Der Weg zurück - Enrico Palandri - E-Book

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Enrico Palandri

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Beschreibung

Die Zugreise eines jungen Mannes wird zur Reise ins Ich Ein Mann auf dem Weg ins Leben. Überschattet wird dieser Weg von den Anfechtungen der turbulenten, ja bisweilen gefährlichen sechziger, siebziger, achtziger Jahre: Beziehungskrisen, Drogen, politische Gewalt. Diese Reise ins Ich birgt die Chance anzukommen, weiterzugehen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Enrico Palandri

Der Weg zurück

Roman

Aus dem Italienischen von Christa Efkemann

FISCHER Digital

Inhalt

Kommen und GehenIIIIIIDie verlorenen TageIIIDas Nest und die ErzieherinDie Engel verlieren die FedernIIIDie Schwelle des SchweigensEin geraubter KofferDie Rechnung

Kommen und Gehen

I

Am Abend vor meiner Abreise aus Rom trafen wir uns alle wieder. Wir hatten uns bei Turiddu zum Abendessen verabredet. Aldo Mansi war da, Walter Righi, Fernando, Sandra und Giacomo, später kam dann auch noch Fabio Cavalieri dazu. Bei solchen Abendessen tritt Turiddu wie ein Dirigent auf. Den Bleistift in der Hand steht er da, hoch über den Köpfen seiner Gäste, und ruft mit einem kurzen Wink die Stimmen aus dem Gesprächsgewirr auf, um die Bestellungen entgegenzunehmen.

»Also, was soll ich euch zuerst bringen? Rigatoni alla paiata, Fettuccine mit Tomaten und Basilikum, Bucatini all’amatriciana?«

Er spricht mal schneller, mal langsamer, wiederholt sich, betont. Es hört sich an wie ein Gesang, mit dem er den Genuß seines Publikums, seiner Gäste schon selbst vorkostet, die er mit appetitanregenden Einzelheiten erfreut (»Die Zichorie ist heute besonders gut, die kommt von meinem Cousin aus Ceri«). Er macht sie mit kleinen, wohlkalkulierten Verzögerungen und unmerklichen Zufälligkeiten gefügig, solange bis er auch den letzten aus seiner ergebenen Gefolgschaft in der Hand hat und seinen Rat großzügig an alle verschenken kann. Nur ein Verrückter oder ein Dummkopf könnte dann noch etwas anderes wollen. Wenn nun aber tatsächlich einer, der ihn nicht kennt, sich von keinem seiner Vorschläge verführen läßt und anfängt, in den Seiten der Speisekarte zu blättern, die in dieser Art Restaurant nur zur Dekoration da ist, wird der Wirt Turiddu zu Turiddu dem Schrecklichen. Unter seinem schwarzen Schnurrbart zischt er wütend und kurz angebunden hervor: »Das ist aus«, »Das gibt’s heute nicht«, »Was heißt, das steht auf der Karte? Na gut, es steht auf der Karte, das gab’s gestern …« bis er schließlich eine undurchdringliche Mauer der Verweigerung errichtet hat, hinter der sich die Ehre der Mütter, Ehefrauen und Tanten verschanzt, die seit ewigen Zeiten die brodelnden Kochtöpfe, den genauen Weichheitsgrad der Spaghetti und die perfekte Konsistenz des Sugos bewachen. Wenn es euch nicht paßt, zieht ruhig wieder den Mantel an und geht nach Hause.

Hat er nun den Unverständigen unter den Gästen Risotto und Kotelett alla milanese ausgeredet, beginnt Turiddu schweigend und feierlich die Bestellungen zu notieren, als handelte es sich dabei um unseren letzten Willen. Dann verschwindet er. Manchmal läßt er sich zwischendurch blicken, taucht aber eigentlich erst wieder auf, wenn die Mahlzeit beendet ist. Sein melancholisch getrübter Blick sagt dann: Es ist Zeit zu schließen, der Abend ist zu Ende. Laßt uns nach Hause gehen, wir sind alle müde. Ich hoffe, ihr habt gut gegessen und ihr kommt wieder. Ich hoffe es und kann nur hoffen, denn ich weiß, Zichorie bleibt immer Zichorie, auch wenn sie aus Ceri kommt!

Während wir uns zu Tisch setzten, hatten wir unter uns die üblichen Sätze ausgetauscht: Was man so sagt, wenn man sich lange Zeit nicht gesehen hat: »Wie geht’s?«, »Hast du noch immer diese Stelle?«, »Und Paolo? Immer noch in Amerika?«, »Hast du gehört, daß Alfredo wieder den ›Maulwurf‹ machen will?« Nun knüpfen die Gespräche langsam wieder an alte und neue Interessen an. Da steht einer noch unschlüssig herum, weil der Platz, wo er sich hinsetzen wollte, inzwischen schon besetzt ist. Der nächste beginnt einen Flirt, einer erläutert die Spezialitäten des Hauses, ein anderer stöhnt und denkt bei sich, es wäre wohl besser gewesen, zu einer anderen Einladung zu gehen. Wieder einer rekapituliert, wann wir uns das letztemal gesehen hatten, wo das war und was wir damals aßen. Als wären wir Akteure in der x-ten Folge einer Fernsehkomödie und dieses »Erinnerst du dich« würde uns von den verschiedenen Straßen zusammenrufen, denen wir im wirklichen Leben folgen. Früher hat sich immer Nicolas Part mit dieser Frage beschäftigt, aber der ist heute abend nicht da.

Wer weiß, vielleicht bin ich der einzige, der nicht weiß, was es mit diesem ›Maulwurf‹ auf sich hat, den Alfredo wieder machen will. Ist das eine Zeitung, ein Restaurant oder ist ›den Maulwurf machen‹ irgendein Jargon, den ich vergessen habe? Und wer ist dieser Alfredo? Zum Glück zieht Aldo Mansi skeptisch die Augenbrauen hoch und somit fühle auch ich mich davon befreit, der Sache weiter auf den Grund zu gehen.

Am Ende des Tisches zerkrümelte Giacomo sein Brot, genauso wie sein Vater es immer getan hat. Mit der scheuen Sicherheit einer Katze, die sich gefügig streicheln läßt, aber immer auf dem Sprung ist, sich vor einem Angriff zu verteidigen, verfolgt er mit seinen Blicken alle unsere Bewegungen. Er sitzt neben Sandra, und irgend etwas stört an ihrer Art miteinander umzugehen. Er ist nun ein Mann, sie kleidet sich und spricht noch immer wie ein junges Mädchen. Sie haben einen geheimen, anstrengenden und gespannten Waffenstillstand vereinbart. Die Mutter bittet an diesem Abend darum, Frau sein zu dürfen. Der Sohn will einfach nur Giacomo sein. So waren sie wie zwei Gleichaltrige aus dem Hause gegangen und hatten sich nebeneinander gesetzt. Aber stillschweigend, mit Ellbogenstößen, Blicken und diesem »Reichst du mir bitte das Wasser ’rüber«, bitten sie weiter darum, in Ruhe gelassen zu werden. Ich saß ihnen gegenüber, und es war mir unmöglich, ihr Unbehagen nicht zu bemerken. Ich dachte an Sandras Narbe im Nacken, suchte ihren Geruch. Es war mir aufgefallen, daß ich noch immer vermied, ihr in die Augen zu schauen, und ich achtete deshalb nicht mehr auf die Gespräche. Ich verlor mich in Gedanken an diese Narbe und dann an die lange Zugreise, die ich gerade hinter mir hatte (zurück nach London würde ich diesmal das Flugzeug nehmen). Ich dachte an Julia, an Gesichter und Gespräche, die einige Zeit zurücklagen. Sie riefen mich an einen Ort, von dem ich dann irgendwann abgereist war. Ich schaute auf die Münder rings um den Tisch, die Brot und Wörter zerkauten. Es schien mir, als hätte es uns alle schon einmal auf einem Gruppenfoto gegeben. Nun, wo wir alle, jeder mit seiner eigenen Betrachtung der Vergangenheit, in verschiedenen Welten untergetaucht waren, schwammen wir mühsam gegen den Strom und versuchten in diesem Moment wieder aufzutauchen; angestrengt bemüht, mit Gelächter, Scherzen und Kopfnicken anwesend zu erscheinen. Es genügte, für einen Augenblick mit dem Schwimmen aufzuhören, so wie ich es gemacht hatte, und die Gespräche zogen vorbei. Man fand sich an einem anderen Ort wieder, in einer anderen Zeit. So war es mir ständig während dieser Zugreise hierher passiert und auch jetzt wieder, hier am Tisch mit alten Freunden.

Walter Righi lacht in diesem Moment laut auf. Sie ziehen Fernando wegen einer Doubleface-Weste auf, die eine verblüffende Bereicherung seiner gewohnten Kleidung darstellt. Fernando ist aufgestanden, um sich zu zeigen und hat, als Dank für die Aufmerksamkeit der Tischrunde, eine kleine linkische Verbeugung gemacht. Mir fällt auf, daß er noch immer diese Sandalen trägt, und ich mache Aldo darauf aufmerksam, der zustimmend lächelt. Zeichen der Zeit, wie man so sagt, die man mit sich herumträgt wie Spuren, Spuren von Spuren und Spuren von Spuren von Spuren … Giacomo war zu jung, um das zu bemerken, aber mich und die anderen erinnerten diese Sandalen an eine gewisse franziskanerhafte Haltung, die vor ein paar Jahren für Linke wie Fernando die eigentliche Berufung war. Diese Sandalen ließen mein Distanzgefühl schwinden. Ich dachte, daß trotz der Bitterkeit, der Tragödien und der Enttäuschungen, die Fernando, wie im übrigen uns alle, von diesen Jahren getrennt hatten und trotz der Lebensumstände, die uns in so verschiedene Richtungen zerstreut hatten, diese Sandalen doch immer mit dieser Zeit verbunden blieben. Sie zeigten die Stelle an, wo eine Welt versunken war und eine Gischt vergessener Ereignisse hinter sich gelassen hatte; neue Moden, die die Menschen wieder zu neuen Gruppen zusammenführen, bevor auch sie stillschweigend untergehen, und man nicht mehr versteht, welche Bedeutung bestimmte Worte oder bestimmte Verhaltensweisen einmal hatten. Mit diesem Wink auf Fernandos Sandalen gab ich Aldo zu verstehen, siehst du, das ist die Stelle, aus der die Vergangenheit aufgetaucht ist, man sieht noch das Loch!

Hin und wieder fragte mich jemand: »Bist du wieder in Rom?«, »Was machst du in London?« Ich antwortete eher in allgemeinen, ungenauen Wendungen, fragte auf die gleiche Weise zurück und beteiligte mich leidlich an der oberflächlichen Tischkonversation. Wir sprachen über Filme und Bücher und schließlich auch über die Amnestie für Mitglieder terroristischer Gruppen. Und natürlich über Nicola. Es gab ein paar, die nicht mehr daran glaubten, daß Nicola jemanden umgebracht haben sollte, und dazu gehörte sicherlich auch Sandra, seine Frau. Aber es ging nicht darum. Unschuldig zu sein wird zu einem privaten Faktor je mehr man sich mit den Jahren daran gewöhnt, daß alle sich an irgend etwas ein wenig schuldig fühlen. Aus Trägheit, Resignation oder Vorsicht kümmert man sich schließlich nur noch dann um andere, wenn man sich gegen sie verteidigen muß. Und nichts macht mehr Angst als ihre Unschuld, denn sie würde unsere Menschenfeindlichkeit offenbaren. Wir sprachen über das Strafmaß, weil Nicola inzwischen sowohl für die, die ihn kannten, als auch für die, die davon in der Zeitung gelesen hatten, zu einem Fall für die Justiz, ja zu einem Gerichtsurteil geworden war. Vor Jahren, an Abenden wie diesem, fragten wir uns: Ist er nun schuldig oder nicht? »Nicola Santi, schuldig? Was für ein Blödsinn!« Man sprach von Repressionen, unterzeichnete Petitionen und erzählte kopfschüttelnd Episoden brüderlicher Solidarität mit dem Verfolgten. Im Verlauf der Wochen, Monate und Jahre jedoch, gewann das Urteil an Gewicht. Die Beweise waren haltlos, doch wegen der schleppenden Ermittlungen wurden sie nicht widerlegt oder teilweise durch andere ersetzt, und es war schwierig, sich auf dem letzten Stand zu halten. Das Verfahren nahm seinen Lauf, und der Staub der Gedankenlosigkeit legte sich auf die Aktenbündel des Prozesses, erstickte die Diskussionen der Unbeteiligten und schließlich auch die der Freunde. So wollte eines Abends einer das Thema wechseln und versuchte es damit: »Fabio Cavalieri, na gut, sicher, aber für Nicola würde ich nicht die Hand ins Feuer legen …« Wer würde das wohl tun? Außerdem sind Monate vergangen, in denen ihn niemand gesehen hat. Woher kann man genau wissen, was er in dieser Zeit gedacht oder getan hat? So beginnt das Gerede, die träge Schmiede der öffentlichen Meinung, die mächtige und anonyme Stimme des Gesetzes anzunehmen. Es fängt damit an, daß wir für niemanden die Hand ins Feuer legen, und dann, wer weiß, ob jener Richter nicht vielleicht doch Recht hat … Vorläufig jedenfalls, wenn der Rechtsanwalt von Nicola Santi anruft, sag bitte, ich bin nicht da.

Irgendwann kam dann auch Fabio Cavalieri. Er wurde mit lautem Hallo begrüßt, während er um den Tisch herumging, den einen umarmte, dem anderen die Hand drückte, Zigaretten anbot. Er hatte nicht verstanden, worüber wir gerade redeten, oder vielleicht hatte er auch nur so getan. Er war Nicolas bester Freund gewesen, und mit diesem düsteren Fatalismus, der glaubt, Freunde und Verwandte würden sich im Unglück folgen, hatten alle eine Zeitlang darauf gewartet, auch seinen Namen in der Zeitung zu lesen. Aber er war nie in diese Sache verwickelt worden. So war es früher gewesen. Nun setzte er sich neben Giacomo, schlug ihm auf die Schulter und warf Sandra einen ausweichenden Blick zu. Seit er eingetreten war, hatte sie jede seiner Bewegungen verfolgt. Nun wandte sie sich unvermittelt an mich und fragte: »Was hast du gesagt?«, als wolle sie ein unterbrochenes Gespräch wiederaufnehmen.

Giacomo ließ Fabio noch nicht einmal die Zeit, seine Serviette auseinanderzufalten: »Glaubst du, mein Vater ist ein Mörder?«

»Nein, das ist er nicht. Er hat nie eine Waffe angerührt, noch hat er irgend jemandem geraten, es zu tun.«

Sandra hat sofort unsere angebliche Unterhaltung vergessen, Giacomo mit dem Arm beiseite geschoben und hat Fabio mit einem bitteren Sarkasmus unterbrochen, der von weit her kam: »Der Ärmste, mit den Brigate Rosse hat der liebe Nicola ja nur über Fußball geredet. Woher sollte er auch wissen, daß die schießen?«

»Was hat das damit zu tun? Er war ein Revolutionär, und er war einer der Anführer.«

»Und es fehlte nicht viel, und wir wären alle mit ihm im Gefängnis gelandet.«

»Du bist nicht im Gefängnis gelandet, und jetzt wirst du auch nicht mehr dort landen«, hat Fabio ihr trocken entgegnet.

Die anderen hatten ihre Unterhaltung unterbrochen. Keiner hatte Lust, Fabio zu sagen, daß ihrer Meinung nach Nicola ein Mörder war, oder vielleicht wollte auch niemand Sandra sagen, daß ihr Zorn gegen Fabio Cavalieri wenig mit dem zu tun hatte, was Nicola gemacht hatte. Fabio bat um Feuer, dann brummte einer am Tischende etwas vor sich hin. Sandra tat noch einmal so, als müsse sie mir etwas sagen und langsam, wie das trockene Reisig im Kamin erst knistert, bevor es Feuer fängt, breitete sich ein hitziges Stimmengewirr aus, aus dem sich hin und wieder ein schrilles Gelächter oder ein lauter Ausruf abhob.

Als der Abend zu Ende war und alle zu ihren Autos gingen, hakte Fabio einige Meter vor mir Giacomo unter. Er schlug ihm vor nach Ancona zu kommen, um über Nicola zu reden.

»Nicola ist nicht unschuldig, keiner ist das. Aber du mußt dich nicht für ihn schämen, versuche ihn zu verstehen.«

Fabio hatte sechs Jahre mit Sandra zusammengelebt, und war nach Nicola einer von Giacomos Vätern.

Sandra ging hinter mir und versuchte an mir vorbeizukommen. Sie faßte den Arm, den Walter Righi ihr um die Schultern gelegt hatte wie eine Gefangene, die an der Kette zerrt und reckte den Kopf vor, um etwas von der Unterhaltung zwischen Giacomo und Fabio aufzufangen. Arme Sandra! Fabio hatte es bemerkt und seinen Schritt beschleunigt. Auch ich war in einem der letzten Sommer Sandras Liebhaber gewesen und kannte ihre Art auf der Straße zu gehen: aufgeregt wegen der kurzen, verstohlenen Blicke der Passanten und blind für die Zuneigung dessen, der neben ihr geht. Solange derjenige, der mit ihr zusammen ist, ihr die glückliche Einbildung vom Wohlwollen der übrigen Welt läßt, fühlt sie sich beschützt und sucht, ohne selbst genau zu wissen was, alles mögliche hinter dem äußeren Anschein, in den Worten, in dem was sie sagen wollen. Sie schaut dich aus traurigen und verträumten Augen an und kann nicht glauben, daß all ihre Gefühle in der Welt keinen Widerhall finden. Zumindest wegen ihrer Enttäuschung tut sie einem leid, und man fragt schließlich: »Was kann ich für dich tun?« Eines Tages wird man dann jedoch der Sache überdrüssig, so wie es mir ergangen ist und Fabio und wie es früher oder später auch diesem Walter ergehen wird. Man ist es leid, in den Wind zu reden, sich mit diesem phantastischen Gespinst ihrer Gedanken auseinanderzusetzen, das immer auf der Flucht vor dem Hier und Heute ist und sie dazu verdammt, immer nur das zu lieben, was nicht gegenwärtig ist, die Erinnerung oder die Zukunft. Sandra wacht auf und stellt plötzlich fest, sie ist alleine, sie war immer alleine. Ihre Liebe war nur ein Traum, nur eine Projektion, in der der andere umherging und die inneren Schauplätze ihrer Erlebnisse besiedelte, von denen nun in der Einsamkeit nur ein leeres Echo geblieben ist. Sie möchte in die Welt hinausgehen und die traurige Botschaft verkünden: Keiner liebt mich! Keiner hat mich je geliebt! Aber die Welt weiß längst Bescheid und wendet sich gelangweilt von ihr ab, bis ihr schließlich der Krug aus den Händen gleitet. Die Scherben starren sie vom Boden an, und sie ist völlig durcheinander. Die anderen fehlen ihr wie die Luft zum Atmen, mehr noch als ihr eigener Körper, dessen sie sich kaum bewußt geworden ist.

Ich höre deine nervösen Schritte hinter mir, deine abgehackten Sätze. Ich denke an die Narbe in deinem Nacken und möchte sie küssen. Die Sandra der unmöglichen Liebe. Ich möchte stehenbleiben, mich umdrehen, auf dich warten, die vergangenen Jahre überbrücken und die Anspruchslosigkeit, mit der wir uns damals einfach so, zufällig, begegnet sind, und möchte dich umarmen. Auch wenn ich weiß, du würdest es nicht begreifen. Ich möchte dir sagen, auch wenn du immer nur den lieben kannst, der nicht da ist, also nicht lieben kannst, daß ich, der gesehen hat wie du in deiner Schwermut versunken bist und dich nicht mehr erreichen konnte, dich gernhatte. Aber könntest du mich verstehen? Da gehst du und windest dich zwischen einer Liebe, die du hast, aber nicht willst und einer anderen, die du glaubst wieder zu wollen und all diesen vielen möglichen Verhältnissen, die um irgendeine Ecke verschwinden. Meine Stimme würde sich mit dem Nachhall deiner Enttäuschung vermischen, mit all deinen Gelegenheiten, die inzwischen eine nach der anderen in einer Zukunft verschwimmen, die sich verbraucht. Auch Fabio muß sich während der dreihundert Meter bis zum Auto an die ständigen Warnsignale deiner Zerbrechlichkeit erinnert haben. Er wußte, daß deine Ohren seine Stimme suchten wie man nach Luft schnappt, wenn man aus dem Wasser auftaucht, wie man das Leben sucht, wenn man spürt, es ist nicht da. Er muß sich anstrengen, um in seiner Unterhaltung mit Giacomo nicht den Faden zu verlieren. So läßt er es zu, daß dieser Walter dich weiter quält mit seinem: »Aber hörst du mir überhaupt zu?« – »Aber natürlich, natürlich höre ich dir zu. Was hast du gerade gesagt? Komm, laß uns weitergehen, bleiben wir nicht zu weit hinter den anderen zurück …« Was mutest du deinen Liebhabern alles zu! Ich überlege, wie Fabios Leben mit dir wohl ausgesehen hat. Er, der immer nur gibt, der alles für euer gemeinsames Leben tut und es verschwinden sieht, jeden Tag wieder von vorne anfangen muß, weil das Gestern in einem schwarzen Loch verschwunden ist. »Liebst du mich? Jetzt? Wiederhole es, wiederhole es jeden Tag wie ein Gebet!« Und Fabio, der dir immer wieder versichert: »Ich liebe dich, hab keine Angst« und erkennt, daß nichts deinen Hunger nach Sicherheit stillen kann. Du verlangst Unmögliches von ihm. Er soll dich vor Alter und Tod beschützen, und gerade weil du weißt, das ist unmöglich, fragst du immer wieder: »Aber wie sehr? Und für wie lange?« Du möchtest verstehen, Vertrauen haben, versuchen, dich begreiflich zu machen und Verständnis für ihn haben. Aber inzwischen erstirbt alles um dich herum von einem Augenblick zum anderen und wird sofort Vergangenheit. Sogar deine Vorsätze vermischen sich mit den Träumen und Lügen. Du bittest um Verzeihung, flehst darum, es dich noch einmal versuchen zu lassen, ein letztes Mal, bevor deine Zeit um ist. Du schaust dich im Spiegel an und dir scheint, daß keine Zeit mehr bleibt, jedenfalls weniger als du glaubtest, und du willst nicht. Du kleidest dich und redest noch immer wie ein junges Mädchen, aber du hast dich verändert. Du hattest etwas Verführerisches als du jung warst, was dir heute fehlt. Etwas Herausforderndes in der Art dich zu kleiden und in deinem Benehmen, in der Fülle deines Körpers, in deinem offenen Lachen, fast so als hätte sich deine Blasphemie, denn es ist Blasphemie nicht das zu lieben, was einen umgibt, in eine paradoxe Körperlichkeit verwandelt, als du zwanzig warst. Du warst immer voll und ganz da, freundlich und offen, und trotzdem warst du nie anwesend. Es schien so, als würdest du nie altern können, so sehr, daß sogar heute noch, wenn auch inzwischen aus alter Gewohnheit, deine Freundinnen beim Wiedersehen irgendwann immer denselben Satz wiederholen. Der einzige, von dem sie wissen, daß er dir wirklich Freude macht: »Sandra, wie machst du das bloß? Du wirst überhaupt nicht älter!« Es ist nicht wahr, du siehst es an den Blicken der Männer und wie dich Giacomos Freunde anschauen. Aber entgegen allem, was du weißt und gegen deine eigenen Empfindungen, tröstest du dich für einen Augenblick und gibst dich der Hoffnung hin, daß die Jugend für dich wiederkehren könnte, daß du das Leben mit seinen Hoffnungen und Geheimnissen noch einmal vor dir hättest. In diesem nächsten Leben, überlegst du, würdest du nicht so glücklich sein, wie du gewesen bist, aber auch nicht so unglücklich, und wer weiß, was passieren würde, wenn … da ist es, eines nach dem anderen kommt das Echo dessen, was geschehen ist, zurück und fängt dich ein. Du kannst nicht noch einmal von vorne anfangen, es gibt kein nächstes Leben, was dem gleicht, das du möchtest. Statt dessen stößt dich jeder neue Tag vorwärts in eine Zukunft, die du nicht mehr willst. Jede Zärtlichkeit hat sich deinem Gedächtnis wie ein Schmerz eingeprägt, dir fehlen alle und alles. Du berührst dein Gesicht, die Haut, die langsam welkt, die Falten, in denen sich die Zeit eingegraben hat und nicht mehr verschwindet. Jeder Tag, mit einem Arsenal von Kosmetikartikeln, Inspektionen vor dem Spiegel und deine Gesichtszüge zwischen Schminkkunst und panischer Angst, von einer dieser Furchen verschlungen zu werden.

Du bist jetzt neben Fabio angekommen. Weiß der Teufel, was er Giacomo zu sagen hatte. Vielleicht, daß er ihn gerne öfter sehen würde oder sogar, daß er wieder bei ihm wohnen könne. Du fragst dich ungeduldig, warum wir hier alle herumstehen und siehst, wie er in der Tasche nach den Autoschlüsseln sucht, denkst, er wolle dir etwas geben und streckst ihm die offene Hand entgegen. Du verfolgst, wie er deinen Blick meidet wie ein Minenfeld. Alle deine Gedanken fragen ihn Warum? und es entschlüpfen dir ein paar Worte, ein Flüstern: »Komm zurück wann du willst.« Mit unbewußter Vorsicht ist es dir gelungen, leise zu sprechen, ganz nebenbei, fast als würdest du nach der Uhrzeit fragen. Du glaubst, er hätte nicht verstanden, was du sagst. Aber Fabio kennt dich. Bildest du dir ein, er spürt nicht dein Fieber? Er schüttelt es von sich ab, als hättest du ihn mit Dreck beworfen. Seine Blicke wiederholen die Vorwürfe, die er dir tausendmal gemacht hat, und du steckst diese unglückselige Hand wieder in die Tasche wie ein kleines Kind und beißt dir auf die Lippen. Du hörst das Echo eurer Auseinandersetzungen. Fabio, der dabei ist, die Wohnung zu verlassen und dir mit eintöniger Stimme predigt: »Das hatten wir schon, Signora, trotzdem vielen Dank! Wir haben schon versucht, Sie aus Ihrem ewigen Einerlei aufzurütteln. Wir hatten schon die großen Abschiedsszenen, wir hatten schon die Tränen, die Hysterie. Wollen wir nicht einmal versuchen, uns wie Erwachsene zu benehmen?« Was kannst du ihm antworten? Du versuchst es schon ein Leben lang, und es ist dir nie gelungen! Du möchtest lieber im Erdboden versinken, bevor es ihm einfallen könnte, tatsächlich etwas so Grausames zu sagen, murmelst ein »Verzeih mir« und weißt nicht einmal für was oder für wen. Aber du hast auch rings um dich herum die Luft vergiftet, Fabio brummt, »Komm, lassen wir das«, während wir uns verlegen abwenden. Du aber hast das gar nicht bemerkt, stehst da und quälst dich, weil du glaubst, dich nicht deutlich genug ausgedrückt zu haben. Komm zurück wann du willst, angenommen er hat es gehört, könnte auch jeder Portier zu ihm sagen. Du kannst es dir leisten etwas ehrlicher zu sein, ein deutlicheres Signal auszusenden. Etwa: ich warte immer auf dich, das ist kein Leben ohne dich, mein Liebster, bleib wenigstens heute Nacht. Jetzt wirst du gleich etwas sagen. Du versuchst dich zu beruhigen, schaust ihn an. Du rufst ihn: »Fabio.« Fabio sieht dich an. Vielleicht stimmt es gar nicht, daß er versuchte, deinem Blick auszuweichen, aber er ist so kalt, so weit weg. »Fabio«, wiederholst du leise. Die Silben bleiben dir in der Kehle stecken, du stehst so nackt und bloß zwischen uns in deinem Jammer. Jetzt sieht auch er, wie es um dich bestellt ist. Er legt seine Arme um dich und fühlt deine Angst. Er sieht deine Haare, wie man ein lang vergessenes Kleidungsstück wiederfindet. Fernandos Sandalen, diese Straßenecken, wo wir uns so oft verabschiedet haben. Eine Ewigkeit haben wir schon gelebt und hören nicht auf zu leben, das Leben geht weiter und weiter, selbst wenn wir seiner längst überdrüssig sind. Sein Blick wird weich, vielleicht wird er dich küssen. Fabio, mein Liebster