Kann ich mich irgendwie für Ihre Hilfe revanchieren? Soll ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen?«

»Nein, danke.« Sharma schüttelte den Kopf. »Aber wenn Sie mir einen Tipp geben könnten, wo ich für heute Nacht eine Unterkunft finde – es muss nichts Besonderes sein, ich bin da völlig anspruchslos. Aber ich war noch nie in Srinagar, und vielleicht können Sie mir ja etwas empfehlen.«

»Ich sag doch, komm mit zu uns!«, beharrte Yussuf; für ihn war die Sache eindeutig bereits entschieden, und es war höchste Zeit, dass Vikram das endlich einsah. »Er kann doch bei uns übernachten, oder? Bitte!«

Noch ehe Vikram etwas erwidern konnte, meldete sich Firouzé zu Wort, ebenso entschlossen wie Yussuf.

»Du musst ihn unbedingt mitnehmen, Vikram baba! Ich hab ihn gern!«

Die anderen Kinder nickten zustimmend, und Vikrams Verwunderung wuchs. Sein Blick wanderte zu Moussa. Normalerweise wäre der Junge längst hinter ihm in Deckung gegangen; er war derjenige unter seinen Pflegekindern, dessen Angst vor Menschen, die er nicht kannte, trotz aller Fortschritte nach wie vor am größten war. Jetzt aber beobachtete der Zwölfjährige den Fremden mit großen Augen, angespannt wie eine Bogensehne. Er folgte jeder Bewegung, die der Mann machte, lauschte aufmerksam auf jedes Wort, das er sprach. Was ging hier eigentlich vor, zum Donnerwetter?

Nachdenklich kratzte Vikram sich im Nacken. Was immer seine Schützlinge an diesem Mann faszinierte – eigentlich sollte er ihnen ihre Bitte allein schon deshalb erfüllen, um es herauszufinden.

»Tja, also…« Er räusperte sich noch einmal. »Platz hätten wir. Wenn Sie also nichts anderes vorhaben…«

»Nicht wirklich«, erklärte Sharma; er sah überrascht und erfreut aus. »Ich bin sowieso nur für einen Tag hier, und die Sehenswürdigkeiten von Srinagar kann ich mir auch bei meinem nächsten Besuch noch anschauen. Aber ein solches Angebot bekommt man womöglich nur einmal im Leben.«

»Dann sind Sie hiermit herzlich ins Dar-as-Salam eingeladen«, sagte Vikram. »Ich ruf nur kurz meine Frau an, damit sie vorgewarnt ist. Haben Sie irgendwo Gepäck, das wir holen müssen?«

»Nein«, erwiderte Sharma und wies auf den kleinen Rucksack. »Da ist alles drin, was ich brauche.«

»Na dann – einsteigen!«, kommandierte Vikram, und sofort kletterten die Kinder in den Bus, schwatzten wild durcheinander und warfen dabei immer wieder teils offene, teils verstohlene Blicke auf den Fremden, der sich auf Vikrams Anweisung neben dem Fahrersitz niederließ.

Vikram schob sich hinter das Steuer, zückte das Handy und wählte die vertraute Nummer.

»Sameera Sandeep.«

Er spürte, wie sein Mund sich unwillkürlich zu einem weichen Lächeln verzog, als er die Stimme seiner Frau hörte. Und er sah, dass sein neuer Passagier ihn verblüfft dabei beobachtete. Ich hätte ihn vorhin nicht so anknurren sollen, dachte er. Wahrscheinlich kann er sich jetzt gar nicht vorstellen, dass irgendeine Frau sich an einen so biestigen Kauz wie mich wegwirft.

»Hallo, meri jaan «, sagte er. »Es wird ein bisschen später, wir hatten einen Platten. Aber jetzt können wir weiterfahren, jemand war so freundlich, mir beim Reifenwechsel zu helfen… und der Mann braucht für heute Nacht einen Platz zum Schlafen. Ich hab ihn eingeladen, bei uns zu übernachten.«

»Kein Problem, er kann die kleine Gästekammer haben.« Sameera ließ sich von diesen überraschenden Aussichten offenbar nicht aus der Ruhe bringen. »Übrigens, nur zu deiner Information, mera jaan: Unser Generator hat mal wieder den Geist aufgegeben. Der Anschlussstecker ist durchgeschmort.«

»Warum bin ich nicht überrascht?« Vikram seufzte resigniert. »Das heißt, ich muss nachher zu Hasim in die Werkstatt fahren.«

»Musst du. Aber das Ersatzteil zum Austauschen ist schon bestellt, du brauchst es nur noch abzuholen.«

»Nur noch ist gut«, grummelte Vikram. »Ich kenn doch Hasim – wir müssen bestimmt noch ein bisschen was drauflegen, damit der alte Gauner das Teil auch tatsächlich sofort rausrückt. Aber sei’s drum. Jetzt kommen wir erst einmal nach Hause.«

»Bis gleich, Liebster. Und ich bin sehr neugierig auf unseren Gast!«

Ganz ehrlich, ich auch, dachte Vikram, als er das Gespräch beendete und sein Handy einsteckte.

»Okay, sitzt ihr alle?«, rief er über seine Schulter nach hinten. »Los geht’s!«

Er ließ den Motor an und lenkte den Kleinbus mit sicherer Hand auf die Boulevard Road. Raja Sharma war eindeutig genauso fasziniert von dem Ausblick auf den Dal-See wie die Kinder; unverwandt schaute er aus dem Seitenfenster.

»Es ist herrlich hier.« Es klang wie ein leiser, aus tiefstem Herzen kommender Stoßseufzer. »Ich hätte nie gedacht, dass Kashmir so schön ist.«

Vikram musterte ihn kurz von der Seite, bevor er sich wieder auf die Fahrbahn konzentrierte. »Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«

»Maharashtra«, antwortete sein Besucher. »Aus der Nähe von Pune. Ich war noch nie in Kashmir, und ich bin auch erst vor wenigen Stunden angekommen. Absoluter Frischling, sozusagen.«

»Und dann bleiben Sie gerade mal einen Tag?«, fragte Vikram verwundert.

»Ja, leider«, erwiderte Sharma bedauernd. »Morgen Nachmittag muss ich wieder zurückfliegen. Aber ich weiß schon jetzt, dass ich wiederkommen werde – und dann ganz bestimmt nicht nur für einen Kurzbesuch.«

Ein leiser Summton ertönte aus seiner Tasche, und er zog ein iPhone hervor. Offenbar hatte er eine SMS bekommen, denn er las kurz und tippte eine Antwort in das Display. Dann steckte er das iPhone wieder ein, sah zu Vikram hinüber und lächelte leicht.

»Das war gerade eine Nachricht von dem Grund für meinen Kurzbesuch – Soham. Ich bin mit ihm zusammen hergekommen; er besucht Verwandte und wird morgen von seinem Gastgeber zum Flughafen gebracht. Gut zu wissen; dann können Sie mich morgen auch gleich direkt dorthin fahren. Vorausgesetzt, der Shuttle-Dienst gilt auch für meine Rückreise.«

»Sollte hinzukriegen sein«, erwiderte Vikram.

»Danke.«

Raja Sharma lehnte sich entspannt zurück, während der Bus die Boulevard Road verließ und in Richtung Berge steuerte, auf das Tal zu, in dem das Dar-as-Salam lag.

»Wissen Sie, Soham ist ein Freund meiner Familie«, erzählte er. »Er stammt aus dieser Gegend; seine Familie wohnt in Tengpur. Allerdings hat es vor vielen Jahren einen sehr unschönen Streit zwischen Soham und seinem Vater gegeben, woraufhin Soham sein Zuhause verlassen hat und schließlich in Pune gelandet ist. Seitdem hat er kaum noch Kontakt zu seiner Verwandtschaft gehabt. Nun ist aber sein Vater gestorben, und der Bruder des Vaters hat Soham gebeten, nach Hause zu kommen – er möchte unbedingt diese alte Familienfehde beenden. Da Soham mit seinem Onkel nie solche Probleme gehabt hat wie mit seinem Vater, hat er beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen und seine Verwandtschaft übers Wochenende zu besuchen. Und weil ich schon immer mal nach Kashmir wollte, bin ich einfach mitgeflogen – ist doch schöner, wenn man nicht allein reisen muss.«

Über Familienfehden und den Streit mit Vätern wusste Vikram so ziemlich alles, was es zu wissen gab… und noch ein wenig mehr.

»Er hat sich also nie mit seinem Vater ausgesöhnt?«, fragte er.

»Er hat es versucht«, antwortete Sharma. »Aber der Vater hat seine ausgestreckte Hand zurückgewiesen, und danach hat Soham es aufgegeben. Ich hoffe sehr, dass es jetzt wenigstens mit diesem Onkel zur Versöhnung kommt. Familie zu haben ist… etwas sehr Kostbares, finde ich.«

Stimmt, dachte Vikram, aber noch bevor er es aussprechen konnte, klang aus dem Stimmengewirr der Kinder hinter ihm mit einem Mal heller Mädchengesang heraus.

»Tum paas aaye, yun muskuraaye…«

Spontan drehte Sharma sich um und ließ suchend die Blicke über die Kinderschar gleiten.

»Tumne na jaane kya sapne dikhaaye…«

»Firouzé«, erklärte Vikram und lächelte unwillkürlich. »Unser kleiner Kajol-Fan.«

Sein Gast nickte; er hatte sie gefunden.

»Tum paas aaye, yun muskuraaye, tumne na jaane kya sapne dikhaaye…«

Firouzé hatte bemerkt, dass Sharma sie ansah, und strahlte ihn an, während sie sang. Und plötzlich stimmte er mit ein.

»Ab to mera dil jaage na sota hai…«

Die Kinder rissen ebenso überrascht die Augen auf wie Vikram, und Firouzé strahlte noch mehr, als sie nun zusammen mit Sharma vollendete:

»Kya karoon haaye, kuch kuch hota hai!«

Die übrigen Kinder brachen in begeisterten Jubel aus und fielen in die Wiederholung der letzten Zeile ein.

»Kya karoon haaye, kuch kuch hota hai!«

Jetzt gab es kein Halten mehr. Gemeinsam fingen sie das Lied noch einmal von vorne an, wobei sich Firouzé und Raja Sharma in den Solo-Parts abwechselten; wann immer ihm ein paar Worte fehlten, konnte er sich darauf verlassen, dass die Kleine ihm sofort textsicher aushalf. Beim Refrain stimmten wieder alle mit ein, und so legten sie das letzte Stück des Weges zum Dar-as-Salam laut und fröhlich singend zurück, bis Vikram schließlich vom Weg abbog und den Kleinbus zum Stehen brachte.

»Wir sind da«, sagte er.

***

Raja Sharma stieg aus dem Kleinbus aus und atmete tief die frische, klare Bergluft ein, während er sich umsah. Sein Blick blieb an dem Haus hängen, auf das die Kinder mit lauten »Sameera ammi!«-Rufen zuliefen. Er hatte während der Fahrt ein paarmal versucht, sich das Dar-as-Salam vorzustellen, aber der Anblick, der sich ihm nun bot, überraschte ihn völlig.

Im Licht der warmen Nachmittagssonne lag ein großes, altes Holzhaus, lang gestreckt und mit schrägem Schindeldach. Besonders auffallend war der von reich geschnitzten Säulen gestützte breite Balkon im oberen Stockwerk. Von der Rasenfläche vor dem Haus aus führte eine kleine Treppe zu einer schmalen Veranda hinauf. Rechts von dem Haus befand sich ein kleineres Gebäude, vermutlich ein Schuppen, und es waren mehrere Blumenund Gemüsebeete angelegt worden. Das ganze Anwesen strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Und Frieden, dachte Raja beeindruckt. Dieses Haus führt seinen Namen offensichtlich zu Recht.

Er sah, wie sich die blaue Haustür öffnete. Eine Frau trat auf die Veranda hinaus und streckte den Kindern herzlich die Arme entgegen. Der kleine Yussuf rannte als Erster in ihre Umarmung hinein, dann nach und nach alle anderen, und eines der Mädchen drückte ihr, während sie wie ein Wasserfall auf sie einredete, die Tüte mit dem Mandelgebäck in die Hand und zeigte dabei wiederholt auf Raja, der inzwischen zusammen mit seinem Gastgeber langsam näherkam.

Lächelnd schälte sich die Frau aus dem Knäuel der Kinder heraus und ging ihnen entgegen. Sandeep präsentierte sie Raja mit einem Ausdruck von großer Liebe und Stolz in Augen und Stimme: »Das ist meine Frau Sameera, Sharma sahab. Sameera, das ist Raja Sharma, der uns vorhin nach unserer Reifenpanne zu Hilfe gekommen ist.«

»Und dem ich außerdem diese köstliche Überraschung zu verdanken habe, wenn ich Zooni richtig verstehe«, sagte die Frau lächelnd und wies auf die Tüte, die sie sich nun kurzerhand unter den Arm klemmte, um Raja mit gefalteten Händen begrüßen zu können. »Namaste, Sharma sahab, und herzlich willkommen im Dar-as-Salam!«

»Danke, dass ich kommen durfte.« Raja erwiderte den Gruß. »Namaste, Sandeep sahiba.«

»Nennen Sie mich ruhig Sameera«, entgegnete sie. »Sahiba sagt hier im Haus kein Mensch zu mir.«

»Gerne«, sagte Raja. »Und ich überlassen es Ihnen, ob Sie mich dann ebenfalls beim Vornamen nennen wollen. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen.«

»Alles klar. Kommen Sie!«, sagte Sameera. »Zobeida macht uns gleich eine Erfrischung.«

»Machen Sie sich bloß keine Umstände meinetwegen.« Raja lächelte. »Wenn Sie einen Schluck Wasser für mich haben, dann bin ich bereits glücklich und zufrieden.«

»Mal sehen, was Zobeida für uns zaubert«, erwiderte Sameera. »He, ihr kleinen Räuber, was ist – wollt ihr nicht reingehen, euch die Hände waschen und euch umziehen?«

»Wieso, wir wollen doch Raja das Haus zeigen…«, begann Firouzé, doch Sameera ließ sich gar nicht erst auf eine Diskussion ein: »Das Haus läuft euch nicht weg, und unser Gast sicher auch nicht. Also hopp, rein mit euch, und kommt in die Küche, wenn ihr soweit seid.«

»Aber du zeigst ihm noch nichts, ja?«, bat Zooni mit großen Kulleraugen.

Sameera seufzte. »Ich verspreche euch, ich halte ihm auf dem Weg zur Küche die Augen zu, und dann gehört der Rest des Hauses euch. Ab jetzt!«

Sie hatte noch gar nicht ganz ausgesprochen, als die Kinder bereits davonstoben. Entschuldigend wandte sie sich an Raja. »Sie sind völlig aufgedreht. Aber es kommt auch nicht jeden Tag vor, dass wir hier fremde Gäste haben. Wenn es Ihnen zu viel wird mit der Bande, dann sagen Sie es bitte, ja?«

»Ich bitte Sie, diese Kinder sind doch herrlich!«, lächelte Raja. »Darf ich fragen, wie alt sie sind? Ich kann das schlecht einschätzen; mit Kindern in diesem Alter habe ich so gut wie keine Erfahrung.«

»Zwischen acht und siebzehn«, antwortete Sameera. »Also, dann wollen wir mal. Kommst du mit, Vikram?«

»Geht ihr ruhig schon mal voraus, ich möchte vorher noch einen Blick auf dieses Biest von einem Generator werfen«, entgegnete Sandeep und stapfte hinüber zu dem Schuppen.

Sameera sah ihm mitfühlend nach. »Es wurmt ihn sicher gewaltig, dass das ausgerechnet jetzt passieren musste, wo er einen Gast hierher eingeladen hat«, meinte sie.

Interessiert betrachtete Raja sie von der Seite. Sameeras Erscheinung war für ihn nach der Begegnung mit Vikram Sandeep und seinen Kindern eine weitere unerwartete Überraschung an diesem Tag. Sie war trotz ihres Vornamens offenbar nicht durch und durch Inderin; jedenfalls ließen der rötliche Schimmer in ihrem kastanienbraunen Haar und ihre lange, gerade Nase Raja irgendeinen westlichen, vielleicht europäischen Einschlag in ihrer Ahnenreihe vermuten. Ihr Hindi war allerdings vollkommen akzentfrei, und die tiefdunklen, leicht mandelförmigen Augen wiesen auf eine nordindische Abkunft hin, Ladakh möglicherweise – wenn sie nicht sogar aus Tibet stammte.

Eine interessante und ein wenig rätselhafte Frau, dachte Raja. Allein schon in dieser Hinsicht passt sie perfekt zu ihrem Mann; der ist genauso ungewöhnlich und gibt ebenso Rätsel auf.

Er erinnerte sich an den prüfenden Blick, mit dem Sandeep ihn vorhin in Srinagar geradezu durchbohrt hatte – mit Augen von leuchtendem Lohbraun, hellwach und offenbar gewohnt, selbst kleinste Details mit unfehlbarer Sicherheit wahrzunehmen und binnen Sekunden zu entscheiden, ob man jemandem trauen konnte oder nicht. Hätte Raja in seinem Leben nicht schon mehr als ausreichend Erfahrung mit solchen Konfrontationen gehabt, dann wäre es ihm in dem Moment womöglich nicht so leicht gelungen, dem scharfen Blick seines Gegenübers standzuhalten. Wenn man ihn fragte, dann war der Mann mit dem graumelierten Vollbart und der ausgesucht legeren Kleidung mehr als nur ein einfacher Waisenhausleiter. Er gestand sich ein, dass er inzwischen extrem gespannt darauf war, Vikram Sandeep näher kennenzulernen.

»Ich hoffe, er nimmt es sich nicht zu sehr zu Herzen«, sagte er nun zu Sameera. »Zumindest nicht wegen mir. Schließlich bin ich nicht hierhergekommen, um einen perfekt funktionierenden Generator zu besichtigen.«

»Und was wollten Sie stattdessen besichtigen?«, fragte sie und musterte ihn forschend. »Ein Kinderheim voller Waisen?«

Die nächste Parallele: noch so ein taxierender Blick.

»Ich wollte einfach wissen, wie ein Ort aussieht, der Haus des Friedens heißt.« Seine Mundwinkel kräuselten sich nach oben. »Und außerdem konnte ich der charmanten Einladung Ihrer kleinen Räuber nicht widerstehen.«

»Oh!« Sie war offensichtlich verwundert. »Die Kinder wollten, dass Sie mitkommen?«

»Ja«, antwortete Raja. »Wobei ich natürlich hoffe, dass es Ihren Mann nicht stört. Nicht dass er den Moment geradezu herbeisehnt, wo er mich endlich wieder los ist.«

»Keine Sorge«, schmunzelte Sameera. »Lassen Sie sich von seiner rauen Schale nicht täuschen; ich bin sicher, Sie sind ihm genauso willkommen wie mir. Ich hab auch bloß gefragt, weil… normalerweise sind die Kinder Fremden gegenüber sehr zurückhaltend. Gut, Yussuf vielleicht nicht, der kennt da nichts, aber ansonsten sind sie doch eher vorsichtig. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was sie schon alles hinter sich haben.«

»Was meinen Sie damit?«

Sameeras Gesicht wurde ernst. »Keines dieser Kinder hat eine normale Kindheit gehabt. Ich weiß nicht, wie viel Sie über die Geschichte und die gegenwärtige Situation in Kashmir wissen, aber seien Sie versichert: In diesem Tal gibt es nicht nur unendlich viel Schönheit, sondern auch unendlich viel Leid. Und Vikram tut seit einigen Jahren das Seine, um wenigstens einigen wenigen Kindern ein neues Leben zu schenken, jenseits von Angst und Leid und Trauma. Das ist es, wofür das Haus des Friedens steht.«

Betroffen hatte Raja ihr zugehört; nun nickte er sachte.

»Eine bemerkenswerte Aufgabe«, sagte er. »Und wenn ich mir die Kinder so anschaue, dann scheint es doch, dass er schon sehr viel erreicht hat –beziehungsweise Sie beide, denn Sie helfen ihm ja offensichtlich, oder?«

»Ja«, erwiderte Sameera. »Sehen Sie, ich bin nicht nur Vikrams Frau, sondern auch ausgebildete Traumatherapeutin. Und das kommt mir hier sehr zugute.«

»Den Kindern offenbar auch«, ergänzte Raja. »Mein Kompliment für die Arbeit, die Sie hier leisten.«

»Danke«, sagte Sameera. »So, jetzt gehen wir aber endlich rein, bevor Zobeida ein Suchkommando losschickt. Und bitte, erwähnen Sie den Kindern gegenüber nichts von dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe.«

»Natürlich nicht«, versicherte Raja. »Okay, dann halten Sie mir jetzt wie versprochen schön die Augen zu, damit ich den Kindern nichts von ihrer Fremdenführertour wegnehme.«

Bei diesen Worten fand Sameera ihr Lächeln wieder. Sie nahm Raja an der Hand, hielt ihre andere Hand über seine Augen und führte ihn ins Haus und einen Flur entlang. Als sie ihre Hand schließlich wieder wegnahm, fand Raja sich in einer großen, gemütlichen Küche mit Steinspüle und einem uralten Kühlschrank wieder. In der Mitte stand ein riesiger massiver Holztisch, an dem bereits einige der Kinder saßen und Lassi aus großen Gläsern tranken.

»Na endlich!«, platzte Yussuf heraus, als er die beiden kommen sah. »Zobeida, schau, das ist Raja!«

Zobeida, offensichtlich eine Hausgehilfin oder Köchin, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und begrüßte Raja respektvoll. »Namaste, sahab. Ich hoffe, Sie mögen Lassi. Oder möchten Sie lieber etwas anderes?«

»Lassi ist wunderbar, danke«, antwortete Raja und ließ sich an dem Tisch nieder.

»Salzig oder Mango?«, fragte Zobeida. »Ich habe beides da.«

»Dann salzig, bitte«, sagte Raja. Zobeida nickte und stellte ein Glas vor ihn hin. Angenehmer Kreuzkümmelduft stieg ihm in die Nase, und er genoss das erfrischende Getränk, während allmählich immer mehr Kinder die Küche bevölkerten.

»Gut«, sagte Sameera schließlich, als alle ihren Durst gestillt hatten. »Dann zieht jetzt ab und zeigt unserem Gast alles hier, aber benehmt euch anständig, ja?«

»Klar, ammi!« Yussuf stellte mit Schwung sein Glas ab. »Komm, Raja, dann zeigen wir dir auch gleich, wo du heute Nacht schläfst!«

Eifrige Hände packten Raja rechts und links an den Armen und zogen ihn hoch. Fügsam und mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen ließ er sich von den Kindern aus der Küche zerren; im Vorbeigehen glaubte er in den Gesichtern von Sameera und Zobeida noch so etwas wie aufrichtiges Mitgefühl zu lesen.

»Hier!«, verkündete Yussuf nur wenige Schritte später und öffnete eine Tür. »Das ist dein Zimmer!«

Er ließ Raja gerade so viel Zeit, dass dieser einen flüchtigen Blick hineinwerfen konnte, dann wies er auf eine Tür auf der anderen Seite des Flurs.

»Das ist das Büro von Vikram baba. Aber da dürfen wir nur rein, wenn er oder ammi drin sind. Und das daneben ist unser Reich, das musst du dir anschauen!«

Stolz und mit glänzenden Augen öffnete er die Tür zu einem großen Raum, offensichtlich eine Kombination aus Studien-, Ess- und Spielzimmer. Interessiert sah Raja sich darin um. Auf mehreren Tischen stapelten sich Bücher, Hefte und CDs, rundherum an den Wänden lagen buntbestickte Sitzpolster, in einer Ecke entdeckte er Brettspiele neben Körben voller Wolle. Am meisten jedoch faszinierten ihn die Bilder, die die Wände schmückten – alles Kinderzeichnungen, darunter aber einige von, wie Raja fand, beeindruckender Qualität.

»Habt ihr diese Bilder gemalt?«, erkundigte er sich.

»Ja«, antwortete eines der Mädchen. »Ein paar davon sind von mir und von Anjali, aber die meisten hat Zooni gemalt; das hier zum Beispiel… und das… und die zwei da drüben auch.«

»Fabelhaft«, sagte Raja anerkennend. »Jetzt musst du mir nur noch sagen, wer von euch Anjali ist – und ich glaube, deinen Namen weiß ich auch noch nicht.«

»Ich bin Sameera – ich heiße wie unsere ammi «, erklärte das Mädchen stolz. »Und das neben dir ist Anjali.«

»Aha«, lächelte Raja. »Jetzt lasst doch mal sehen, wie viele von euch ich schon kenne. Sameera… Anjali… Zooni, das bist du, nicht wahr?… dann natürlich Yussuf… und meine wunderbare Duettpartnerin Firouzé. Oh je, da fehlen mir ja noch eine ganze Menge. Also, dann helft mir mal bitte auf die Sprünge.«

»Das ist Maryam«, begann Sameera und zeigte auf das Mädchen neben ihr. »Von ihr hängt hier auch ein Bild – da, hinter dir, siehst du?«

Raja wandte sich um und erblickte in einem großen, holzgeschnitzten Bilderrahmen einen Text in einer Sprache, die ihm unbekannt war – sorgfältig mit Tusche in zart geschwungenen kalligraphischen Schriftzeichen gestaltet.

»Wunderschön«, sagte er beeindruckt. »Du hast das geschrieben, Maryam? In welcher Sprache ist das?«

»Kashmiri«, antwortete das Mädchen etwas scheu. »Es ist ein Gebet um Frieden. Moussa und ich, wir haben das zusammen gemacht.«

Nachdenklich betrachtete Raja sie. Die Worte von Vikrams Frau fielen ihm wieder ein. Keines dieser Kinder hat eine normale Kindheit gehabt.

»Möge dieses Gebet diesem Haus immer Frieden bringen«, murmelte er leise vor sich hin. Dann sah er auf. »Und wer ist Moussa?«

Sofort richteten sich alle Blicke auf einen hochgewachsenen Jungen, der Raja von Anfang an aufgefallen war, weil er sich immer im Hintergrund hielt, sich nur wenig an den Gesprächen beteiligte und überhaupt eher ruhig wirkte. Jetzt trat er einen kleinen Schritt vor. »Das bin ich.«

»Freut mich, Moussa«, lächelte Raja. »Okay, wen haben wir noch? Du –dich kenne ich auch noch nicht.«

»Ibrahim«, sagte der Junge, der neben Moussa stand, und zeigte dann auf einen kleineren Jungen. »Und das da ist Ahmad.«

»Also: Ahmad – Ibrahim – Moussa – Maryam – Zooni – Sameera – Anjali – Firouzé – und Yussuf«, zählte Raja durch. »Fehlt da nicht jemand? Vorhin wart ihr doch noch zehn.«

»Zeenath«, erklärte Zooni. »Sie ist in der Küche geblieben und hilft Zobeida und Sameera ammi.«

»Ich verstehe«, sagte Raja. »Gut. Bitte habt Geduld mit mir, wenn ich mir nicht alle eure Namen sofort merken kann, und verbessert mich, wenn ich was durcheinanderbringe, ja? Sehr gut. Also, euer Reich hier gefällt mir großartig. Das ist wirklich schön.«

»Warte mal ab, bis du unsere anderen Zimmer siehst!« Energisch übernahm Yussuf wieder die Führung. »Hier unten schlafen die Mädchen, oben wohnen wir Jungs und Vikram baba und Sameera ammi. Komm mit!«

Sie verließen den Aufenthaltsraum, und die Mädchen drängten sich an Raja vorbei und liefen voraus, um die Türen zu öffnen und ihn einen Blick in ihre Reiche werfen zu lassen. Sameera teilte sich ihr Zimmer mit Zeenath; hier konnte Raja eine große gestickte Tischdecke bewundern, an der Zeenath derzeit arbeitete. Ein riesiges Kajol-Poster über einem der Betten im zweiten Zimmer verriet deutlich, dass hier Firouzé zu Hause war; ihre Zimmergenossin war Anjali. Und das dritte Zimmer voller Farben, Pinsel, Stifte, Zeichenblöcke und Tuschkästen gehörte ganz eindeutig Zooni und Maryam.

Nach einem kurzen Abstecher in das große, einfach und zweckmäßig ausgestattete Badezimmer wurde der Rundgang im oberen Stockwerk fortgesetzt. Hier zeigten die Kinder Raja, wo Vikram und Sameera Sandeep wohnten, und dazu ein weiteres Bad. Dann riss Yussuf die Tür zu dem Zimmer auf, in dem er zusammen mit Ahmad hauste. Ein amüsiertes Lächeln umspielte Rajas Lippen angesichts der heillosen Unordnung in dem Raum, die Yussuf nicht im Geringsten zu stören schien. In dem letzten Zimmer, das Moussa und Ibrahim gehörte, erwartete Raja noch einmal eine Überraschung: Überall standen kleine, geschnitzte Holzfiguren; manche von eher abstrakter Form, andere mit mehr konkreten Konturen. Interessiert betrachtete Raja die kleinen Kunstwerke; auf seine Frage nach dem Schnitzkünstler meldete sich Ibrahim.

»Toll«, sagte Raja anerkennend. »Darf ich?« Er wies fragend auf eine der Figuren, und als Ibrahim zustimmend nickte, nahm er sie vorsichtig in seine Hand; es war ein kleiner Vogel, fast wie eine Taube, in deren Flügel Ibrahim dünne Federlinien geritzt hatte.

»Wunderschön«, murmelte Raja und strich dem Vogel sanft über seine Holzschwinge. »Ihr macht wirklich ganz tolle Sachen. Und es ist sehr, sehr schön hier. Danke, dass ihr mir das alles gezeigt habt.«

»Jetzt gehen wir runter!«, entschied Yussuf. »Vikram baba macht sicher bald das Feuer an. Kannst du Fußball spielen, Raja?« Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern nahm Rajas Hand und schleifte ihn hinter sich her, die Treppe hinunter und hinaus auf den Rasen, wo Vikram Sandeep ihnen entgegenkam.

»Na, leben Sie noch?«, fragte er Raja mit einem verschmitzten Blick auf die Kinder, die jetzt in sämtliche Richtungen davonstoben… Yussuf inbegriffen.

»Jedenfalls scheint noch alles an mir dran zu sein, und das allein ist schon ein Wunder«, lachte Raja. »Aber Ihre Kinder sind wirklich großartig – und es sind vor allem auch ein paar erstaunliche Künstler unter ihnen, wie ich gesehen habe.«

»Ja«, stimmte Sandeep ihm zu. »Damit überraschen sie uns auch immer wieder.«

»Bestimmt liegt das auch an der Atmosphäre dieses Hauses«, sagte Raja lächelnd. »Es trägt seinen Namen völlig zu Recht, es atmet wirklich Frieden – aber auch Freude, Liebe und Geborgenheit. Kein Wunder, dass die Kinder sich hier wohlfühlen. Meinen Respekt, Sandeep sahab.«

Unverhofft leuchteten Sandeeps Augen auf.

»Ich danke Ihnen«, sagte er. »Und jetzt sollte ich Holz aus dem Schuppen holen; wir haben zwar noch einiges an abgesägten Ästen, aber wir müssen dazu reichlich Scheite spalten, wenn es für ein Abendessen reichen soll. Wir kochen heute im Freien, über der Feuerstelle hinter dem Haus – die Kinder lieben das sehr.«

»Geben Sie mir eine Axt, dann kann ich mich nützlich machen«, bot Raja an. »Ich habe seit heute Morgen mehr gesessen als irgendetwas anderes; erst im Flughafen, dann in der Maschine und danach in Ihrem Bus. Die Bewegung tut mir bestimmt gut.«

Sandeep grinste und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie haben sich mit Yussuf eingelassen«, sagte er, »und das heißt, Sie kriegen demnächst mehr Bewegung, als Ihnen lieb ist. Aber wenn Sie drauf bestehen… dann kommen Sie mal mit.«

***

Als Vikram in den Jeep stieg, um das Ersatzteil für den Generator abzuholen, waren die Vorbereitungen für das Abendessen schon in vollem Gange. Sein Gast hatte es sich nicht nehmen lassen, einen ordentlichen Stapel Feuerholz zu hacken, und Sameera war mit Zeenath, Maryam und Zobeida in der Küche verschwunden, um Fleisch und Gemüse zu schneiden.

Das Letzte, was er sah, bevor er losfuhr, war Raja Sharma, der unter dem frenetischen Jubel der Jungs einen Ball haarscharf am Fenster seines Schlafzimmers vorbeikickte. Und er entdeckte gleichzeitig Yussuf, der sich mit einem Gesichtsausdruck, den Vikram nur zu gut kannte, an den Gartenschlauch heranpirschte, der zusammengerollt an der Hauswand lag. Er überlegte, ob er Sharma warnen sollte, aber dann grinste er in sich hinein und ließ es bleiben. Immerhin war es inzwischen frühsommerlich warm, und wenn die Kinder ihren unerwarteten Besucher weiter so in Anspruch nahmen, dann würde der für eine unvermutete Dusche vielleicht sogar dankbar sein.

Er gelangte ohne Militärkontrolle nach Srinagar zurück und hatte in weniger als einer halben Stunde die Werkstatt von Hasim Afasi erreicht. Dort wurde er begrüßt wie ein lang verschollener Onkel, durfte sich im nach Schmiermittel und Benzin riechenden Reparaturschuppen auf ein leeres Ölfass setzen und wurde mit einem Chai traktiert, in dem deutlich zu viel Pfeffer war, als es dem Geschmack wirklich guttat. Er fügte sich, weil das zu Hasims Ritual gehörte, und weil er viel zu dankbar dafür war, dass das alte Schlitzohr den Ersatz für den durchgeschmorten Anschlussstecker so schnell hatte besorgen können. Das war die tausend Rupien allemal wert, die Sameera ihm über den Normalpreis hinaus mitgegeben hatte… und sie würden außerdem dafür sorgen, dass Hasim sich auch in Zukunft bei Notfall-Bestellungen des Dar-as-Salam besonders viel Mühe gab.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie sich zum Thema Ersatzteil vorangetastet hatten und weitere zehn Minuten, bis Hasim sich dazu herabließ, auch die »Extragebühr« anzunehmen. Dann konnte Vikram sich endlich loseisen, packte den Anschlussstecker ein und machte, dass er zum Jeep zurückkam. Der Chai brannte noch immer in seinem Mund, und er sehnte sich nach dem Hühnercurry, das zuhause inzwischen vielleicht schon auf ihn wartete.

Die Heimfahrt verlief so ereignislos wie der Hinweg, und er hatte Zeit zum Nachdenken. Er dachte an Raja Sharma, der so selbstverständlich auf ihn zugegangen war und ihn mit seiner unverstellten Offenheit regelrecht überrumpelt hatte. Er versuchte, sich vorzustellen, ihm ebenso freimütig zu begegnen, ihm womöglich von sich selbst zu erzählen, von seiner Vergangenheit und seinen Konflikten… und schrak instinktiv davor zurück.

Wie du gelebt hast, bevor die Kinder zu dir gekommen sind, kann so einer wie Sharma sich doch gar nicht vorstellen, dachte er. Ein Agent, der als Spion gearbeitet hat, von dem erwartet wurde, im Dienst zu töten – das ist mit Sicherheit meilenweit entfernt von der Welt, die er kennt.

Während er sich immer mehr dem Dar-as-Salam näherte, stellte er plötzlich fest, dass er das ehrlich bedauerte. Das letzte echte »Männergespräch«, an das er sich erinnern konnte, hatte vor gut einem Jahr stattgefunden –wenige Stunden vor Tarek Kamaals Tod. Danach hatte es außer Sameera niemanden mehr gegeben, der wirklich einen Blick unter die Oberfläche werfen durfte, die Vikram seiner Umgebung zu sehen erlaubte.

Dieser Mann, der ihm in Srinagar so unversehens über den Weg gelaufen war, war mit Sicherheit kein zweiter Tarek Kamaal. Aber sympathisch war er ihm trotzdem. Sehr sogar.

***

Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont, als er den Jeep vor dem Kinderheim parkte. Der erste Bewohner, der ihm entgegenkam, war Ahmad, der ihm fast triumphierend den rechten Arm hinhielt.

Vikram betrachtete den weißen Verband und runzelte die Stirn. »Was hast du denn veranstaltet?«

»Ich wollte das Feuer unter dem Kessel schüren«, meinte Ahmad fröhlich, »und ich hab nicht wirklich aufgepasst. Da ist mir halt ein brennender Ast draufgefallen.«

Bei Vikram schrillten sämtliche Alarmglocken. »Und wer hat dich verarztet?«

»Sameera ammi. Ich war sehr tapfer, und es tut auch schon fast gar nicht mehr weh.«

Vikram fischte die Tüte mit dem Anschlussstecker vom Beifahrersitz und stieg aus dem Jeep. »Wo ist ammi jetzt?«

»In der Küche. Zobeida ist draußen und rührt im Curry. Sie sagt, eigentlich muss sie gar nichts mehr machen, weil Raja mindestens genauso gut kochen kann wie sie. Er hat ihren Vorrat an Kashmir-Chilischoten gesehen und gesagt, er kennt ein tolles Parsi-Rezept für ein rotes Hühnercurry, das man damit machen könnte. Ich hab die Sauce schon probieren dürfen, die schmeckt voll lecker!«

Nur mit halbem Ohr registrierte Vikram Ahmads Begeisterung und dazu noch das erstaunliche Lob der Frau, die ihre Töpfe und Pfannen normalerweise so eifersüchtig hütete wie ein Drache seinen Hort. Er tauchte in das kühle Dämmer des Hauses ein, ging mit langen Schritten den Gang hinunter und stand im nächsten Moment neben seiner Frau, die in einem Mörser Gewürze zerstieß.

»Ich bin wieder da, mein Herz«, sagte er. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, natürlich.« Sameera ließ den Stößel mit einiger Wucht in die steinerne Schale krachen. »Wir sind hervorragend zurechtgekommen. Und in einer halben Stunde können wir essen.«

Sie sah ihn nicht an, und das allein sagte ihm schon genug darüber, wie sie sich fühlte. Verdammt noch mal, dachte er. Ich hätte hier sein sollen. Er schwieg, obwohl ihm eine Entschuldigung auf der Zunge lag (die Sameera mit Sicherheit nicht hören wollte), und folgte ihr nach draußen.

Die Kinder hatten sich hinter dem Haus um den Kessel versammelt, in dem Zobeida mit der Feierlichkeit einer Hohepriesterin den Löffel kreisen ließ, und sogen genießerisch den Duft ein, der daraus emporstieg. Vikram hielt Ausschau nach seinem Gast und fand ihn etwas abseits; er saß auf dem Hackklotz und hielt geduldig die Hand hoch. Firouzé hatte ihn für ein Fadenspiel eingespannt und wob ein Muster aus roter Wolle zwischen seinen Fingern hindurch. Vikram spürte, wie seine innere Anspannung plötzlich nachließ und musste lächeln.

»Sieht schön aus, oder?«, hörte er Sameeras leise Stimme neben sich. »Ich kann mir nicht helfen… irgendwie erinnert er mich an dich.«

Er warf ihr einen verblüfften Seitenblick zu. »Wieso? Ich finde nicht, dass wir uns ähnlich sind.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst, mera jaan.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, dann hob sie die Hand. »Zeenath, Moussa, Zooni –holt ihr das Geschirr, bitte? Die anderen bringen bitte den Saft und das Naan her. Und du, Yussuf« – sie warf dem jüngsten Bewohner des Dar-as-Salam einen durchbohrenden Blick zu – »darfst das Wasser holen. Aber dass du mir ja die Finger von dem Schlauch lässt!«

Vikram hörte, wie Raja Sharma leise und leicht amüsiert schnaubte. Er fasste seinen Gast ins Auge, und erst jetzt fiel ihm auf, dass er nicht mehr dasselbe Hemd trug, das er noch in Srinagar angehabt hatte. Das hatte er sich doch gedacht. Sein Lächeln wurde breiter – und dann fiel ihm das Ersatzteil ein, das er immer noch mit sich herumschleppte. Hastig machte er sich auf den Weg in den Schuppen, um es auszuwechseln und den Generator wieder in Gang zu bringen, solange es noch hell genug dazu war.

Eine Viertelstunde später saßen vierzehn Männer, Frauen und Kinder auf Decken unter dem alten Chenarbaum neben der Feuerstelle. Das Parsi-Hühnercurry mit seiner feinen Kokosnote schmeckte ausgezeichnet, und die Kinder waren fasziniert von der leuchtend roten Farbe, die das Curry den Kashmir-Chilischoten verdankte. Vikram dagegen erinnerte dieses Rot unwillkürlich an das Rogan Josh, das es an dem Tag gegeben hatte, als Sameera erstmals in das Dar-as-Salam gekommen war. Yussuf war damals auf ihrem Schoß eingeschlafen; er hatte die Ärztin angesehen, der er an diesem Tag erst zum zweiten Mal begegnet war, und er hatte sich so stark zu ihr hingezogen gefühlt, dass er erschrak.

Ihre Augen begegneten sich und er begriff, dass sie sich an denselben Moment erinnerte. Und dann drehte er den Kopf ein wenig und merkte, dass Raja Sharma Sameera ebenfalls anblickte; dabei schaute er nachdenklich und ein wenig besorgt drein, als stünde er vor einem Rätsel, das ihm nicht wirklich gefiel.

Als die Mahlzeit beendet war und die Kinder mit Sameera und Zobeida alles wieder zurück ins Haus trugen, ging Vikram zu seinem Gast, der gerade eine Decke zusammenfaltete.

»Die Kinder werden jetzt im Aufenthaltsraum noch ein bisschen spielen oder lernen – je nachdem, wer was nötig hat«, sagte er. »Aber wenn Sie wollen, können wir hier draußen bleiben. Es wäre schade um das schöne Feuer – und ich hätte da auch noch eine Flasche Whiskey im Schrank, die ich höchst ungern allein anbrechen würde. Was meinen Sie?«

Sharma sah ihn an und lächelte.

»Ein Lagerfeuer, und Whiskey obendrein?«, fragte er. »Das klingt gut. Ich bin dabei.«

***

Der Whiskey zog eine weiche, feurige Spur seine Kehle hinunter. Vikram beugte sich vor und stieß einen dicken Ast tief in die Flammen. Glut wirbelte auf und erhitzte seine Wangen.

Er hob den Kopf und betrachtete sein Gegenüber, das entspannt auf der Decke im Schein des Feuers saß. Raja Sharma strahlte eine merkwürdige, tiefe Ruhe aus – wie jemand, der mit sich selbst im Gleichgewicht war. Was Vikram in diesem Mann witterte, war allerdings kein leicht errungener Friede, oder er sollte sich doch sehr täuschen. Sei’s drum – vielleicht machten die Schlachten, die zu diesem Frieden geführt hatten, ihn nur umso wertvoller.

Auch Raja Sharma trank einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Dann atmete er tief durch und straffte die Schultern, als hätte er einen Entschluss gefasst.

»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er, »aber vorher muss ich Ihnen etwas erzählen, sonst kriegen Sie die Frage womöglich in den falschen Hals.«

»Keine Sorge.« Vikram holte eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und zündete sich eine an. »Normalerweise passiert mir so was eher selten.«

»Auch, wenn es um Ihre Frau geht?«

Vikram warf ihm über das Feuer hinweg einen scharfen Blick zu.

»Sehen Sie, das habe ich gemeint.« Sharma lächelte leicht. »Wenn es um Ihre Frau geht, dann schalten Sie um… auf so eine Art Leibwächter-Modus. Wenn man Sie beide zusammen sieht, dann fällt das sofort auf – die Art, wie Sie sie anschauen und sich immer ganz in ihrer Nähe aufhalten. Als müssten Sie sie beschützen. Und dabei wirkt sie wie ein Mensch, der sehr gut selber auf sich achtgeben kann.«

»Kann sie auch. Sie hat es ihr halbes Leben lang getan.« Vikram spürte, wie plötzlicher Ärger in ihm aufstieg, aber er nahm sich zusammen.

Sharma leerte sein Glas und stellte es auf die steinerne Umrandung der Feuerstelle.

»Heute Nachmittag, als Sie kurz unterwegs waren, um das Ersatzteil für den Generator zu holen – da hat sich Ahmad hier an einem Holzscheit verbrannt, und zwar ordentlich.«

Vikram nickte. »Ja, ich weiß.«

»In dem Moment, als es passiert ist, hat er natürlich furchtbar geschrien; kein Wunder, es war eine ziemlich hässliche Wunde. Ihre Frau war als Erste zur Stelle. Sie hat sich überhaupt nicht aufgeregt, deswegen hat sich der Junge auch sehr schnell wieder beruhigt. Sie hat ihn getröstet, die Verbrennung behandelt und verbunden. Ging alles ganz schnell.«

»Und dann?«

»Als das Drama vorbei war, wurde sie schlagartig kreidebleich, rannte wortlos an mir vorbei und verschwand um die Hausecke. Ich wollte mich ganz bestimmt nicht aufdrängen, verstehen Sie mich richtig; aber sie war so schnell weg, dass außer mir wahrscheinlich keiner etwas gemerkt hat, und ich wollte nachsehen, ob sie Hilfe braucht.« Sharma hielt inne, und sein Blick wurde abwesend, als hätte er ein sehr starkes, verstörendes Bild vor seinem inneren Auge. »Also bin ich ihr hinterhergegangen. Sie… sie hatte sich übergeben und wusch sich an dem Wasserhahn hinter dem Haus das Gesicht. Dazu hatte sie die Ärmel ihres Kameez hochgekrempelt… und da sind mir die Narben aufgefallen.«

Es blieb lange still.

»Ich wollte sie schon ansprechen, habe es mir aber im letzten Moment verkniffen, weil… Ich wusste nicht, ob es Ihrer Frau nicht womöglich unangenehm ist, wenn jemand diese Narben sieht. Und ich wollte sie nicht verletzen. Deshalb bin ich so leise wie möglich wieder gegangen, und ich glaube nicht, dass sie mich bemerkt hat. Aber seitdem kriege ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf.«

Wieder eine Pause, dann gab sich Sharma sichtlich einen Ruck.

»Das war nicht das erste Mal, dass ich Narben von Zigaretten gesehen habe«, sagte er leise. »Da, wo sie mir zuerst begegnet sind, waren sie alltäglich. Aber auf den Armen einer Therapeutin in Kashmir hatte ich sie nicht erwartet.«

Vikram seufzte. »Da haben sie auch normalerweise nichts zu suchen… genau wie bei jedem anderen Menschen, übrigens. Wenn die Therapeutin, von der wir hier reden, allerdings in eine alte Kriegsfehde hineingerät und dabei entführt wird… und wenn die Männer, die sie bewachen, auf die Idee kommen, sich auf diese Weise an ihr auszutoben… dann kommt so etwas vor.«

Er starrte ins Feuer, bis seine Augen brannten, eigenartig dankbar dafür, dass sein Gegenüber nicht antwortete.

»Sie wurde verschleppt, um mich für etwas zu bestrafen, was ich drei Jahre zuvor getan hatte, während einer Untersuchung für die indische Regierung.« Er zögerte, dann holte er tief Luft und beschloss, es zu riskieren. »Sie müssen wissen, ich habe damals als Agent für die indische Abwehr gearbeitet.«

»Als Agent?« Sharma öffnete den Mund, als wollte er spontan etwas sagen, schwieg dann aber doch. Eine ganze Weile war außer dem Knistern des Feuers nichts zu hören. Vikram wartete; er war noch nervöser, als er gedacht hatte.

»Das heißt, Sie waren undercover unterwegs, ja?« Die Stimme seines Gegenübers war sehr sachlich; Vikram antwortete im selben Tonfall.

»Ja. Ich habe eine Verschwörung untersuchen müssen, die sich hier anbahnte. Mehr darf ich Ihnen darüber aber nicht sagen. Das verstehen Sie sicher.«

»Das verstehe ich.« Sharma rieb sich das Kinn. »Und dann sind Sie mit jemandem aneinandergeraten, der sich Ihre Einmischung nicht gefallen lassen wollte?«

»So ähnlich.« Vikram schnitt eine Grimasse. »Ich musste jemanden… ausschalten, und der gehörte zu einer sehr einflussreichen Familie im Tal, deren Oberhaupt nicht bereit war, die Sache zu vergessen oder zu vergeben.«

Er blickte auf. Sharma beobachtete ihn aufmerksam, sagte aber nichts.

»Und bevor Sie fragen… ja, es waren Waffen im Spiel, und es gab Tote dabei. Ich habe während meiner fünfundzwanzig Jahre bei der Abwehr sehr selten keine Waffe in der Hand gehabt.«

Zu seiner Überraschung lächelte Sharma. Es war ein eigenartig hartes Lächeln, und plötzlich begriff Vikram, dass sein Gegenüber ihm weit mehr Verständnis entgegenbrachte, als er erwartet hatte.

»Passt zu Ihnen«, sagte Sharma ruhig. »Ich hätte Sie nie im Leben für einen Schreibtischtäter gehalten.«

»Äh… danke. Als sie entführt wurde, war Sameera seit gerade mal sieben Monaten in Kashmir; knapp zwei Jahre ist das jetzt her. Sie arbeitete damals für eine medizinische Hilfsorganisation, Medical Relief Worldwide. Außerdem kam sie jede Woche hierher ins Dar-as-Salam und kümmerte sich um meine Kinder. Wir mochten einander sehr, aber ein Paar waren wir nicht… noch nicht. Ich wollte diesen Schritt nicht tun; sie würde das Tal nach einem Jahr Einsatz ja wieder verlassen müssen, und ich… ach, wie auch immer.«

»Angst vor der eigenen Courage?« Sharmas Gesicht entspannte sich in einem kleinen, schrägen Grinsen, und Vikram grinste unwillkürlich zurück.

»Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein Leben plötzlich eine solche Wendung nimmt«, sagte er. »Und ganz ehrlich – was eine Frau wie sie ausgerechnet an mir findet, konnte ich mir noch viel weniger vorstellen.«

»Das können wir doch nie.« Sharma hielt ihm das Glas hin, und er goss es noch einmal voll. »Wir Männer, meine ich. Darf ich fragen, wie Sameera damals wieder freigekommen ist?«

Vikram sah ihn nicht an. »Mit… mit sehr viel Glück, würde ich sagen. Ihre Aussage brachte besagtes Oberhaupt der Familie ins Gefängnis; dort ist er einige Zeit später gestorben. Da war Sameera aber schon nicht mehr hier; ihre Hilfsorganisation hatte sie in ihre Heimat zurückgeschickt, nach Irland. Und ich… eigentlich wollte ich, dass sie dort bleibt. In Sicherheit. Ich hatte Angst, dass ihr doch noch etwas zustößt.«

»Kann ich sehr gut verstehen.« Sharma nahm einen Schluck Whiskey. »Ich vermute, Ihre Frau war anderer Ansicht?«

»Das kann man wohl sagen.« Vikram griff nach der Flasche… und stellte sie wieder weg, ohne sich nachzuschenken. »Sie hat alle Brücken in Irland abgebrochen und ist zurückgekommen. Seit neun Monaten ist sie wieder hier in Kashmir… und vor sieben Monaten, also im Oktober, haben wir geheiratet.«

»Mubarak ho!« Sharma lächelte. »Eine ziemlich junge Ehe also… ähnlich wie bei mir, wobei meine Frau und ich es jetzt immerhin schon auf drei Jahre Ehe gebracht haben. Leider konnte sie diesmal nicht mitkommen, aber bei meinem nächsten Kashmir-Besuch bringe ich sie auf jeden Fall mit.«

Vikram sah ihn verblüfft an. Er hätte darauf gewettet, dass ein Mann wie dieser Sharma früh geheiratet und jetzt gut und gerne schon zwanzig, dreißig Jahre Ehe hinter sich hatte. Dann jedoch erinnerte er sich an etwas, das Sharma ein paar Minuten zuvor gesagt hatte.

Das war nicht das erste Mal, dass ich Narben von Zigaretten gesehen habe. Da, wo sie mir zuerst begegnet sind, waren sie alltäglich.

Und plötzlich begriff er.

»Sie haben gesessen, oder?« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Wie lange?«

Sharma sah ihn an. Sein Blick war offen, aber seine Augen waren schlagartig dunkel geworden.

»Fünfundzwanzig Jahre«, antwortete er leise.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis Vikram diese Information soweit verdaut hatte, dass er imstande war, die einzig logische Folgefrage zu stellen.

»Weswegen?«

»Vergewaltigung und Mord.«

Vikram starrte seinen Gast an. Ein tief eingegrabener Instinkt spannte seinen Körper an wie eine Stahlfeder, bereit zur Abwehr, bereit, als Erster zuzuschlagen. Sharmas Gesicht verzog sich zu einem müden, unfrohen Lächeln.

»Keine Sorge – Sie haben sich mit mir keine Gefahr ins Haus geholt… für Sie nicht und schon gar nicht für Ihre Kinder. Weil…« Er zögerte.

»Weil was?«

Vikram beugte sich vor und sah ihn scharf an. Er widerstand nur mit Mühe dem Impuls, die Arme auszubreiten, als müsse er das Haus, das hinter ihm in der Dunkelheit schlummerte, vor diesem Fremden schützen.

Sharma gab einen fast lautlosen Seufzer von sich.

»Wissen Sie, meine Geschichte ist etwas kompliziert«, sagte er. »Und nicht jeder, dem ich sie erzähle, ist sofort bereit, mir zu glauben. Erst wenn ich ein bisschen weiter aushole, wird die Sache klarer. Die Frage ist, ob Sie bereit sind, mir so lange zuzuhören – und ob Sie überhaupt Lust dazu haben. Oder ob es Ihnen lieber ist, wenn ich so schnell wie möglich wieder verschwinde, weil Sie mit einem Ex-Sträfling schon aus Prinzip nichts zu tun haben wollen.«

Vikram schnaubte sarkastisch. »Glauben Sie mir, nach all meinen Jahren bei der Abwehr erschüttert mich so leicht nichts mehr. Also raus damit –erzählen Sie mir, was es mit Ihrem Mord auf sich hat, und dann werden wir schon sehen, was ich davon halte… und ob ich Ihnen glaube oder nicht.«

Sharma schaute in die knisternden Flammen und atmete tief durch.

»Also gut.«

Kapitel 1

Der Heimkehrer

Es war dunkle Nacht, und es regnete in Strömen.

Eine Straßenlaterne warf ein mattes Licht auf die abgelegene Straße am Dorfrand. Ein paar kleine Häuser säumten den Weg, wie zufällig aus einem Würfelbecher gerollt und da und dort liegengeblieben. Nur wenige Fenster waren noch erleuchtet. Die meisten Bewohner schliefen längst. Niemand bemerkte die hochgewachsene Gestalt im dunkelgrauen Mantel, die sich vorsichtig dem grünen, schmiedeeisernen Gartentor näherte, hinter dem ein Kiesweg zu einem dieser wenigen Häuser führte.

Der hochgeschlagene Kragen schützte den Mann wenig vor den sintflutartigen Regenfällen. Aber er schien es gar nicht zu bemerken. Langsam ging er auf das Gartentor zu, entzifferte im Schein der Straßenlaterne das Namensschild mit der Aufschrift SHARMA. Als er merkte, dass er dabei selbst in den matten Lichtkegel geraten war, trat er schnell ein paar Schritte zur Seite und verschmolz wieder mit der Dunkelheit.

Starr und unentwegt blickte der Mann auf das Haus. Erbarmungslos peitschte der Regen sein Gesicht, und Tropfen rannen ihm die Wangen hinab. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals. Hier lebten sie also nun. In Shivapur. Doch für ihn, das wusste er, würde diese Tür verschlossen bleiben.

In die kalten Regentropfen, die über sein Gesicht liefen, mischten sich heiße, salzige Tränen, als der Mann sich abwandte und in die Schatten der Nacht eintauchte.

***

Surya Sharma hatte nichts gegen den Monsun. Eigentlich. Nach Monaten staubiger Trockenheit und Hitze waren die langanhaltenden Regenfälle zur Jahresmitte üblicherweise eine ersehnte und höchst willkommene Erfrischung, die Mensch und Natur in Maharashtra gleichermaßen aufatmen ließ.

Aber manchmal konnte es dieser segensreiche Regen auch übertreiben. So wie heute.

Es war spät in der Nacht, er war zu Fuß unterwegs und schon fast zu Hause angekommen, als der Himmel seine Schleusen mit einem Mal derart weit öffnete, dass Surya ebenso wie sämtliche anderen Passanten hastig nach einer Möglichkeit suchte, sich irgendwo unterzustellen. Er flüchtete unter das Vordach eines heruntergekommenen Hauses, an dem die ausgebleichte Werbetafel einer ehemaligen Schlosserei hing, ließ sich auf einer umgedrehten Tonne nieder und beschloss, hier zu warten, bis der Starkregen zumindest ein wenig nachließ.

Kurz zuvor hatte er an dem Karren eines Straßenhändlers eine Tüte mit kleinen frittierten Snacks erstanden, die er nun hervorholte. Ein würziger, verlockender Duft stieg ihm in die Nase, als er die Tüte öffnete und eines der noch warmen Pakoras herausangelte. Genüsslich zerkaute er das Blumenkohlröschen in dem zarten Teigmantel aus Kichererbsenmehl, während vor seinen Augen der Wolkenbruch auf der mittlerweile völlig überfluteten Straße ein wahres Trommelfeuer veranstaltete.

Ein Blitz jagte ein gleißend helles Licht über den nachtschwarzen Himmel, gefolgt von dem anhaltenden, lauten Krachen eines Donners. Aus den Augenwinkeln sah Surya, wie sich neben ihm auf der Erde etwas regte… ein Bündel im Schatten der Hauswand, das er bislang noch gar nicht wahrgenommen hatte. Jetzt hob sich dort ein Kopf, zwei Augen blinzelten, zwei Hände fuhren über ein hageres, bleiches Gesicht.

Überrascht betrachtete Surya den Mann, der offenbar von dem Donnerschlag aus seinem Schlaf gerissen worden war. Ein Obdachloser vermutlich… auch wenn der dunkelgraue Mantel, den er trug, von guter Qualität zu sein schien. Gestohlen vielleicht, dachte Surya und wich unwillkürlich ein Stück zur Seite bei der Vorstellung, dass sich unter dem Mantel möglicherweise irgendwo ein Messer verbarg.

Jetzt hatte der Mann ihn entdeckt und zuckte zusammen. Wortlos taxierten sie einander. Dabei legte sich Suryas erstes Gefühl der Unruhe wieder ein wenig. Der Mann sah nicht gefährlich aus, auch wenn sich über seine rechte Wange eine mehrere Zentimeter lange, tief eingekerbte Narbe zog. Der Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen war eher scheu als aggressiv oder lauernd. Nach einer Weile glitt sein Blick plötzlich zu der Pakoratüte in Suryas Hand und blieb dort hängen, voller Sehnsucht und ganz offensichtlich hungrig.

Mit einem Mal erfasste Surya ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte… eine Mischung aus Erbarmen und einer spontanen Zuneigung zu diesem Fremden, dem es eindeutig so viel schlechter ging als ihm. Einladend hielt er ihm die Tüte entgegen. Der Mann zögerte, dann streckte er vorsichtig die Hand aus, als rechnete er jeden Moment damit, dass das verheißungsvolle Angebot wieder weggezogen wurde. Mit den Fingerspitzen nahm er ein Pakora aus der Tüte. Seine Augen fanden die von Surya, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem scheuen Lächeln.

»Danke«, sagte er leise.

Er steckte sich das Pakora in den Mund und hob zum Dank die gefalteten Hände. Surya nickte ihm zu. Wie alt mochte er sein? Sein Gesicht wirkte verhärmt und müde, sein kurzgeschnittenes dunkles Haar war bereits von ersten Silberfäden durchzogen… fünfzig vielleicht? Älter? Oder doch jünger? Er tat sich schwer damit, es einzuschätzen.

»Wie heißt du?«, fragte er, als sein Gegenüber den Bissen hinuntergeschluckt hatte.

Erneut zögerte der Fremde kurz, dann antwortete er: »Raja.«

»Ich bin Surya.« Er bediente sich aus seiner Pakoratüte und hielt sie noch einmal dem Mann entgegen. »Greif ruhig zu, solange noch was da ist. Wo musst du denn heute noch hin?«

Ein Schatten glitt über das Gesicht des Fremden.

»Ich… heute nirgends mehr.« Er fischte ein frittiertes Kartoffelstückchen aus der Tüte. »Wenn, dann morgen.«

»Wieso wenn?«, fragte Surya verständnislos.

»Weil ich noch nicht sicher bin«, erwiderte der Fremde. »Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Ich bin ziemlich… unerwünscht.« Er schob sich das Pakora in den Mund.

»Stammst du aus Shivapur?«, wollte Surya wissen.