Viel Tod um nichts - Ingrid Zellner - E-Book

Viel Tod um nichts E-Book

Ingrid Zellner

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Beschreibung

Bei der Premiere von Shakespeares Komödie “Viel Lärm um nichts” im Naturtheater Hayingen auf der Schwäbischen Alb verunglückt der Darsteller des Don Pedro tödlich. Als man das Stück im Jahr darauf wiederaufnehmen will, erscheint im Schaukasten der Naturbühne eine anonyme Warnung, dass auch diesmal der Don-Pedro-Darsteller die Premiere nicht überleben wird. Das bringt die Kripo Reutlingen auf die Idee, einen Ermittler undercover in das Ensemble einzuschleusen, der die Rolle übernehmen und während der Proben herausfinden soll, was es mit dieser ominösen Todesdrohung auf sich hat. Surendra Sinha, Kommissar indischer Abstammung und eigentlich aus seinem Beruf ausgestiegen, wird zu diesem Zweck reaktiviert. Dass er noch nie auf einer Bühne gestanden hat, stört außer ihn selbst niemanden. Und so übernimmt er mit Todesverachtung diese Theater-Mission, ohne zu ahnen, was alles auf ihn zukommen wird. Er weiß nur eines: dass sein Leben auf dem Spiel steht, wenn er das Rätsel nicht rechtzeitig vor der Premiere löst.

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Die Autorin

Ingrid Zellner

wurde 1962 in Dachau geboren. Sie studierte in München Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Geschichte (1988 Magisterexamen). Von 1990 bis 1994 war sie als Dramaturgin am Stadttheater Hildesheim engagiert, von 1996 bis 2008 in derselben Funktion an der Bayerischen Staatsoper München. Heute ist sie vor allem als Übersetzerin (Schwedisch) und als Autorin tätig. Sie veröffentlichte Romane, Krimis, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten, CD-Booklet-Texte, Artikel und Theaterstücke. Daneben ist sie Regisseurin und Schauspielerin; große Erfolge u. a. als Dorfrichter Adam in Kleists Der zerbrochne Krug. Sie ist Backing Vocalist für die Punk-Rock-Band Garden Gang und leitete sechs Jahre lang ein Jugendtheater-Ensemble. Derzeit lebt sie in Gomadingen auf der Schwäbischen Alb und spielt im Ensemble des Naturtheaters Hayingen. Ihre bevorzugten Reiseziele sind die Länder Skandinaviens, die Arktis und Indien.

Titel

Ingrid Zellner

VIEL TOD UM NICHTS

Theaterkrimi

Oertel+Spörer

Impressum

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2024 Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: Ingrid ZellnerGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd WeilerKorrektorat: Sabine Tochtermann Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-96555-171-8

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Dieses Buch ist für alle Theaterkollegen, mit denen ich bislang in meinem Leben zusammengearbeitet habe – allen voran natürlich die wunderbaren Menschen im Naturtheater Hayingen, wo ich seit 2022 mitspiele.In diesem Zusammenhang möchte ich betonen: Sämtliche Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner et cetera in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären rein zufällig!Informationen zu der Komödie »Viel Lärm um nichts« von William Shakespeare und eine Besetzungsliste finden sich im Anhang.

Es war der erste Sonntag im Juli, kurz vor halb drei Uhr nachmittags. Strahlender Sonnenschein ergoss sich über die Freilichtbühne des Naturtheaters Hayingen und Hunderte von Besuchern, die gut gelaunt und voller Vorfreude in das sommergrüne Tiefental hinabströmten. Im Eingangsbereich des Theaters war ein kleiner Biergarten aufgebaut worden, wo man sich mit Kaffee und Kuchen oder mit Bier und Vesper für den bevorstehenden Kunstgenuss stärken konnte, und von diesem Angebot wurde reichlich Gebrauch gemacht. Fröhliche, erwartungsvolle Heiterkeit lag in der Luft, als schließlich das erste Klingelzeichen ertönte und die Menschen ihre Plätze auf der großen, überdachten Zuschauertribüne einnahmen. In wenigen Minuten würde die diesjährige Sommerspielzeit mit der Premiere von William Shakespeares Komödie »Viel Lärm um nichts« beginnen – beziehungsweise »Mordsg’schiss wega nix«, denn natürlich würde das beliebte Schauspielensemble, wie man es von ihm gewohnt war, das Stück in einer eigens erstellten schwäbischen Version aufführen.

Das dritte Klingelzeichen verklang, schwungvolle Musik setzte ein, und eine munter schwatzende Gesellschaft betrat die Bühne. Wer das Shakespeare-Stück bereits kannte, wusste sofort, dass das der reiche und vornehme Leonato mit Familie und Gefolge sein musste. Auch Kinder waren dabei, die ausgelassen um die Erwachsenen herumtanzten, und dann stimmte die Gesellschaft ein gemeinsam gesungenes Lied an, dessen Refrain sich – passend zum Stücktitel – um die Erkenntnis drehte: »A Henn wo viel gaggrad, legt wenig Oier.«

Begeisterter Beifall belohnte den gelungenen Vortrag. Das Naturtheater Hayingen war dafür bekannt, dass zu seinen Produktionen immer auch speziell dafür komponierte Lieder gehörten und das Ensemble auch über entsprechende, teilweise sogar bemerkenswerte Gesangstalente verfügte. Und das Eingangslied war schon mal vielversprechend. Ohne Zweifel hatte Noah Sandmann, der begabte junge Komponist in den Reihen der Hayinger, auch diesmal wieder ganze Arbeit geleistet.

In den abebbenden Applaus hinein stürmte von dem dicht bewaldeten Hügel, an dessen Fuß die Naturbühne angelegt worden war, eine junge Frau herunter und zwischen den Bäumen hindurch auf die unebene, kiesbedeckte Spielfläche. Offenbar war sie eine Botin, denn sie wedelte schon von Weitem mit einem Brief und übergab ihn Leonato, der das Schreiben überflog und seinem Gefolge erfreut verkündete, dass Don Pedro von Aragon demnächst hier eintreffen werde. Das Gefolge jubelte, und durch die Zuschauerreihen ging ein erwartungsvolles Raunen – denn das bedeutete, dass jeden Moment Peter Müller seinen ersten großen Auftritt haben würde. Er war seit Jahren einer der Publikumslieblinge in Hayingen: ein hervorragender Schauspieler, dazu noch mit der Figur und dem guten Aussehen eines Top-Models gesegnet und wie geschaffen dafür, einen vornehmen Aristokraten wie den Prinzen von Aragon zu spielen.

»Guckt älle na, do isch er, d’r Don Pedro!«, rief die Botin endlich aufgeregt und deutete nach links, wo eine überdachte dunkelbraune Holzbrücke über den breiten Weg führte, der die Freilichtbühne von der Zuschauertribüne trennte, und dadurch wie ein Portal fungierte. Hufgeklapper war zu hören, dann ritten stolz drei Schauspieler herein und brachten ihre Pferde direkt unter der Brücke zum Stehen. Die Zuschauer klatschten wie wild, und in ihren Applaus hinein erschien oben auf der Brücke – zwischen den schmalen Holzbalken, die das Dach stützten, für jedermann bestens zu sehen – Peter Müller alias Don Pedro. Prompt brandete der Beifall noch einmal auf, eines der Pferde gab ein durchdringendes Wiehern von sich, und alle lachten. Die Stimmung war prächtig, schöner hätte man sich den Beginn der Premiere nicht wünschen können.

Don Pedro trat an das Geländer, das aus zwei übereinander angebrachten horizontalen Balken bestand, stützte sich mit beiden Händen auf den oberen Balken und wartete, bis es um ihn herum ruhig wurde, auch kein Pferd mehr mit den Hufen scharrte und damit alle Aufmerksamkeit allein ihm galt. Dann setzte er, wie von einer Kanzel herab, zu seiner feierlichen Begrüßung an.

»Mei beschter Herr Leonato, Ihr kennat Eich uff jeda Menga Omschtänd eirichta …«

Weiter kam er nicht. Ein unheilvolles, knarzendes Geräusch ertönte, dann brach plötzlich der Geländerbalken unter dem Druck von Don Pedros rechter Hand mit lautem Splittern durch und knickte mitsamt Peter Müller schräg nach unten ab. Der verlor dadurch erst das Gleichgewicht, dann den hölzernen Boden unter den Füßen und stürzte schließlich kopfüber in die Tiefe, wo er direkt vor den Hufen der erschrockenen Pferde aufprallte und regungslos liegenblieb.

Ein entsetzter Aufschrei ging durch die Zuschauermenge. Die drei berittenen Schauspieler bemühten sich verzweifelt, im Sattel zu bleiben und ihre Pferde, die nervös wieherten und sogar zu steigen begannen, in den Griff zu bekommen, damit sie nicht durchgingen und dabei womöglich Peter Müller überrannten. Die Pferdepfleger an den Führstricken beruhigten die panischen Tiere so gut es ging und führten sie erst aus der Gefahrenzone und dann aus dem Bühnenbereich hinaus. Inzwischen hatte jemand die Sanitäter verständigt, die in der Erste-Hilfe-Hütte auf eventuelle Einsätze gewartet hatten und nun mit ihren Notfallkoffern herbeigestürzt kamen.

»Zur Seite!«, befahlen sie kurzangebunden, da mittlerweile sämtliche Schauspieler von dem Bühnenhügel heruntergestiegen waren und sich um ihren Kollegen scharten, der noch immer leblos am Boden lag. »Nein, Hände weg von ihm – lassen Sie uns das machen!«

Stumm und geschockt sahen die Spieler zu, wie die Sanitäter Peter Müller vorsichtig untersuchten. Auch auf der Tribüne war es völlig still geworden. Nur vereinzeltes Wiehern wehte noch leise von der Pferdekoppel herüber.

Schließlich erhob sich einer der Sanitäter und sah das Ensemble ernst an.

»Ich fürchte, das Stück ist zu Ende«, sagte er. »Der Mann hat sich das Genick gebrochen. Er ist tot.«

1

Lars Lege, der Leiter des Naturtheaters Hayingen, saß im Arbeitszimmer seines Hauses und überflog noch einmal prüfend seine Notizen für die Ansprache, die er in gut zwei Stunden bei der außerordentlichen Theaterversammlung in der Digelfeldhalle halten würde.

Sieben Monate waren vergangen seit der unglückseligen Premiere im Juli, die schon nach wenigen Minuten so katastrophal geendet hatte. Mit Peter Müller hatten sie damals einen Kollegen verloren, der ohne Frage eine Stütze des Ensembles gewesen war, auch wenn es hinter den Kulissen mehr als einmal zwischen ihm und den anderen Spielern gekracht hatte. Das würde er jedoch nachher wohlweislich nicht erwähnen. De mortuis nihil nisi bene.

Die Frage, wer für Peters Tod verantwortlich war – irgendjemand würde während der Versammlung mit Sicherheit damit daherkommen –, würde er leider noch immer nicht beantworten können. Die Kollegen vom Bühnenbau hatten seinerzeit sofort, noch ehe der letzte Premierenzuschauer das Gelände verlassen hatte und die erste Polizeistreife eingetroffen war, vehement bestritten, dass der Unfall ihre Schuld war: Sie hätten die Holzbrücke regelmäßig auf ihre Stabilität überprüft, zuletzt am Vortag vor der Generalprobe, und da war nichts, aber auch gar nichts baufällig oder morsch gewesen. Das wurde ihnen später durch die Spurensicherung der Polizei auch insofern bestätigt, als die Brücke tatsächlich gut gewartet und in tadellosem Zustand gewesen war – bis auf den oberen Geländerbalken. Der war nämlich an einer Stelle fast vollständig durchgesägt worden, sodass er, wenn jemand sich mit seinem ganzen Gewicht darauf stützte, nahezu zwangsläufig durchbrechen musste.

Damit war zumindest die Frage nach dem Warum beantwortet. Umso schwieriger gestaltete sich die Frage nach dem Wer. Peter Müller war unverheiratet und (jedenfalls offiziell und soweit bekannt) kinderlos gewesen, und zu seinen wenigen nahen Angehörigen, die samt und sonders in Tübingen lebten, hatte der Neunundzwanzigjährige laut eigener Aussage kaum noch Kontakt gehabt. Ein Kind von Traurigkeit war er jedoch keineswegs gewesen, was nicht nur viele Frauen in und um Hayingen bezeugen konnten, sondern auch so einige Männer, was immer wieder für Gesprächsstoff in jeder Form gesorgt hatte. Peter war das gleichgültig gewesen, er hatte sich stets offen zu seiner Bisexualität bekannt und sie in vollen Zügen ausgelebt. Zuletzt hatte er eine feste Beziehung mit Valentin Zeus gehabt, dem Regisseur von »Mordsg’schiss wega nix« – aber selbst da hatte er sich erwiesenermaßen nebenher mindestens eine Affäre mit einer Frau geleistet.

Lars Lege schüttelte den Kopf. Mit Homosexualität hatte er kein Problem – Valentin war definitiv nicht der einzige schwule Mann in seinem Umfeld, und mit allen kam er bestens zurecht. Aber die Lebensweise eines Peter Müller wollte einfach nicht in sein Weltbild passen. Er hatte Valentin während der Endproben noch gefragt, ob ihn das denn nicht störte, dass sein Lebensgefährte auf diese Weise fremdging. Wir führen eine offene Beziehung, hatte Valentin gleichmütig geantwortet, niemand macht dem Anderen Vorschriften. Wenn Peter ab und zu Abwechslung braucht, dann gönne ich sie ihm, so wie er das Gleiche mir gönnen würde. Auch wenn das mit Oxana natürlich dumm gelaufen ist, so kurz vor der Premiere. Ich bin ja bloß froh, dass sie mir deswegen nicht abgesprungen ist.

Dem hatte Lars nur zustimmen können. Oxana Wadejewa, eine gebürtige Russin, die jedoch bereits seit frühester Kindheit in Zwiefalten lebte, war ein aufstrebender Jungstar im Hayinger Ensemble gewesen und hatte im vorigen Jahr, mit gerade mal neunzehn Jahren, mit der Hero ihre erste große Rolle bekommen. Sie hatte eine Traumfigur und war mit ihren dunklen Augen und dem langen schwarzen Haar das, was man an Stammtischen eine »rassige Schönheit« zu nennen pflegte. Es gab kaum einen Mann im Ensemble, der ihr nicht hin und wieder verstohlene Blicke hinterherwarf oder sie sogar offen umwarb. Erlegen war sie jedoch schließlich dem verführerischen Charme von Peter Müller. Und das war in mehrfacher Hinsicht nicht ohne Folgen geblieben.

Niemand würde wohl je vergessen, wie Oxana mit der Aura einer wütenden Rachegöttin zur ersten Hauptprobe erschienen war und vor sämtlichen Mitwirkenden eine flammende Anklage gegen Peter gerichtet hatte: Er habe sie eiskalt sitzengelassen, nachdem sie ihm eröffnet hatte, dass sie sein Kind erwarte. Peter hatte in aller Seelenruhe erwidert, er könne sich nicht erinnern, ihr jemals ewige Zuneigung gelobt zu haben, und ob das Kind tatsächlich von ihmwar, müsse sich auch erst erweisen, schließlich sei er ja wohl mit Sicherheit nicht der Erste und Einzige, von dem Oxana sich habe flachlegen lassen. Nur mit Mühe und vereinten Kräften hatten sie verhindern können, dass Oxana daraufhin mit gezückten Krallen auf Peter losging, und es hatte Lars, Valentin und Bianca Weißgerber – Oxanas beste Freundin, die die Rolle der Beatrice spielte – danach eine geschlagene Stunde gekostet, um Oxana dazu zu bewegen, zu bleiben und ihre Rolle nicht so kurz vor der Premiere hinzuschmeißen. Schließlich würde sie damit nicht nur Peter, sondern ihnen allen schaden, denn eine Absage oder gar ein Ausfall der gesamten Sommersaison würde einen herben finanziellen Verlust bedeuten, der die weitere Existenz des Theaters massiv gefährden konnte.

Lars Lege seufzte. Genau das war dann tatsächlich eingetreten, wenn auch nicht wegen Oxana – denn die hatte sich am Ende glücklicherweise dazu überreden lassen, weiterzumachen (»schließlich kann ich nicht alle anderen hängenlassen, nur weil einer von euch ein Schwein ist«). Stattdessen hatten sie aufgrund von Peters Tod die Spielzeit beenden müssen, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Sie hatten zwar verzweifelt hin und her überlegt, ob jemand als Don Pedro einspringen konnte, notfalls der Regisseur selbst – aber gleichzeitig hatte es im gesamten Team mächtig zu brodeln begonnen, als sich herumsprach, dass das Brückengeländer angesägt worden war. Viele verdächtigten offen Oxana Wadejewa, sich auf diese Weise an Peter gerächt zu haben – was sie vehement bestritt: Sie hätte ihn zwar liebend gern öffentlich verprügelt, aber Heimtücke sei nicht ihre Art, und noch dazu habe sie noch nie in ihrem Leben eine Säge in der Hand gehabt und wüsste gar nicht, wie man damit umging. Dann hast du eben jemanden beauftragt, bekam sie zur Antwort, so wie euer Putin, der macht sich ja auch nie selbst die Hände dreckig. Irgendwann war die Atmosphäre derart vergiftet gewesen, dass Oxana sich freiwillig aus dem Ensemble zurückzog. Und als sie wenig später auch noch eine Fehlgeburt erlitt und ihr Kind verlor, schwor sie, nie wieder einen Fuß auf diese verfluchte Naturbühne zu setzen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Theaterleitung bereits schweren Herzens beschlossen, die Spielzeit offiziell zu beenden. Der Schock und die Unruhe im Ensemble waren immer noch groß, zumal die Polizei bei ihren Ermittlungen offenbar auf der Stelle trat. Die Stimmung befand sich auf einem absoluten Tiefpunkt, und niemand sah eine Chance, in absehbarer Zeit zu einem halbwegs normalen Spielbetrieb zurückzufinden. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Nun aber sollte der Schrecken verdammt noch mal endlich ein Ende gefunden haben, dachte Lars Lege, während es draußen leicht zu schneien begann. Wenn wir nicht riskieren wollen, dass wir in diesem Sommer wieder nicht spielen und danach das gesamte Theater zu Grabe tragen, dann müssen wir spätestens nächsten Monat mit den Proben anfangen. Und das heißt, dass wir nachher bei der Versammlung klare und eindeutige Beschlüsse fassen müssen. Sonst können wir einpacken.

***

Aus dem leichten Schneefall war zwei Stunden später ein handfestes Schneegestöber geworden. Das hielt jedoch kaum ein Mitglied des Ensembles davon ab, sich an diesem Samstagabend auf den Weg zur Digelfeldhalle zu machen. Zu groß war die Spannung, was die Theaterleitung zu verkünden hatte. Auch wenn vielen von ihnen die Ereignisse des Vorjahres immer noch in den Knochen steckten – sie alle liebten ihr Theater und hofften inständig, dass es nun endlich wieder losging.

Und so konnte Lars Lege um 19 Uhr eine erfreulich große Anzahl an Schauspielern, Bühnentechnikern und weiteren unentbehrlichen Mitarbeitern hinter den Kulissen begrüßen. Nach der obligatorischen Schweigeminute für Peter Müller nahm er seine Notizen zur Hand, räusperte sich und fasste die wichtigsten Ereignisse der vergangenen Monate zusammen. Dabei betonte er noch einmal, dass laut der polizeilichen Untersuchungsergebnisse die Bühnentechniker keine Schuld an dem Unglück traf. Er wusste genau, dass die entsprechenden Kollegen im Auditorium genau darauf warteten und ohne diese öffentlich bestätigte Rehabilitierung womöglich schnurstracks und geschlossen die Halle verlassen würden. Und dann hätte das Theater ein weiteres und kaum zu lösendes Problem am Hals.

»Weiß man denn inzwischen endlich, wer das Geländer angesägt hat?«, kam ein ungeduldiger Ruf aus der Menge, und Lars seufzte in sich hinein. Hatte er es nicht gewusst, dass diese Frage unweigerlich aufs Tapet kommen würde?

»Nein, weiß man nicht«, antwortete er ruhig. »Sonst wäre das ja wohl auch längst bekannt geworden. Man geht davon aus, dass dieser Sabotageakt – denn das war es eindeutig – in der Nacht vor der Premiere durchgeführt worden ist, bei der Generalprobe war ja alles noch in Ordnung. Das ist aber auch so ziemlich alles, was man weiß. Die Polizei hat sämtliche Sägen in unseren Werkstätten überprüft: Keine passt zu den Sägespuren an dem Balken, was darauf schließen lässt, dass der Täter seine eigene Säge mitgebracht und auch wieder mitgenommen hat. Und sollte er Spuren hinterlassen haben, dann sind die wohl später von dem Regen weggewaschen worden – ihr erinnert euch vielleicht, dass es in der Nacht nach der Generalprobe noch einmal ordentlich gewittert hat.«

Viele nickten zustimmend, und Lars hoffte bereits, das Thema abschließen und zu dem Hauptgrund für die Versammlung überleiten zu können.

»Und wieso der Täter?«, hakte dieselbe Stimme wie vorhin noch einmal nach. Jetzt erkannte er sie, es war die des jungen Finn Forstberger. »Es könnte doch ebenso gut auch eine sie gewesen sein. Oder mehrere.«

»Natürlich, da hast du recht«, gab Lars zurück und verzog ein wenig das Gesicht. »Aber du erwartest doch hoffentlich nicht von mir, dass ich jetzt hier anfange zu gendern!«

Mit diesem Kommentar erntete er spontanen Beifall und heiteres Gelächter, und die Stimmung in der Halle besserte sich spürbar.

»Sofern uns nicht noch ein glücklicher Zufall zu Hilfe kommt, müssen wir uns wohl damit abfinden, dass wir den Namen des Täters womöglich nie erfahren werden«, fügte er hinzu. »Am Ende war es sogar nur ein Dummejungenstreich, und der oder die Täter hatten gar nicht im Sinn, dass jemand ernsthaft zu Schaden kommt. Auch das ist schließlich denkbar.«

»Ich glaube ja noch immer, dass Oxana dahintersteckt«, ließ sich die launische Stimme einer jungen Frau vernehmen, und Lars seufzte erneut, denn diesmal wusste er sofort, wer da wieder einmal nachtreten musste: Es war Selina – seine Tochter, und mit ihren neunzehn Jahren eigentlich zu alt für eine öffentliche väterliche Zurechtweisung. Andererseits galt es unbedingt zu verhindern, dass diese unschönen Querelen von damals noch einmal hochkochten. Schon gar nicht hier und jetzt.

Während er noch nach den richtigen Worten suchte, kam Finn ihm zuvor.

»Halt den Mund!«, fuhr er Selina barsch an. »Hör endlich auf, ständig über Oxana herzuziehen! Hast du Beweise, dass sie es war? Nein? Dann verschone uns ein für alle Mal mit deinen Hetzereien, die gehen uns nämlich voll auf die Nerven!«

»Hach, wie süß, Oxanas edler Ritter zieht mal wieder sein Schwert für sie«, spöttelte Selina. »Darfst du denn inzwischen mehr als nur an ihrer Mülltonne schnuppern?«

»Sei still!«, mischte Bianca Weißgerber sich missmutig ein. »Das interessiert hier keinen Menschen.«

»Genau!«, pflichtete ihr Bühnenpartner Thilo Matt ihr bei, der neben ihr saß. »Wir wollen wissen, wie es mit dem Theater weitergeht. Alles andere ist im Moment zweitrangig, finde ich.«

Lars nahm die Steilvorlage erleichtert an.

»Danke, Thilo. Ja, ich denke auch, wir sollten uns jetzt endlich den wirklich wichtigen Dingen zuwenden. Und in einem Punkt sind wir uns hoffentlich alle einig: Wir wollen in diesem Sommer wieder spielen. Nicht wahr?«

Lauter, zustimmender Beifall brandete auf.

»Gut«, sagte Lars. »Da die ausgefallene vorige Saison ein mehr als schmerzhaftes Loch in unsere Kasse gerissen hat, haben Valentin und ich uns für die naheliegendste Option entschieden, nämlich für eine Wiederaufnahme von ›Mordsg’schiss wega nix‹. Die Kulissen und Kostüme sind alle noch da, Text und Musik auch, also entstehen uns da schon mal keine neuen Kosten. Ganz abgesehen davon, dass es ewig schade wäre, wenn diese Produktion ungespielt in der Versenkung verschwindet, denn sie ist verdammt gut, und ich wünsche mir wirklich sehr, dass sie nun doch noch zur Aufführung kommt.«

Erneut klatschten alle laut und begeistert Beifall.

»Darf ich eurer Reaktion entnehmen, dass ihr mit diesem Vorschlag einverstanden seid?«, fragte Lars höchst überflüssigerweise und mit einem entsprechenden Zwinkern in den Augen – und provozierte dadurch prompt einen weiteren tosenden Applaus.

»Schön«, sagte er lächelnd. »Ich danke euch. Dann ist die nächste Frage, ob uns alle wieder zur Verfügung stehen oder ob wir neben Don Pedro und Hero noch weitere Rollen neu besetzen müssen. Weiß irgendjemand jetzt schon, dass er für diese Sommerspielzeit nicht zur Verfügung steht?«

Niemand meldete sich, und Lars atmete innerlich auf. Das war schon mal ein gutes Zeichen.

»Das heißt, wir sind komplett«, bestätigte neben ihm Regisseur Valentin Zeus, der die ganze Zeit eifrig Notizen auf seinem Kollegblock gemacht hatte. »Alle, die auf meiner Besetzungsliste stehen, sind anwesend. Wir haben also keinen weiteren Ausfall. Wunderbar. Ich hab mir natürlich schon Gedanken über die beiden Neubesetzungen gemacht – und du, lieber Lars, hast die Ehre, unser neuer Don Pedro zu werden!«

Die gesamte Belegschaft johlte beifällig, einige verstiegen sich sogar zu regelrechten Anfeuerungsrufen wie in einem Fußballstadion. Lars selbst jedoch fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.

»Wieso ich?«, fragte er Valentin. »Du hast doch gesagt, dass der Hannes das macht!«

»So war’s auch gedacht«, erwiderte Valentin. »Aber heute früh hat Hannes mir abgesagt. Seine Tochter, die nach Kanada ausgewandert ist, heiratet im Juli, und er will die Gelegenheit nutzen und mit seiner Frau eine ausgedehnte Rundreise durch Kanada und die USA mitsamt Alaska machen. Und da können wir ihm ja schlecht Steine in den Weg legen, oder?«

»Natürlich nicht«, stimmte Lars ihm zu. »Zwingen können wir sowieso niemanden, bei allem professionellen Anspruch machen wir das hier nach wie vor alle ehrenamtlich. Aber fällt dir denn sonst kein anderer ein für den Pedro?«

»Mach einen Vorschlag, wenn du jemanden weißt«, entgegnete Valentin. »Meiner Ansicht nach ist sonst niemand da, der die Rolle spielen kann.«

»Und was ist mit dir?«, fragte Lars herausfordernd. »Du bist als Schauspieler genauso gut zu gebrauchen wie ich.«

»Nicht, wenn ich Regie führe«, widersprach Valentin mit hörbarem Unmut. »Das weißt du ganz genau, Lars. Ich kann nicht gleichzeitig inszenieren und spielen – das hab ich einmal versucht und bin beinahe kirre geworden dabei. Das tu ich mir nicht noch mal an, und euch auch nicht.«

»Jetzt komm, Lars, stell dich doch nicht so an!«, meinte Bernd gutmütig. Er war Lars’ älterer Bruder und mit seinem biergerundeten Bauch die Paradebesetzung für den Mönch in dem Stück. »Es wird höchste Zeit, dass du auch mal wieder auf der Bühne stehst. Das packst du schon.«

Lars wusste nicht, wem er in diesem Moment lieber einen Tritt verpassen wollte: seinem Bruder oder Valentin, der ihn weiß Gott hätte vorwarnen können, anstatt ihn hier vor versammelter Mannschaft derart zu überfahren. Andererseits – woher sollten die beiden wissen, dass er schon seit Wochen Reiseprospekte studierte, weil er sich in diesem Jahr endlich seinen langgehegten Traum von einer ausgedehnten Kreuzfahrt erfüllen wollte, und dass er sich erst vor zwei Tagen für die perfekte Reise entschieden hatte: vier Wochen Karibik von Mitte Juli bis Mitte August, eine Außenkabine für sich allein, und das Ganze auch noch zu einem erschwinglichen Preis. Er hatte bereits sämtliche Buchungsunterlagen ausgefüllt und losgeschickt und eine Anzahlung geleistet. Und dieser Traum sollte nun zerplatzen, nur weil irgendwo in den kanadischen Wäldern jemand ausgerechnet im Juli heiraten musste und Valentin Zeus nicht multitaskingfähig war?

»Komm schon, gib dir einen Ruck!« Bernd klopfte ihm grinsend auf die Schulter. »Schließlich bist du unser Vorstand, da kannst du das Theater nicht hängen lassen, wenn es dich braucht! Also: Lars for Pedro! Lars for Pedro!« Er unterstrich seinen in perfektem Stakkato angestimmten Schlachtruf mit passendem rhythmischem Händeklatschen und warf dabei auffordernde Blicke in die Runde, bis immer mehr einstimmten und schließlich fast die gesamte Halle lautstark und einhellig »Lars for Pedro!«forderte. Keine Chance, dachte Lars resignierend, aus der Nummer komm ich nicht mehr raus.

»Also gut, also gut!«, schrie er schließlich, um den Lärm zu übertönen, und wedelte ergeben mit beiden Händen. »Ich mach’s. Wenn’s gar nicht anders geht.«

»Tut es nicht«, erwiderte Valentin höchst zufrieden. »Und vielleicht mach ich dir die Rolle ja noch ein bisschen schmackhafter, wenn ich dir verrate, dass du dabei die Ehre haben wirst, zusammen mit deiner Tochter auf der Bühne zu stehen. Denn ich möchte, dass Selina die Rolle der Hero übernimmt.«

Die Reaktionen auf diesen Vorschlag waren eindeutig gemischter als die auf die Erhebung von Lars zum Prinzen von Aragon. In Selinas beglückten Jubelschrei und die begeisterte Zustimmung ihrer Freundinnen mischte sich neben freundlichem Beifall auch unwilliges und ungehaltenes Gemurmel. Vor allem Finn Forstberger machte aus seiner Ablehnung keinen Hehl.

»Wenn die die Hero spielt, dann leg ich den Claudio nieder«, verkündete er wild entschlossen. »Ich knutsch doch mit dieser blöden Kuh nicht auf der Bühne rum!«

»Glaub bloß nicht, dass ich scharf auf dich bin«, schoss Selina sofort angriffslustig zurück.

»Dann sind wir uns ja wenigstens einmal einig«, schnappte Finn. »Lieber Himmel, wie soll ich bei der denn den schmachtenden Liebhaber geben, kann mir das mal ein Mensch verraten?«

»Als Schauspieler muss man das können«, grinste Thilo und versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Und denk dran, dass du sie in der Anklageszene ja auch ordentlich zusammenfalten darfst.«

»Dafür muss ich dann hinterher vor ihr auf den Knien herumrutschen«, knurrte Finn. »Ach Mensch – mit Oxana hat das alles richtig Spaß gemacht, wir waren genial aufeinander eingespielt. Und jetzt soll ich … Nein. Nicht mit mir.«

»Reiß dich zusammen, Junge«, meldete sich ein gesetzter älterer Herr zu Wort. Es war Andreas Forstberger, Finns Vater und der Darsteller des Leonato. »Thilo hat recht, man muss auf der Bühne auch mal unangenehme Dinge tun, und wenn man Liebesszenen immer nur mit Menschen spielen dürfte, die man auch privat gut leiden kann, dann hätte es eine Menge großer Hollywood-Klassiker nie gegeben. Der Claudio ist deine Rolle, du hast sie dir im vorigen Jahr toll erarbeitet, und du wirst auch diesmal wieder großartig sein, egal wen du ›anschmachten‹ musst.«

»Seh ich genauso«, sagte Valentin. »Komm mal her, Finn!«

Er winkte den jungen Mann zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Finns Miene hellte sich sichtlich auf, und schließlich hob er den Daumen.

»Okay«, sagte er. »Ich bleib an Bord.«

»Gott sei Dank«, sagte Lars trocken. »Also, dann wäre das Wichtigste geklärt. Gebt uns möglichst bald eure Sperrtermine bekannt, wenn ihr welche habt, damit Valentin, Noah und ich die Pläne für die musikalischen und szenischen Proben ausarbeiten können. Sobald sie fertig sind, schicken wir sie euch über unsere WhatsApp-Gruppe zu. Noch irgendwelche Fragen?«

Allgemeines verneinendes Kopfschütteln, während die ersten Spieler bereits ihre mitgebrachten Sektflaschen und Pappbecherstapel auspackten und damit ganz klar signalisierten, dass man nun zum geselligen Teil überzugehen gedachte.

»Dann beende ich hiermit die Versammlung«, erklärte Lars denn auch wunschgemäß. »Vielen Dank euch allen, und schönen Abend noch!«

Er suchte seine Notizen zusammen, packte sie ein und überlegte, ob er kurz zu seiner Tochter gehen sollte, um ihr zu ihrer ersten Hauptrolle zu gratulieren. Aber er ließ es bleiben, bedankte sich stattdessen noch einmal bei Finn dafür, dass der über seinen Schatten gesprungen war, und gesellte sich dann zu Valentin, der sich gerade von Bianca zwei Becher Sekt geben ließ und einen davon ihm reichte.

»Prost!«, sagte Valentin lächelnd. »Das war ein hartes Stück Arbeit. Auch mit dir.«

»Du hättest mich aber auch wirklich vorwarnen können«, grummelte Lars und trank seinen Becher auf einen Zug halb leer.

»Ich liebe nun mal Überraschungen«, erklärte Valentin. »Deshalb hab ich dir auch vorher nicht verraten, dass ich mich nun doch für Selina als Hero entschieden habe und nicht für Lena. Die bleibt bei der Schreiberin und übernimmt zusätzlich noch die Rolle der Botin von Selina.«

»Du bist der Regisseur, du musst wissen, was du tust.« Lars trank den restlichen Sekt aus und musterte Valentin prüfend. »In dem Zusammenhang: Was hast du da eigentlich Finn vorhin im wahrsten Sinne des Wortes geflüstert? Hast du ihm etwa eine Gage versprochen, die wir uns nicht leisten können?«

Valentin schüttelte den Kopf und grinste breit. »Viel besser. Ich hab ihm versprochen, dass er in der großen Anklageszene als ›schwer gekränkter Claudio‹ Selina nicht nur textbuchgemäß beschimpfen, sondern ihr zudem auch noch eine runterhauen darf. Jede Wette, der freut sich jetzt richtig auf die Proben.«

2

Die Freilichtbühne lag etwas außerhalb des Luftkurorts, deren Namen sie trug. Hinter einem schlichten Portal, auf dem mit grünen Buchstaben »Naturtheater Hayingen« geschrieben stand, führte ein schmaler Fußweg in steilem Zickzack nach unten in das Tal, wo das Theatergelände jetzt, Anfang April, noch quasi im Winterschlaf lag. Zwar war der Schnee mittlerweile geschmolzen, aber die Bäume waren noch überwiegend kahl, die Wiesen an den Hängen traurig braun, und überall auf den Spielflächen lagen dicke dunkle Teppiche aus dem welken Laub vom Vorjahr.

Deshalb versammelte sich dort an einem kalten, sonnigen Samstagvormittag ein kleines Kommando von Freiwilligen, um die Bühne für die bevorstehenden szenischen Proben einsatzfähig zu machen. Mit großen Rechen, Reisigbesen und Gartensäcken bewaffnet rückten sie dem Laub zu Leibe, räumten sämtliche Wege und Treppen frei und überprüften bei der Gelegenheit auch, wie die festgebauten Kulissenteile den Winter überstanden hatten.

Auch Thilo Matt hatte sich bereiterklärt, bei diesem Frühjahrsputz mitzuhelfen. Er war, wie sein Freund Finn Forstberger, zweiundzwanzig und von Kindesbeinen an mit der Naturbühne vertraut. Seine Eltern, die ebenfalls aktiv waren, hatten ihn und seine beiden jüngeren Schwestern Lena und Sabrina mitgenommen, kaum dass sie laufen konnten, und zu den Kinderdarstellern gesteckt. Es hatte ihm von Anfang an Spaß gemacht, mit neun hatte er seine erste richtige Rolle mit Text bekommen, und von da an hatte er sich zu einem Stammspieler hochgearbeitet, den Valentin Zeus anerkennend seine »Allzweckwaffe« nannte. Der Junge kann alles spielen, pflegte er zu sagen, und in »Mordsg’schiss wega nix« hatte er ihm die, wie Thilo fand, beste der Rollen anvertraut, nämlich den so zynischen wie sympathischen Benedikt, der sich mit Heros Cousine Beatrice (die nicht minder spitzzüngig war als er) ein funkensprühendes Wortduell nach dem anderen lieferte. Bianca und er hatten diese Szenen im vergangenen Jahr nicht nur auf der Bühne, sondern zusätzlich auch noch privat so ausgiebig geprobt, dass sie ihre Wortfeuerwerke zuletzt nahezu im Schlaf abbrennen konnten, und sie waren bitter enttäuscht gewesen, als sie danach nicht zeigen durften, wie perfekt sie einander die Bälle zuwarfen. Nun bekamen sie eine zweite Chance, und er freute sich darauf wie verrückt.

Er kam mit etwas Verspätung, als alle schon bei der Arbeit waren – aber das lag an Lars Lege, der ihn angerufen hatte, als er gerade losfahren wollte: Das neue Werbematerial sei soeben aus der Druckerei angekommen, und ob er Thilo einen Packen Flyer und das Plakat für den Schaukasten mitgeben könne? Natürlich hatte Thilo daraufhin noch den Umweg zu ihm gemacht, Flyer und Plakat in den Kofferraum seines Fiat geladen und sich von Lars den Schlüssel zum Schaukasten geben lassen. Nun lenkte er den Wagen über den kleinen Schleichweg hinunter zu dem Mitwirkendenparkplatz hinter der Bühne, ging mit dem Flyerpaket unter dem Arm an seinen fleißig rechenden und fegenden Kollegen vorbei und wedelte mit dem zusammengerollten Plakat, um ihnen zu zeigen, dass sein Zuspätkommen einen Grund hatte. Noch dazu einen, gegen den niemand etwas sagen konnte.

Vor der sogenannten Kantine, wo im Sommer Butterbrezeln, Saitenwürste und Albkäseweckla an die hungrigen Theaterbesucher verkauft wurden, stand ein großer, aus dunklem Holz gezimmerter Ständer, den Thilo nun mit den neuen Flyern bestückte. Der breite Weg, der von hier aus die gesamte Bühne entlangführte und sie von der Zuschauertribüne trennte, war Teil eines beliebten Wanderweges durch das Tiefental, den sowohl Fußgänger als auch Radfahrer gerne nutzten, und wenn nur ein Bruchteil von ihnen kurz anhielt und sich einen der Flyer mitnahm, dann hatte sich diese Werbemaßnahme bereits gelohnt.

Danach ging Thilo hinüber zu dem Schaukasten am Fuß des Zickzackweges, der vom Eingangsportal und dem Kassenhäuschen aus hier herabführte. Die Fotos, Zeitungsausschnitte und diversen Mitteilungen, die kunterbunt durcheinander darin hingen, stammten samt und sonders noch aus dem Vorjahr. Es war also höchste Zeit, zumindest schon mal das Stückplakat zu erneuern.

Während Thilo in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel kramte, bemerkte er plötzlich rund um das Schloss mehrere unschöne Kratzer im Rahmen. Als er die Schadspuren daraufhin genauer begutachtete, wurde ihm klar, dass jemand das Schloss aufgebrochen haben musste.

Und erst jetzt fiel ihm die übergroße Todesanzeige auf, die jemand in dem Schaukasten quer über dem alten Stückplakat angebracht hatte. Ein dünnes schwarzes Rechteck umrahmte ein Kreuz und den darunter in Großbuchstaben gedruckten Text:

WIR TRAUERN UM PETER MÜLLER UND UM DEN NÄCHSTEN DON PEDRO DER DIE PREMIERE EBENFALLS NICHT ÜBERLEBEN WIRD

Stumm und wie betäubt starrte Thilo auf die drei Zeilen, bis die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen begannen. Dann riss er sich zusammen und rannte auf die Bühne.

»He!«, schrie er und winkte wie wild mit beiden Armen. »Kommt mal her – das müsst ihr euch ansehen!«

***

Eine halbe Stunde später traf eine Polizeistreife aus Münsingen ein. Die beiden Beamten, die sich als Ronald Moosberger und Kirsten Weninger vorstellten, begannen sofort routiniert, den Fall aufzunehmen, machten Fotos von dem aufgebrochenen Schloss und der Todesanzeige und befragten sämtliche Anwesenden, ob ihnen während ihrer Arbeit oder vielleicht auch schon vorher irgendetwas Verdächtiges aufgefallen war. Im Übrigen, wer war eigentlich dieser »nächste Don Pedro«, von dem hier die Rede war?

»Der bin ich«, meldete sich Lars Lege, den Thilo als Allerersten angerufen hatte und der nun schon seit zehn Minuten sichtlich geschockt und fassungslos neben dem Schaukasten stand.

»Und Sie sind?«, fragte Kirsten Weninger mit gezücktem Stift.

»Lars Lege. Ich bin der Leiter des Theaters hier.«

»Und Sie spielen den Don Pedro?«

Lars’ Lippen pressten sich zu einem dünnen, geraden Strich zusammen.

»Jetzt ganz bestimmt nicht mehr«, antwortete er verbissen. »Soll ich mir vielleicht genauso wie Peter den Hals brechen? Fällt mir ja gar nicht ein.«

»Aber das geht doch nicht, Lars!«, protestierte Valentin Zeus, der ebenfalls sofort gekommen war, nachdem jemand aus dem Aufräumkommando ihn telefonisch über die ominöse Todesanzeige informiert hatte. »Du weißt doch genau, dass es ohne dich nicht geht!«

»Weißt du was?«, schnappte Lars. »Das ist mir scheißegal. Ich hab sowieso von Anfang an keine Lust auf die Rolle gehabt, das weißt du – und jetzt soll ich auch noch riskieren, dass ich dabei draufgehe? Das erwartest du doch wohl nicht allen Ernstes von mir!«

»Aber was wird dann aus dem Stück?« Valentin war sichtlich der Verzweiflung nahe. »Wir können es doch nicht schon wieder ausfallen lassen! Das wäre das Ende!«

»Nun mal langsam!«, ging der Polizeibeamte Ronald Moosberger dazwischen. »Noch ist gar nicht klar, ob es sich hier wirklich um eine ernstzunehmende Drohung handelt. Womöglich ist es ja auch nur ein schlechter Scherz, der Ihnen Angst einjagen soll. Wir werden den Fall der Kripo Reutlingen melden, die wird die notwendigen Ermittlungen einleiten, und bis zu Ihrer Premiere im Juli haben wir ja noch ein paar Monate Zeit, um herauszufinden, wer oder was hinter dieser Sache steckt. Ich bin jedenfalls sicher, Sie werden Ihr Stück aufführen können, ohne dabei Leib und Leben Ihrer Schauspieler zu gefährden.«

»Trotzdem: Nicht mit mir!«, erklärte Lars entschlossen. »Ich meine – es hat sich mit Sicherheit herumgesprochen, dass ich der nächste Don Pedro werden soll, und wenn der Verfasser von diesem Wisch nicht einfach nur eine Aversion gegen diesen Namen hat, dann gilt seine Drohung womöglich explizit mir. Wenn jetzt ein anderer die Rolle übernimmt, dann verliert der Kerl seine Zielperson, und das Problem ist erledigt.«

»Und wer sollte etwas gegen Sie haben?«, erkundigte sich Kirsten Weninger sachlich.

»Keine Ahnung.« Lars zuckte die Schultern, und sein Tonfall wurde ironisch. »Vielleicht das Reisebüro, bei dem ich meine bereits gebuchte Kreuzfahrt wieder storniert habe, nachdem man mir den Pedro aufs Auge gedrückt hat. Die waren da bestimmt nicht glücklich drüber. Sonst fällt mir spontan niemand ein.«

»Denken Sie in Ruhe nach«, sagte Ronald Moosberger. »Die Kollegen von der Kripo werden sich sicher in den nächsten Tagen bei Ihnen melden. Vielleicht haben Sie bis dahin ja eine Idee, wo man bei den Ermittlungen ansetzen könnte.«

»Hoffen wir’s.« Lars zückte eine Visitenkarte. »Hier – damit die Kollegen wissen, wo und wie sie mich erreichen.«

»Besten Dank.« Ronald Moosberger steckte die Karte ein. »Gut. Dann werden wir den Schaukasten jetzt noch mit Flatterband absichern, und ich darf Sie alle bitten, ihn nicht zu berühren und schon gar nicht diese Anzeige zu entfernen, bevor die Spurensicherung sich damit befasst hat.«

Die Umstehenden nickten gehorsam. Eine Weile blieben sie unschlüssig stehen und sahen einander fragend an, während die beiden Beamten das rot-weiße Plastikband aus ihrem Wagen holten und sich an die Arbeit machten. Dann gingen sie hinüber zur Zuschauertribüne, um dort über diese unangenehme Geschichte und ihre möglichen Folgen zu debattieren. Nur Lars Lege schien keine sonderliche Lust darauf zu haben, verabschiedete sich mit einem lapidaren »Man sieht sich!« und zog von dannen. Valentin Zeus jedoch lief ihm nach und hielt ihn am Arm fest.

»Warte, Lars! Du kannst doch jetzt nicht weggehen, wir müssen noch einmal darüber reden und …«

»Da gibt’s nichts mehr zu reden«, schnitt Lars ihm das Wort ab und sah ihn an. »Ich lege die Rolle nieder, und entweder findest du jemanden, der sie übernimmt, oder du musst sie eben doch selbst spielen. Mir egal. Schönen Tag noch allerseits!«

Damit ging er davon und ließ seine Kollegen konsterniert und ratlos zurück.

***

Drei Tage später beorderte im Reutlinger Polizeipräsidium Kriminalhauptkommissarin Dorothea Kaiser um elf Uhr vormittags ihre beiden engsten Mitarbeiter zu sich in ihr Büro. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag die Fallakte Todesdrohung Naturtheater Hayingen.

Kriminalkommissarin Leonie Lexer erschien als Erste, ungestüm und energiegeladen wie immer. Sie war zweiunddreißig, klein, dünn und mit ihren feuerroten Haaren und dem sommersprossigen Gesicht daran gewöhnt, dass in ihrer Gegenwart die Rede früher oder später unweigerlich auf Pippi Langstrumpf kam. Was sie nicht störte, solange man nicht anfing, sie »Pippi« zu nennen. Dann konnte sie nämlich ausgesprochen ungemütlich werden. Ihr drei Jahre älterer Kollege Jakob Kratz, vor Kurzem zum Kriminaloberkommissar befördert, konnte davon bereits mehrere Lieder singen.

»Voilà!«, sagte Leonie und ließ sich auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch plumpsen. »Ich bin da. Wo ist Jakob?«

»Kommt sicher gleich«, antwortete Dorothea. »Wenn du einen Kaffee willst, nutz die Gelegenheit, um dir schnell noch einen zu holen. Jakob bringt bestimmt keinen mit.«

Leonie prustete. »Der weiß doch nicht mal, wo die Kaffeemaschine überhaupt steht! Aber du hast recht. Ich beeil mich.«

Sie fegte hinaus. Wenige Minuten später betrat Jakob Kratz das Büro, wie immer in schwarzen Jeans und einem Sweatshirt aus seiner schier unerschöpflichen Hard-Rock-Café-Kollektion. Heute war das aus London dran. Er war mittelgroß und drahtig, trug das rotblonde Haar zu einem Hipsterknoten am Hinterkopf zusammengebunden und verstärkte den Nerd-Eindruck, den er durch diese Aufmachung zweifelsfrei erwecken wollte, durch eine knallrote eckige Hornbrille.

»Nanu, bin ich der Erste?«, fragte er. »Ist Pippi Langstrumpf noch nicht da?«

»Du meinst Leonie«, mahnte Dorothea milde. »Sie holt sich nur noch schnell – ah, da ist sie ja!« Sie nickte Leonie zu, die in diesem Moment mit einem dampfenden Becher in der Hand im Türrahmen auftauchte und giftige Blicke in Richtung Jakob Kratz abfeuerte. »Keine Diskussionen über gewisse starke Mädchen, bitte!«, fügte Dorothea daher hastig hinzu, bevor Leonie zur verbalen Attacke übergehen konnte. »Wir haben Wichtigeres zu tun. Setzt euch, damit wir anfangen können.«

Sie wartete, bis Leonie sich wieder abgeregt und beide Kollegen Platz genommen hatten. Mit ihren siebenundfünfzig Jahren war Dorothea Kaiser derzeit die erfahrenste Ermittlerin bei der Kripo Reutlingen und nahm deshalb, obwohl sie erst vor zwei Jahren hierher versetzt worden war, eine gewisse Führungsposition ein. Die hatte ihr bei der gesamten Belegschaft den Spitznamen »die Kaiserin« eingebracht, den man, wie sie sehr genau wusste, hinter ihrem Rücken auch unverhohlen verwendete. Aber solange sie davon ausgehen konnte, dass es zumindest freundlich und nicht despektierlich gemeint war, hatte sie damit kein Problem.

Sie strich sich eine kastanienbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und schlug die Fallakte auf.

»Ich möchte, dass wir uns einen Überblick verschaffen, was wir in dieser Sache schon alles zusammengetragen haben«, sagte sie. »Zuerst diese seltsame Todesanzeige. Leonie, damit hast du dich befasst.«

»Ja.« Leonie stellte ihren Kaffeebecher auf dem Schreibtisch ab, damit sie zur Untermalung ihrer Ausführungen zusätzlich auch mit beiden Händen reden konnte. »Es handelt sich um einen Papierbogen der Größe DIN A2. Glanzpapier, ziemlich edel. Der schwarze Rahmen ist ebenso wie das Kreuz mit einem dicken Filzstift und mit Hilfe eines Lineals gezeichnet worden – offensichtlich ein 30-Zentimeter-Lineal, denn auf jeder Rahmenlinie ist zwischendurch einmal neu angesetzt worden. Der Text wurde auf einem Computer geschrieben und auf einem DIN-A4-Blatt ausgedruckt, diesmal normales Kopierpapier. Das hat man dann unter dem Kreuz auf den großen Bogen geklebt, mit einem Klebestift – Pritt oder eine andere vergleichbare Marke. Leider, leider kein einziger Fingerabdruck oder sonst irgendeine verwertbare Spur, die uns auf direktem Weg zu dem Bastler führen könnte.«