Malin und das weiße Rentier - Ingrid Zellner - E-Book

Malin und das weiße Rentier E-Book

Ingrid Zellner

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Beschreibung

In einer sternklaren Winternacht begegnet die sechsjährige Malin einem weißen Rentier, das sprechen kann. Es heißt Dálvi und wird zu einer einfühlsamen und klugen Freundin für das kleine Mädchen. Ausgehend von den Legenden und Traditionen des Volks der Sámi, das im nördlichen Skandinavien zu Hause ist, lehrt Dálvi Malin viel Schönes und Spannendes über das Leben, die Natur, die Jahreszeiten, das Polarlicht und über die Elfen und Trolle in Schweden. Ein Buch voller Fantasie und Weisheit, das Eltern genauso lieben werden wie ihre Kinder.

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Seitenzahl: 87

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ingrid Zellner

Malin und das weiße Rentier

Eine Geschichte für Kinder und Erwachsene

© 2019 Ingrid Zellner, www.ingrid-zellner.de

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg Cover: Kai S. Dorra

ISBN

Paperback:      978-3-7482-3161-5

e-Book:            978-3-7482-3162-2

Unveränderte Neuausgabe der ursprünglich 2015 im Magic Buchverlag veröffentlichten Fassung.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1. Polarlicht

2. Seele

3. Naturgeister

4. Jahreszeiten

5. Wintersonnenwende

Nachwort

1. Polarlicht

Draußen ist es ganz still. Und eiskalt. Es herrscht Winter, und alles ist tief verschneit. Überall am dunklen Nachthimmel funkeln winzige, helle Sterne.

Am Rande des Waldes steht ein kleines, rotes Holzhaus. In den Fenstern brennen Lichter, und aus dem Kamin steigt Rauch empor. In diesem Haus wohnt die kleine Malin mit ihrer Familie.

Malin ist sechs Jahre alt, ein fröhliches Mädchen, immer glücklich und unbeschwert. Sie verbringt viel Zeit im Freien, auch jetzt im Winter. Vor allem hält sie gerne im Wald nach Rentieren Ausschau. Malin lebt im Norden von Schweden, und dort gibt es ganz viele Rentiere. Malin liebt sie alle und hätte zu gerne ein eigenes, aber ihre Eltern sagen immer, dass das nicht geht und dass man den Tieren ihre Freiheit lassen muss. Das sieht Malin zwar ein; trotzdem ist sie ein ganz klein wenig traurig darüber.

Heute jedoch ist Malin sehr traurig. Das ganze Haus ist traurig und bedrückt. Heute hat Malins Mama ihr erklärt, dass ihre Großmutter, die sie vor zwei Wochen ins Krankenhaus gebracht haben, nicht wieder nach Hause kommen wird. Der liebe Gott hat sie zu sich genommen.

Malin hat ihre Großmutter sehr liebgehabt. Immer wenn sie sie besucht hat, hat es bei ihr herrlich nach Kuchen geduftet. Die Großmutter hat mit Malin Lieder gesungen und ihr Geschichten erzählt – wundersame und spannende Geschichten von Elfen und Trollen und vor allem natürlich von den Rentieren. Die Eltern von Großmutter sind Rentierzüchter gewesen; als kleines Mädchen ist sie mit ihnen den Herden hinterhergezogen. Sie haben in Zelten in der freien Natur gelebt, ohne Strom, ohne fließendes Wasser und ohne Fernseher. Und wenn Großmutter davon erzählt hat, hat Malin sich das immer ganz genau vorstellen können, und sie hat nie genug von diesen Geschichten bekommen.

Und nun ist Großmutter beim lieben Gott. Nun erzählt sie wahrscheinlich ihm all die schönen Geschichten, und Malin wird sie nie wieder hören.

Traurig steht Malin in ihrem Zimmer am Fenster und schaut hinaus. Eigentlich hätte sie schon längst ins Bett gehen sollen, aber sie kann nicht schlafen. Sie muss ständig an Großmutter denken. Mama hat ihr gesagt, dass Großmutter jetzt keine Schmerzen mehr hat und dass es ihr gutgeht da oben im Himmel. Das findet Malin ja auch schön. Aber sie vermisst ihre Großmutter schrecklich.

Von ihrem Fenster aus kann Malin den Wald sehen. Die Tannen sind dick mit Schnee bedeckt, und dieser Schnee verbreitet ein wenig Licht in der Dunkelheit. Malin ist im Winter immer sehr froh, wenn es schneit. Dann sind die langen Nächte nicht ganz so schwarz und finster.

Sie schaut hinauf zum Himmel mit seinen vielen, vielen Sternen. Als hätte jemand eine Festbeleuchtung angeknipst. Vielleicht feiern sie da oben gerade Großmutters Ankunft beim lieben Gott – mit Lichtern und Musik und einer Torte. Ob der liebe Gott wohl weiß, dass Großmutter Himbeertorte am liebsten mag? Bestimmt. Der liebe Gott weiß alles, sagt Mama immer. Bestimmt geht es Großmutter gut bei ihm. Und bestimmt isst sie gerade ein riesiges Stück Himbeertorte.

Malin senkt den Kopf. Und dabei bemerkt sie, dass sich am Waldrand etwas bewegt. Sie reibt sich die Augen – ja, da kommt tatsächlich ein Rentier aus dem Wald heraus! Ein richtig helles… nein, es ist sogar ganz weiß! Ein weißes Rentier!

Malin hält den Atem an. Das Rentier bleibt stehen und schüttelt seinen schönen Kopf mit dem fein geschwungenen Geweih. Es muss ein Weibchen sein, denkt Malin; Großmutter hat ihr einmal erklärt, dass die männlichen Rentiere ihr Geweih immer schon im Herbst abwerfen, die weiblichen dagegen erst im Frühling.

Und plötzlich hört Malin in ihrem Inneren die liebe, warme Stimme ihrer Großmutter.

»Weiße Rentiere sind etwas Besonderes, kleine Malin. Unsere Vorfahren haben fest daran geglaubt, dass die Welt aus einem weißen Rentier entstanden ist. Und wenn du mal einem weißen Rentier begegnest, dann pass genau auf, ob es dich ansieht, denn dann will es dir etwas sagen. Das hat mein Großvater mir beigebracht.«

»Hast du mal so ein weißes Rentier gesehen?«, hat Malin sie gefragt. »Und hat es dir was gesagt?«

»Oh, oft«, hat die Großmutter lächelnd geantwortet. »Und einmal hat es mir gesagt, ich würde das schönste und liebste Enkelkind der Welt bekommen. Und so ist es ja auch gekommen, nicht wahr, kleine Malin?«

Sie hat Malin einen liebevollen Kuss gegeben, und Malin hat gelacht und die Großmutter ganz, ganz fest umarmt.

Ob dieses weiße Rentier, das da draußen am Waldrand steht und sich umsieht, wohl gekommen ist, um Großmutter zu besuchen und ihr wieder etwas Schönes zu sagen? Wahrscheinlich weiß es noch gar nicht, dass Großmutter nicht mehr da ist. Es wird wohl sehr verwirrt sein, wenn es Großmutter nirgends findet.

Gerade will Malin das Fenster öffnen, um dem Rentier zuzurufen, dass ihre Großmutter jetzt im Himmel ist, als das Rentier den Kopf zu ihr emporhebt. Malin schnappt nach Luft.

Das weiße Rentier hat sie angesehen!

Malin bebt vor Aufregung. Ganz bestimmt will das Rentier ihr jetzt etwas sagen, so wie Großmutter es ihr erzählt hat. Aber sie hört nichts. Na klar, das Fenster ist ja zu! Entschlossen reißt Malin das Fenster auf. Ein eiskalter Wind bläst herein und lässt sie schaudern, aber das ist ihr egal. Sie will wissen, was das Rentier ihr sagen will.

Aber Malin hört nichts außer dem Wind. Und das Rentier steht weit weg von ihr am Waldrand und blickt sie unverwandt an.

»Rentier?«, ruft Malin. »Warte, geh nicht weg, ja? Ich komm zu dir!«

Eilig schließt sie das Fenster, schlüpft in ihre warmen Winterstiefel und in den dicken Anorak, setzt ihre Wollmütze auf und zieht Handschuhe an. Dann verlässt sie das Haus und läuft hinaus in die Nacht.

»Rentier?«

Nichts ist zu sehen. Das Rentier ist verschwunden. Enttäuscht steht Malin im Licht der kleinen Lampe über der Haustür und starrt auf den Wald. Kein Laut ist zu hören. Der Wind hat nachgelassen. Trotzdem friert Malin, und plötzlich beginnt sie zu weinen. Die Großmutter ist fort, das weiße Rentier ist fort, und Malin fühlt sich verlassen und schrecklich allein.

Mit einem Mal stupst jemand sie weich gegen die Schulter.

»Hallo, Kleines, warum weinst du?«

Malin fährt herum. Vor ihr steht das weiße Rentier und schaut sie mit sanften dunklen Augen an.

»Ich… ich dachte, du bist weg«, stottert Malin verlegen. »Und ich… ich wollte doch unbedingt wissen, was du mir sagen willst.«

»Wieso denkst du, dass ich dir etwas sagen will?«, fragt das Rentier. Seine Stimme klingt wie weicher Samt.

»Weil du weiß bist«, antwortet Malin. »Und Großmutter hat mir oft erzählt, dass weiße Rentiere uns etwas sagen möchten, wenn sie uns anschauen. Das stimmt doch, oder?«

»Natürlich stimmt das.« Das Rentier lächelt leise. »Du hast eine sehr kluge Großmutter.«

Malin beißt sich auf die Lippen; wieder kommen ihr die Tränen.

»Sie ist tot«, flüstert sie. »Großmutter ist tot. Sie ist jetzt im Himmel.«

Eine Weile ist es still. Dann lehnt das Rentier sich ganz leicht an Malin, und Malin spürt den warmen, tröstlichen Atem des Tieres auf ihrer Haut.

»Wie heißt du denn, Kleines?«

»Malin.« Malin schnieft heftig. »Und du?«

»Dálvi«, antwortet das weiße Rentier.

»Dálvi«, wiederholt Malin langsam. »Das klingt seltsam. Aber es gefällt mir.«

»Ich find Malin auch schön«, sagt das Rentier. »Willst du ein bisschen mit mir spazieren gehen, Malin?«

Malin zögert. Sie würde gerne noch ein wenig mit dem weißen Rentier zusammenbleiben. Aber was, wenn ihre Eltern nach ihr schauen und merken, dass sie nicht da ist? Sie werden sich große Sorgen machen.

Das Rentier scheint Malins Gedanken zu erraten.

»Wir bleiben am Waldrand«, sagt es und lächelt. »Wenn deine Eltern nach dir rufen, hören wir sie, und du kannst sofort zurücklaufen. Dann sehen sie, dass es dir gutgeht, und brauchen keine Angst um dich zu haben. Also, was meinst du?«

Malin denkt nach. Dann streckt sie vorsichtig die Hand aus und berührt das weiße Rentier. Das Fell fühlt sich warm an, weich und ein klein wenig rau zugleich. Das Rentier hält ganz still und lässt sich ruhig von Malin streicheln.

Nach einer Weile nickt Malin.

»Gut. Dann komm ich mit, Dálvi!«

Gemeinsam gehen sie auf den Waldrand zu. Malin fällt auf, dass es völlig windstill geworden ist. Sie fühlt sich wie verzaubert, mit dem weißen Rentier neben sich in der tief verschneiten Winterlandschaft und unter dem sternklaren Nachthimmel.

»Dálvi?«

»Ja?«

»Du… wolltest du mir nicht etwas sagen? Du hast mich doch vorhin angeschaut.«

Dálvi bleibt unter einem Tannenbaum stehen, dessen Äste schwer mit Schnee beladen sind.

»Ich habe gespürt, dass du traurig bist«, sagt Dálvi. »Deshalb bin ich gekommen. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht trösten.«

Malin schaut auf den schneebedeckten Boden und schüttelt stumm den Kopf.

»Du vermisst deine Großmutter sehr, nicht wahr?«, fragt Dálvi behutsam.

»Ja.« Malin blickt auf. »Sie war so lieb. Und sie hat immer so leckeren Kuchen gebacken. Und sie hat mir tolle Geschichten erzählt – auch von dir. Ich meine… sie hat immer gesagt, weiße Rentiere sind etwas Besonderes.«

»Da hat deine Großmutter auch recht gehabt«, nickt Dálvi. »Ihre Vorfahren haben fest daran geglaubt, dass das Herz des allerersten weißen Rentiers immer noch schlägt, tief in der Erde drin. Und dass es dadurch alles auf der Welt lebendig macht.«

»Alles?«, fragt Malin verwundert. »Auch die Bäume und die Steine? Und die Felsen?«

»Aber natürlich, Malin«, antwortet Dálvi. »Alles in der Natur ist lebendig.«

Malin schweigt eine Weile. Eine Träne kullert über ihre Wange.

»Warum ist Großmutter dann tot?«, fragt sie leise.

Dálvi tritt ganz nahe an sie heran, und wieder empfindet Malin die Wärme des schönen Tieres wie einen Trost.

»Weil die Natur sich das sehr sorgfältig ausgedacht hat«, sagt Dálvi. »Sieh mal, Malin: Wenn alle Menschen und alle Tiere ewig leben würden, dann wäre irgendwann kein Platz mehr für alle auf dieser Welt. Es werden ja immer neue Menschen geboren, und neue Tiere. Irgendwann würden wir uns alle gegenseitig auf die Zehen treten. Deshalb gehen wir fort, wenn unsere Zeit vorüber ist – damit die Natur im Gleichgewicht bleibt.«