Der Weg zur Grenze - Grete Weil - E-Book

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Grete Weil

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Beschreibung

«Der Weg zur Grenze», 1944/45 im Amsterdamer Versteck der verfolgten deutschen Schriftstellerin Grete Weil entstanden, ist nicht nur der erste Roman der jüdischen Autorin. Er ist bisher nie erschienen und seine Veröffentlichung jetzt eine echte Entdeckung. Im Kern erzählt der Roman, fiktionalisiert und aus dem Autobiographischen ins Exemplarische gehoben, die Liebesgeschichte von Grete Weil und ihrem 1941 im KZ Mauthausen ermordeten Mann Edgar Weil. Er ist außerdem eine Fluchtgeschichte und die Geschichte der Politisierung in einem gebildeten, bürgerlich und kulturell politikfernen Milieu und eine einzigartige Beschreibung der Veränderungen im Alltag, in den Familien und Institutionen seit der Machtergreifung der Nazis 1933. Die Haupterzählung, zugleich Rahmengeschichte, spielt 1936 und handelt von der Flucht der jungen, jüdischen Münchnerin Monika Merton, deren Mann bereits im KZ Dachau getötet worden ist. Da inzwischen auch sie von der Gestapo gesucht wird, macht sie sich, zuletzt zu Fuß und auf Skiern, auf den Weg über die Grenze nach Österreich. Durch Zufall begleitet sie ein junger Bekannter, der Lyriker Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Geschichte: Szenen ihres Lebens in München und im aufgewühlten, rasanten und aufgeheizten Berlin Anfang der Dreißigerjahre, von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus, der Ehe, von Reisen und Krisen und der Arbeit an einer alternativen, ländlichen Schule in Bayern, bis die Machtergreifung der Nazis und der wachsende Antisemitismus allem ein Ende bereiten. Ein bedeutendes, zum ersten Mal zugänglich gemachtes Werk der deutschen Literatur, eindrücklich und bewegend, klug und hellsichtig.

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Grete Weil

DER WEG ZUR GRENZE

Roman

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingvild Richardsen

C.H.Beck

Zum Buch

«Der Weg zur Grenze», 1944/45 im Amsterdamer Versteck der verfolgten deutschen Schriftstellerin Grete Weil entstanden, ist nicht nur der erste Roman der jüdischen Autorin. Er ist bisher nie erschienen und seine Veröffentlichung jetzt ist eine echte Entdeckung.

Im Kern erzählt der Roman, fiktionalisiert und aus dem Autobiografischen ins Exemplarische gehoben, die Liebesgeschichte von Grete Weil und ihrem 1941 im KZ Mauthausen ermordeten Mann Edgar Weil. Er ist außerdem eine Fluchtgeschichte und die Geschichte der Politisierung in einem gebildeten, bürgerlich und kulturell politikfernen

Milieu und eine einzigartige Beschreibung der Veränderungen im Alltag, in den Familien und Institutionen seit der Machtergreifung der Nazis 1933.

Die Haupterzählung, zugleich Rahmengeschichte, spielt 1936 und handelt von der Flucht der jungen, jüdischen Münchnerin Monika Merton, deren Mann bereits im KZ Dachau getötet worden ist. Da inzwischen auch sie von der Gestapo gesucht wird, macht sie sich, zuletzt zu Fuß und auf Skiern, auf den Weg über die Grenze nach Österreich. Durch Zufall begleitet sie ein junger Bekannter, der Lyriker Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Geschichte: Szenen ihres Lebens in München und im aufgewühlten, rasanten und aufgeheizten Berlin Anfang der Dreißigerjahre, von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus, der Ehe, von Reisen und Krisen und der Arbeit an einer alternativen, ländlichen Schule in Bayern, bis die Machtergreifung der Nazis und der wachsende Antisemitismus allem ein Ende bereiten.

Ein bedeutendes, zum ersten Mal zugänglich gemachtes Werk der deutschen Literatur, eindrücklich und bewegend, klug und hellsichtig.

Über die Autoren

Grete Weil (1906–1999) machte nach ihrem Studium der Germanistik in München eine Lehre als Fotografin. 1935 folgte sie ihrem Mann Edgar Weil ins Exil nach Amsterdam, wo sie ein Fotostudio übernahm, nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen einerseits für den Judenrat arbeitete, andererseits die antifaschistische «Hollandgruppe Freies Deutschland» mit aufbaute. Nach dem Ende der NS-Herrschaft lebte sie in der Bundesrepublik und widmete ihr literarisches Werk vor allem der Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und ihrer Vorgeschichte. Sie veröffentlichte u.a. «Tramhalte Beethovenstraat» (1963/2021), «Meine Schwester Antigone» (1980), «Ans Ende der Welt» (1989/2022) und «Leb denn ich, wenn andere leben» (1998). Sie wurde u.a. mit dem Tukan-Preis der Stadt München, dem Geschwister-Scholl-Preis, der Carl-Zuckmayer-Medaille und dem Bayerischen Verdienstordnen ausgezeichnet. Ihr veröffentlichtes Werk wird derzeit im Verlag «Das Kulturelle Gedächtnis» neu aufgelegt.

Ingvild Richardsen ist Literaturwissenschaftlerin und forscht über die Frauenbewegungen und vergessenen Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, jüdisches Erbe und NS-Zeit. Sie lehrt und forscht an der Universität Augsburg und veröffentlichte zuletzt den Band «Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen. Wie Frauen die Welt veränderten» (2019).

Inhalt

MONIKA.

I.

II.

III.

KLAUS.

I.

1.

2.

3.

II.

1.

2.

3.

III.

1.

2.

IV.

1.

V.

1.

2.

3.

VI.

1.

2.

3.

VII.

1.

2.

3.

ANDREAS.

1.

2.

3.

Editorische Notiz

Nachwort

I. Auf den Spuren von Grete Weil

Kindheit und Jugend in München und am Tegernsee

Inflation und Putschversuch von Hitler 1923

Liebe und Heirat – Aus Grete Dispeker wird Grete Weil

Machtergreifung durch die Nationalsozialisten

Geplante Emigration nach Amsterdam

Zur Bedeutung Hollands als Exilort

Ankunft in Amsterdam

Fotoatelier und Wohnung in der Beethovenstraat 48 III (1935–1941)

1940 – In der Falle

1941: Edgar Weils Deportation ins KZ Mauthausen

1942 Widerstand – Kampf um das eigene Leben

1943 Abtauchen in den Untergrund

Die Widerstandsgruppe Hollandgruppe Freies Deutschland

Die Marionettenbühne «Gefesseltes Theater»

Winter 1944: «Der Weg zur Grenze»

II. Zu Grete Weils Bedeutung als Schriftstellerin und zu Der Weg zur Grenze

Danksagung

Korrigierte Niederschrift der Gespräche mit Herrn Herbert Meyer-Ricard in Blaricum, 6.–9. Mai 1981

«Das gefesselte Theater. Das Marionettentheater der Hollandgruppe spielt für Untergetauchte»

Mitgliederliste der «Hollandgruppe Freies Deutschland»

Bildnachweis

Literaturverzeichnis

I. Quellen

II. Forschungsliteratur

Fußnoten

Edgar Weil.

ermordet am 17. September 1941

im Konzentrationslager Mauthausen.

«Vergib mir.

Ich tat,

Was Gott allein zu tun geziemt:

Nahm deine Hand für meine Hand,

Dein Herz für meines.»

Klabund.

MONIKA.

I.

«In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn», sangen die Burschen und Mädchen zur Begleitung von zwei Mundharmonikas und einer Laute. Es war in einem Skizug, der im späten Februar des Jahres 1936 von München aus ins bayerische Oberland fuhr. Die Instrumente hatten sich zufällig zusammengefunden; ein großer, sommersprossiger Junge in SA-Uniform gab die Texte an, und fast alle stimmten mit ein und sangen sich die Müdigkeit der verkürzten oder durchtanzten Faschingsnacht vom Leibe. Schmetternd und fröhlich verkündeten die jungen Sänger, dass sie Frankreich siegreich schlagen wollten, dass das Morgenrot zum frühen Tode leuchte und dass ihnen heute Deutschland, morgen jedoch die ganze Welt gehöre.

Schweigend, völlig unbeteiligt am Treiben der anderen saßen sich Monika Merton und Andreas von Cornides gegenüber. Sie hatten sich zu diesem Sonntagsausflug nicht verabredet; erst auf dem Bahnsteig, als Andreas am Zuge entlang irrend, langsam einsah, dass er die Freunde, von denen er zu der kleinen Bergtour aufgefordert war, nicht finden würde – wahrscheinlich hatte er Zeit und Ort verwirrt, er konnte so etwas nie behalten –, traf er auf Monika, die auch jemanden zu suchen schien, denn sie blickte nervös und hastiger, als es sonst ihre Art war, den Menschen ins Gesicht.

Er kannte sie nur ganz flüchtig, zwei oder dreimal war er ihr im Hause von Baron Freiberg, einem melancholischen und etwas närrischen Mäcen, begegnet, und wenn er sie jetzt erfreut anrief, dann geschah es, weil er sich verlassen vorkam und die sportliche Unternehmung, zu der ihn nichts drängte als unbestimmte Neugier, schon längst verwünschte. Warum nur war er auf die unglückselige Idee verfallen, sich in der Morgendämmerung eines kalten Wintertages hier auf dem Bahnhof herumzutreiben, anstatt, ausgeschlafen nach Bad und Frühstück, die stillen Stunden des Vormittags zur Arbeit zu nutzen?

Monika zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte, und wollte mit schnellem Gruß vorübergehen; aber Andreas ließ nicht locker, mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit, die wenig zu seiner knabenhaften Scheu passte, fragte er, neben ihr herlaufend, ob sie gleich ihm allein sei und ob sie sich nicht zusammentun wollten. Sie sah ihn, nach kurzem Zögern, mit einem merkwürdig spottenden Blick aus grauen, zusammengekniffenen Augen an, murmelte, als spräche sie eine Zauberformel «Andreas von Cornides» vor sich hin, nickte ein paarmal wie zur Bestätigung mit dem Kopf und sagte endlich, dass sie ein Stück des Weges gemeinsam machen könnten, wobei es freilich ganz unklar blieb, ob sie seine Gesellschaft auch noch nach der Bahnfahrt wünschte.

Vorerst saßen sie sich jedenfalls gegenüber, wenn Andreas auch mit leichtem Ärger feststellen musste, dass von Geselligkeit nicht viel die Rede war. Starr, wie unter einer Maske des Schmerzes, blickte die Frau zum Fenster hinaus, und nur wenn sie ihn in seltenen Momenten ansah, ging ein Lächeln über ihr schmales Gesicht, so als wollte sie ihn für ihre Schweigsamkeit um Verzeihung bitten.

Andreas schälte mit langen, spinnendünnen Fingern eine Orange und schob Monika die sorgfältig zerlegte Frucht hin. Zerstreut nahm sie zwei Scheiben und steckte sie gierig in den Mund.

Was ist mit ihr los, überlegte der Junge, warum schweigt sie mich an, als könnte sie nicht bis drei zählen? Dabei hat sie ein verteufelt gescheites Gesicht, nur schrecklich hochmütig, aber das wird wohl Schüchternheit sein. Eigentlich sieht sie aus wie eine ägyptische Königin. Ob ich ihr das sagen soll? Vielleicht freut sie sich darüber und ist nicht mehr so traurig. Sie muss ein gutes Stück älter sein als ich, so um die dreißig herum. Sieben Jahre, das ist nicht einmal viel, aber möglicherweise sind es auch mehr, sie ist ja schon grau an den Schläfen. Die Schatten unter den Augen können nicht vom Alter kommen, eher von schlechtem Schlaf. Und sie hat nichts getan, um das zu verwischen, ist kein bisschen zurechtgemacht und sieht überhaupt etwas vernachlässigt aus, die Nägel könnten gepflegter sein, man läuft doch nicht am Sonntagmorgen mit schwarzen Rändern herum. Noch dazu, wenn man einen so auffallenden Ring trägt, ein antikes Siegel, wenn mich nicht alles täuscht; das eingeritzte Bild ist in dem dunkelroten Stein schlecht zu erkennen, scheint aber eine geflügelte Göttin oder so etwas Ähnliches zu sein. Übrigens sind Zeige- und Mittelfinger braun von Nikotin. Das ist hässlich, sie sollte Geschmack genug haben, um das selbst zu wissen.

Trotzdem gefällt sie mir gut, sehr gut sogar, und ihre Augen zum Beispiel sind außerordentlich schön.

So weit war Andreas in seiner Betrachtung gekommen, als Monika ihm eine Zigarette anbot und dabei ohne allzuviel Interesse fragte:

«Erscheint bald Neues von Ihnen?»

Er schüttelte den Kopf.

«Manches entsteht. Aber es ist eine schlechte Zeit. Meine Doktorarbeit muss fertig werden. Das frisst mich auf.»

Voll Angst, das Gespräch könne wieder abreißen, überwand er seine Schüchternheit.

«Haben Sie meine Gedichte gelesen?»

«Ja.»

Nichts weiter. Keine Ablehnung und keine Zustimmung. Man hatte Andreas verwöhnt, umschmeichelt, ihn zum Hätschelkind eines sehr kultivierten Kreises gemacht, es gab enthusiastische Jünger, die seine Begabung in die Höhe Rilkes, Georges und Hofmannsthals hoben, nach dem ersten schmalen Band Gedichte, der von ihm erschienen war. Seitdem er in München lebte, schlürfte der in der kompromisslosen, harten Atmosphäre einer preußischen Offiziersfamilie Aufgewachsene wie ein Betrunkener die größere Freiheit, das Zärtlichsein des südlichen Menschen. Kühle Gleichgültigkeit konnte er nicht mehr ertragen. Er wünschte sich ungeduldig und verlangend die Bestätigung durch diese Frau. Es war doch nicht möglich, so auszusehen und weiter nichts zu sagen zu haben als dies dumme Ja, wie ein Kind in der Schule, ein Rekrut auf dem Exerzierplatz. Gut, sie kannte seine Gedichte – nahm man diese denn hin wie eine Selbstverständlichkeit und nicht wie eine Gabe, die ihn ja genug Tränen und Qualen und Stürme der Freude gekostet hatte? Oder besaß sie kein Empfangsorgan für Gedichte, war sie unlyrisch, wie manche Menschen unmusikalisch sind, oder unbegabt dafür, Farbe und Form zu sehen?

Mit zusammengezogenen Brauen grübelte er diesem Problem nach. Sonderbar, dass Menschen bestehen konnten, denen sich Worte niemals zum Rhythmus fügten, und sonderbarer noch, dass sie den Rhythmus der anderen nicht begriffen.

Er wäre erstaunt, gerührt und erschüttert gewesen, hätte er gewusst, dass Monika sich zu dem stoßenden Takt der Räder seine Verse sprach. Sie tat das nicht allein darum, weil sie seine Gedichte liebte und durch manches seiner Worte, die Leben und Tod als das große Ganze gemeinsam verherrlichten, im letzten Jahr Tröstung gefunden hatte; sie wollte nicht denken, sich nicht ins Bewusstsein kommen lassen, dass diese Fahrt wieder ein Abschied war, ein endgültiger, bei dem sie alles, was sie noch liebte, auf immer von sich warf. Auch fühlte sie, von dem Augenblick, in dem sie, Andreas’ Namen murmelnd, beschlossen hatte, seine Begleitung zuzulassen, einen wilden Triumph darüber, dass ihr dies Land Deutschland, Fluch und Gnade, noch einmal, zum letztenmal, einen seiner Besten als Kameraden gab, und während ihr Blick müde über die weiten beschneiten Wiesen ging, hier und da einen Baum, ein Haus grüßend, vertraut und gekannt, während die Sonne an einem dunkelblauen, föhnverheißenden Himmel aufging und der Schnee von den Tannen taute, beschloss Monika, dass, bevor sie sich trennten, Andreas ihre Geschichte erfahren sollte, denn auf Wissen kam es an, jetzt mehr als jemals zuvor. Sie hatte ihn nicht gesucht, aber es war gut so, dass sie diesen letzten Weg in die Einsamkeit nicht ganz allein zu gehen brauchte. Vielleicht – es war nicht mehr als der Schimmer einer Hoffnung – würde Andreas es verstehen und weitertragen.

Er war noch fast ein Kind, aber schon zeichnete sich in seinem hageren Gesicht mit der weißen, dünnen Haut, durch welche die Adern schimmerten, das Vergehen an. Um den geschlängelten Mund, unter den dunklen, tiefliegenden Augen zogen sich reichverzweigt Falten und Fältchen; jung und versöhnend wölbte sich darüber der goldne Helm des feingesponnenen Haares.

Ich werde dich aus deiner Ruhe reißen, dachte Monika, dass dir Hören und Sehen vergeht. Du bildest dir ein, die Welt zu kennen, weil du sie mit deinen Künstlernerven fühlst, aber, mein Lieber, das reicht nicht aus, das ist zu wenig, das ist ein tödlicher Luxus, dem auch ich früher ergeben war. Hast du vielleicht einmal über das unentrinnbare Schicksal von denen nachgedacht, die als Kulis geboren sind, weißt du etwas von den Methoden, mit denen man sie zahm erhält? Plagen dich die Gedanken an Mord und Folter, hat man dir Kameraden von der Seite weg niedergeschossen, ist dir je in das Schwingen deiner Verse ein eingeseifter Strick erschienen, den man den zart von dir besungenen Mädchen um den Hals legt?

Denkst du, wenn du von Frühverstorbenen schreibst, an die Gequälten, die Ermordeten in den Konzentrationslagern? Hast du schon einmal von Dachau gehört? Das ist gar nicht sehr weit von hier, aber du bist ja taub gegen die Schmerzensschreie, ebenso taub wie die andern alle. Sag nicht, dass du sie hörst. Denn wenn du um dies alles wüsstest und es hinnehmen würdest, ohne zur Waffe zu greifen, dann, Andreas, ist es nicht weit her mit deiner Menschlichkeit, auf die du wahrscheinlich so stolz bist wie jeder Schaffende.

Meine Worte werden schlechte Musik zu deinen Versen sein. Trotzdem will ich die Verantwortung tragen.

Um ihren Mund lag ein harter Zug.

Ich könnte dich schonen, dich wegschicken mit unfreundlichem Wort, dir den Sonntag verderben und dich vor dieser Gefahr, die dich tausendfach bedroht, retten. Aber, Andreas, du musst begreifen, Menschen, die ihr Gut auf nichts gestellt haben, die im finsteren Loch des Schmerzes hausen, wollen nicht retten. Nicht mehr.

Mit lautem Pfeifen überquerte der Zug die Straße, rechts unten lag grau und vor Kälte dampfend, der See.

«Hier bin ich zu Hause», sagte Monika, «oder vielleicht ist es richtiger zu sagen: Hier war ich zu Hause.»

Auf Andreas’ erstaunten Blick fuhr sie fort:

«Dort am anderen Ende des Sees steht ein Haus, in dem bin ich geboren. Es ist leer und verlassen jetzt, und ich gehe heute in einem großen Bogen darum herum. Aber Sie sehen, es zieht mich immer noch in die Berge, von denen ich als Kind fest überzeugt war, dass sie mir und niemand anderem gehörten. Dieser da ist unser Ziel.»

Sie wies mit der Hand auf einen langgestreckten, vielfach gebuckelten Grat, der sehr entfernt das Tal abschloss.

«Mein Gott, warum denn gleich so weit?», fragte Andreas, dessen Mut zu sinken begann.

Und er versuchte zu scherzen:

«Die Berge hier in der Nähe sind doch auch ganz schön.»

«Schön sind sie, sicherlich», sagte Monika ironisch, «aber dieser eine ist außerdem auch nützlich. Über seinen Kamm läuft die Grenze, dort hinter den Kuppen beginnt ein anderes Land.»

II.

Weiter sagte sie nichts. Andreas getraute sich nicht zu fragen, was sie in diesem andern Lande zu suchen hatte, das zu betreten schon seit drei Jahren von staatswegen her verboten war. Er betrachtete neugierig ihren großen Rucksack, der, nur halb vollgepackt, ihn vermuten ließ, sie wolle Schmuggelware von drüben herüber holen.

Da habe ich mich auf ein schönes Abenteuer eingelassen, sagte er zu sich selbst und fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Zu gleicher Zeit gedachte er nicht ohne Wehmut des Andreas Gryphius und seiner barock verschlungenen Verskunst, die das Thema der Doktorarbeit war, welche er heute so schmählich im Stich gelassen hatte.

Immerhin war er jung genug, dass ihn Geheimnisvolles reizte, und er zögerte keinen Augenblick, Monika auf ihren verdächtigen Wegen zu begleiten.

Sie verließen den Zug an der Endhaltestelle und blieben gleich manchen andern Reisegefährten auf dem kleinen Bahnhofsplatz stehen, dort, wo die Schlitten und Autos parkten, um Rucksäcke, Skier und Stöcke in gute Ordnung zu bringen.

Monika war sehr schnell mit diesen Handgriffen fertig, sie lehnte sich wartend an ihre Skier, wie ein Krieger, der sich auf den Speer stützt vor der Schlacht mit ernstem und gesammeltem Gesicht.

Als Andreas aber ungeschickt und täppisch noch immer nicht zu Rande kam, sah sie mit einem misstrauischen Blick zu ihm hin und fragte scharf:

«Können Sie überhaupt skilaufen?»

«Ein wenig. Sehr weit ist es allerdings mit meiner Kunst nicht her.»

«Hören Sie, Andreas, es wäre das Gescheiteste, Sie blieben zurück.»

Ihre Stimme klang auf einmal weich und besorgt.

Er schüttelte nur den Kopf.

«Doch», sage sie fast beschwörend, «gehen Sie dort hinauf auf die Übungswiesen und lassen Sie sich durch meine Gewalttouren den Tag nicht verderben.»

«Wollen Sie lieber allein sein?»

«Das nicht.»

«Dann kommen Sie. Wir müssen uns eilen, oder das Postauto fährt uns davon.»

Sie errötete stark.

«Lassen Sie es fortfahren. Wir dürfen es doch nicht gebrauchen.»

«Sie wollen laufen? Den ganzen weiten Weg?»

Jetzt musste sie über sein Entsetzen lachen.

«Es ist nicht so schlimm. Nach drei Stunden können wir steigen.»

Vielleicht hat sie kein Geld, überlegte Andreas. Kann ich sie fragen, ihr welches anbieten? Es ist doch vollkommen übergeschnappt, vor einer Bergtour drei Stunden im Tal zu laufen. Bei alledem erscheint es mir überhaupt sehr fraglich, ob wir heute Abend zurück sein können. Noch einen Arbeitstag zu verlieren wäre wirklich sehr lästig.

Er getraute sich jedoch keinen Einwand mehr zu machen, aus Furcht dann endgültig weggeschickt zu werden. So meinte er nur kleinlaut:

«Wenn es durchaus sein muss, dann werde ich diese drei Stunden schon schaffen.»

«Gut», sagte Monika zufrieden. «Sie können ja immer umkehren, wenn Sie genug haben. Jetzt aber kommen Sie, sonst wird es wirklich zu spät.»

Sie gingen die Bahnhofstraße hinab, der Schnee begann schon zu tauen, auf der Fahrbahn lag er nur noch als aufgeweichter Schmutz. Der Himmel war gläsern, und die Berge, die hier so oft lieblichen Hügeln gleichen, schienen nah, steil und drohend.

«Es riecht nach Schnee», sagte Monika und schnupperte wie ein Hund in der Luft.

An den Hängen zur Linken standen Landhäuser, meist etwas altmodische Villen im Vorkriegsstil. Rechts fielen die Gärten zum See ab; am Ufer hatte sich ein wenig Eis gebildet, das Wasser sah schmutzig und leblos aus, doch wuchs hier viel Schilf, das gelb und warm in der Sonne glänzte. Wildenten setzten im flachen Flug auf das Wasser auf.

Auf einmal dann war über die Straße ein großes Transparent gespannt, auf dem stand zu lesen:

«Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr.»

Andreas achtete nicht darauf, es tat ihm nicht wohl und nicht weh, er war an diese aufdringlichen Spruchbänder gewöhnt und fand sie ebenso brutal und hässlich in einer Landschaft wie die Reklameschilder, die zum Kauf von Nähmaschinen oder zum Besuch des Grand Hotels einluden.

Er bemerkte jedoch mit Staunen, dass Monika, die auf dem Weg fast heiter und auch viel gesprächiger geworden war, verstummte und mit niedergeschlagenen Augen vor sich hin blickte. Kränkte das Schlagwort sie? Aber es musste ja jeden stören, der hier zu Hause war, denn niemand lässt sich eine Wohnung gern mit den falschen Meinungen fremder Leute vollkleben.

So sagte er ihr zu Gefallen:

«Schrecklich albern ist das. Also ob irgendein Mensch in der Welt auch nur einen Schritt ohne eigene Gefahr tun könnte.»

Sie nickte, ohne ein Wort zu sagen, er aber setzte lachend hinzu:

«Außerdem ist diese Drohung ja ganz überflüssig. Hierzulande gibts wohl kaum noch Juden. Die haben doch alle längst das Weite gesucht.»

Wie um seine Worte Lügen zu strafen, wurde Monika in diesem Augenblick von einer dicken, hässlichen Frau angesprochen, einer Jüdin unverkennbar, die trotz ihres recht vorgeschrittenen Alters zu ihrem Lodenkostüm ein keckes grünes Hütchen trug.

Andreas ging etwas geniert weiter und lehnte sich in ziemlicher Entfernung an einen Zaun. Er ließ die Schultern, von dem ungewohnten Druck der Skier befreit, nach vorn fallen und spielte, die Finger lässig entspannend, mit seinen schlanken Händen.

Zwei Mädchen gingen vorüber, mit dunklen Hosen und bunten Sweatern angetan; hübsch und lockend blickten sie zu dem Jungen hin. Die eine rief ihm ein neckendes Wort zu, Ablehnung seines untätigen Verweilens, Aufforderung und streichelndes Werben aber in Wirklichkeit. Andreas winkte ihnen zu, ein wenig abwesend und prinzlich, dann schaute er ihnen nach, wie sie langsam, graziös von Natur und plump behindert durch die schweren Schuhe, eng umschlungen weiterschlenderten.

Er hatte nicht übel Lust, ihnen zu folgen, sich zwischen sie zu stellen und sie am Arm zu ergreifen, die Blonde mit den aufgesteckten Zöpfen und die freche Braune mit den weichen Locken. Sie waren die Gefährtinnen seiner Jahre, in ihrer Gegenwart würde er sicher vor allzugroßen Bergtouren und allzu verfänglichen Abenteuern sein. Ein kleiner Skibummel, dort hinauf zu der weißen, spitzen Kapelle, eine kurze Abfahrt über flache, baumlose Hänge war genau das, was er sich von diesem Sonntag versprochen hatte.

Seine Blicke folgten den Mädchen so lange, bis sie auf Monika trafen. Er sah ihr Profil und dasjenige der Frau, mit der sie sprach, und mit einemmal, als wäre ein Blitz in ihn eingeschlagen, voll Erstaunen und schon ergriffen von einer heißen, wilden Scham über die eigene Blindheit, bemerkte er, wie die beiden sich glichen, die Alte und die Junge, die lächerlich zurecht Geputzte und die fast männlich streng sich Tragende – nur waren die Züge der Fremden vergröbert und durch reichliches Fettpolster verzerrt. Er sah Monika, als wäre es eben zum erstenmal, ihren Kopf, ihr Gesicht mit der starken Nase und der hohen, schmalen Stirn, das eben kein ägyptisches, sondern ein jüdisches war, und er fühlte in seiner schmalen Blondheit die ganze Verantwortung für die Worte des Spruchbandes, für all das Unerhörte, was man diesen Menschen antat, auf sein Herz fallen.

Da kam Monika auf ihn zu, mit zusammengezogenen Brauen und zögernd wollte sie zu sprechen beginnen, bevor sie aber noch ein Wort hatte sagen können, stammelte er ihr erschüttert, verwirrt Unzusammenhängendes entgegen, Erklärung, Entschuldigung, Bereitschaft – sie schien zuerst kaum zu begreifen, dann setzte sie ihre Skier auf den Boden und sah ihn feindselig an.

«Ach, es ist Ihnen erst jetzt klar geworden, dass ich Jüdin bin. Und Sie meinen, es wird Kulturkammern und ähnliche Institutionen genug geben, die mit Interesse feststellen, in welch anrüchiger Gesellschaft Andreas von Cornides seine Sonntage verbringt. Natürlich wollen Sie sich so schnell wie möglich aus dieser schiefen und selbst gefährlichen Situation befreien.»

Er streckte abwehrend die Hände aus.

Nein, das Gegenteil sei wahr; allerdings habe er nichts davon gewusst, aber auch gar nicht danach gefragt; es sei ihm so völlig gleichgültig, zu welcher Religion sich ein Mensch bekenne – nun gut, auch von welcher Rasse er stamme, setzte er unwillig hinzu, als er ihre ablehnend-spöttische Bewegung bemerkte. Es käme doch einzig und allein auf das Menschliche und in ihrem besondern Fall auch auf das Frauliche an, und beides schätze er, trotz ihrer kurzen Bekanntschaft so hoch, sie solle ihn recht verstehen und nicht mit so bösem, verstocktem Gesicht dastehen, als würde sie ihn für den Urheber von all den Greueln halten. Er verabscheue das alles und könne ganz und gar nichts dafür, sie müsse doch wissen, dass er in seiner eigenen Welt lebe und für Politik nichts, aber auch gar nichts übrig habe.

Sie hörte ihm mit großem Ernst zu.

Es sei viel auf das alles zu entgegnen. Dass sie zum Beispiel der Ansicht sei, man könne sich von Politik so wenig fern halten wie von Essen und Trinken, weil eben das ganze Leben, das Leben schlechthin davon abhängig sei. Er möchte sich da auf ihre Erfahrung verlassen, sie könne ein trauriges, ein tödliches Lied davon singen. Aber sie habe keinen Augenblick daran gedacht, dass er nicht wisse, was und wer sie sei. Allerdings müsse sie ihn hier gleich zurechtweisen, denn an ihren menschlichen und auch fraulichen Qualitäten zweifle sie nicht im Geringsten und weder eine Partei noch eine Nation auf der Welt könnten sie ihr absprechen – «man kann uns töten, Andreas, aber brechen nicht» –, jedoch sehe sie nun, dass er unwissend in eine Gefahr gelaufen sei, von der sie gedacht hatte, es wäre sein schöner und freier Wille gewesen, sie auf sich zu nehmen. Überdies habe sie seinen vermeintlichen Mut auch noch missbraucht, denn sie werde von der Gestapo – «Geheimen Staatspolizei, Andreas!» – gesucht, wegen politischer Delikte, wegen Landesverrats vielleicht, so genau könne man dies nicht wissen und sie habe sein harmloses Aussehen als eine Art Schild oder Tarnkappe benützt, um die Menschen glauben zu machen, es handle sich bei ihrer Unternehmung um eine Skitour und nicht, was es eben in Wirklichkeit sei, um eine Flucht.

«Jetzt machen Sie aber, dass Sie fortkommen!», rief sie zornig.

Er nahm mit hellem Trotz in seinen Augen die Skier auf und drängte Monika zum Weitergehen:

«Ich begleite Sie bis zur Grenze», sagte er fest, «und kein Teufel wird mich daran hindern.»

«Ach, Andreas, Sie kennen den Teufel nicht», sagte sie spottend, doch da sie die Entschlossenheit in seinen Worten spürte, widersprach sie nicht mehr und ging, ohne ihn anzusehen, mit einem fast glücklichen Lächeln neben dem Jungen her.

III.

Je mehr sie sich den Bergen näherten, desto heftiger wehte der Südwind. Schwere, schneebringende Wolken schoben sich am Westhimmel heran. Andreas und Monika hatten bald die große Straße verlassen, waren erst über verschneite Feldpfade und später auf einem breiten Waldweg immer weiter nach Süden gekommen. Sie sprachen nicht viel, hin und wieder ein paar Worte, die sich im großen Raum verloren, so nur hingeworfen, dass der eine die Gegenwart des andern fühlte; aber sie wussten beide, dass das schnelle Gehen dem eigentlichen Gespräch, das in ihnen wartete, feindlich war, und sie bemerkten zufrieden, dass sie zusammen schweigen konnten.

Ab und zu zeigte Monika auf etwas, das ihr gefiel; auf einen besonders breit gewachsenen Baum, auf ein merkwürdig bizarres Gesträuch, auf einen Hasen, der mit braunen Läufen und weißem Hinterteil über den Weg lief, auf ein paar große, dunkle Vögel, die ohne Flügelschlag über dem Tal schwebten. Ganz selten begegneten ihnen Menschen, einmal ein Förster und zwei oder drei Bauern, aber die Skiläufer waren wie vom Erdboden verschwunden. In den Bäumen orgelte es, rauschte und wehte mit ähnlichem Ton, mit dem die Nordsee an den flachen Strand schlägt. Der Schnee war pappig geworden, es ging sich nicht leicht, man musste bei jedem Schritt den Fuß mit Gewalt hochziehen und bei einer kurzen Pause, während sie die Jacken in den Rucksäcken verstauten, sah Monika, dass Andreas um die Nase herum blass geworden war. So früh schon kam die Müdigkeit über das zarte Flachlandskind, vielleicht auch bangte er vor der Einsamkeit und den vielen Geräuschen des Windes. Sie zog aus ihrer Tasche ein Stück Schokolade und steckte es ihm in den Mund. Als aber beim Weitergehen sein Schritt immer schwerer und langsamer wurde, nahm sie ihm mit sanfter Gebärde, trotz seines heftigen Widerspruchs, die Skier ab. Sie trug jetzt beide Paare auf ihren kräftigen Schultern, während er mit zwei Stöcken in jeder Hand, brummend und scheltend, doch sichtlich erleichtert neben ihr herstapfte.

Er war rechtschaffen müde, und wenn er nicht im Geheimen Angst vor ihrem zornigen Gesicht gehabt hätte, würde er eine Rast – eine halbstündige nur – in dem letzten Dorf, durch das sie kamen, vorgeschlagen haben. Ein einladender Gasthof stand am Weg, doch wahrscheinlich war es nicht tunlich einzukehren, wenn man sich auf der Flucht befand, und Andreas stellte seufzend fest, dass er nicht wusste, wie man sich in einer so ungewöhnlichen Situation zu verhalten habe. Niemals vorher war es ihm recht ins Bewusstsein gedrungen, dass er im Äußerlichen das Leben eines wohlbehaltenen Bürgers geführt hatte, ja, zum Kummer seines Vaters war er nicht einmal ein «rechter Junge» gewesen – er las weder Karl May, noch wollte er Kutscher werden, der Wilde Westen lockte ihn ebensowenig wie ein Fußballkampf. Jede Empörung hatte sich bei ihm im Geistigen vollzogen; seine ersten Lieben hießen Diotima und Klärchen, seine Gefährten Goethe, Byron und Rilke. Mutterlos herangewachsen, war er halbwüchsig viel durch die norddeutsche Heimatlandschaft gestreift; er liebte die große Ebene, das schmale Land unter dem ungeheuren, wolkentragenden Himmel, das graue, immer gebrochene Licht, das jeden Baum und jedes Haus ins Plastische steigert, die silbrig flimmernde Luft über den grünen Wiesen, über die man laufen, bis ans Ende der Welt laufen und so gut dabei denken kann. Da geht dann ein Mensch, ein zarter, blasser Junge allein an gegen eine Weite, die hier beginnt und niemals endet, aufrecht gegen die westlichen Winde, die salzig das nahe Meer verkünden, findet nichts, woran sein Auge sich halten kann, als Ebene und Himmel, riesigen, wölbenden Himmel, und sucht in dieser Welt, die kaum besteht, und in dem eigenen, laut klopfenden Herzen nach Sinn und Wert. Kein Berg, kein Höhenzug begrenzt, lässt Maß und Form fühlen, kein südlicher Glanz verführt zum Irdischen. In dieser Öde, diesem Auf-sich-gestellt-Sein gibt es nur zwei Entscheidungen. Eine harte, nüchterne, praktische sozusagen, die in dem kaum Vorhandenen auf jeden Fall die Materie festhält und sie an sich bindet, und eine überschwänglich Mystische, die den Tod dem Leben gleichsetzt, das Unsichtbare dem Sichtbaren, die das Drüben mit dem gefährlich-süßen Schmelz verklärt, der dem Hiesigen mangelt. Oder man wählt nicht lange, sondern teilt das Ich zwischen der Forderung der Stunde und dem Rausch der Gedanken, wird ein Bürger, gesittet, verhalten, wie die Kaufleute in den Hansestädten, unauffallend, höflich, beflissen gegenüber den Mitmenschen, und behält sich das Reservat der Gottesnähe für den Privatgebrauch vor. Hat man dann freilich noch eine besondere Gabe mitbekommen, wie Andreas, dann muss man eines Tages doch ausbrechen aus dem allzu simplen Leben und dem Ruf folgen; dann gelingt es nach harten, zähen Kämpfen den soldatischen Vater zu überzeugen, dass man ein Künstler ist und nichts weiter. Aber zum Schluss willigt man ein, sich wenigstens den germanistischen Doktortitel zu holen, auch wenn man selbst nicht viel davon hält; wenigstens verschafft das Studium ein paar Jahre Unabhängigkeit, und in ihnen muss der junge Ruhm gefestigt sein, den man begehrt und ersehnt wie nur je einer der Offiziersvorfahren den Lorbeer der ersten Schlacht.

Andreas zerbrach sich den Kopf nicht darüber, ob Monika Erfahrung in Flucht und Abenteuer, Schleichwegen und geheimen Grenzübergängen hatte. Er vertraute ihr blind. Besaß sie doch jene große, innere Sicherheit, die manche Menschen nach harten Schlägen unangreifbar scheinen lässt, die tiefe, fast erstarrte Ruhe, die nur diejenigen kennen, welche mit dem Tod auf Du und Du stehen, die nichts mehr zu verlieren und kaum noch zu hoffen haben. Der Junge glaubte an den Stern dieser Frau, die er so wenig noch kannte. Es gibt Menschen, deren Leben nach besonderen, ehernen Gesetzen verläuft und – wenn auch auf einer unfassbaren Höhe – immer noch einen Sinn enthält, während bei anderen alles willkürlich, zerflattert, untragisch, aber auch ohne jedes Glück sich abspielt. Niemals zuvor war er jemandem begegnet, der in ihm so stark den Eindruck geweckt hatte mit dem Schicksal verbunden zu sein. War sie nicht Antigones Schwester, im Leiden ebenso wie im maßlosen, liebenden Handeln? Und er folgte ihr, ohne zu fragen, ob dieser Weg an die Grenze, ob Monikas Stern ihm selbst Glück oder Unglück bringen würde.

Es hatte, noch während sie innerhalb der Häuser gingen, langsam begonnen, mit großen Flocken zu schneien; auf der freien Straße packte der Wind sie an, trieb ihnen kalten, nassen Schnee in ihre heißgelaufenen Gesichter, und Andreas, der die Jacke nicht schnell genug anhatte, fühlte ein unangenehm feuchtes Gefühl im Nacken. Zum erstenmal dachte er daran, dass er den Rückweg ja allein zu machen hatte, und dieser Gedanke versetzte ihn auch sogleich in lähmende Furcht; wie konnte er Müdigkeit, Abfahrt, Schneesturm, Kälte, Verirren ohne Monika bestehen? Er war ein armseliger Stümper in der Schneelaufkunst, dem wohl ab und zu am bekannten Hügel ein flacher Stemmbogen gelang, der jedoch bei allen Geländefahrten mehr am Boden lag, als dass er auf den Beinen stand.

Wie wenn er laut gedacht hätte, gab sie plötzlich die Antwort:

«Jetzt ist es genug. Sie waren so lang ein braver Begleiter, hier müssen Sie umkehren, im Wirtshaus eine warme Suppe essen und auf das Postauto warten, das Sie zum Bahnhof zurückbringt.»

Er verlangsamte seinen Schritt und wischte mit dem Handrücken über die tropfende Nase. Es war paradiesisch schön, sich das vorzustellen: Einen warmen Saal und eine dampfende Suppe, Rauch von Zigaretten und trockene Kleider und nicht mehr das Heben und Senken der Beine, keine Skier mehr auf den Schultern, keine Nässe mehr auf der Haut, keinen Wind in den Lungen und das sichere Wissen, zu früher Abendstunde zu Hause zu sein, in seinem Zimmer auf der Couch zu liegen, Cognac und Kuchen zu sich nehmend, ein wenig lesend, zwischen Schlafen und Wachen des vergangenen Tages gedenkend, Monikas – ja Monikas –, aber wo hatte er sie dann zu suchen, kämpfte sie noch gegen den Sturm, war es ihr gelungen die Grenze zu überschreiten, hatte man sie verhaftet, saß sie in einer Hütte, lag sie in einem Bett oder vielleicht gar im Schnee, gehetzt, ermattet, erfroren am Ende?

«Darf ich nicht mitkommen?», keuchte er und schämte sich der eigenen Unentschlossenheit.

Sie hörte die wohl, aber zu sehr saß der Wunsch in ihr fest, ihm ihre Geschichte zu erzählen.

«Sie können bei diesem Wetter auf keinen Fall von oben zurück, das schaffen Sie nicht allein – doch ich komme auch nicht über den Kamm, ein bisschen Schnee wäre gut gewesen, aber in dem Gestöber sieht man die Hand vor den Augen nicht; da kann ich es nicht riskieren, einer Grenzpatrouille in die Arme zu laufen. Ich habe den Schlüssel zu einer Hütte in der Tasche, dort bleibe ich über Nacht. Doch ich fürchte, dass man Sie als vermisst ausschellen wird, wenn Sie am Abend nicht zurück sind, und dann habe ich mir die Bande erst recht auf den Hals gehetzt.»

Er lachte.

«Ich kann eine Woche wegbleiben, ohne dass sich ein Mensch beunruhigt. Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, Zimmervermieterinnen zu versprechen, wann ich zurück sein werde.»

«Niemand regt sich auf, wenn Sie morgen früh nicht in Ihrem Bett liegen?»

«Ich bleibe oft unterwegs bei Freunden.»

«Dann ist es gut. Sie können bis morgen früh oder bis übermorgen, wenn das Wetter anhält, bei mir sein und abfahren, wenn es wieder schön geworden ist. Proviant habe ich genug. Aber ich weiß gar nicht, ob Sie das wollen.»

Da war ihm, als wische eine Hand die lockenden Bilder der Faulheit und des Nachgebens weg, und er sah nur noch ihre traurigen, grauen Augen.

«Natürlich will ich.»

Er ging jetzt wieder schneller, und sie sagte beruhigend:

«In einer kleinen Stunde sind wir oben. Dann bekommen Sie Tee und Zigaretten und dürfen erst einmal richtig ausschlafen.»

Diese «kleine Stunde», von der Monika untertreibend gesprochen hatte, denn sie brauchten in Wirklichkeit eine halbe mehr, bis sie an der Hütte waren, dehnte und reckte sich für Andreas in Minuten, in Schritte, qualvolles Ankämpfen gegen den Wind, gegen eine böse, gewaltige Macht, die aus den Tannen brauste und in schweren Schlägen sein weiches, nur ungenügend durch eine Baskenmütze geschütztes Haar überschüttete, die ihn peinigte und allen Willens beraubte.

Die Skier, diese elend langen, unschmiegsamen Latten, saßen jetzt festgeschnallt an seinen Füßen, die sich aufwärts schoben, schleiften in den breiten Spuren des Hohlweges. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass er keine Seehundsfelle besaß, wurden ihm die von Monika untergebunden; sie stieg ohne diese Hilfe, mit etwas Wachs, leicht, gleichmäßig, sicher; in den wenigen Atempausen des Sturmes, wenn die Flocken von seinen schmerzenden Augen getaut waren, sah Andreas sie vor sich, hörte ihre aufmunternde, lockende Stimme.

Dann biss er die Zähne zusammen und rang sich neue, immer neue Schritte ab.

Es geschah, dass er langsam das Bewusstsein für den eigenen, schmerzenden Körper verlor, für die Lage, in der er sich befand; es überfiel ihn leise Übelkeit, Schwindel, die ersten Anzeichen eines Brechreizes, Zusammenkrampfen des Magens wie auf einem schlingernden Schiff. Merkwürdig deutlich roch er den Mischmasch von Knoblauch, Maschinenöl und Teer, das ihn einmal auf der Überfahrt von Palermo nach Neapel krank gemacht hatte. Wie damals empfand er Durst, die Zunge klebte am Gaumen, und er wünschte sich jenes südlich-süße Getränk Grenadine, aufgefrischt durch eisgekühlten Sprudel. Er bekam es hier so wenig wie einst, stattdessen nahm der Druck in Kopf und Magen zu, er wusste nicht mehr, ob die Luft ihm von innen oder von außen weggerissen wurde, auf jeden Fall bekam er zu wenig in die Lungen oder Falsches. Ja, das war es wohl, ein fremder, zum Atmen ungeeigneter Stoff, ein schwer bekömmliches, vielleicht giftiges Gas – so hatte er sich getäuscht mit dem Schiff, dem Öl und dem Knoblauch, und das Rauschen stammte nicht von Sturm und Wellen, sondern es war das Brausen, Dröhnen, Krachen, Heulen, die vielfältigen Geräusche des Krieges, erzeugt von Flugzeugen, Granaten, Maschinengewehren, und er selbst, Andreas – oh, wie gut begriff er, dass er träumte, und hatte doch das seltsam-bittere Gefühl der Wirklichkeit dabei –, lag irgendwo in einem aufgeweichten Graben, hingeduckt an eine bebende, zerfressene Erde, und es war Nacht, aber am Horizont brannte eine Stadt, riesenhafte Flammen schlugen zum Himmel, färbten ihn orange, gelb, rot, grau, bis er in eine schwarze, sternentragende Kuppel überging. Andreas hörte Keuchen und Stöhnen, er wusste nicht, ob es von ihm selbst kam, ob von dem Kameraden neben ihm, von dem nächsten oder dem übernächsten, sie waren ja keine einzelnen Menschen mehr, zusammengeschweißte Masse, in grauer, kotbeschmutzter Uniform. Doch es war sein eigenes Herz, das mit harten, schnellen, schmerzenden Schlägen gegen die Rippen pochte, die sich weiter und immer weiter spannten, um Luft zu bekommen. Er war es noch selbst, Andreas, von seiner Mutter geboren, zu eigenem Leben, zu eigenem Tod. Nur hatte er kaum noch eigenen Raum, ganz eng, ganz auf sich selbst gestellt, rang er und kämpfte er.

Immer mühseliger wird das Atmen. Besteht nicht ein Gas, welches die Lungen aufreißt, dass man im eigenen Blut ersäuft? Warum, warum? War nicht der Krieg eine ein für allemal abgetane Sache der Väter, die vor zwanzig Jahren sich wieder von ihren Vätern in die Gräben hatten schicken lassen? War das sein vorbestimmtes Sterben, hier zu vergehen, mit dem Gewehr in der Faust, für eine Freiheit, von der er längst wusste, das sie nur in den höchsten Bezirken des Geistes zu finden war? Holte sich der Tod der Schlachtfelder sein ihm von Generationen her versprochenes Opfer, das sich ihm hatte entziehen wollen mit zartem Getue und wohlklingenden Versen? «In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn.» Wann hatte er doch das Lied gehört, das sich jetzt offensichtlich als falsch herausstellte, falsch auch schon in seinem Beginn, denn weder von guten Kameraden noch von einem vergleichsweise behaglichen Sterben, bei dem der eine dem andern die Hand reichen will, kann hier die Rede sein. Vielleicht hatte Monika doch recht gehabt mit ihren mahnenden Worten, die so wenig tief in ihn eingedrungen waren: «Das ganze Leben, das Leben schlechthin hängt von Politik ab.» Denn Politik war es doch wohl, die ihn und Millionen anderer in den Krieg, in den Tod trieb? Konnte man Geist und Politik nicht trennen? Unnütze Frage, jetzt, wo es nicht mehr auf Wissen und Erkennen, sondern einzig und allein auf Tat und Durchhalten ankam. Was hat man mit ihm, was hat man mit dem Menschen gemacht? «Heil mir, dass ich Ergriffene sehe», tönten in Andreas Rilkes Verse auf. Wo waren sie hingekommen, die Ergriffenen, Trunkenen, Berauschten? Sie lagen im Dreck und rangen um Atem, sie waren zusammengebacken und ernüchtert durch übermenschliche Qual. Auch die Dichter künden falsch. Niemand hat das Recht, von der Masse zu sprechen, denn sie ist Nichts, aber der Einzelne ist Alles. Der freie, selbstbewusste Mensch. Gibt es noch Würde?

Andreas hörte sich leise aufschreien, dann erbrach er bittere Galle. Monika nahm ihn beim Arm.

«Noch ein kleines Stück über den Hang hinweg. Sie sind sehr tapfer gewesen, bei diesem teuflischen Wetter.»

Sie führte ihn jetzt, er fühlte den schwachen Druck ihrer Hand auf seinem Gelenk. Doch noch einmal packte der Sturm sie mit seiner ganzen Gewalt, als sie den Wald verließen. Es war nicht zu erkennen, ob die Strecke vor ihnen stieg oder fiel, aber es ging doch ein wenig leichter als zuvor, das mochte durch den entleerten Magen kommen oder durch Monikas Stimme, die nah und beruhigend zu ihm drang.

Endlich standen sie still, unter blinzelnden Lidern konnte Andreas die Umrisse einer kleinen Hütte erkennen. Monika sperrte die Tür auf, dann kniete sie schnell nieder und löste dem Erschöpften die Bindungen.

Andreas fühlte beglückt einen Raum um sich, kalt und dunkel zwar, aber doch frei vom Wind. Er blieb benommen stehen, Monika zündete die Spirituslampe an. In einer Ecke stand ein Herd, in einer anderen ein breites Bett, in der Mitte Tisch und Stühle; an den Wänden hingen Aquarelle, auch gab es überraschend hübsche Dinge: handgewebte Kissen, einen buntgeflochtenen Korb, Bastmatten, buntbemalte Keramik und kleine, gefällige Tontiere, wie sie in Süditalien hergestellt werden. Keine unwirtliche Sennhütte also, wie Andreas befürchtet hatte, sondern ein wohldurchdacht eingerichtetes Week-End-Häuschen.

Sie schälten sich aus den Kleidern, und Andreas bekam eine weiße, mit grünen Bändern eingefasste Jacke aus einem Wandschrank hervorgezaubert sowie samtene schwarze Frauenhosen und gefütterte, lederne Hausschuhe. Monika schlüpfte in einen schwarz und rot gestreiften Rock; ein schwarzes Mieder mit viereckigem Halsausschnitt wandelte sie zur Frau zurück und ließ sie weicher und gelöster ausschauen. Sie deckte das Bett auf und zwang Andreas, der ihr beflissen und ungeschickt bei aller Arbeit helfen wollte, sich niederzulegen.

Er streckte sich aus, ein unbeschreibliches Glücksgefühl in dem ermatteten Körper. Schon verdämmernd hörte er Monika Feuer im Herd entzünden, dann schlief er fest und tief ein.

Er erwachte wie aus einer Narkose, ohne Erinnern an Zeit und Ort, mit den Augen tastend, begriff er langsam, wo er sich befand. Der Tisch war gedeckt, im Herd prasselte Feuer, die nassen Kleider hingen zum Trocknen davor, nur Monika konnte er nirgends sehen. Erst als er hinter sich blickte, fand er sie zusammengekauert in dem einzig bequemen Stuhl der Hütte, einem altväterlichen, reichgeschnitzten Lehnsessel, und es lag wieder die furchtbare, undurchdringliche Trauer über ihren Zügen. Dies ergriff Andreas umso mehr, als sie sich während seines Schlafes geschminkt hatte; sie glich so mit grellrotem Mund und nachgezogenen Brauen viel mehr noch einem Bilde als zuvor, aber jetzt musste Andreas eher an die Malereien auf römischen Sarkophagen denken, an die jung Verstorbenen mit den schmalen Wangen und den großen, dunklen Augen, als an die hochmütigen ägyptischen Königinnen. Unerreichbar und doch begehrenswert wie frühe Tote erschien sie ihm, fremd und doch auf eine uralte Weise vertraut, und im Betrachten dieser ernsten, stillen Frau schlug in Andreas die Flamme hoch, welche das Fremde, Ungekannte, niemals Besitzbare begehrt; die Wunsch und Neugier ist, ewiges Suchen nach Unfassbarem. Stundenlang hätte er so verweilen mögen, schauend und liebend und Worte für die Geliebte bedenkend, doch Monika bemerkte, dass er wach war, und lächelte ihm zu:

«Ausgeschlafen?»

Er nickte und sprang vom Bett. «Ich habe Hunger», sagte er und erfuhr zu seiner Verwunderung, dass es schon Abend war.

Es gab Brot und Wurst, harte Eier, Schinken, Sardinen, Orangen, Äpfel und Kuchen, Rosinen, Mandeln und Haselnüsse, Tee und Cognac, und der Junge konnte sich gar nicht genug tun, zu versichern, welch herrlich-üppiges Mahl das für ihn bedeute, das umso schätzenswerter sei, als es ja wahrhaft wie im Märchen als Tischlein-deck-dich vor ihm stand.

Sie kamen in eine fröhliche, kindische Weihnachtsstimmung, zündeten Kerzen an und verbrannten einen Tannenzweig, den Monika von draußen herein holte.

Draußen riss der Wind an den Verschalungen der Fenster, drinnen gingen sie Arm in Arm von Gegenstand zu Gegenstand, und nur als Andreas nach einem in gelbes Leinen gebundenen Buche greifen wollte, hielt Monika seine Hand fest, dann gab sie es ihm jedoch selbst und sagte kurz: «Hier schreiben sich die Gäste ein.»

Er legte es auf den Tisch, sie stand hinter ihm und sah ihm über die Schulter.

Bedächtig blätterte Andreas, fand manchen berühmten Namen, viele, die nicht mehr in Deutschland, einige, die tot waren, auch schienen am Anfang viel mehr Gäste in der Hütte gewesen zu sein als später, und nach 1933 fast niemand mehr. Da stand nur noch eine einzige Eintragung, auch fast schon zwei Jahre zurück: «Monika und Klaus, die wahrhaft Glücklichen, die immer wiederkehren.»

In diesem Augenblick legte Monika ihre Hand über das Blatt und sagte mit harter Stimme:

«Gelogen. Sie kommen nicht wieder. Nie mehr.»

Als er aufsprang, wich sie zurück, warf sich aufs Bett und vergrub den Kopf in den Kissen.

Immer wieder sagte sie schluchzend, dass sie ein ganzes Jahr nicht mehr habe weinen können, «und jetzt hört es nicht mehr auf».

Er kniete vor dem Bett, streichelte und küsste ihre Hand. Langsam wurde sie ruhiger, und am Ende hatte sie sich in Schlaf geweint wie ein kleines Kind.

Erst als er sah, dass sie ruhig atmete, erhob er sich leise, löschte die Lampe und ging mit einer Kerze nach nebenan, wo er, ohne sich auszukleiden, auf einer Matratze in unruhigen Schlummer fiel.

KLAUS.

I.

1.

Der nächste Tag verminderte die Kraft des Sturmes nicht, zufrieden lächelnd, stellte Monika fest, dass man bei diesem Wetter keinen Hund ins Freie jagen könne. Sie war am frühen Morgen auf, heizte den Herd und brachte dem verschlafenen Andreas eine dampfende Tasse Suppe an sein Lager.

Später wies sie ihm den Platz im Lehnstuhl an, sie selbst hockte sich auf einen Schemel, nicht weit von ihm entfernt. Sprechend musste sie die Augen zu ihm heben; sein schmales Jungengesicht stand als Silhouette vor ihr, nur sein helles Haar wurde vom Kerzenlicht getroffen. Zu diesem Kaum-Sichtbaren begann Monika zu reden, und während sie erst zögernd, doch dann immer schneller die Sätze formte, während sie ihre Geschichte erzählte, die Tatsachen aneinanderreihte und das Wirkliche doch verschweigen musste, füllte sich für sie selbst das dürre Gerüst der Worte mit dem Leben, so, wie es gewesen war und es für den, der es geliebt hat, immer bleiben wird.

Während Monika ihre Erzählung begann: «Es war wenige Jahre nach dem Kriege, als mein Vetter Klaus zum erstenmal wieder nach München kam …», verwandelte sie sich zurück in die schwierige und verwöhnte Sechzehnjährige, die voll stolzer, heftiger Ansprüche vor dem Leben stand und kein anderes Glaubensbekenntnis hatte, als dass Glück die einzige Tugend sei.

Wieder ist der Tag, an dem sie den fremden Vetter zu der großen Gewerbeschau abholt, nicht mit viel Freude, denn in dieser Zeit des Übergangs, zwischen Kind und Mädchen, interessiert man sich nicht für Gleichaltrige; die hungrigen Augen suchen die lebenserfahrenen Zwanzigjährigen, die reif, skeptisch und mit der herrischen Haltung des Überlegenen aus dem Kriege kamen, wenn auch gerade um Klaus oder vielmehr um seinen Vater manch Interessantes wittert: Dieser Onkel, des eigenen Vaters Bruder, ging vor dem Krieg in die Schweiz, schrieb dort ein Buch gegen den deutschen Kaiser – es war gar nicht immer angenehm, denselben Namen zu tragen – und schoss sich 1919 aus Ekel und Unzufriedenheit über den schlechten Frieden, der die selbst geschaffene, so lang ersehnte deutsche Demokratie gleich wieder mit Untergang bedrohte, eine Kugel ins Herz. Seine Witwe, Tante Beatrix, war schon im vergangenen Jahr nach München gekommen; von den Eltern zögernd und mit viel Zurückhaltung begrüßt, wurde sie für die kleine Nichte von der ersten Stunde an Gegenstand der tiefsten Bewunderung und zärtlichsten Liebe; nie zuvor hatte Monika eine so schöne, stolze, elegante Frau gesehen, die ihr schweres Geschick hinter lächelnder Kühle verbarg; keine trug wie sie immer neue, unendlich reizende Kleider, keine verstand es, sich so zu schminken, dass die Absicht erkennbar, aber niemals aufdringlich wurde. Kein Mensch, nicht Mann noch Frau, hörte der Halberwachsenen so gesammelt zu wie Beatrix, die mit ernsten, runden Kuhaugen und leicht geöffneten Lippen Monikas Worten lauschte. Zudem stellte sich bald heraus, das sie nicht nur die Werke der Dichter kannte, die das Mädchen liebte, sondern meist auch die Verfasser persönlich, was ihre Anziehungskraft ins Unheimliche steigerte. Sie lebte gelassen und unwandelbar den strengen Ideen, die der tote Gatte ihr gewiesen, und wenn sie auch nicht über einen scharfen, zupackenden Verstand verfügte, so doch über eine weite Menschlichkeit, die umso größer und freier sich hatte entfalten können, als Beatrix ja die furchtbaren Jahre des Krieges, unberührt von nationalen Verzerrungen, in der Schweiz verbracht hatte. Woher sie stammte, wusste kein Mensch genau, sie sprach ein wenig schlampig, mit österreichischem Tonfall; Familie hatte sie wohl keine oder stand sich nicht gut mit ihr. Der Onkel hatte sie als ganz junges Mädchen in einer kleinen Provinzstadt, wohin eine Vortragsreise ihn führte, die Nora spielen sehen; ihre makellose Schönheit, ihr Charme und ihre hilflose Talentlosigkeit hatten ihn gleichermaßen gerührt und überwältigt; hingerissen heiratete er sie vom Fleck weg und brachte sie als seine Frau nach München, wo er in einer kleinen, weit draußen gelegenen Wohnung seine philosophischen und politischen Studien trieb.

Das alles wusste Monika ungenau und verzerrt, liebes- und hassgezeichnete Bilder aus Gesprächen Erwachsener schwebten ihr vor, auch tauchten Erinnerungen in ihr auf an einen dunklen Buben, dem sie sich unendlich überlegen gefühlt hatte, weil sie bei ihren Raufereien es stets fertig brachte ihn zu besiegen und zu Boden zu werfen.

Dann kam vor einem Jahr Beatrix gleich einer Göttin vom Himmel geschwebt und machte alles Gerede mit ihrer holden Wirklichkeit zunichte. Sie hatte sich mit einem Kuss von Monika verabschiedet, einer zarten, mütterlichen Umarmung, bei der das Mädchen in einer Wolke von Duft und Seligkeit versank, und lächelnd ihren Besuch für den nächsten Sommer versprochen.

Jetzt hat sie ihren sechzehnjährigen Sohn vorausgeschickt – sie selbst wird erst in ein paar Tagen kommen, und Monika steht vor dem Haus in der Prinzregentenstraße, wo der Vetter allein in einer Pension wohnt, sie trägt ein weiß und rot gestreiftes Seidenkleid und einen großen kühn-wippenden florentiner Hut; sie findet, dass die Linden betäubend duften, und sie denkt ein wenig traurig, dass der fremde Junge den Toiletteaufwand, den sie getrieben hat, nicht lohnen wird; überdies ist es ziemlich sinnlos, ihm elegant zu kommen, wie armselig hässlich ist sie doch neben Beatrix, und es wäre gescheiter gewesen, im blauen Wundervogelkleid hutlos zu erscheinen.

Sie blickt die Straße hinauf und herunter, der Asphalt ist heiß von der glühenden Sonne, die Wiesen im Englischen Garten, noch ungemäht, stehen hoch und üppig, in dem satten Grün leuchten die weißen Köpfe des abgeblühten Löwenzahns. Gibt es andere Städte, in welche die Landschaft so unmittelbar hereindringt, gibt es noch irgendwo in der Welt diese Verschmelzung von Nord und Süd in der Luft, den Geruch von Gletschern und von süßen Blüten, Ahnung von Mittelmeer, blauen Himmel, mit sanften, weißen Schäfchenwolken, braungebrannte Menschen, die gekleidet sind, wie es ihnen gerade gefällt, elegant und modisch, in Dirndlkleidern, Lodenröcken und ledernen Hosen, wie in einem zweiten, auf die Straße verlegten Fasching, der die Bewohner angenehm leicht und der Standesunterschiede enthoben erscheinen lässt?

Monika geht hin und her, unzufrieden mit sich selbst, zufrieden aber und glücklich mit ihrer Umgebung. Sie kennt viele Menschen, die vorbeikommen, nickt lächelnd dem hinkenden Blumenverkäufer mit dem Korb voll Veilchen zu, grüßt artig ein paar ältere Herren, Arztkollegen des Vaters, die ein wenig zerstreut und erstaunt danken; der eine, mit dem weißen Vollbart wendet sich dann aber um und winkt mit der Hand, er hat erst jetzt das Mertonkind an der Ähnlichkeit mit dem Vater erkannt. Sie spricht ein paar Worte mit einer großen, schlankgewachsenen Dame, zu der sie Tante sagt; es ist eine Freundin der Mutter, Gräfin Konstanze Khefermüller, die freundlich feststellt, wie hübsch und niedlich Monika aussieht. Das Selbstbewusstsein des Mädchens hebt sich ein wenig, gleich darauf sinkt es wieder in nichts zusammen. Warum nur hat Ernst Rosenberg, der junge sozialistische Strafverteidiger, so hochmütig und abweisend genickt, als wollte er ihr zeigen, dass sie nichts für ihn ist, wie eine kleine, unerwachsene Gans? Dabei ist er Gefährte vieler Träume, denn sie findet ihn ebenso gescheit wie mutig, und sie mag sein blasses Intellektuellengesicht mit den schönen, kurzsichtigen Augen hinter der scharfen Brille gern ansehen.

Bei alledem ist es immer später geworden; pünktlich zu sein ist für Monika eine solche Selbstverständlichkeit, dass sie stirnrunzelnd und ungeduldig noch einmal klingeln will, als die Türe aufgeht und ein Junge auf der Schwelle steht, groß, schlank, mit langer grauer Hose und blauer Jacke; über dem weißen, offenen Hemd hebt sich sein dunkler, schmaler Kopf, Gesicht eines Araberknaben mit schön geschwungenen Lippen und einer feinen, stark gebogenen Nase; mit braunen Tieraugen und einer schon männlichen Stirn, in die das schwarze, manchmal ins Kupfern spielende Haar sich lockt. Seine Haut ist so braun, dass man ihn kaum für einen Europäer halten kann, und noch bevor er auf Monika zugeht und sie mit der von der Mutter ererbten und übernommenen Liebenswürdigkeit begrüßt, bevor er ihr lächelnd das Schönste, was er besitzt, sein strahlend weißes, starkes Gebiss, zeigt, hat sie festgestellt, dass er ihr sehr, dass er ihr ungemein gut gefällt, und wenn er auch jünger und unfertiger wirkt, als sie erwartet hat – ganz knabenhaft zart ist die braune Haut des schlanken Halses –, so ist er doch wie ein Bruder anzunehmen.

Als solcher scheint er sich auch zu fühlen, ohne Zögern, mit einer hinwendenden Gebärde der Zärtlichkeit schiebt er seinen Arm unter den ihren und bestellt ihr mit seiner noch etwas brüchigen Bubenstimme die allerherzlichsten Grüße von Beatrix. Er nennt die Mutter beim Namen, und Monika erschrickt fast vor der kaum verhaltenen Leidenschaft, mit der er ihn ausspricht. Beatrix ist ihm alles: Mutter, Gespielin, Trösterin und Leitende, er lebt und fühlt in ihrer Atmosphäre; was ihr genehm, akzeptiert auch er, was sie verwirft, findet auch vor seinen Augen keine Gnade, und ihre hohe Schönheit ist das Maß, mit dem er die Dinge misst. Es dauert nicht lang, so hat das Mädchen, das ihm im Aushorchen weit überlegen ist, heraus gefunden, dass Beatrix ihm auch Schmerzen bringt. Bis zur selbstzerstörerischen Qual leidet er unter dem Bewusstsein ihrer Sterblichkeit; stundenlang liegt er Nachts wach und denkt mit klopfendem Herzen an die Mutter, die im Zimmer neben ihm schläft; manchmal ist er so von Angst geschüttelt, von einem panischen Schrecken, ob sie jetzt, gerade in diesem Augenblick, noch atmet, dass er hemmungslos weinend zu ihr läuft und sich erst langsam beruhigen lässt, wenn sie ihr zartes, schlaftrunkenes Gesicht ihm zuwendet und er mit leidenschaftlichen Küssen ihre lebende Wärme fühlt.

Leicht ist dies alles nicht aus ihm herauszulocken; er ist noch ganz spröde und von störrischer Reinheit; doch Monika hört gut und scharf zu – mehr weil er ihr Kunde von der angeschwärmten Frau bringt als um seiner selbst willen; dabei stellt sie zufrieden fest, wieviele Blicke erwachsener Frauen ihm im Ausstellungspark folgen.

Sie gehen Arm in Arm durch die Hallen, neugierig schauend, sprechend, und dabei fällt es ihnen auf und sie konstatieren es lachend, wie oft ihnen dasselbe gefällt, wie genau sie im nämlichen Augenblick über irgend etwas das Gleiche sagen. Nun gut, sie sind Bruderskinder und wenn auch unter ganz verschiedenen Bedingungen herangewachsen, doch alle beide südliche Menschen, aber diese Gleichheit des Sehens, die an diesem Tag beginnt, die durch Gewöhnung und Verbundenheit sich immer steigert und die sie auch in bösen Stunden nie verlässt, sie stammt aus dunkleren Tiefen als aus Blutsverwandtschaft und Zuneigung, ist Magie und Verzauberung, ewig strömende Quelle des Glücks, die ihnen treu bleibt, ganz gleich ob sie durch Landschaften oder Museen gehen, ob sie in heller Mondnacht auf dem Grande Place in Brüssel von einer fremden Pracht erschüttert sind, ob sie, hingegeben an ihre eigentliche Landschaft, durch die sumpfigen Wiesen, welche die Tempel von Pästum umgeben, streifen und die glänzenden Nacken der schweren, weißen Ochsen liebkosen, ob sie, ganz die anderen Menschen vergessend, Wein auf einer kleinen Terrasse an der Mosel trinken oder lüstern und süchtig nach der Schönheit fremder Körper durch das verworrene Marseiller Hafenviertel bummeln und in dunklen, anrüchigen Lokalen merkwürdige Bekanntschaften schließen; ob sie theater- und filmversessen die leichte Geste, das Lächeln oder die Trauer auf einem Schauspielergesicht lieben; ob es ein Baum, ein Felsen, ein Tier ist, dem sie sich zuwenden – ihre Augen erfassen, begehren und lieben in derselben Sekunde den gleichen Gegenstand und lassen sie immer wieder aufs Neue durch den Andern sich selbst und die Welt erleben.

Sie wissen noch kaum davon an diesem ersten Tag; sie mögen sich gern und finden es einen guten Zufall, dass sie sich getroffen haben.

Am längsten verweilen sie vor den Bücherständen; sie sind alle beide Leseratten, aber während Monika alles liest, was ihr in die Finger fällt, Klassiker und Detektivromane, historische und kunstgeschichtliche Abhandlungen ebensogern wie sentimentalen Kitsch, kennt Klaus nur Werke, die mit Geschmack und sicherem Wollen ausgewählt sind; einiges von Goethe, viele romantische Märchen, Shakespeare, Byron und eine erstaunliche Menge moderner Dichter. Leidenschaftlich und ergeben klingt in seinem Mund das Wort Expressionismus; er erklärt der erstaunten Freundin, was darunter zu verstehen sei und wie glücklich sie sein müssten, in der Zeit einer so großen, starken und neuen Bewegung zu leben. Sie weiß fast nichts davon; er zeigt und deutet ihr an den Bucheinbänden, an der Ausstattung des Saales, wie überall der gleiche Wille hinter den Dingen spürbar ist – den stärksten gültigen Ausdruck bei völligem Verzicht auf die Realität zu finden. Er zieht sie vor die Bühnenmodelle: Ja, sie solle nur ihre Augen aufsperren und sich ansehen, wie geschlossen und sparsam man in Berlin und Frankfurt Theater spielt. Hier der «Spiegelmensch» von Werfel, dort die «Seeschlacht» von Reinhard Goering, nichts weiter als das Innere eines Gefechtsturmes auf einem Panzerschiff, ein grauer, sich wölbender Raum. Monika versteht nicht recht, worum es sich handelt, aber sie spürt das Feuer des Knaben an ihrer Seite, und um seinetwillen will sie diese fremde Kunst nicht verwerfen.

Es ist ihr aber doch wohl, als sie wieder im Freien stehen, wo sie sich zurückverwandeln in zwei Kinder; sie beginnen, albern und zärtlich miteinander zu spaßen, verkleinern und verdrehen ihre Namen, erfinden Berufe für Menschen, die vorbeigehen, und landen endlich im Vergnügungspark an der großen Achterbahn.

Monika fürchtet sich vor den rasenden Wagen, als aber Klaus verführerisch bettelt: «Komm, sei nicht fad, zu zweit ist es soviel schöner», überwindet sie die Angst und steigt mit ihm ein. Sie sitzen nebeneinander gedrückt, gleich den vielen Paaren vor und hinter ihnen, der Junge legt männlich beschützend seinen Arm um ihre Schulter. Es beginnt sanft und lustig, langsam hebt das Gefährt sich, von einer unsichtbaren Kraft gezogen rollt es die schiefe Ebene hinauf, ganz oben geht es etwas schneller und ein wenig geneigt schon in die Kurve, voll ängstlicher Erwartung klopft Monikas Herz, aber in diesem Augenblick sieht sie am Horizont die ganze Alpenkette, silbern glänzend, ein weiter Bogen lockender Verheißung, und dies plötzliche und unerwartete Gesicht bestürzt und überwältigt sie, dass sie aufschreien möchte vor Glück. Welch eine Fülle von Kraft strömt ihr aus diesem Bild zu, sie fühlt sich so übermütig und stark, dass sie die Welt aus den Angeln heben möchte, zugleich weiß sie, wie jung sie ist, wie unverpflichtet, noch ganz und gar Gefäß, in das die Schönheit sich ergießt. Nein, mehr als Schönheit, es ist das Unfassbare, ist ihr Gott, der sie in dieser gezackten, flammenden Herrlichkeit anspricht.

Bevor ihr das aber recht ins Bewusstsein dringt, wird sie hinabgeschleudert in einen tosenden Abgrund, es ist, als presse eine furchtbare Gewalt ihr Inneres zusammen. Der Wagen rast hinab, nein, er fällt in unermessliche Tiefen, mit Gekreisch und Krachen, als würden Holz und Knochen splittern. Doch nicht nur nach unten führt diese tolle Fahrt, mit derselben Wucht fährt das Fahrzeug nach oben, am Ende weiß man nicht mehr, wohin die Richtung geht; es ist ein Wirbel von schmerzender, schauriger, aber zu gleicher Zeit aufpeitschender, lustvoller Bewegung. In einem einzigen Augenblick, in dem es ruhiger geht, spürt Monika, dass sie an Klaus’ Flanke lehnt, beschirmend liegt sein Arm um ihre Schulter. Wie süß und beruhigend ist diese menschliche Nähe, sie kuschelt sich ganz ihm hin, denn schon beginnt der Hexensabbath von Neuem.

Alle Gedanken, aber auch alles Fühlen sind aus Herz und Gehirn hinweggepresst, doch als es endlich zu Ende ist und sie mit weichen, zitternden Knien wieder auf der Erde stehen, ist es Monika, die schnell ihr Gleichgewicht zurückfindet. Sie streicht sich das kurzgeschnittene Haar aus der Stirn und setzt den großen Hut, der ihr an einem Band über den Arm hängt, wieder auf. Klaus lehnt blass, mit geschlossenen Augen an einem Holzpfosten, seine Gesichtsfarbe ist olivengrün, und er sieht in diesem Augenblick der Mattigkeit kein bisschen hübsch aus, doch Monika möchte ihn jetzt am liebsten in den Arm nehmen und streicheln, damit er wieder zu sich komme; weil sie das aber nicht wagt, fährt sie ganz leise und vorsichtig mit der Hand durch sein feuchtes, dichtes Haar.

«Es war sehr schön, Klaus», sagt sie halb zärtlich, halb spottend und zieht ihn mit sich fort von dem hölzernen Koloss, der schon wieder unter den anlaufenden Motoren zittert.

Sie gehen im Park spazieren, essen in einem kleinen Restaurant zu Abend – Klaus hat Schweizer Franken, kann sich halb München dafür kaufen und ist durchaus entschlossen, den Tag eines Erwachsenen zu verbringen.