Rattenweihnacht - Ingrid Zellner - E-Book

Rattenweihnacht E-Book

Ingrid Zellner

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Beschreibung

Kurz vor Weihnachten taucht in dem Dorf Buchelfingen eine Frau auf, die ihr Gedächtnis verloren hat und nicht mehr weiß, wer sie ist. Man gibt ihr den Namen Maria, und die etwas verschrobenen Brüder Gunnar und Leander Biber nehmen sie bei sich auf. Dabei haben sie derzeit eigentlich ganz andere Probleme: Ihre Mutter ist seit einer Woche spurlos verschwunden, und sie erhalten Drohbriefe, die ihnen ein Verbrechen unterstellen und Vergeltung dafür ankündigen. Bald werden im Dorf erste Vermutungen laut, dass diese rätselhafte Maria etwas damit zu tun haben könnte. Eine Frau ist sich sogar sicher, sie aus ihrer Jugendzeit zu kennen. Doch was tatsächlich hinter Marias Aufenthalt in Buchelfingen steckt, ahnt niemand.

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Autorin

Ingrid Zellner

wurde 1962 in Dachau geboren. Sie studierte in München Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Geschichte (1988 Magisterexamen). Von 1990 bis 1994 war sie als Dramaturgin am Stadttheater Hildesheim engagiert, von 1996 bis 2008 in derselben Funktion an der Bayerischen Staatsoper München. Heute ist sie vor allem als Übersetzerin (Schwedisch) und als Autorin tätig. Sie veröffentlichte Romane, Krimis, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten, CD-Booklet-Texte, Artikel und Theaterstücke. Daneben ist sie Regisseurin und Schauspielerin; große Erfolge u. a. als Dorfrichter Adam in Kleists Der zerbrochne Krug. Sie ist Backing Vocalist für die Punk-Rock-Band Garden Gang und leitete sechs Jahre lang ein Jugendtheater-Ensemble. Derzeit lebt sie in Gomadingen auf der Schwäbischen Alb und spielt im Ensemble des Naturtheaters Hayingen. Ihre bevorzugten Reiseziele sind die Länder Skandinaviens, die Arktis und Indien.

Titel

Ingrid Zellner

RATTENWEIHNACHT

Kriminalroman

Oertel+Spörer

Impressum

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2023

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: Ingrid Zellner

Titelgestaltung: Lotta Weiler

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-159-6

Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

SAMSTAG, 2. DEZEMBER

Der erste Schnee des Jahres fiel genau einen Tag vor dem ersten Advent.

Auf dem Spielplatz im Herzen des Dorfes Buchelfingen jubelten die Kinder über die weiße Pracht, bewarfen einander lachend mit Schneebällen und tanzten fröhlich mit den Flocken um die Wette.

Die kleine Emma drehte sich dabei, die Arme weit ausgebreitet und das Gesicht zum Himmel erhoben, so oft um ihre eigene Achse, bis ihr schwindlig wurde, sie über ihre eigenen Beine stolperte und der Länge nach im Schnee landete. Aber das machte ihr überhaupt nichts aus. Sie war selig, denn sie liebte Schnee, und sie hoffte inständig, dass er bis Weihnachten liegenblieb … oder wenigstens bis zu ihrem siebten Geburtstag am dreizehnten Dezember.

Während sie sich wieder hochrappelte, fiel ihr Blick auf eine Frau, die am Rand des Spielplatzes auf einer Bank saß und mit seltsam ausdruckslosem Gesicht vor sich hinstarrte. Emma musterte sie neugierig. Sie war sich sicher, dass sie diese Frau noch nie zuvor gesehen hatte. Außerdem fand sie, dass die Fremde sich für dieses Wetter bei weitem nicht warm genug angezogen hatte: Sie trug keine Mütze, keine Handschuhe und keinen Schal, nur ein Tuch um den Hals, und ihr marineblauer Trenchcoat wirkte eher wie ein dünner Regenmantel. Sie hielt die Arme vor der Brust gekreuzt und rieb sich mit den Händen die Oberarme. Ganz offensichtlich war ihr kalt.

Kurz entschlossen stapfte Emma über die verschneite Wiese zu ihr, nahm ihren tomatenroten Wollschal ab und hielt ihn der Frau hin.

»Hier – damit du nicht mehr so frierst!«

Die Frau zuckte leicht zusammen, dann hob sie den Kopf und schaute Emma an. Sie wirkte überrascht, machte aber keinerlei Anstalten, nach der unerwarteten Gabe zu greifen. Emma lächelte aufmunternd.

»Du kannst ihn ruhig nehmen. Ich hab noch zwei andere zuhause.«

Der Blick der Frau wanderte zu dem Schal und wurde eindeutig sehnsüchtig. Emma stellte fest, dass die Fremde Augen von einem wunderschönen, klaren Blau hatte, und seufzte innerlich. Solche leuchtend blauen Augen hätte sie auch zu gerne gehabt – nicht so gewöhnliche blaugraue, wie auch ihre Mama sie hatte.

Langsam streckte die Frau eine Hand aus, die Finger strichen zart über die rote Wolle. Dann nahm sie Emma vorsichtig, als traute sie der Sache noch nicht recht, den Schal aus der Hand – und als Emma ihn bereitwillig losließ, knüllte sie ihn mit beiden Händen zusammen, drückte ihr Gesicht mehrere Sekunden lang in das weiche Wollbündel und schlang sich den Schal dann hastig um den Hals. Sie atmete tief durch, sah Emma an, und zum ersten Mal huschte ein scheues Lächeln über ihr Gesicht.

»Danke«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang tief und rau, als hätte sie sie seit Jahren nicht mehr benutzt.

»Steht dir gut!«, versicherte Emma.

Erneut umspielte ein kleines Lächeln die Lippen der Fremden, und plötzlich rückte sie ein wenig beiseite – eine wortlose, aber unmissverständliche Einladung an Emma, und die setzte sich sofort bereitwillig neben die Frau auf die Bank.

»Wie heißt du denn?«, erkundigte sie sich neugierig. »Ich heiße Emma!«

Schlagartig erlosch das Lächeln der Fremden, und ihr Gesicht verdüsterte sich, als hätte Emma mit ihrer Frage auf einen Lichtschalter gedrückt.

»Das … das weiß ich nicht«, sagte sie leise.

Emma sah sie verständnislos an.

»Was meinst du damit?«, fragte sie. »Du musst doch wissen, wie du heißt!«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich … ich weiß es nicht. Kannst du mir sagen, wo ich hier bin?«

»In Buchelfingen«, erklärte Emma.

»Buchelfingen …«, wiederholte die Frau langsam. »Sagt mir nichts.«

Die Sache wurde für Emma immer rätselhafter.

»Wie bist du denn hierhergekommen?«, machte sie einen weiteren Versuch. »Mit dem Bus aus Neustadt, oder mit dem Auto?«

»Weiß ich nicht«, antwortete die Frau tonlos.

»Und wo kommst du her?«, fragte Emma beharrlich weiter. »Weißt du das wenigstens?«

Die Frau schien angestrengt nachzudenken, dann seufzte sie und sank resignierend in sich zusammen.

»Nein«, sagte sie leise. »Ich weiß nichts. Überhaupt nichts. Es ist wie … Nebel in meinem Kopf.«

Emma war völlig verwirrt. Wie war das möglich? Konnte jemand wirklich so gar nichts über sich selbst wissen? Verstohlen musterte sie die Frau, die jetzt wieder stumm zu Boden starrte, von der Seite. Ihre Gesichtszüge wirkten herb und leicht verhärmt, sie war sicher älter als Emmas Mama, aber wohl noch nicht ganz so alt wie die Oma. Besonders bewunderte Emma die langen goldblonden Haare, die die Frau im Nacken zusammengebunden hatte, von wo sie in leichten Wellen den halben Rücken hinabfielen. Sie selbst war weizenblond wie ihre Mama, aber bei ihr reichte die Länge nur für einen lustig wippenden Pferdeschwanz.

»Weißt du was?«, sagte sie plötzlich entschlossen. »Ich nenn dich Maria, bis dir dein Name wieder einfällt. Gefällt dir das?«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Frau reagierte und Emma das Gesicht zuwandte. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.

»Wieso Maria?«, fragte sie unsicher.

»Weil du aussiehst wie die Maria auf meinem Adventskalender«, erklärte Emma eifrig. »Die hat auch so schöne lange blonde Haare. Und sie hat einen blauen Mantel an, genau wie du. Drunter hat sie zwar ein rotes Kleid und keine Jeans – aber dafür hast du jetzt den roten Schal. Passt doch!«

Der Blick der Fremden wanderte zu dem Schal um ihrem Hals. Langsam strich sie mit den Fingerknöcheln über die rote Wolle, während ihre Mundwinkel sich ganz leicht nach oben bewegten.

»Maria …«, sagte sie leise. »Das klingt schön.«

»Emma?«

Emmas Kopf wirbelte herum. Das war ihre Mama, die da nach ihr gerufen hatte – und gleich darauf sah sie ihre Mutter auf sich zuhasten, schwer beladen mit zwei großen, prall gefüllten Einkaufstaschen.

»Da bist du ja, Kind!«, keuchte Mama. »Ich such dich schon überall. Komm, es wird Zeit, dass wir heimgehen!«

Ihr Blick streifte die fremde Frau neben ihrer Tochter – und blieb an dem roten Schal hängen. Bevor sie jedoch dazu etwas anmerken konnte, übernahm Emma kurz entschlossen die Initiative.

»Das ist Maria, Mama«, erklärte sie. »Sie hat ganz furchtbar gefroren, deshalb hab ich ihr meinen Schal geschenkt. Das darf ich doch, oder?«

Emmas Mutter runzelte die Stirn und stellte ihre Einkaufstaschen ab. Aber während sie noch nach einer Antwort suchte, stand die Fremde auf und nahm zögernd den Schal ab.

»Bitte, seien Sie Ihrer Tochter nicht böse«, bat sie leise. »Sie ist so lieb … und natürlich gebe ich den Schal zurück, wenn Sie es möchten. Ich will nicht, dass die Kleine wegen mir Schwierigkeiten bekommt.«

Emmas Mutter betrachtete verwundert den Schal, den die Fremde ihr entgegenhielt. Dann pustete sie aus dem Mundwinkel nach einer Schneeflocke, die gerade weich auf den Wimpern ihres rechten Auges landete, und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem freundlichen Lächeln.

»Nun … es ist ihr Schal, und sie kann damit machen, was sie will«, sagte sie. »Sie können ihn also gerne behalten, Frau … wie war Ihr Name? Maria?«

»Nein!«, entgegnete die Fremde heftig, dann stockte sie und blickte verlegen zu Boden. »Nein, ich … ich weiß es nicht.«

»Sie weiß auch nicht, woher sie ist!« Emma sprang auf und nahm die Hand der Fremden. »Und sie ist total durchgefroren – fühl nur, sie ist eiskalt! Kann sie nicht mit zu uns kommen und sich aufwärmen?«

»Moment mal!« Emmas Mutter hob abwehrend die Hand, um den Eifer ihrer Tochter zu bremsen. »Immer langsam mit den jungen Pferden! Sag mir erst mal, wie du auf den Namen Maria kommst – du hörst doch, die Dame sagt, dass sie gar nicht so heißt.«

»Aber irgendwie muss sie ja heißen!«, protestierte Emma. »Ich kann ja nicht einfach nur ›du da‹ zu ihr sagen. Und ich find ›Maria‹ schön.«

Emmas Mutter schüttelte den Kopf. Sie wandte sich der Frau zu, die scheu den Schal an ihre Brust drückte, und musterte sie ernst. »Hören Sie … ähm … Maria. Kann das wirklich sein? Sie wissen nichts über sich?«

Die Fremde senkte den Blick. »Nein. Ich weiß nur noch, dass mir entsetzlich kalt war – und dann stand plötzlich dieses Kind mit dem Schal in der Hand vor mir. Wie ein … wie ein Engel vom Himmel.«

Erneut lächelte Emmas Mutter. »Sagen Sie das nicht zu laut, sonst wird meine Kleine mir am Ende noch eingebildet. Ich bin übrigens Kristina Geiger. Nennen Sie mich ruhig Kristina – ich kann Sie ja auch nur mit einem Vornamen anreden.«

»Kristina.« Emma verdrehte die Augen und grinste. »Kicki heißt meine Mama! Alle sagen so zu ihr, auch Papa!«

»Emma, bitte!«, wies Kristina Geiger ihre Tochter zurecht, aber ein belustigtes Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie nicht ernsthaft verärgert war. Sie musterte die Fremde. »Sagen Sie, haben Sie denn keinen Geldbeutel bei sich? Da stecken doch meistens auch Papiere drin, Ausweis, Führerschein … und wenn’s nur Visitenkarten sind, aber damit wäre uns doch schon weitergeholfen!«

Die Fremde sah sie verblüfft an, offensichtlich war ihr diese naheliegende Maßnahme bislang noch nicht in den Sinn gekommen. Hastig tastete sie die Taschen ihres Trenchcoats und ihrer Jeans ab – und ließ niedergeschlagen den Kopf sinken.

»Nichts«, sagte sie tonlos.

Kristina Geiger seufzte leise. »Dann wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als die Polizei zu verständigen.«

»Nein!« Schlagartig flackerte wilde Panik in den Augen der Fremden, und sie streckte hektisch und abwehrend die Hände aus. »Nicht die Polizei, bitte – nicht die Polizei!«

»Wieso das denn?« Verwundert sah Emma zu ihr hoch. »Hast du Angst vor der Polizei?«

»Nein, ich … ich …«

Sie stockte, schloss die Augen und verbarg das Gesicht in den Händen. Verwirrt und ratlos sah Emma abwechselnd sie und ihre Mutter an. Auch Kristina Geiger schien nicht zu wissen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte, und legte lediglich, wie in einer Art Schutzreflex, den Arm um die Schultern ihrer Tochter und zog sie an sich. Nach einer Weile ließ die Fremde die Hände sinken und blickte auf. Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Ich weiß nicht«, sagte sie leise.

Ihr Kinn zitterte, ihre Zähne klapperten aufeinander und sie begann, heftig und stoßweise ein- und auszuatmen, während sie fest die Arme vor der Brust kreuzte.

»Mein Gott, Mama!«, platzte Emma heraus. »Sie friert so furchtbar – bitte, wir müssen ihr doch helfen! Bei uns zuhause ist es so schön warm!«

»Aber Emma, Kind«, erwiderte Kristina Geiger, »wir können doch nicht einen wildfremden Menschen mit zu uns nach Hause nehmen!«

»Wenigstens für heute Nacht«, beharrte Emma. »Hier draußen erfriert sie doch! Und außerdem – es ist doch bald Weihnachten! Maria und Josef hätten sich bestimmt auch gefreut, wenn jemand sie reingelassen hätte, damit sie nicht in dem kalten Stall schlafen müssen.«

Kristina Geiger betrachtete ihre Tochter nachdenklich. Nach einer Weile entspannte sich ihre ernste Miene, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Aha. Und du meinst, wenn wir schon keinen Josef reinlassen können, dann wenigstens eine Maria?« Das Lächeln verschwand. »Aber was würde Papa dazu sagen? Hast du daran mal gedacht?«

»Papa würde Maria nie in einen Stall stecken!«, erklärte Emma im Brustton der Überzeugung.

Kristina Geiger gluckste leise. Dann wandte sie sich an die Fremde.

»Hören Sie, Maria – meine Tochter hat recht, wir können Sie hier jetzt nicht einfach Ihrem Schicksal überlassen. Wenn Sie möchten, dann kommen Sie erst mal mit zu uns. Ich mache Feuer im Kamin, koche Ihnen einen schönen heißen Tee und gebe Ihnen eine Decke, damit Ihnen wieder warm wird.« Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. »Mein Mann wird auch bald nach Hause kommen, dann entscheiden wir gemeinsam, wie wir weiter vorgehen werden – ob wir Sie in die Klinik bringen, oder besser doch gleich zur Polizei …«

Sie hob beschwichtigend die Hände.

»Ich weiß, das wollen Sie nicht, aber daran werden Sie nicht vorbeikommen. Vielleicht liegt ja sogar schon eine Vermisstenanzeige für Sie vor – und Sie wollen doch sicher auch wissen, wer Sie sind und was Ihnen passiert ist, nicht wahr?«

*

Falko Geiger hasste es, am Samstag arbeiten zu müssen. Üblicherweise hatte er am Wochenende frei, aber in seiner Position als Marketing-Manager eines erfolgreichen Reutlinger Unternehmens mit Zweigstelle in Neustadt ließ es sich bisweilen nicht umgehen, dass er auch am Samstag oder sogar an einem Sonntag an einem Meeting teilnehmen oder eine Sonderschicht einlegen musste, um eine wichtige Arbeit termingerecht abzuschließen. Heute war es zum Glück nur eine Besprechung mit Kunden von auswärts gewesen, die erfreulich reibungslos vonstatten gegangen war, und er atmete erleichtert auf, als er seinen dunkelblauen Mercedes elegant aus der Tiefgarage seines Arbeitgebers manövrierte.

Er gratulierte sich dazu, dass er schon vor ein paar Wochen vorsorglich die Winterreifen hatte aufziehen lassen, denn aus den ersten zarten Flocken, die er beim Frühstück durch das Fenster beobachtet hatte, war mittlerweile ein dichtes Schneegestöber geworden. Und auch wenn die Räumfahrzeuge hier oben auf der Schwäbischen Alb meist erfreulich zuverlässig ihre Runden drehten – überall zugleich konnten sie nicht sein, und er hatte es schon mehr als einmal erlebt, dass die Fahrt in das gut zwanzig Kilometer entfernte Dorf Buchelfingen, in dem er mit seiner Familie lebte, bei starkem Schneefall zu einer veritablen Rutschpartie werden konnte.

Während in seinem Autoradio Johannes Oerding »Wir sind wie blinde Passagiere« sang, lenkte er den Wagen behutsam aus der hell beleuchteten Stadt hinaus auf die Landstraße. Die Sonne hatte sich bereits verabschiedet, und in den Strahlenkegeln seiner Scheinwerfer, die ihm den Weg durch den winterlichen Dämmer wiesen, vollführten die Schneeflocken ihren wilden Tanz. Bis er zuhause ankam, würde es bereits dunkel sein.

Jedenfalls draußen. Im Haus würden mit Sicherheit jede Menge Lichter brennen. Schließlich war heute Lillajul. Und Kicki und Emma warteten bestimmt schon voller Vorfreude auf ihn, damit sie gemeinsam dieses Fest feiern konnten, das seine Frau quasi mit in die Ehe gebracht hatte.

Er lächelte in sich hinein. Kicki. Zehn Jahre war es jetzt her, dass er die hübsche, lebenslustige Kristina Westman bei einer Reise nach Finnland kennengelernt hatte. Gerade mal zwanzig war sie damals gewesen und er zweiundzwanzig, beide jung und voll erwartungsfroher Vorfreude auf das, was das Leben für sie bereithielt. Sie hatte erstaunlich gut Deutsch gesprochen, was sie mit ihrer Oma erklärt hatte, die einst aus Kiel nach Skandinavien eingewandert war und deren Muttersprache sie von klein auf neben Schwedisch und Finnisch erlernt hatte. Schon am ersten Abend waren Falko und Kicki Hand in Hand durch die Straßen von Helsinki geschlendert, im Kaivopuisto-Park hatte er sie geküsst, und als er nach einer Woche zurück nach Deutschland reisen musste, trug er ebenso wie sie einen schmalen Silberring am Finger.

Einige Zeit später besuchte er sie in Mariehamn, auf den Åland-Inseln zwischen Finnland und Schweden, wo sie zuhause war und noch bei ihren Eltern lebte. Hier lernte er unter anderem den Brauch der finnischen Vorweihnachtsfeier pikkujoulu kennen – beziehungsweise lillajul, denn Kickis Familie gehörte zu der schwedischsprachigen Mehrheit auf dem zu Finnland gehörenden Ostsee-Archipel. Das »kleine Weihnachtsfest« am Tag vor dem ersten Advent war als festlicher Auftakt der Adventszeit überaus beliebt, egal ob man es als fröhliche Party mit Freunden oder eher stimmungsvoll im Kreis der Familie feierte. Und Kicki packte es zusammen mit vielen weiteren Gewohnheiten und Traditionen ihrer Heimat sozusagen in den Koffer, als sie schließlich Åland verließ und zu ihm nach Deutschland zog.

Anfangs teilten sie sich noch die bescheidene Zwei-Zimmer-Mietwohnung in Neustadt, in der er damals lebte, und schon da verstand Kicki es meisterhaft, mit weihnachtlicher Deko, brennenden Kerzen und Lichterbögen in den Fenstern eine anheimelnde Lillajul-Stimmung zu zaubern. Gleichzeitig aber träumten beide von einem eigenen Zuhause, und als sie ihm nur wenige Monate nach ihrer Hochzeit strahlend vor Glück verkündete, dass er Vater wurde, begannen sie ernsthaft, sich in den malerischen Albdörfern rund um Neustadt nach einem kleinen Einfamilienhaus mit Garten umzusehen. Fündig wurden sie in Buchelfingen, einem hübschen Dorf unweit von Schloss Lichtenstein, und seine Ersparnisse, darunter eine ansehnliche Erbschaft seines Großvaters, reichten aus, um bei der Bank mit seinem Kreditantrag für die Restfinanzierung auf keinerlei Hindernisse zu stoßen.

Sie kauften das Haus, richteten sich dort ein, und zwei Monate später kam Emma zur Welt und machte ihr Glück vollkommen. Seitdem schmückte Kicki jedes Jahr an Lillajul einen Mini-Weihnachtsbaum für ihre Tochter, und er selbst übernahm mit wachsendem Vergnügen die Rolle des Kobolds, der an die Tür klopft und möglichst ungesehen ein kleines Geschenk ins Haus wirft.

Er freute sich darauf. Er freute sich auf sein schönes, gemütliches Zuhause, auf seine wunderbare Frau, die er immer noch genauso liebte wie an jenem ersten Tag im Kaivopuisto, und auf seine kleine Prinzessin, die so unfassbar süß und sein ganzer Stolz war.

Wenn man es recht bedachte, war er ein verdammt glücklicher Mann.

*

Das Haus am Dorfrand von Buchelfingen leuchtete Falko entgegen wie ein tief verschneites Schmuckkästchen. In sämtlichen Fenstern brannten Kickis Lichterbögen und hießen ihn mit ihrem warmen goldenen Licht willkommen. Er stellte den Wagen in der Garage ab, verschloss das Tor und nahm die Schneeschaufel an sich, die dort an der Wand lehnte. Zwar hatte Kicki den Weg zum Haus hinüber offensichtlich bereits einmal freigeschippt, aber bei dem anhaltenden Schneefall war es sicher besser, wenn er dem Neuschnee nachher noch einmal ordentlich zu Leibe rückte.

Aber jetzt war erst einmal seine Familie dran.

Er öffnete behutsam die Haustür, zog so leise wie möglich die Stiefel aus und hängte seinen Wintermantel an den Garderobenhaken. In der Flurkommode fand er ohne langes Suchen das liebevoll gestaltete Päckchen, das seine Frau vorab dort deponiert hatte. Lächelnd betrachtete er es: Der Form nach war es eindeutig ein Buch und damit genau das Richtige für Emma, die Geschichten über alles liebte und, seit sie lesen gelernt hatte, ein Kinderbuch nach dem anderen verschlang.

Langsam und auf Zehenspitzen schlich er zur Wohnzimmertür und lauschte. Er hörte Radiomusik, die Stimme von Kicki – und das helle Lachen seiner Tochter. Perfekt.

Er klopfte laut und vernehmlich an die Tür, öffnete sie einen Spalt und beförderte das Päckchen mit sanftem Schwung in das Zimmer. Prompt ertönte drinnen ein entzückter Jubelschrei, während er die Tür sofort wieder zuzog und schnell zurück zur Garderobe huschte – gerade noch rechtzeitig, bevor Emma mit dem Päckchen in der Hand auf den Flur stürzte und ihm strahlend um den Hals fiel.

»Papa! Wie schön, dass du endlich da bist! Komm rein, wir haben Besuch!«

Verwundert ließ er es geschehen, dass sie ihn an der Hand packte und energisch in das Wohnzimmer zog. Im Kamin prasselten warme rotgoldene Flammen, und daneben saß in dem alten, von seinen Großeltern geerbten Lehnsessel eine Frau, die er noch nie gesehen hatte. Sie hielt eine große Teetasse in ihren Händen und zog, als sie ihn sah, den Kopf ein wenig ein, als wollte sie für ihre Anwesenheit um Vergebung bitten.

»Das ist Maria!«, verkündete Emma fröhlich. »Maria – das ist mein Papa!«

Falko nickte knapp in die Richtung seines unerwarteten Gastes, dann wanderte sein Blick fragend zu seiner Frau, die in diesem Moment vom Sofa aufstand, zu ihm kam und ihm einen Kuss gab.

»Guten Abend, Liebling«, sagte sie lächelnd. »Ich erklär dir die Sache gleich. Willst du einen Tee?«

Er nickte wortlos, dankbar dafür, dass sie auch in einer solchen Situation zuallererst an sein Wohl dachte. Während sie ihm Tee einschenkte und dabei berichtete, wie Emma sich auf dem Spielplatz dieser Frau, die offensichtlich an Amnesie litt, angenommen hatte, musterte er seine Besucherin von oben bis unten. Mitte vierzig, schätzte er spontan. Ungewöhnlich blaue Augen und schönes blondes Haar – aber ziemlich herbe Gesichtszüge mit einem ausgeprägt eckigen Kinn. Seltsamer Kontrast. Schmale Gestalt in Jeans, einem grauen Pullover und … Er stockte in seinem Gedankengang, als er die Pantoffeln an den Füßen der Frau erkannte: Es waren seine eigenen.

»Meine waren ihr zu klein«, hörte er neben sich Kickis Stimme. Offenbar war sie seinem Blick gefolgt und hatte, wie so oft, seine Gedanken gelesen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihr deine alten geliehen habe.«

Spontan schaute er hinunter auf seine eigenen Füße, dann gab er ein belustigtes kleines Schnauben von sich und hob den Kopf.

»Sie leben eindeutig auf großem Fuß«, stellte er fest. »Haben Sie tatsächlich Schuhgröße 44?«

Die fremde Frau errötete und sah verlegen zu Boden.

»Es ist nie leicht, passende Schuhe für mich zu finden«, sagte sie leise, fast unhörbar. »Meistens muss ich in die Herrenabteilung gehen. Vor allem bei Stiefeln.«

»Das wissen Sie also?«, entfuhr es Falko ungewollt heftig. »Dann haben Sie Ihr Gedächtnis wohl doch noch nicht ganz verloren!«

Das Rot auf den Wangen der Frau vertiefte sich um ein paar Nuancen.

»Es sind nur … ein paar Bilder«, murmelte sie. »Aber sie ergeben nichts Ganzes. Sie passen auch nicht wirklich zusammen. Ich bekomme … einfach nichts zu fassen.«

»Aber gibt es vielleicht noch mehr Details, an die Sie sich erinnern?«, warf Kicki ein. »Zum Beispiel, wo Sie dieses ungewöhnliche Halstuch herhaben?«

Sie wies auf das Seidentuch, das die Frau um den Hals gebunden trug und das Falko auch von Anfang an aufgefallen war: Es war von einem satten, schönen Dunkelblau, und die zahlreichen darauf gedruckten Tierfiguren waren eindeutig kleine Ratten.

Die Frau schüttelte leicht den Kopf und berührte den zarten Stoff mit den Fingerspitzen. »Nein, das … das hatte ich schon immer. Glaube ich jedenfalls.«

Eine Weile herrschte unsicheres Schweigen im Raum. Dann holte Falko tief Luft und räusperte sich.

»Ich denke, wir kommen hier erst mal nicht weiter. Sie brauchen in jedem Fall professionelle Hilfe. Am besten, wir bringen Sie zu einem Arzt oder gleich in die Klinik. Und die Polizei verständigen müssen wir auch, da führt kein Weg dran vorbei …«

Er unterbrach sich, als das helle Läuten der Haustürglocke ertönte. Kicki erhob sich, ging hinaus in den Flur und öffnete. Falko hörte einen kurzen Wortwechsel zweier weiblicher Stimmen und ein Rumoren an der Garderobe. Dann kam Kicki zurück mit ihrer Freundin Mareike Menke im Schlepptau, einer geschmackvoll gekleideten rotblonden Mittvierzigerin, die zwei Häuser weiter wohnte und Falko nun einen Blick zuwarf, der grüßend und verlegen zugleich war.

»Hallo, Falko«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich störe, aber …«

»Du störst doch nicht«, fiel Kicki ihr unbekümmert ins Wort. »Ich hol dir gleich das Mehl – ich hab zwar selber nicht mehr viel übrig, weil es nachher Pfannkuchen gibt, aber für die Tasse für dich wird’s sicher reichen.«

Sie verließ den Raum. Mareike Menke, die neben der Wohnzimmertür stehengeblieben war, warf einen Blick in die Runde, der für ein paar Sekunden forschend an der fremden Besucherin hängenblieb. Dann wandte sie sich an Falko.

»Ich habe heute mit dem Plätzchenbacken angefangen«, erklärte sie, »und mich beim Mehl offenbar schwer verkalkuliert: Ausgerechnet für Adrians Lieblingssorte hat es nicht mehr ganz gereicht. Da dachte ich, ich geh mal kurz bei deiner Frau schnorren – ich bring euch dafür hinterher auch ein paar Kostproben vorbei, versprochen!«

»Wir haben schon gebacken!«, verkündete Emma eifrig. »Schließlich ist heute Lillajul! Und ich hab geholfen, den Pfannkuchenteig zu rühren, die gibt es nämlich jetzt dann gleich, und ich hab schon voll Hunger!«

Mareike Menke lächelte. »Und dann komm ich daher und halte deine Mama auf. Sorry, Süße. Aber ich bin ja gleich wieder weg.«

»Bloß keine Hektik!« Kicki war wieder im Türrahmen erschienen und hielt Mareike Menke eine Mehltüte entgegen, die noch etwa zu einem Drittel gefüllt war. »So viel Zeit muss sein. Reicht dir das?«

»Locker!«, versicherte Mareike Menke. »Danke dir, du rettest mir den Tag. Und noch mal Entschuldigung, ich hab völlig vergessen, dass ihr heute Lillajul feiert. Und dass ihr Besuch habt, hab ich auch nicht gewusst.«

Kicki grinste schräg.

»Wir bis heute Nachmittag auch nicht. Deshalb sind meine ganzen Planungen für den Abend auch ein bisschen durcheinandergeraten und … Was ist denn, Maria?«, fragte sie, als ihre Besucherin sich plötzlich erhob und die Teetasse abstellte.

»Ich … muss zur Toilette«, antwortete die Frau leise.

»Draußen im Flur die letzte Tür links«, erwiderte Kicki. »Am besten, du zeigst es ihr, Emma, ja?«

»Mach ich.« Emma sprang auf. »Komm mit, Maria!«

Die beiden verschwanden nach draußen und schlossen die Wohnzimmertür hinter sich. Mareike Menke folgte ihnen nachdenklich mit den Blicken.

»Kenne ich diese Frau?«, fragte sie zögernd.

»Wenn ja, dann wäre uns sehr geholfen«, antwortete Falko trocken. »Sie selbst hat nämlich keine Ahnung, wer sie ist. Emma hat sie heute Nachmittag beim Spielplatz aufgelesen, und weil sie völlig durchgefroren war, haben wir ihr hier erst mal Zuflucht gewährt. Aber nur bis morgen, dann übergeben wir sie den Behörden. Ich kann ja schlecht die Verantwortung für jemanden mit Gedächtnisverlust übernehmen.«

»Nein, natürlich nicht.« Mareike Menke ließ sich unaufgefordert auf dem Sofa nieder. »Auf den ersten Blick dachte ich ja tatsächlich, sie kommt mir irgendwie bekannt vor – aber ich kann sie nirgends einordnen. Maria heißt sie?«

»Emma nennt sie so«, entgegnete Kicki. »Sie selbst weiß ihren Namen ja nicht mehr.«

Mareike Menke strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und dann behaltet ihr sie tatsächlich über Nacht hier? Ist das nicht etwas riskant?«

»Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich sie heute noch wegbringen«, versetzte Falko. »Aber ganz ehrlich: Bei dem Schneefall habe ich keine Lust, nachts noch mal durch die Gegend zu fahren – und womöglich auch noch von Pontius zu Pilatus, weil niemand sich für die Frau zuständig fühlt. Dann lieber morgen früh, wenn es Tag ist und wir alle ausgeruht sind.«

»Abgesehen davon, dass Emma es dir schwer verübeln würde, wenn du ihre neue Freundin heute noch vor die Tür setzt«, betonte Kicki lächelnd. »Das würde dich unweigerlich auf eine Stufe stellen mit dem brummigen Herbergswirt, der damals die Heilige Familie in den Stall mit der Krippe abgeschoben hat.«

Falko sah sie verblüfft an, aber dann verstand er. Emma würde diesmal bei dem Krippenspiel mitwirken, das wie jedes Jahr am Nachmittag des 24. Dezember in der Dorfkirche St. Martin zur Aufführung kam, und die Geschichte von Josef, Maria und der vergeblichen Herbergssuche in Bethlehem war derzeit eines ihrer erklärten Lieblingsthemen. Er begann zu begreifen, warum seine Tochter der hilf- und obdachlosen Frau mit den langen blonden Haaren ausgerechnet den Namen Maria gegeben hatte.

»Na, das kann ich ja wohl auf keinen Fall riskieren«, schmunzelte er. »Und zum Glück sieht es nicht danach aus, dass unsere Maria heute Nacht mit einem Knaben niederkommt und wir das Haus plötzlich voller Engel und Hirten haben.«

»Vergiss die Heiligen Drei Könige nicht!« Mareike Menke kicherte. »Vielleicht hätte einer von denen einen Sohn, dem du deine Tochter versprechen könntest. Spaß beiseite: Du hast recht, es ist sicher besser, wenn du bis morgen wartest, um die Frau irgendwo an den Mann zu bringen.«

»Aber du, hör mal«, warf Kicki plötzlich ein, »könnte dein Mann eventuell kurz vorbeischauen und einen Blick auf Maria werfen? Vielleicht fällt ihm ja etwas auf, was an uns allen vorbeigeht.«

»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Falko seiner Frau bei und ärgerte sich zugleich, dass er nicht von selbst darauf gekommen war, Mareikes Ehemann Dr. Adrian Menke, seines Zeichens Arzt für Allgemeinmedizin, in dieser Angelegenheit um Hilfe zu bitten. »Meinst du, das macht er?«

»Ich frag ihn mal.« Mareike Menke erhob sich und nahm die Mehltüte, die sie auf dem Couchtisch abgestellt hatte. »Und macht ein Foto von dieser Frau und schickt es mir per WhatsApp. Ich werd das Gefühl nicht los, dass ich ihr irgendwo schon einmal begegnet bin.«

»Sie scheint dich allerdings nicht erkannt zu haben«, gab Kicki zu bedenken.

»Wenn sie tatsächlich an massivem Gedächtnisverlust leidet, wäre das auch kein Wunder«, gab Mareike Menke zurück. »Aber vielleicht bekommen wir ein paar wertvolle Hinweise, wenn ich ihr Foto herumzeige. So, und jetzt muss ich los, sonst wird das heute nichts mehr mit den Spitzbuben für meinen Göttergatten. Noch mal danke für das Mehl. Ade!«

Sie ging zur Wohnzimmertür, öffnete sie – und warme, süße Duftschwaden drangen in den Raum. Falko sah, wie Kicki und Mareike einander überrascht anschauten und dann wie auf Kommando gleichzeitig in Richtung Küche davonstürzten. Spontan folgte er den beiden, begierig zu sehen, was da vor sich ging.

Und dann stand er zusammen mit den beiden Frauen in der geöffneten Küchentür und nahm höchst verblüfft ein ganz und gar unerwartetes Szenarium in sich auf: Seine seltsame Besucherin stand mit rosigen Wangen am Herd, wendete mit einem schnellen Luftschwung einen Pfannkuchen und fing ihn gekonnt mit der Pfanne wieder auf. Neben ihr stand Emma und klatschte begeistert Beifall.

»Was ist denn hier los?«, platzte Kicki heraus.

Emma fuhr herum. »Mama! Schau mal, Maria kann ganz toll Pfannkuchen backen!«

»Ja, das sehe ich.« Kicki fixierte die Frau am Herd scharf. »Ich weiß nur nicht, worüber ich mich gerade mehr wundern soll: dass Sie sich in meiner Küche breitmachen – oder dass Sie kochen können und sich offensichtlich auch daran erinnern.«

Schlagartig wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht der Frau. Behutsam ließ sie den Pfannkuchen auf einen bereitstehenden Teller gleiten, stellte die Pfanne beiseite und verschränkte verlegen ihre Finger ineinander.

»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Sie haben recht, das hätte ich nicht … aber Emma sollte nicht länger warten, ich meine – ich hab hier alles aufgehalten, nur wegen mir haben Sie noch nicht gegessen. Und irgendwie … hab ich plötzlich gewusst, dass ich so was schon mal gemacht habe. Also hab ich Emma gefragt, wo der Pfannkuchenteig ist, und … Ich wollte Sie einfach überraschen. Und Ihnen damit zugleich danken, dafür, dass Sie heute so gut zu mir waren.«

Falko und Kicki wechselten einen schnellen Blick, dann übernahm Falko die Initiative.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er, wobei er jedes Wort sorgfältig abwog. »Sind dabei vielleicht … auch noch andere Erinnerungen in Ihnen wachgeworden? Sie haben ›irgendwie plötzlich gewusst‹, dass Sie schon mal an einem Herd gestanden haben – wissen Sie auch, wo? Oder wann? Waren Sie allein, oder war jemand bei Ihnen?«

Sie schüttelte wortlos den Kopf.

»Denken Sie nach!«, drängte Falko. »Das könnte uns helfen, herauszufinden, wer Sie sind!«

Sie wandte den Blick ab, legte die Stirn in Falten und schloss die Augen.

»Ich glaube, ich habe eine ganze Menge Sachen gekocht«, sagte sie nach einer Weile. »Suppen, Eintöpfe … Fleisch und Gemüse … ich kann es direkt riechen. Aber wann und wo – nein, da ist nichts. Nur dieser Nebel, durch den ich einfach nicht durchdringe.«

Falko biss sich auf die Lippen. Vergeblich suchte er nach geeigneten Worten, um das Gespräch fortzusetzen. Hier kam er einfach nicht weiter. Egal, was er sagte, sie bewegten sich immer nur im Kreis.

Schließlich war es Mareike Menke, die das unbehagliche Schweigen brach.

»Ich geh jetzt und frag meinen Mann, ob er zu einem kleinen Hausbesuch bereit ist«, verkündete sie und wandte sich an die Fremde. »Übrigens – kann es sein, dass ich Sie kenne?«

Angespannt hielt Falko den Atem an. Gab es womöglich tatsächlich eine Verbindung zwischen Mareike und dieser ›Maria‹?

Die Frau trat einen Schritt auf Mareike zu, betrachtete sie prüfend und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

»Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher. »Woher kennen Sie mich?«

»Wenn ich das wüsste, dann wären wir einen Schritt weiter«, erwiderte Mareike. »Außerdem bin ich mir alles andere als sicher, ich kann mich genauso gut irren. Sie kennen mich jedenfalls nicht?«

»Nein.« Die Fremde seufzte. »Aber das muss nichts heißen. Vielleicht sind Sie ja auch irgendwo in diesem Nebel, und ich entdecke Sie nur nicht.«

»Wer weiß.« Mareike lächelte verbindlich. »Aber jetzt geh ich wirklich. Guten Abend allerseits!«

Sie nickte grüßend in die Runde und verließ die Küche. Falko folgte ihr zur Garderobe, nahm ihren Mantel vom Haken und half ihr hinein.

»Danke«, sagte Mareike. »Seltsame Geschichte, was?«

»Mehr als seltsam«, stimmte Falko ihr zu.

»Wie gesagt, schickt mir ein Foto von ihr«, erinnerte sie ihn. »Selbst wenn Adrian heute nicht mehr aus dem Haus gehen will, kann er sich zumindest das Bild ansehen. Vielleicht hat er ja eine Idee, wer sie sein könnte. Immerhin kennen wir uns schon seit unserer Schulzeit, da haben wir im Lauf der Jahre sicher überwiegend die gleichen Leute kennengelernt.«

»Klingt einleuchtend«, erwiderte Falko. »Tschüss, Mareike!«

»Ade!«

Er öffnete die Tür. Der Schneefall war nicht mehr annähernd so heftig wie vorhin während seiner Heimfahrt, aber noch immer schwebten unablässig dicke Flocken vom Himmel. Es würde ihm wohl tatsächlich nicht erspart bleiben, nachher noch einmal eine Runde schippen zu gehen.

Er wartete, bis Mareike gegangen war und ihm im Licht der Vorgartenlaterne noch einmal zuwinkte. Dann schloss er die Haustür. Auf dem Weg den Flur entlang warf er einen Blick in die Küche: Kicki stand am Herd, ihre blaukarierte Schürze umgebunden, und buk hingebungsvoll die Pfannkuchen zu Ende. Weder Emma noch Maria waren zu sehen.

Er fand beide im Wohnzimmer, wo Emma endlich ihr Lillajul-Geschenk ausgepackt hatte und es nun Maria entgegenhielt.

»Lauras Zauberritt«, erklärte sie sichtlich erfreut. »Das ist eins von den Sternenschweif-Büchern. Kennst du die?«

»Nein«, antwortete Maria.

»Die sind toll«, versicherte Emma. »Weißt du – Sternenschweif ist ein Einhorn, aber das weiß nur Laura, der gehört er nämlich. Alle anderen halten ihn für ein unscheinbares Pony. Er verwandelt sich aber auch nur dann in das schöne Einhorn, wenn Laura einen Zauberspruch sagt.«

»Das klingt faszinierend«, sagte Maria lächelnd.

»Nicht wahr?« Emma strahlte, dann legte sie den Kopf schräg. »Magst du den ersten Band mal lesen? Da steht genau drin, wie Laura herausfindet, dass ihr Pony gar kein Pony ist.«

»Oh ja, gerne!«

Falko schmunzelte in sich hinein. Die ungezwungene, liebenswerte Art seiner kleinen Tochter wärmte ihm einmal mehr das Herz. Im gleichen Moment hörte er aus der Küche die Stimme seiner Frau, die ihn bat, den Tisch zu decken, die Pfannkuchen seien gleich fertig. Er ging ins Esszimmer, holte Teller aus der Anrichte und verteilte sie auf dem Tisch, den Kicki schon vorab mit Tannenzweigen, Nüssen, Apfelsinen und ein paar Kerzen geschmückt hatte. Dabei wirbelte Emmas lebhafte Schilderung eines kleinen Ponys, das nicht das war, was es zu sein schien, in seinem Kopf herum.

Und während er die Kerzen anzündete, ertappte er sich bei der Überlegung, wie herrlich einfach es wäre, einfach nur einen Zauberspruch aufsagen zu müssen, um damit das wahre Wesen von dieser Maria herauszufinden.

Auch wenn in diesem Fall mit Sicherheit kein Einhorn dabei herauskam.

SONNTAG, 3. DEZEMBER

Auf dem Dorfplatz von Buchelfingen hatte der Weihnachtsmarkt seine Pforten geöffnet. Er bestand nur aus wenigen kleinen Verkaufsständen, von denen gefühlt die Hälfte Bratwürste, Crêpes und Glühwein anboten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – wurde er jedes Jahr an den Adventswochenenden zu einem beliebten Treffpunkt der Dorfbewohner. Erst recht, wenn das Wetter so mitspielte wie an diesem ersten Adventssonntag: Die mächtigen Schneewolken vom Vortag hatten sich verzogen und das von Wäldern und Felsen umgebene Buchelfingen als tief verschneites Wintermärchen wie aus dem Bilderbuch zurückgelassen.