Der Weg des Schamanen - Michael Harner - E-Book

Der Weg des Schamanen E-Book

Michael Harner

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  • Herausgeber: Ansata
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Dieses berühmte, zeitlose Grundlagenwerk von Michael Harner enthält alle wichtigen Informationen über den Schamanismus und seine praktische Anwendung. Der Autor versteht es dabei meisterhaft, dem westlichen Leser die jahrtausendealten Heiltechniken verschiedener schamanischer Kulturen ebenso spannend wie verständlich nahe zu bringen. Er erklärt, was Schamanismus bedeutet und beschreibt ausführlich die Methoden, mit denen jeder in einen Bewusstseinszustand gelangen kann, der in eine andere Wirklichkeit führt. Ein praktischer Weg, gerade für den modernen Menschen, um die eigene Schamanenkraft zu entdecken und diese für ein bewusstes, gesundes und glückliches Leben zu nutzen.

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Seitenzahl: 431

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1980 unter dem Titel The way of the shaman bei HarperCollins, San Francisco, USA.
© 1980 by Michael Harner
© der deutschsprachigen Ausgabe 1994/1999/2007/2009 Ariston Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH © dieser Ausgabe 2011 by Ansata Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Weiss / Zembsch / Partner: Werkstatt München unter Verwendung eines Motivs von Chase Swift/Corbis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe 2007Einleitung zur deutschen Ausgabe 1999Einleitung zur amerikanischen Ausgabe 1999EinführungI Entdeckung des WegesII Die schamanische ReiseIII Schamanismus und BewusstseinszuständeIV KrafttiereV Die Reise zur Wiedererlangung der KraftVI Die Praxis der KraftanwendungVII Extrahieren schädlicher EindringlingeNachwortErgänzung zur Neuausgabe 2007 Michael Harner:Anhang A - Trommeln, Rasseln, CDs und MCs, SeminareAnhang B - Das Handspiel der Flathead-Indianer beschrieben von Alan P. MerriamAnmerkungenLiteraturNamensregisterSachregisterRegister der Schamanentiere

»… Die Medizinmänner der Eingeborenen, die keineswegs bösartige oder unwissende Scharlatane sind, stehen auf einer hohen Stufe; das heißt, sie sind Menschen eines hohen Ranges im geheimen Leben jenseits alles dessen, was die meisten erwachsenen Männer erreichen – eine Stufe, welche Disziplin, mentales Training, Mut und Ausdauer erfordert … Sie sind Menschen von ehrbarer und meist außergewöhnlicher Persönlichkeit … sie sind von unermesslich großer gesellschaftlicher Bedeutung, da die psychische Gesundheit ihrer Gemeinschaften weitgehend vom Glauben an ihre Fähigkeiten abhängt … Die verschiedenen psychischen Kräfte, die ihnen nachgesagt werden, sollten nicht einfach nur als primitive Magie und Aberglaube abgetan werden; denn viele von ihnen haben sich auf die Arbeit mit dem menschlichen Geist spezialisiert, und auf den Einfluss von Geist auf Körper, und von Geist auf Geist …«

Aus: Adolphus Peter Elkin (1891 – 1979): Eingeborene von hohem Rang

 

»… Aboriginal medicine-men, so far from being reogues, charlatans of ignoramuses, are men of high degree; that is, men who have taken a degree in the secret life beyond that taken by most adult males – a step which implies discipline, mental training, courage and perseverance … they are men of respected, and often of outstanding, personality … they are of immense social significance, the psychological health of the group largely depending on faith in their powers … the various psychic powers attributed to them must not be too readily dismissed as mere primitive magic and ›makebelieve‹, for many of them have specialized in the working of the human mind, and in the influence of mind on body and of mind on mind …«

From Aboriginal Men of High Degree by the Tate Australian anthropologist A. P. Elkin (1945; 78 – 79)

Vorwort zur deutschen Ausgabe 2007

Zunächst einmal möchte ich dem Heinrich Hugendubel Verlag danken, der mir die Gelegenheit gab, ein Grußwort an meine deutschsprachigen Leser zu richten.

In diesen Zeiten, da unser Planet von Umweltproblemen und Treibhauseffekt bedroht wird, bietet der Schamanismus uns Mittel und Wege, die Grenzen unseres alltäglichen Bewusstseins zu erweitern und uns der heiligen Einheit gewahr zu werden, die alle Wesen, ja das gesamte Universum miteinander verbindet. Sich dessen bewusst zu sein, verdanken wir den Erfahrungen, die sich im schamanischen Bewusstseinszustand einstellen. Wir treten in diesen Zustand ein, indem wir die Pforten zur anderen Welt öffnen, vergessene Pforten wie zum Beispiel die schamanische Reise. Wir durchschreiten sie, befreien uns von den Fesseln institutionalisierter Spiritualität und übernehmen die volle Verantwortung für unsere eigene innere Entwicklung.

Der Schamanismus ist weder Glaubenssystem noch Dogma, sondern ein Weg, der auf direkter Erkenntnis durch persönliche Erfahrung gründet. Daher weist dieses Buch auch nur den Weg an die Pforte dieser Erfahrung. Wer die Schwelle überschreiten möchte, nimmt am besten Kontakt zur Foundation for Shamanic Studies in Europa auf (www.shamanicstudies.net). Sie bietet ein Ausbildungssystem an, das ich in Jahrzehnten kulturübergreifender Forschungsarbeit entwickelt habe. Der europäische Zweig der Foundation ist auf dem gesamten Kontinent tätig und wird von Paul Uccusic geleitet. Sie können dort längere und kürzere Praxiskurse im »Core Shamanism« machen, also in den grundlegenden Techniken des Schamanismus. Ich danke Paul und Roswitha Uccusic sowie Michael Hasslinger und allen anderen, die dieses System seit Jahrzehnten lehren, für ihr Engagement.

Es freut mich ganz besonders, dass gerade Europa, wo schamanische Methoden vor Jahrhunderten gnadenlos verfolgt und zerstört wurden, heute zu den Vorreitern gehört, wenn es darum geht, zu schamanischem Wissen und zu schamanischen Heilmethoden zurückzukehren. Möge diese spirituelle Renaissance weltweit immer mehr Menschen begeistern. Möge sich dadurch die Einstellung der Menschen zu ihrem Heimatplaneten, ihren Mitmenschen und allen Wesen, mit denen sie diesen Garten Eden teilen, bald und von Grund auf ändern.

 

Michael Harner Mill Valley, Kalifornien 2007

Einleitung zur deutschen Ausgabe 1999

Eine anthropologische Expedition für das American Museum of Natural History führte mich 1960/61 ins peruanische Amazonasgebiet, wo ich mehr als ein halbes Jahr in einem Dorf der Conibo an einem entlegenen See unweit des unteren Rio Tamaya lebte. Nachdem ich einige Monate relativ erfolglos versucht hatte, möglichst viel über den spirituellen Glauben dieser Menschen zu erfahren, erklärten sie mir, es gebe nur einen Weg, ihre Religion zu verstehen, nämlich Ayahuasca zu probieren, das bewusstseinsverändernde Getränk, mit dessen Hilfe ihre Schamanen in die verborgenen Welten der Geister gelangten. Ayahuasca ist ein gekochtes Gebräu, das eine besondere Spezies der Kletterpflanze banisteriopsis enthält und dazu eine oder mehrere andere Komponenten wie Psychotriablätter oder die Blätter einer weiteren Spezies von banisteriopsis.

Als ich dieses Getränk zum ersten Mal probierte, waren mir Psychedelika noch unbekannt. Timothy Leary machte zu dieser Zeit gerade seine ersten psychedelischen Erfahrungen, und LSD gehörte noch nicht zur amerikanischen Kultur. Außerdem hielt ich mich für einen Atheisten; ich nahm ayahuasca einfach nur im Interesse der Anthropologie, weil die teilnehmende Beobachtung als einer der Eckpfeiler ernsthafter Forschung gesehen wurde.

Die Conibo sollten recht behalten. Als ich den Trunk schließlich eines Abends zu mir nahm, verblüfften mich die Resultate sehr. Nicht nur, dass ich erstaunlich reale, unbekannte Welten kennenlernte; als ich diese Welten später einem Schamanen der Conibo beschrieb, musste ich zudem feststellen, dass er bestens mit ihnen vertraut war und sogar Details erwähnte, die ich ihm noch gar nicht erzählt hatte! Ich erkannte, dass die Anthropologie die Bedeutung schamanischen Wissens unterschätzt hatte – und dass ich in eine Realität vorgedrungen war, die weit tiefer reicht als die menschliche Kultur.

Derselbe Schamane ermutigte mich, meine Erfahrungen mit ayahuasca fortzusetzen, damit ich »richtig« in die schamanische Praxis eingeführt werden könne. Bei unserer nächtlichen Arbeit mit verändertem Bewusstsein lernte ich viel über die anderen Welten der Schamanen, vor allem, dass man in ihnen mitfühlende spirituelle Kräfte finden und sich mit ihnen vereinigen kann, um Kranke zu heilen und Leiden in dieser Welt zu lindern. Ich erlernte auch Techniken schamanischer Divination/schamanischen Sehens, Methoden, um auf schwierige Fragen spirituelle Antworten zu erhalten.

Nach meinen Erfahrungen beim Volk der Conibo wurde ich von den Untsuri Shuar (Jívaro) im östlichen Teilvon Ecuador, wo ich zuvor ein Jahr als Ethnograf verbracht hatte, in Formen des Schamanismus initiiert, die im Amazonasgebiet besonders ausgeprägt sind. Ich begann auch, die einschlägige Literatur in der Hoffnung zu durchforsten, Beweise für den weltweiten Gebrauch indigener Psychedelika im Schamanismus zu finden. Schließlich musste ich jedoch feststellen, dass die Nutzung solcher Substanzen in Amazonien eine Minderheitenpraxis darstellt. Die weitaus verbreitetere Methode, in den veränderten Bewusstseinszustand des Schamanen einzutreten, ist monotoner perkussiver Klang, der hauptsächlich durch Trommeln erreicht wird.

Mithilfe von Experimenten lernte ich, was die Schamanen bereits wussten: Auch monotones Trommeln mit einer Frequenz von vier bis sieben Schlägen pro Sekunde ist ein wirksamer Zugang zur anderen Realität. Dieser »Schallantrieb« hat in etwa dieselbe Frequenz wie die Theta-Wellen des Gehirns, und seine Effektivität ist wahrscheinlich teilweise einer Stimulierung des Gehirns in diesem Frequenzbereich zuzuschreiben. Anders als Drogen birgt Trommeln darüber hinaus keine Risiken, und die Wirkung ist kurzfristig.

Meine Forschungen bei den Inuit der kanadischen Arktis und den Völkern der amerikanischen Nordwestküste bestärkten meine Überzeugung, dass die meisten Schamanen der Welt Trommeln oder andere Perkussionsinstrumente als »Pferde« oder »Kanus« benutzen, die sie in die verborgene Realität der Geister transportieren. Bei den Samen (Lappen) im Norden Skandinaviens, bei denen sich der Schamanismus länger als irgendwo sonst in Europa erhalten hat, findet sich noch heute in manchen Haushalten eine sogenannte »magische Trommel«, und bei Forschungen in der Sowjetunion brachte ich in Erfahrung, dass die wirklich professionellen sibirischen Schamanen im Allgemeinen nur die Trommel verwendeten, selbst wenn der psychedelische Pilz Amanita muscaria erhältlich war und von anderen benutzt wurde.

Mit der Schamanentrommel konnte ich meine Praxis des Schamanismus in den Vereinigten Staaten fortsetzen. Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an Universitäten wie auch außerhalb hielt ich Vorträge zu diesem Thema und wurde schließlich gebeten, Einführungen in die Praxis des Schamanismus zu geben. So begann ich, schamanisches Heilen und schamanische Divination zu lehren – anfänglich nur für ein oder zwei Personen, ab Mitte der Siebzigerjahre dann für Gruppen in Workshops an alternativen Institutionen wie dem kalifornischen Esalen Institute.

Die Fortsetzung meiner weltweiten Feldstudien sowie eigene Experimente führten mich zu den fundamentalen Prinzipien der schamanistischen Praxis, die sich bei allen indigenen Völkern als grundlegend dieselbe erwies, seien sie nun in Sibirien, Australien, Südafrika, Nord- oder Südamerika beheimatet. Dieser »Kern-Schamanismus« (Core-Shamanism) bildete die Basis dessen, was ich vermittle. Anstatt die Praktiken einer ethnischen Gruppe zu imitieren, lernten meine Schüler, auf diesen Grundlagen praktischen schamanistischen Wissens so aufzubauen, dass sie das Gelernte in ihre eigene Kultur integrieren konnten. Auf dieser Basis wurden die Geister zu ihren Lehrern – der klassische Weg, auf dem Schamanen den Großteil ihres Wissens erlangen.

Wahrscheinlich mindestens seit dem Oberen oder Jungpaläolithikum spielten Schamanen auch in den europäischen Gesellschaften eine bedeutende Rolle, doch wurde dieses Erbe im Mittelalter und der Frührenaissance von Kirche und Inquisition praktisch zerstört. Die Verfolgung der Schamanen war den meisten Kulturen im Osten wie im Westen gemein, da ihre Reisen zu den Göttern die Autorität der Staatsreligionen unterminierten. Dieser Gedanke brachte mich dazu, meine Universitätslaufbahn 1987 aufzugeben und die Foundation for Shamanic Studies (FSS) zu gründen, die sich zum Ziel gesetzt hat, das verlorene schamanistische Erbe der westlichen Welt wiederzuentdecken und indigenen Völkern zu helfen, ihre eigenen schamanischen Praktiken wiederzubeleben und zu erhalten.

Vor mehreren Jahren etwa reiste ein Team der FSS auf Einladung des Präsidenten der zentralasiatischen Republik Tuva (Teil der Russischen Föderation) in dieses Land, um bei der Wiederbelebung des Schamanismus mitzuhelfen, der während der Zeit der kommunistischen Herrschaft unter Androhung der Todesstrafe verboten gewesen war. Zusammen mit den verbliebenen Schamanen Tuvas führte das Team zahlreiche öffentliche Heilungen durch und demonstrierte damit, dass Schamanismus und schamanistisches Heilen in Amerika Anerkennung finden sollten und mit einem modernen Lebensstil vereinbar sind. Am Ende unseres Besuches gab der Präsident bekannt, dass der Schamanismus künftig ebenso geachtet werde wie der Buddhismus und das Christentum. Die Zusammenarbeit mit den Schamanen aus Tuva wurde fortgesetzt, insbesondere unter der Leitung von Paul Uccusic, dem Leiter des europäischen Zentrums, und Carlo Zumstein, dem Leiter der Schweizer Sektion der FSS. Einer der Schamanen aus Tuva und vier seiner Kollegen aus unterschiedlichen Teilen der Welt wurden von der FSS als »Living Treasures of Shamanism« designiert; sie erhalten lebenslang ein Gehalt, mit dem der Erhalt ihres Wissens gesichert werden soll.

Mehr und mehr Menschen in den Vereinigten Staaten, Europa und anderen Teilen der Welt widmen sich der Praxis des Schamanismus, darunter viele im Gesundheitswesen Tätige, die nach einem ganzheitlicheren Ansatz für ihre Arbeit suchen. Schamanismus wurde schon immer in Verbindung mit pflanzlichen Heilmitteln, dem Schienen und Einrenken von Knochen und Gelenken sowie anderen Heilverfahren praktiziert. Er stellt keine »alternative«, sondern eine komplementäre Methode dar, die mit der spirituellen Seite des Heilens befasst ist.

Vieles ist geschehen, seit mich die Schamanen vor achtunddreißig Jahren in verborgene Geisterwelten einführten. Das Kennenlernen dieser Welten hat meine Auffassung der Realität verändert und meinem Leben eine große Bedeutung hinzugefügt. Auf die heute so oft zu hörende Frage: »Soll das alles sein?«, kann ich mit unerschütterlicher Sicherheit antworten: »Nein, es gibt noch viel mehr, als wir uns vorzustellen in der Lage sind.«

 

Mill Valley, Kalifornien 1999

Michael Harner

Einleitung zur amerikanischen Ausgabe 1999

Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches sind fast zwanzig Jahre vergangen, und diese Jahre waren für das Wiedererstehen des Schamanismus höchst bedeutsam.

Zuvor war der Schamanismus überall unaufhaltsam auf dem Rückzug gewesen, denn Missionare, Kolonialherren, Regierungen und kommerzielle Interessen hatten die indigenen Völker und Stämme zurückgedrängt und viele alte Kulturen ausgelöscht. Mit überraschender Kraft ist jedoch in die letzte Dekade der Schamanismus ins menschliche Bewusstsein zurückgekehrt, auch in solchen Hochburgen westlicher Zivilisation wie New York, Wien oder München. Diese Renaissance ging allerdings so subtil vor sich, dass die Öffentlichkeit die Existenz des Schamanismus meist überhaupt nicht bemerkte. Freilich gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika und auch anderswo eine zweite, rasch wachsende Öffentlichkeit. Sie hat die Methoden des Schamanismus aufgegriffen und zu einem Bestandteil ihres täglichen Lebens gemacht. Sie zählt inzwischen viele Tausende von Anhängern.

Diese unerwartete Wiederkehr des Schamanismus hat auch außerhalb der schamanischen Bewegung für Erstaunen gesorgt. So verwunderlich ist das allerdings nicht, denn die Ursachen sind klar erkennbar: Ein Grund für das zunehmende Interesse am Schamanismus ist, dass viele gebildete, denkende Menschen die Epoche blinden Gehorsams ein für alle Mal hinter sich gelassen haben. Sie glauben nicht länger an kirchliche Dogmen und vertrauen, wenn es um spirituelle Angelegenheiten geht, nicht länger irgendeiner Autorität, sondern der einzig wahren – nämlich der spirituellen. Anekdotische, kulturspezifische Berichte aus zweiter oder dritter Hand in Sachen vergleichender Religionswissenschaft befriedigen nicht länger; vor allem bieten sie keine überzeugende persönliche Hilfe. Heutzutage ist Klarheit, sind Beweise gefragt.

Das sogenannte New Age ist ein Produkt des wissenschaftlichen Zeitalters: Die Paradigmen, Vorstellungen und Lösungsansätze zweier Jahrhunderte seriöser wissenschaftlicher Arbeit dringen ungehindert ins persönliche Leben ein. Die Kinder des Wissenschaftszeitalters, zu denen auch ich gehöre, ziehen Ergebnisse aus erster Hand, eigene Beobachtungen und Schlussfolgerungen über die Natur und die Grenzen der Wirklichkeit vor.

Schamanismus ist solch eine Methode für persönliche Experimente, denn bei ihm handelt es sich um eine Technik und nicht um eine Religion.

Ein Produkt dieses Zeitalters der Wissenschaft ist das LSD. Viele, die für sich den Schamanismus entdeckten, haben diesbezügliche Experimente hinter sich, Trips mit psychedelischen Drogen. Sie fanden in den Büchern Carlos Castanedas und anderer ein System, in das sie ihre Erfahrungen einordnen können. Seither wissen sie: Hilfe kommt vom Schamanismus.

Auch die nunmehr weithin bekannten Nahtodeserfahrungen sind Kinder des Wissenschaftszeitalters. Grundlage hierfür ist eine neue Art medizinischer Technologie, die Millionen Amerikaner aus dem klar definierten klinischen Tod ins Leben zurückgeholt hat. Obwohl sie nicht geplant ist, stellt jede Nahtodeserfahrung doch eine Art Experiment dar: in dem Sinne, dass die Weltsicht genauso wie die Vorurteile der »Testperson« geprüft, infrage gestellt und durch die Erfahrung meist nachhaltig beeinflusst werden – vor allem das Wirklichkeitsverständnis und die Einstellung zur Spiritualität.

Die Methoden des Schamanismus erfordern sozusagen »entspannte Disziplin«, dazu Konzentration und Ausrichtung auf ein Ziel. Der Schamanismus der Gegenwart verwendet, so wie in den Traditionen der meisten Stammeskulturen, den monotonen Klang von Schlaginstrumenten, um einen veränderten Bewusstseinszustand zu erreichen.

Der große Vorteil dieser klassischen drogenfreien Methode: Sie ist erstaunlich sicher. Wenn den Ausübenden Aufmerksamkeit und Disziplin fehlen, fallen sie einfach in den Zustand des Normalbewusstseins zurück. Zudem gibt es auch keinen vorherbestimmten veränderten Bewusstseinszustand, wie das bei Drogenerfahrungen häufig der Fall ist.

Zudem wirken diese Methoden überraschend schnell. Das hat zur Folge, dass die meisten Menschen in wenigen Stunden Erfahrungen machen können, für die andere jahrelang meditieren, beten oder chanten müssen. Schon allein deshalb ist der Schamanismus für moderne, meist viel beschäftigte Menschen bestens geeignet – mindestens ebensogut wie für die Inuit (Eskimo), deren Tagesarbeit dem Überlebenskampf gewidmet war, deren Abende jedoch dem Schamanismus gehörten.

Ein weiterer Faktor für die Wiederkehr des Schamanismus ist die ganzheitliche Sicht vom Menschen, die bewusst geistige Kräfte zur Gesundung und zur Erhaltung der Gesundheit einsetzt. Viele Methoden der ganzheitlichen New-Age-Gesundheitsbewegung basieren auf dieser Wiederentdeckung individueller Versuche – und letzten Endes auf den Methoden und Sichtweisen der Stammes- und der Volksmedizin.

Der Schamanismus, der vieles von diesem alten Wissen enthält, wird von jenen immer stärker beachtet, die neue Lösungen von Gesundheitsproblemen suchen, seien sie nun körperlich oder geistig-seelisch. Hochspezifische Techniken, wie sie seit Langem Bestandteil des Schamanismus sind (etwa Änderung des Bewusstseinszustandes, Stressbekämpfung, Visualisierung, positives Denken und Hilfe seitens Instanzen der nichtalltäglichen Wirklichkeit) sind zugleich Beispiele aus der ganzheitlichen Praxis.

»Spirituelle Ökologie« ist ein weiteres Schlagwort, das auf die Bedeutung des Schamanismus hinweist. In der gegenwärtigen weltweiten Umweltkrise bietet der Schamanismus etwas, das keine der großen anthropozentrischen Religionen enthält: Ehrfurcht vor und spirituelle Kommunikation mit allen Wesen und mit der Erde selbst. Schamanismus besteht nicht einfach in Verehrung der Natur, sondern ist wechselseitiger Erfahrungsaustausch, der die verloren gegangenen Verbindungen unserer Vorfahren zu den spirituellen Kräften und Schönheiten unserer Erde wiederherstellt.

Die Schamanen waren, wie Mircea Eliade, der leider verstorbene führende Forscher in Sachen Schamanismus und vergleichender Religionswissenschaften, formulierte, »die letzten Menschen, die imstande waren, mit den Tieren zu reden«. Ich würde noch hinzufügen, dass sie auch die letzten waren, die mit der gesamten Natur – mit den Wassern, der Luft und den Steinen – reden konnten. Unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, wussten, dass ihre Umwelt über ihr Leben und ihren Tod bestimmte; Kommunikation mit ihr hielten sie für lebensnotwendig.

Auch wir werden jetzt auf diesen Punkt hingewiesen. Nach der erbarmungs- und rücksichtslosen Vernichtung vieler Arten auf dieser Erde, der Zerstörung und Vergiftung des Wassers, der Böden und des gesamten Planeten, beginnt uns langsam zu dämmern, dass unser Überleben letztendlich von dem Umfeld abhängt, das uns die Erde bietet. Aber – dieses allein zu achten ist zu wenig. Was wir brauchen, ist innigste Kommunikation mit ihm und liebende Zuwendung zu dem, was der Lakota »alle unsere Verwandten« nennt. Wir brauchen das Gespräch nicht nur mit den Menschenwesen, sondern auch mit den Tierwesen, den Pflanzenwesen und allen anderen Teilen der Umwelt, einschließlich des Bodens, der Steine und des Wassers. Aus der Sicht des Schamanen ist unsere Umgebung nicht »Umwelt«, sondern Familie.

Heutzutage gehen viele Menschen zwischen Zürich und Auckland, zwischen Chicago und São Paulo wieder den alten Weg des Schamanen – sehr häufig in Trommelgruppen, die sich regelmäßig zu schamanischer Arbeit und zum Heilen treffen. Diese Gruppen arbeiten vollkommen selbstständig – so wie das Schamanen seit undenklicher Zeit gemacht haben: Zusammenarbeit in kleinen Gemeinschaften, um sich und einander zu helfen. Und diese formlosen Kleingruppen sind Teil von größeren Gemeinschaften: vollkommen international, ohne jede Hierarchie und ohne jegliche Dogmen, denn die wahren spirituellen Autoritäten sitzen, wie zu den Zeiten der Stammesgesellschaften (und wie von jedem schamanisch Reisenden überprüft werden kann), in der nicht alltäglichen Wirklichkeit.

Die Trommelgruppen kommen üblicherweise wöchentlich oder zweimal im Monat zusammen; meistens sind es zwischen drei und zwölf Menschen, die sich einander in der Organisation der Abende und in der Verantwortung ablösen. Sie trommeln nicht nur miteinander, sondern sie helfen sich auch gegenseitig und Freunden, Verwandten und Bekannten – und das ohne Geld.

Andere wieder arbeiten allein, mit Tonbändern, CDs, Kopfhörern – mit allen Hilfsmitteln des modernen schamanisch Tätigen. Mit richtig verwendetem Tonband (oder CD) – siehe Anhang A dieses Buches – sind die Ergebnisse oft überraschend gut. Das Tonband und andere technische Hilfsmittel werden auch in der Problemlösungsmethode Shamanic Counseling (Schamanische Beratung) verwendet.

Core Shamanism – Basis-Schamanismus, wie er in diesem Buch beschrieben und in den Seminaren der Foundation gelehrt wird, hat nichts mit »Indianerspielen« zu tun. Der moderne Mensch verwendet dieselben schamanischen Techniken wie seine Vorfahren, und er kommt zu denselben spirituellen Quellen wie die Schamanen der alten Kulturen. Die, die diese Techniken anwenden, behaupten nicht, Schamanen zu sein – wichtig ist, dass sie schamanisch arbeiten und konkrete Ergebnisse haben. Ihre Erfahrungen sind echt und mit den Berichten der Schamanen aus schriftlosen Kulturen absolut wesensgleich, ja sogar miteinander vertauschbar.

Die schamanische Arbeit ist immer und überall gleich; Herz, Hirn und Körper sind gleich – nur die kulturelle Ausformung ist verschieden.

Diejenigen, die Schamanismus betreiben, stoßen auch in besondere »Wirklichkeiten« vor und kommen in Berührung mit der Größe, der Kraft und den Geheimnissen des Universums. Auch die modernen Schamanen vergießen oft Tränen der Rührung und der Ekstase. Sie reden verständig mit Menschen, die Nahtodeserlebnisse hatten, weil sie solches aus eigener Erfahrung kennen, und sie haben Hoffnung dort, wo andere keine haben.

Sie verändern sich, wenn sie die unglaubliche Sicherheit und Liebe jenes Universums entdecken, das normalerweise verborgen ist. Die kosmische Liebe, der sie auf ihren Reisen begegnen, drückt sich immer stärker in ihrem Alltag aus. Sie sind niemals einsam, auch wenn sie allein sind, denn sie haben begriffen, dass wir in Wahrheit niemals abgeschnitten, nie isoliert sind. So wie die Schamanen Sibiriens erkennen sie, dass alles, was ist, lebendig ist. Überall umgibt sie Leben, Familie.

Sie sind in die ewige Gemeinschaft der Schamanen zurückgekehrt, in die Unendlichkeit von Raum und Zeit.

Einführung

Schamanen – die wir in unserer »zivilisierten« Welt »Medizinmänner« und »Zauberer« nennen – sind die Bewahrer einer beträchtlichen Sammlung früher Techniken, die sie anwenden, um Wohlbefinden und Gesundheit für sich selbst und ihre Gemeinschaften zu erreichen und zu bewahren. Diese schamanischen Methoden sind in der ganzen Welt überraschend ähnlich, auch bei Völkern, deren Kulturen in anderer Hinsicht sehr unterschiedlich und seit Zehntausenden von Jahren durch Ozeane und Kontinente voneinander getrennt sind.

Diesen sogenannten primitiven Völkern fehlte unser fortgeschrittener Stand medizinischer Technologie, sodass sie genügend Grund für die Motivation hatten, nicht-technologische Fähigkeiten des menschlichen Geistes für Gesundheit und Heilung zu entwickeln. Die grundsätzliche Übereinstimmung aller schamanischen Methoden deutet an, dass diese Menschen durch Versuch und Irrtum zu denselben Schlüssen gekommen sind.

»Schamanismus ist ein großes mentales und emotionales Abenteuer, worin der Patient wie auch der Schamanenheiler ihre Rolle spielen. Durch seine heroische Seelenreise und seine Bemühungen hilft der Schamane seinen Patienten, ihre normale, allgemein übliche Vorstellung von der Wirklichkeit zu übersteigen, einschließlich der Vorstellung oder Überzeugung, sie seien krank. Der Schamane zeigt seinen Patienten, dass sie emotional und spirituell in ihrem Kampf gegen Krankheit und Tod nicht allein sind. Der Schamane überträgt den Patienten seine besonderen Kräfte und überzeugt sie auf einer tieferen Bewusstseinsebene, dass ein anderes menschliches Wesen bereit ist, sein eigenes Selbst aufzuopfern, um ihnen zu helfen. Das Selbstopfer des Schamanen ruft eine entsprechende emotionale Übergabe von Seiten der Patienten auf, ein Gefühl der Verpflichtung, zusammen mit dem Schamanen zu kämpfen, um sich selbst zu retten. Fürsorge und Heilung gehen Hand in Hand.

Heutzutage entdecken wir, dass sogar die Fast-Wunder der modernen westlichen Medizin als solche nicht immer ausreichen, um die Probleme derjenigen vollständig zu lösen, die krank sind oder Krankheit vermeiden wollen. Immer häufiger suchen Gesundheitsfachleute und deren Patienten zusätzliche Heilmethoden, und viele gesunde Einzelpersonen bemühen sich, auch durch persönliche Experimente, wirksame alternative Wege zu entdecken, um Wohlbefinden zu erreichen. Bei diesen Experimenten ist es für den Laien oder auch den Gesundheitsfachmann oft schwierig, das Gutscheinende vom Gutseienden zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu sind die Methoden des Schamanismus bereits altbewährt; tatsächlich sind sie unermesslich viel länger geprüft worden als beispielsweise die Psychoanalyse und verschiedene andere psychotherapeutische Techniken. Ein Ziel dieses Buches besteht darin, westlichen Zeitgenossen zum ersten Mal zu helfen, aus diesem Wissen praktischen Nutzen zu ziehen bei ihrer Suche, die Verfahren der modernen technologischen Medizin zu ergänzen.

Durch die Anwendung der in diesem Buch beschriebenen Methoden werden Sie eine Gelegenheit erhalten, die Schamanenkraft zu erfahren und sich selbst und anderen zu helfen. In meinen Seminaren für Schamanenkraft und Heilung in Nordamerika und Europa haben Teilnehmer immer wieder vorgeführt, dass die meisten Abendländer leicht in die Grundlagen der Schamanenpraxis eingeführt werden können. Dieser uralte Weg ist so kraftvoll und greift so tief in den menschlichen Geist ein, dass die eigenen üblichen kulturellen Glaubenssysteme und Vorstellungen der Wirklichkeit im Wesentlichen belanglos sind. Mancher mag fragen, ob Schamanismus überhaupt aus einem Buch erlernt werden kann. Bis zu einem gewissen Grad ist die Frage berechtigt; letztlich kann schamanisches Wissen nur durch individuelle Erfahrung erlangt werden. Man muss jedoch die Methoden lernen, um sie anwenden zu können. Sie können auf verschiedenen Wegen gelernt werden. Zum Beispiel wird bei den Conibo vom oberen Amazonas »das Lernen von den Bäumen« höher geschätzt als das Lernen von einem anderen Schamanen. Bei den Ureinwohnern Sibiriens wurde oft eine Tod/Wiedergeburt-Erfahrung als die größere Quelle schamanischen Wissens angesehen. In bestimmten schriftlosen Kulturen folgen Menschen spontan dem »Ruf« zum Schamanismus ohne irgendein formelles Training, während sie in anderen Gemeinschaften etwa zwischen einem Tag und fünf Jahren oder mehr unter der Leitung eines praktizierenden Schamanen lernen.

In der westlichen Kultur werden die meisten Menschen niemals einen Schamanen kennenlernen, ganz zu schweigen vom Training bei ihm. Da wir jedoch eine Schriftkultur haben, brauchen Sie zum Lernen kein Lehrling zu werden; ein gedruckter Führer kann die erforderliche methodische Auskunft vermitteln. Halten Sie dennoch durch, wenn es auch zunächst töricht erscheint, die schamanischen Grundtechniken aus einem Buch zu lernen. Ihre eigenen schamanischen Erfahrungen werden deren Wert beweisen. Wie auf jedem anderen Lerngebiet ist es natürlich vorteilhaft, unmittelbar mit einem Lehrer zu arbeiten. Wer solch eine Erfahrung wünscht, wende sich an die in Anhang A genannten Anbieter von Seminaren.

Beim Schamanismus ist das Fundament des Wohlbefindens die Erhaltung der eigenen Kraft. Dieses Buch wird Sie in einige der grundlegenden schamanischen Methoden einführen, wie Sie Ihre persönliche Kraft zurückerlangen und bewahren und sie außerdem anwenden können, um anderen zu helfen, die schwach, krank oder verletzt sind. Diese Techniken sind einfach und kraftvoll. Ihre Anwendung verlangt weder »Glauben« noch Änderung Ihrer Vorstellungen über die Wirklichkeit, die Sie in Ihrem alltäglichen Bewusstseinszustand haben. In der Tat verlangt das System normalerweise auch keine Änderung in Ihrem Unterbewusstsein; denn es weckt nur auf, was bereits vorhanden ist. Während jedoch die Grundtechniken des Schamanismus einfach und relativ leicht zu erlernen sind, erfordert die wirkungsvolle Praxis des Schamanismus Selbstdisziplin und Hingabe.

Bei der Beschäftigung mit der schamanischen Praxis bewegt man sich zwischen dem, was ich den normalen Bewusstseinszustand und den schamanischen Bewusstseinszustand nenne. Diese beiden Bewusstseinszustände sind beispielsweise auch der Schlüssel zum Verständnis dafür, dass Carlos Castaneda1 von einer »alltäglichen Wirklichkeit« und einer »nichtalltäglichen Wirklichkeit« sprechen kann. Der Unterschied in diesen Bewusstseinszuständen kann vielleicht durch den Vergleich mit Tieren geklärt werden. Drachen, Greife und andere Tiere, die von uns normalerweise »mythisch« genannt werden, sind im schamanischen Bewusstseinszustand »wirklich«. Die Vorstellung, dass es »mythische« Tiere gibt, ist eine brauchbare und gültige Auslegung im alltäglichen Leben, aber überflüssig und unwichtig bei schamanischen Erfahrungen. »Fantasie« kann somit als ein Begriff angesehen werden, der von einem Menschen im alltäglichen Bewusstsein für seine Erfahrung im schamanischen Bewusstseinszustand angewandt wird.

Umgekehrt kann ein Mensch im schamanischen Bewusstseinszustand die Erfahrungen des alltäglichen Bewusstseins als in schamanischen Begriffen illusorisch ansehen. Beide haben recht, von ihrem eigenen persönlichen Bewusstseinszustand aus betrachtet.

Der Schamane hat den Vorteil, sich in diesem Bewusstseinszustand nach seinem Willen bewegen zu können. Er kann den alltäglichen Bewusstseinszustand des Nichtschamanen einnehmen und mit dessen Sicht über die Natur der Wirklichkeit ehrlich übereinstimmen. Dann kann der Schamane in den schamanischen Bewusstseinszustand zurückkehren und direkte Bestätigung des Zeugnisses anderer über deren Erfahrungen in jenem Zustand erhalten.

Beobachtung mit seinen eigenen Sinnen ist die Basis für die empirische Definition von Wirklichkeit; und es gibt noch niemanden, auch nicht in den Wissenschaften der normalen Wirklichkeit, der unbestreitbar nachgewiesen hätte, es gebe nur einen Bewusstseinszustand, der für direkte Beobachtungen gültig sei. Der Mythos des schamanischen Bewusstseinszustandes ist normale Wirklichkeit; und der Mythos des alltäglichen Bewusstseinszustandes ist nichtnormale Wirklichkeit. Es ist äußerst schwierig, ein unvoreingenommenes Urteil über die Gültigkeit der Erfahrungen im entgegengesetzten Bewusstseinszustand abzugeben.

Um die tief sitzende emotionale Feindseligkeit zu verstehen, welche in gewissen Bereichen den Werken von Castaneda entgegengebracht wurde, muss man berücksichtigen, dass diese Art Vorurteil oft mitspielt. Sie ist das Gegenstück zur Ethnozentrik bei unterschiedlichen Kulturen. Doch in diesem Fall ist es nicht die Engstirnigkeit irgendeiner kulturellen Erfahrung als fundamentaler Streitpunkt, sondern die Engstirnigkeit irgendeiner bewussten Erfahrung. Die Menschen mit den meisten Vorurteilen gegen eine Vorstellung von einer nichtnormalen Wirklichkeit sind diejenigen, die sie niemals erfahren haben. Dies könnte man Kognizentrik beim Bewusstsein, entsprechend Ethnozentrik bei den Kulturen nennen.

Ein Schritt in die Richtung der Lösung dieses Problems könnte wohl sein, dass mehr Menschen Schamanen werden, damit sie selbst den schamanischen Bewusstseinszustand erfahren, und zwar in ihren eigenen Begriffen. Solche Schamanen können dann, wie es seit undenklicher Zeit bei anderen Kulturen geschehen ist, Verständnis für jene nichtnormale Wirklichkeit derjenigen aufbringen, die sie niemals erlebt haben. Dies würde der Rolle des Anthropologen vergleichbar sein, der nach gründlicher Beobachtung einer anderen Kultur in der Lage ist, jenen Menschen ein entsprechendes Verständnis beizubringen, die es sonst für fremdartig, unbegreiflich und minderwertig halten würden.

Anthropologen lehren andere Menschen, wie die Irrtümer der Ethnozentrik vermieden werden können, indem man eine Kultur in Begriffen ihrer eigenen Vorstellungen über Wirklichkeit zu verstehen lernt. Westliche Schamanen können einen ähnlichen Dienst hinsichtlich der Kognizentrik leisten. Die Lehre der Anthropologen wird kultureller Relativismus genannt. Was westliche Schamanen bis zu einem gewissen Grad erreichen sollten, ist kognitiver Relativismus. Wenn dann später ein empirisches Wissen über die Praxis des schamanischen Bewusstseinsraums zusammengetragen ist, kann ihm entsprechende Achtung entgegengebracht werden. Dann könnte die Zeit reif sein für eine vorurteilsfreie Analyse schamanischer Erfahrungen, wissenschaftlich wiedergegeben in alltäglichen Begriffen.

Man könnte hier einwerfen, der Grund dafür, dass wir Menschen den größten Teil unseres wachen Lebens im alltäglichen Bewusstseinszustand verbringen, liege darin, dass natürliche Auslese es so beabsichtigt habe, weil dies die wirkliche Wirklichkeit sei, und dass andere Bewusstseinszustände, ausgenommen der Schlaf, Verirrungen seien, die unser Überleben beeinträchtigen. Mit anderen Worten könnte man argumentieren: Wir nehmen die Wirklichkeit so wahr, wie wir es tun, weil sie die beste Möglichkeit des Überlebens bietet. Aber jüngste Fortschritte in der Neurochemie zeigen, dass das menschliche Gehirn seine eigenen bewusstseinsändernden Drogen besitzt, einschließlich Halluzinogenen wie Dimethyltryptaminen. 2 In Begriffen natürlicher Auswahl scheint es unwahrscheinlich, dass sie vorhanden wären, wenn ihre Fähigkeit, den Bewusstseinszustand zu ändern, nicht irgendeinen Vorteil fürs Überleben bedeuten würde. Damit scheint die Natur selbst eine Entscheidung getroffen zu haben, dass manchmal ein veränderter Bewusstseinszustand einem normalen Bewusstsein überlegen ist.

Wir im Westen fangen erst an, den wichtigen Einfluss zu ermessen, den der Bewusstseinszustand auf das haben kann, was allzu oft voreilig als Fragen rein »physischer« Tauglichkeit angesehen wurde. Wenn in einem Notfall ein australischer Schamane oder ein tibetischer Lama »Schnellreisen« anwendet – eine Trance oder schamanische Technik, lange Strecken in großer Geschwindigkeit zu laufen –, dann ist das eindeutig eine Überlebenstechnik, die gemäß Definition im alltäglichen Bewusstseinsraum nicht möglich ist.3

Ähnlich müssen wir heute zugeben, dass viele unserer größten Athleten in einen veränderten Bewusstseinszustand eintreten, wenn sie ihre Höchstleistungen vollbringen. Alles in allem scheint es unangemessen zu behaupten, dass nur ein einziger Bewusstseinszustand unter allen Umständen Vorrang habe. Der Schamane weiß seit Langem, dass solch eine Annahme nicht nur falsch ist, sondern auch gefährlich für Gesundheit und Wohlbefinden. Der Schamane, der sowohl tausenderlei gesammeltes Wissen als auch seine eigenen Erfahrungen anwendet, weiß genau, wann ein Wechsel des Bewusstseinszustandes angemessen und auch notwendig ist.

Im schamanischen Bewusstseinszustand erfährt der Schamane nicht nur, was im alltäglichen Bewusstseinszustand unmöglich ist, sondern tut auch anscheinend Unmögliches. Selbst wenn bewiesen werden sollte, dass alles, was der Schamane im schamanischen Bewusstseinszustand erfährt, nur in seinem Geist ist, wäre jenes Reich für ihn dadurch keinesfalls weniger wirklich. Tatsächlich würde ein solcher Schluss bedeuten, dass die Erfahrungen und Taten des Schamanen im absoluten Sinn nicht unmöglich sind.

Die in diesem Buch beschriebenen Übungen sind meine eigene persönliche Darstellung unter Hinzufügung einiger der jahrtausendealten schamanischen Methoden, die ich aus erster Hand von süd- und nordamerikanischen Indianern gelernt habe, ergänzt durch Angaben aus der ethnografischen Literatur, auch von anderen Kontinenten. Ich habe diese Methoden so abgewandelt, dass westliche Leser ohne Rücksicht auf ihre religiöse oder philosophische Einstellung diese Techniken im täglichen Leben anwenden können. Diese Methoden können von denjenigen mit guter Gesundheit ebenso angewandt werden wie von »ent-geistigten« oder sonst wie kranken Menschen. Vom Standpunkt des Schamanismus ist die persönliche Kraft die Basis der Gesundheit unter allen Lebensbedingungen.

Um ernsthaft Nutzen aus diesem Buch zu ziehen, sollten Sie beachten, dass Sie die Übungen oder Erfahrungen genau in der Reihenfolge machen, wie sie dargestellt sind, und keine folgende Übung versuchen, bis Sie Erfolg bei der vorhergehenden gehabt haben. Manchmal kann jemand alle diese Stufen in ein paar Tagen erreichen; meistens aber dauert es Wochen oder Monate. Das Wichtigste dabei ist nicht Geschwindigkeit, sondern ständige persönliche Praxis. Solange Sie diszipliniert bei der Erlernung der Methoden vorgehen, befinden Sie sich auf dem Weg zum Schamanen. Und an welchem Punkt sind Sie ein Schamane? Dieser Status kann Ihnen nur von denjenigen bestätigt werden, denen Sie hinsichtlich Lebenskraft und Heilung zu helfen versuchen. Mit anderen Worten: Anerkannter Erfolg bei schamanischer Arbeit bestätigt, ob Sie tatsächlich ein Schamane geworden sind.

Sie werden in die Lage versetzt – und zwar vollkommen ohne Anwendung von Drogen – herauszufinden, dass Sie Ihren Bewusstseinszustand auf klassischen schamanischen Wegen ändern und in die nichtnormale Wirklichkeit des Schamanismus eintreten können. Dort im schamanischen Bewusstseinszustand können Sie ein Seher werden und persönlich die berühmte schamanische Reise antreten, um Wissen aus erster Hand über ein verborgenes Universum zu erlangen. Sie können auch entdecken, wie Sie hinsichtlich Heilung und Gesundheit Nutzen aus Ihren Reisen ziehen können, indem Sie alte Methoden anwenden, die völlig neue Möglichkeiten eröffnen und dabei über die westliche Psychologie, Medizin und Spiritualität weit hinausgehen. Zusätzlich können Sie Methoden ohne Reisen lernen, durch welche man seine eigene Lebenskraft bewahrt und stärkt.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass westliche Menschen schamanische Übungen beim ersten Mal mit etwas Furcht beginnen. Aber in allen mir bekannten Fällen wurden diese Ängste bald ersetzt durch Gefühle von Entdeckerfreude, positiver Erregung und Selbstvertrauen. Es ist kein Zufall, dass der Ausdruck Ekstase ganz allgemein sowohl für die schamanische »Trance« oder den schamanischen Bewusstseinsraum als auch für den Zustand der Verzückung oder leidenschaftlichen Lust verwandt wird. Die schamanische Erfahrung ist eine positive, wie sich in Tausenden von Jahren bewahrheitet hat und ich es immer wieder in meinen Seminaren beobachten konnte, wo sich Teilnehmer aus allen Lebensschichten zusammenfinden.

Der schamanische Bewusstseinszustand ist sicherer – so kann man sagen – als träumen. In einem Traum können Sie sich nicht willkürlich aus einer unerwünschten Erfahrung oder einem Alptraum befreien. Im Gegensatz dazu geht man willentlich in den schamanischen Bewusstseinszustand, und da es ein bewusster Wachzustand ist, kann man jederzeit selbst herauswollen, zurück in den alltäglichen Bewusstseinszustand. Anders als bei einer psychedelischen4 Drogenerfahrung gibt es keine chemisch festgesetzte Zeitspanne, die man in einem veränderten Bewusstseinszustand bleiben muss, und keine Möglichkeit, in einem »schlechten« Trip eingeschlossen zu bleiben. Die einzigen mir bekannten bedeutsamen Gefahren im Zusammenhang mit der Praxis des Schamanismus sind sozialer oder politischer Art. Beispielsweise war es offensichtlich gefährlich, während der Zeit der Inquisition in Europa ein Schamane zu sein, und noch heute kann es bei den Jívaro5 gefährlich werden, wenn man beschuldigt wird, ein »böser« oder behexender Schamane zu sein, das heißt, der Praktikant einer Art Schamanismus, die hier nicht gelehrt wird.

Es handelt sich hier im Wesentlichen um eine Darstellung der Phänomene. Ich werde nicht versuchen, schamanische Konzepte und Praktiken in den Begriffen der Psychoanalyse oder irgendeines anderen westlichen Systems kausaler Theorie hinwegzuerklären. Die Kausalität hinter Schamanismus und schamanischem Heilen ist tatsächlich eine sehr interessante Frage, die intensive Forschung wert ist. Aber kausalitätsbezogene wissenschaftliche Forschung ist nicht von Bedeutung, um die schamanische Praxis zu lehren – und das ist hier das Hauptanliegen. Mit anderen Worten: Westliche Fragen, warum der Schamanismus funktioniert, brauchen nicht beantwortet zu werden, um die Methoden zu erfahren und anzuwenden.

Versuchen Sie, alle kritischen Vorurteile auszuschalten, wenn Sie mit der Praxis der schamanischen Methoden beginnen. Freuen Sie sich ganz einfach auf das Abenteuer, sich dem Schamanismus zu nähern; nehmen Sie auf, was Sie lesen, und üben Sie es, und sehen Sie dann, wohin Ihre Forschungen Sie bringen. Tage, Wochen und vielleicht Jahre, nachdem Sie diese Methoden angewandt haben, werden Sie reichlich Zeit haben, um über ihre Bedeutung vom westlichen Standpunkt aus nachzudenken. Der erfolgreiche Weg, das System der Schamanen zu erlernen, besteht darin, dieselben Grundvorstellungen zu benutzen wie sie. Wenn ich beispielsweise von »Geistern« spreche, so deshalb, weil dies die Art ist, wie Schamanen in ihrem System sprechen. Um Schamanismus zu praktizieren, ist es nicht notwendig und sogar ablenkend, sich vorher um ein wissenschaftliches Verständnis zu bemühen, was »Geister« wirklich darstellen und warum Schamanismus funktioniert.

Die Bücher von Carlos Castaneda – ohne die Fragen zu berücksichtigen, die über Wahrheitsgehalt erhoben worden sind6 – haben einen wertvollen Dienst geleistet, viele westliche Menschen in das Abenteuer und die Erregung des Schamanismus und in einige der damit verbundenen wohlbegründeten Prinzipien einzuführen. Auf den folgenden Seiten will ich nicht die Einzelheiten aus Castanedas Werken wiederholen und habe es mir auch nicht zur Aufgabe gemacht, Entsprechungen zwischen seinen Konzepten und den hier dargestellten herauszuarbeiten. Für die meisten Leser seiner Bücher jedoch werden viele Parallelen ziemlich offensichtlich sein. Auf eines aber sollte ich doch hinweisen, dass nämlich Castaneda in seinen Büchern das Heilen nicht betont, obwohl es im Allgemeinen eine der wichtigsten Aufgaben des Schamanismus ist. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sein Don Juan hauptsächlich mit dem Krieger- (oder Zauberer-) Typ des Schamanismus befasst ist.

Das Hauptthema hier ist die Erarbeitung eines Handbuches, das in die schamanische Methodik einführt, Gesundheit und Heilung zu erreichen. Es gibt noch viel mehr, worüber ich in diesem Zusammenhang schreiben könnte, und vielleicht werde ich das auch später tun. Hier aber sind die grundlegenden Voraussetzungen für jedermann niedergelegt, der die Fähigkeit und die Neigung hat, ein Schamane zu werden. Ein Wissen über Schamanismus – wie jedes andere Wissen – kann zu verschiedenen Zwecken angewandt werden, abhängig jeweils von der Art, wie es genutzt wird. Der Weg, den ich Ihnen anbiete, ist der des Heilers, nicht des Zauberers, und die dargebotenen Methoden führen zu Wohlergehen und Gesundheit, aber auch dazu, anderen helfen zu können.

Schließlich sollte ich noch sagen, wenn das nicht schon deutlich geworden ist, dass ich selbst Schamanismus praktiziere, nicht weil ich in Begriffen des normalen Bewusstseinszustandes verstehe, wie er funktioniert, sondern einfach deshalb, weil er funktioniert. Aber glauben Sie nicht einfach meinem Wort: Wirklich wesentliches schamanisches Wissen wird erfahren und kann nicht von mir oder irgendeinem anderen Schamanen gelehrt werden. Schamanismus ist vor allem eine Strategie zum persönlichen Lernen und entsprechend dem Gelernten zu handeln. Ich biete Ihnen einen Teil dieser Strategie an und heiße Sie willkommen beim uralten schamanischen Abenteuer.

I Entdeckung des Weges

Meine erste ausgedehnte Feldforschung als Anthropologe vollzog sich vor mehr als zwei Jahrzehnten an den aufgeforsteten Ostabhängen der ekuadorianischen Anden unter den Jívaro-Indianern7 oder Untsuri Shuar. Die Jívaro waren zu jener Zeit berühmt wegen ihrer heute praktisch verschwundenen »Schrumpfköpfe« und ihrer intensiven Praxis des Schamanismus, der weiterhin betrieben wird. Während der Jahre 1956 und 1957 sammelte ich mit Erfolg zahlreiche Informationen über ihre Kultur, blieb dabei jedoch nur äußerer Beobachter der Welt des Schamanen.

Einige Jahre später forderte mich das Amerikanische Museum für Naturgeschichte auf, eine einjährige Expedition zum peruanischen Amazonas zu machen, um die Kultur der Conibo-Indianer aus dem Gebiet des Ucayali-Flusses zu studieren. Ich nahm das Angebot an, weil ich froh war, eine Gelegenheit zu erhalten, weitere Forschungen in den faszinierenden Waldkulturen am oberen Amazonas durchführen zu können. Diese Feldforschung fand 1960 und 1961 statt.

Zwei besondere Erfahrungen bei den Conibo und Jívaro, die ich gern mit Ihnen teilen möchte, wurden für mich entscheidend bei der Entdeckung des Schamanenweges in beiden Kulturen. Vielleicht vermitteln sie etwas aus der unglaublichen, verborgenen Welt, die dem Erforscher des Schamanismus offensteht.

Ich hatte während der günstigeren Jahreszeit in einem Dorf der Conibo an einem entlegenen See in der Nähe eines Nebenflusses des Rio Ucayali gelebt. Meine anthropologische Untersuchung der Conibo-Kultur war gut vorangekommen, aber meine Bemühungen, Auskünfte über ihre Religion zu erhalten, hatten wenig Erfolg. Die Leute waren freundlich, aber nicht dazu zu bewegen, von übernatürlichen Dingen zu sprechen. Schließlich sagten sie mir, wenn ich ernsthaft lernen wolle, müsse ich den heiligen Schamanentrunk nehmen, hergestellt aus ayahuasca, der »Liane des Todes«.7 Ich sagte voller Neugier, aber gleichzeitig auch voller Furcht zu; denn sie warnten mich, dass die Erfahrung sehr schrecklich sein würde.

Am nächsten Morgen ging mein Freund Tomás, der zuvorkommende Dorfälteste, hinaus in den Wald, um die Reben zu schneiden. Bevor er ging, riet er mir zu fasten: ein leichtes Frühstück und kein Mittagessen. Er kehrte mittags mit so viel ayahuasca-Reben und Blättern der cawa-Pflanze zurück, dass er damit einen knapp 60 Liter fassenden Behälter füllen konnte. Er kochte sie den ganzen Nachmittag, bis nur ein Liter einer dunklen Flüssigkeit übrig blieb. Diese goss er in eine alte Flasche und ließ sie abkühlen bis Sonnenuntergang, wann wir sie trinken wollten.

Die Indianer banden den Hunden im Dorf einen Maulkorb um, sodass sie nicht bellen konnten. Das Geräusch bellender Hunde könne einen Menschen, der ayahuasca getrunken habe, verrückt machen, wurde mir gesagt. Den Kindern wurde befohlen, ruhig zu sein, und Stille legte sich bei Sonnenuntergang über die kleine Gemeinschaft.

Als Dunkelheit die kurze Äquatordämmerung verdrängt hatte, goss Tomás etwa ein Drittel der Flasche in eine Kürbisschale und gab sie mir. Alle Indianer sahen zu. Ich fühlte mich wie Sokrates unter seinen Athener Freunden, als er den Giftbecher nahm – mir fiel ein, dass einer der anderen Namen, die die Leute vom peruanischen Amazonas dem ayahuasca gaben, »der kleine Tod« war. Ich nahm den Trank schnell zu mir. Er hatte einen seltsamen, leicht bitteren Geschmack. Dann wartete ich darauf, dass Tomás seinen Trank zu sich nehmen würde; doch er sagte, dass er sich entschlossen habe, doch nicht daran teilzunehmen.

Man sagte mir, ich solle mich auf die Bambusterrasse unter dem großen Blätterdach des Gemeinschaftshauses legen. Das Dorf war still; man hörte nur das Zirpen der Grillen und in der Ferne die Schreie eines Brüllaffen tief im Dschungel.

Als ich in die Dunkelheit hinaufsah, erschienen schwache Lichtstrahlen. Sie wurden deutlicher und verzweigter und zeigten strahlende Farben. Ein Geräusch kam aus der Ferne, wie ein Wasserfall, der immer stärker wurde, bis er meine Ohren ganz ausfüllte.

Einige Minuten vorher war ich noch enttäuscht, weil ich überzeugt war, dass ayahuasca auf mich keine Wirkung haben würde. Nun überflutete das Rauschen von herabstürzendem Wasser mein Gehirn. Mein Kiefer fühlte sich immer starrer an, und diese Starre stieg hinauf in meine Schläfen.

Die zunächst schwachen Strahlen über meinem Kopf wurden leuchtender und verflochten sich immer mehr, bis sie einen Baldachin bildeten, der einem geometrischen Mosaik aus buntem Glas glich. Die leuchtend violetten Farben bildeten ein sich immer weiter über mir ausdehnendes Dach. Innerhalb dieser himmlischen Höhle hörte ich das Rauschen von Wasser immer lauter werden, und ich konnte ganz schwach Gestalten erkennen, die sich schattenhaft bewegten. Als meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, löste sich die bewegte Szene in etwas auf, das einem riesigen Volksfest glich, einem übernatürlichen Karneval der Dämonen. Im Mittelpunkt über die Aktivitäten wachend und mich direkt anschauend befand sich ein riesiger, grinsender, krokodilartiger Kopf, aus dessen höhlengleichen Kinnladen eine Sturzflut von Wasser schoss. Langsam stiegen die Wasser und auch der Baldachin darüber, bis sich die Szene in eine bloße Zweiheit von blauem Himmel oben und Meer unten verwandelte. Alle Lebewesen waren verschwunden.

Dann sah ich aus meiner Lage neben der Wasseroberfläche zwei seltsame Schiffe sich hin und her bewegen, und durch die Luft immer näher auf mich zuschwimmen. Sie vereinigten sich langsam und bildeten ein einziges Boot mit einem riesigen drachenköpfigen Bug, nicht unähnlich einem Wikingerschiff. Mittschiffs war viereckiges Segel gesetzt. Als das Boot langsam über mir hin und her schwamm, hörte ich immer deutlicher einen rhythmisch zischenden Laut und sah, dass es eine riesige Galeere mit mehreren hundert Ruderern war, die sich im Einklang mit dem Geräusch vor und zurück bewegten.

In mein Bewusstsein drang auch der schönste Gesang, den ich jemals in meinem Leben gehört hatte, der in hoher Tonlage und ganz ätherisch, aus Myriaden Stimmen an Bord der Galeere kam. Als ich genauer auf das Deck sah, konnte ich eine große Menschenmenge erkennen mit Köpfen der blauen Tölpel und Menschenkörpern, ähnlich den vogelköpfigen Göttern auf den alten ägyptischen Grabmalereien. Gleichzeitig begann etwas Lebenskraft aus meiner Brust in das Boot zu fließen. Obwohl ich mich für einen Atheisten hielt, war ich absolut sicher, dass ich starb und die vogelköpfigen Wesen gekommen waren, um meine Seele auf das Boot zu bringen. Während der Seelenabfluss aus meiner Brust anhielt, merkte ich, dass mein Körper gefühllos wurde.

Beginnend bei meinen Armen und Beinen, spürte ich, wie mein Körper anfing, sich in festen Beton zu verwandeln. Ich konnte mich weder bewegen noch sprechen. Als die Erstarrung allmählich meine Brust umschloss und mein Herz erfasste, versuchte ich, mit meinem Mund um Hilfe zu rufen, die Indianer um ein Gegengift zu bitten. Aber sosehr ich mich auch abmühte, ich konnte mich nicht so weit bringen, ein Wort zu bilden. Gleichzeitig schien sich mein Unterleib in Stein zu verwandeln, und ich hatte große Mühe zu erreichen, dass mein Herz weiterschlug. Ich fing an, mein Herz meinen Freund zu nennen, den liebsten Freund von allen, zu ihm zu sprechen, es mit der ganzen mir noch zur Verfügung stehenden Kraft zu ermutigen weiterzuschlagen.

Ich spürte mein Gehirn. Ich fühlte physisch, dass es in vier getrennte und unterscheidbare Ebenen aufgeteilt war. An der höchsten Stelle war der Beobachter und Befehlshaber, der sich meines Körperzustandes bewusst und dafür verantwortlich war, dass mein Herz weiterschlug. Dieser erkannte, aber nur als Zuschauer, die Visionen, die aus den scheinbar darunterliegenden Gehirnteilen hervorkamen. Direkt unter der höchsten Ebene spürte ich eine erstarrte Schicht, die durch die Droge außer Kraft gesetzt zu sein schien – sie war einfach nicht da. Die darunterliegende Ebene war die Quelle meiner Visionen, einschließlich des Seelenbootes. Nun war ich wirklich sicher, dass ich im Sterben lag. Als ich mich bemühte, mich in mein Schicksal zu ergeben, fing ein noch tieferer Gehirnteil an, weitere Visionen und Informationen auszusenden. Mir wurde »gesagt«, dass dieses neue Material mir dargereicht würde, weil ich im Sterben begriffen und es deshalb »sicher« sei, diese Offenbarungen zu empfangen. Es seien die Geheimnisse, die für die Sterbenden und die Toten aufbewahrt würden. Ich konnte die Bringer dieser Gedanken nur sehr schwach wahrnehmen; riesige reptilartige Geschöpfe, die träge in den hintersten Tiefen meines Gehirns ruhten, wo das Ende der Wirbelsäule das Gehirn berührt. Ich konnte sie nur schwach in den anscheinend finsteren, düsteren Tiefen sehen.

Dann projizierten sie ein sichtbares Bild vor mir. Zuerst zeigten sie mir die Erde, wie sie vor Äonen war, als es noch kein Leben auf ihr gab. Ich sah ein Meer, ödes Land und einen strahlendblauen Himmel. Dann fielen zu Hunderten schwarze Flecken vom Himmel und landeten vor mir in der öden Landschaft. Ich konnte sehen, dass diese »Flecken« in Wirklichkeit große, leuchtende, schwarze Geschöpfe mit kurzen, flugsaurierähnlichen Flügeln und riesigen walfischähnlichen Körpern waren. Ihre Köpfe waren für mich unsichtbar. Sie plumpsten hinunter, äußerst erschöpft von ihrer Fahrt, um sich äonenlang auszuruhen. Sie erklärten mir in einer Art Gedankensprache, dass sie vor etwas weit draußen im Weltraum auf der Flucht seien. Sie seien auf den Planeten Erde gekommen, um ihrem Feind zu entrinnen.

Diese Geschöpfe zeigten mir dann, wie sie auf der Erde Leben hervorbrachten, um sich unter den vielfachen Formen zu verstecken und dadurch ihre Anwesenheit zu verschleiern. Vor mir erstand die Großartigkeit der Pflanzen- und Tierschöpfung und die Aufspaltung der Arten – Hunderte von Jahrmillionen Aktivität – in einem Maßstab und mit einer Lebendigkeit, die unmöglich zu beschreiben sind. Ich erfuhr, dass die drachenähnlichen Geschöpfe auf diese Weise innerhalb aller Lebensformen einschließlich des Menschen sind.8 Sie seien die wirklichen Meister der Menschheit und des ganzen Planeten, sagten sie mir. Wir Menschen seien nur ihre Behälter und Diener. Aus diesem Grunde könnten sie zu mir aus meinem Innern sprechen.

Diese aus den Tiefen meines Geistes aufsteigenden Enthüllungen wechselten mit Visionen von der schwebenden Galeere, die die Übernahme meiner Seele an Bord beinahe beendet hatte. Das Boot mit seiner blauen tölpelköpfigen Deckmannschaft fuhr langsam davon und zog meine Lebenskraft mit sich, wobei es auf einen großen Fjord zusteuerte, der von öden, zerfurchten Bergrücken eingefasst war. Ich wusste, dass ich nur noch einen Augenblick lang zu leben hatte. Seltsamerweise fürchtete ich mich nicht vor den vogelköpfigen Wesen; sie durften gern meine Seele behalten, wenn sie dazu fähig waren. Doch ich fürchtete, dass meine Seele irgendwie auf der horizontalen Ebene des Fjordes nicht bleiben könne, sondern durch unbekannte, aber erspürte und erschreckende Prozesse von den drachenähnlichen Bewohnern der Tiefen eingefangen oder wieder eingefangen würde.

Ich fühlte plötzlich deutlich mein Menschsein, den Unterschied zwischen meiner Art und den uralten reptilförmigen Vorfahren. Ich begann, gegen meine Rückkehr zu den Urformen zu kämpfen, die anfingen, mir immer fremder und sogar bösartig zu werden. Jeder Herzschlag bedeutete eine immer größere Anstrengung. Ich wandte mich an menschliche Hilfe.

Mit unvorstellbarer letzter Kraft schaffte ich es gerade noch, den Indianern ein einziges Wort zu sagen: »Medizin!« Ich sah, wie sie umherliefen, um ein Gegengift herzustellen, und wusste doch, dass sie es nicht mehr rechtzeitig zubereiten konnten. Ich brauchte einen Beschützer, der Drachen besiegen konnte9, und deshalb bemühte ich mich mit äußerster Kraft, ein mächtiges Wesen zu beschwören, das mich gegen die fremdartigen Reptilien beschützen könnte. Eines erschien vor mir; und in diesem Augenblick öffneten die Indianer mit Gewalt meinen Mund und gossen das Gegengift hinein. Langsam verschwanden die Drachen in der Unterwelt; das Seelenboot und der Fjord waren nicht mehr. Erleichtert entspannte ich mich.

Das Gegengift verbesserte meinen Zustand erheblich, verhinderte aber nicht, dass ich noch viele zusätzliche Visionen mehr oberflächlicher Natur hatte. Sie waren erträglich und erfreulich. Ich machte willentlich märchenhafte Reisen durch entfernte Regionen, sogar hinaus in die Milchstraße; ich schuf unglaubliche Architektur und beschäftigte höhnisch grinsende Dämonen, die meine Fantasien verwirklichten. Oft lachte ich laut über die Widersinnigkeiten meiner Abenteuer. Schließlich schlief ich ein.

 

Sonnenstrahlen durchdrangen die Löcher im Palmblätterdach, als ich erwachte. Ich lag noch immer auf der Bambusterrasse und hörte die normalen morgendlichen Geräusche um mich her: die Indianer schwatzten miteinander, kleine Kinder schrien und ein Hahn krähte. Ich war überrascht festzustellen, dass ich mich erholt und zufrieden fühlte. Als ich so dalag und zu dem schön gefügten Muster des Daches hinaufschaute, durchzogen meinen Geist die Erinnerungen an die vergangene Nacht. Sofort unterbrach ich meine Gedanken, um mein Tonbandgerät aus einer Segeltuchtasche zu holen. Als ich in den Sack griff, grüßten mehrere Indianer mich lächelnd. Eine alte Frau, die eine Ehefrau von Tomás, gab mir eine Schale mit Fisch-und Wegerich-Suppe als Frühstück. Sie schmeckte außergewöhnlich gut. Dann ging ich zurück auf die Terrasse, um schnell meine nächtlichen Erfahrungen auf Band zu sprechen, bevor ich etwas vergaß.

Die Arbeit des Zurückrufens ging leicht vonstatten, bis auf einen Teil der Trance, an den ich mich einfach nicht erinnern konnte. Er blieb leer, als ob ein Band gelöscht worden sei. Ich kämpfte stundenlang, um mich zu erinnern, was in jenem Teil der Erfahrung geschehen war, und ich erkämpfte das Fehlende tatsächlich zurück in mein Bewusstsein. Das widerspenstige Material stellte sich als die Mitteilung der drachenähnlichen Wesen heraus, einschließlich der Offenbarung ihrer Rolle in der Evolution des Lebens auf diesem Planeten und ihrer eingeborenen Macht über die lebendige Materie, einschließlich des Menschen. Ich war sehr erregt über die Wiederentdeckung dieses Materials und hatte deutlich das Gefühl, dass ich eigentlich nicht befugt sein sollte, es aus den unteren Regionen meines Geistes herauszuholen.

Ich hatte sogar ein sonderbares Gefühl von Angst um meine Sicherheit, weil ich nun ein Geheimnis besaß, von dem diese Wesen angedeutet hatten, dass es nur für die Sterbenden bestimmt sei. Ich beschloss, dieses Wissen sofort mit anderen zu teilen, damit das »Geheimnis« nicht nur in mir wohne und mein Leben nicht mehr in Gefahr sei. Ich befestigte meinen Außenbordmotor an einem Einbaum-Kanu und startete zur nahe gelegenen Missionsstation eines amerikanischen Wanderpredigers. Ich kam gegen Mittag an.