Der weite Weg zum Ararat - Roland Pöllnitz - E-Book

Der weite Weg zum Ararat E-Book

Roland Pöllnitz

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Beschreibung

Tauche ein in die magischen Welten von »Der weite Weg zum Ararat«, einem Erzählband, der die Seele berührt. Begleite den Wanderer Robert durch die Wälder des Harzes, des Thüringer Waldes und der Sächsischen Schweiz, wo Vogelgesänge und Hexentänze die Luft erfüllen. In zehn Erzählungen, von der mystischen »Walpurgisnacht« bis zur epischen »Nacht auf dem kahlen Berg«, verwebt der Autor seine Naturverbundenheit mit einer inneren Reise. Eigene Gedanken wachsen zu monumentalen Bildern von Sehnsucht, Träumen und dem Tauziehen mit sich und der Natur. Eingebettete Gedichte bringen Poesie in die Prosa, während scharfe Gesellschaftskritik den Blick auf die Welt schärft. Ob bei Schneestürmen am Brocken oder in der Stille der Tropfsteinhöhlen. Diese Erzählungen sind eine Einladung, den eigenen »Ararat« zu finden: einen inneren Gipfel des Friedens, der Reflexion und der Magie. Ein Buch, das in der Seele bleibt.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis:

Fit wie ein Turnschuh

Helden der Landstraße

Dachs

Brockenwanderung im Schnee

Walpurgisnacht

Schrammsteine

Schneelicht am Gipfel

Im Reich der Berggeister

Der weite Weg zum Ararat

Eine Nacht auf dem kahlen Berg

Vorwort

Willkommen in meinen Welten, in denen Worte wie Wanderpfade durch die wildesten Landschaften und die tiefsten Seelen führen. Der vorliegende Band, „Ararat“, ist mehr als eine Sammlung von Erzählungen – er ist eine Einladung, innezuhalten, zu lauschen und die Schönheit der Natur sowie die Komplexität des Menschseins zu entdecken. Von der stürmischen „Walpurgisnacht“ über die schneebedeckten Gipfel der „Brockenwanderung im Schnee“ bis zur reflektierenden Ruhe von „Eine Nacht auf dem kahlen Berg“ spannt sich ein Bogen, der den Leser durch äußere Abenteuer und innere Transformationen führt.

Diese Erzählungen sind geprägt von einer tiefen Liebe zur Natur, die in jeder Zeile pulsiert – sei es das Zwitschern der Vögel in „Dachs“, die majestätischen Schrammsteine oder der blaue Glanz des Sees in seiner letzten Geschichte. Doch diese Landschaften sind mehr als Kulissen; sie sind Spiegel der Seele, Orte der Selbstfindung und des Friedens, wie es der „weite Weg zum Ararat“ symbolisiert. Gleichzeitig zeigt es gesellschaftliche Abgründe, die Härte des Lebens, die Freude und die Frustrationen der „kleinen Leute“ einfangen.

Was diesen Band auszeichnet, ist seine poetische Kraft, die jede Erzählung durchzieht. Eingebettete Gedichte wie „Der Palast der Erdengeister“ oder „Der blaue See“ verweben Märchen und Weisheit, Hexen und Zwerge mit menschlicher Sehnsucht. Die Sprache ist lebendig, bildhaft und poetisch. Jede Erzählung lädt dazu ein, die eigene innere Landschaft zu erkunden, sei es durch den Kampf gegen die Elemente oder die Suche nach Glück, wie es der Autor im Regen am Ahrendsberg reflektiert.

Dieses Werk ist ein Tribut an die Reise – nicht nur die physische, sondern die des Geistes und des Herzens. Es fordert uns auf, die Natur als Lehrerin zu ehren, die Vergangenheit zu respektieren und die Gegenwart bewusst zu leben. Mit der Fähigkeit, das Alltägliche in Magisches zu verwandeln, schenken uns diese Geschichten Meilensteine auf unserem eigenen Weg zum Ararat, einem symbolischen Berg, in dem wir uns selbst wiederfinden können.

Lassen Sie sich von diesen Seiten leiten, lauschen Sie den Winden des Harzes, spüren Sie die Stille der Höhen und lassen Sie sich von den Worten inspirieren, Ihren eigenen „Ararat“ zu suchen. Dieses Buch ist ein Begleiter für alle, die bereit sind, die Schönheit der Welt und die Tiefe der Seele zu erforschen. Möge es Sie zu neuen Ufern führen – und vielleicht auch zu einem kühlen Bier am Gipfel.

Roland Pöllnitz

Fit wie ein Turnschuh

Am Fuße des Bärensteins liegt, von dichten Wäldern des mittleren Erzgebirges umgeben, das gleichnamige kleine Städtchen unweit der tschechischen Grenze. Das Ferienlager am Stadtrand bestand aus wenigen zweistöckigen Baracken und einem dreigeschossigem Neubau, einer Essensbaracke und einem kleinen Freizeitpark mit Sportplatz. Für Robert war es das letzte Mal, dass er in ein Ferienlager fahren durfte, denn einen Monat später würde er seinen 15. Geburtstag feiern.

So genoss er die Zeit mit seinen neun gewonnen Freunden und den Betreuerinnen Lara, Renate und Babsi, allesamt Lehrerstudentinnen und gefühlt kaum älter als er selbst. Während seines Aufenthaltes hatten sie schon so einiges unternommen. Sie waren ins kleine Erzgebirge nach Annaberg-Buchholz gefahren, um in der Adam Ries Stadt eine Miniaturwelt zu bestaunen. In Frohnau hatten sie das historische Schmiede Hammerwerk mit seinen kolossalen Hämmern besucht. Die Nachtwanderung mit den jungen Betreuerinnen war sensationell.

Im Ferienlager waren jedoch auch jede Menge Mädchen, und Robert neigte dazu, sich instant in mindestens eines zu verlieben. Wäre Margit nicht gewesen, hätte er auch Lara genommen, obwohl sie schon achtzehn war. Die Betreuerinnen waren meistens junge Studentinnen, die ziemlich cool waren und Musik hörten, die Robert auch mochte: The Sweet, Alice Cooper, Gary Glitter, Elton John.

Robert und Max waren die Ältesten Feriengäste, deshalb verbrachten die beiden Jungs einen der letzten Abende gemeinsam mit den Betreuerinnen auf deren Zimmer. Sie saßen zusammen, tranken Gin-Fizz und sprachen über so wichtige Themen wie Mädchen und Küssen. Die Jungen wollten nun in Erfahrung bringen, wie sie es wohl am besten anstellen sollten, ein Mädchen zu küssen. Niemand kann genau sagen, wie es passierte, dennoch kam urplötzlich jemand auf die Idee, das Küssen praktisch zu üben. Lara und Gabi testeten bei den zwei Jungs die Kussfähigkeiten und gaben praktische Hinweise bei der Vervollkommnung der Zungenspiele. Robert und Max fühlten sich im siebenten Himmel. Am liebsten hätten sie die ganze Nacht mit den dreien weitergeknutscht.

Jedoch hatten sie weitaus zarteres Gemüse in ihren Nüstern. Lara schlich mit ihnen die Treppe hinunter und lenkte den wachhabenden Betreuer ab. Lautlos wie die Katzen schlichen die beiden Jungen nun im Dunkel zum Haus der Mädchen, fanden einen Weg am Wächter vorbei, bis sie letztendlich im Zimmer ihrer Süßen ankamen.

Äußerst verhalten öffneten sie die Zimmertür der Mädchen. Robert schlich zu seiner Flamme Margit. Sie hatte langes, dunkelblondes Haar, meerblaue Augen und einen sinnliche Kussmund und war hellwach, als er auftauchte. Es war einfach magisch, wundervoll verboten und herzrasend gefährlich. Doch er musste sie ansehen, ihr Haar streicheln und liebe Worte flüstern.

Zum ersten Kuss gehörte viel Mut. Wie unsicher war er damals mit 15 und was für eine Überwindung hat es ihn gekostet, dem Mädchen, das vor ihm im Bett lag, immer näherzukommen. Vorerst kam dieser Moment des Zögerns. Sie hielten kurz inne, weil sie sich nicht sicher waren: War jetzt wirklich schon der richtige Zeitpunkt? Schließlich berührten sich ihre Lippen. Das Umfeld wurde plötzlich unscharf, und für einen kurzen Moment gab es nur noch sie beide.

Dieser Kuss gab ihnen einen Vorgeschmack auf alles, was in ihren Leben folgen sollte, und Antworten auf so viele Fragen, die sie niemals laut stellen würden. Und so rochen und schmeckten sie einander, fühlten nur den Moment dieses überspringenden Funkens eines jungen, keimenden Liebesgefühls. Dieser Augenblick war einmalig und unwiderruflich. Und genau das war das Magische daran. Es war der schönste Augenblick seinen bisherigen Lebens und er war sich sicher, dass er ihn niemals vergessen würde.

Ein Jahr ging ins Land. Regelmäßig reisten Briefe von Magdeburg nach Rostock und von Rostock nach Magdeburg mit Berichten über den Alltag zweier Jugendlicher. Nichtsdestotrotz landete im Sommer eine Einladung nach Rostock im Briefkasten, die Robert gern annahm.

In dieser Zeit war Robert fit wie ein Turnschuh. Jeden Tag fuhr er eine Stunde mit dem Rad und joggte zusätzlich mit seinem Freund eine Stunde. Damit stand fest, dass er die Strecke nach Rostock mit dem Rad zurücklegen würde. Selbstredend war es kein Elektrofahrrad. Es hatte noch nicht einmal eine Gangschaltung. Es war ein ganz normales 24" Rad in einem leuchtenden Blau.

Es war eine wunderbarere Sommernacht, in der er startete. Kurz nach Mitternacht war er aufgestanden, vollzog die Morgentoilette, frühstückte, packte seine Gepäck auf das Rad und fuhr um Zwei Uhr los.

Die Fahrt fing herrlich an. Alles war stockdunkel zu dieser Uhrzeit, über ihm leuchteten die Sterne, vor ihm der Lichtkegel des Dynamo betriebenen Scheinwerfers. In Heyrothsberge bog er nach Norden ab. Nebelschwaden krochen über die Straße, machten die Welt um ihn gespenstisch. Flüssig strampelte er sich vorwärts und erreicht nach einer Stunde bereits die Kleinstadt Burg.

In der Dunkelheit der Nacht konnte Robert den Weg nicht gleich finden. Ein nächtliche Spaziergängerin half ihm, die richtige Richtung einzuschlagen. Zügig ging es auf der Fernverkehrsstraße voran, auf der ihm um diese Uhrzeit äußerst selten jemand begegnete. Die Muskeln waren frisch und alles verlief in äußerster Leichtigkeit, als schwebte er wie ein Vogel über den Asphalt.

Der kleine Ort Güsen zog sich ein paar Hundert Meter am Elbe-Havel-Kanal entlang, an dessen Ende eine Brücke den Kanal überquerte. Felder und Wälder wechselten sich ab, während im Westen die Elbe gemütlich gen Hamburg strömte. Die laue Sommernacht wirkte wie ein Triebfeder auf den jungen Radler, der bisher ohne Pause durch die Sternennacht strampelte, so dass er bereits nach gut drei Stunden die Kleinstadt Jerichow durchfuhr. Noch hatte die Dämmerung nicht eingesetzt.

Fischbeck lag hinter ihm. Von der nahen Elbe her schwebte weiße Nebelschwaden über die Straße, während der Himmel im Nordosten nach und nach in einem leuchtenden Purpur erstrahlte. Wenig später erlebte Robert in Schönhausen an der Elbe einen fantastischen Sonnenaufgang. Weiter kurbelte er die Pedalen, als wäre er grad gestartet, über Orte mit Namen wie Hohengöhren, Klietz, Scharlibbe, Schönfeld, Sandau, bis er um halb acht in Havelberg an der Elbe anlangte. Zeit für ein Frühstück.

In Havelberg ging plötzlich gar nichts mehr, jeder Tritt wurde zur Qual und der Weg nach Rostock erschien Robert noch unendlich weit. Solch einen Zustand beschreibt man im Radsport als Hungerast. Die Kohlenhydratspeicher waren fast leer und mussten aufgefüllt werden. Bäcker gab es genügend, doch diese hatten keine Getränke im Angebot. Zumindest konnte Robert ein paar Streuselschnecken verputzen,

Der Durst trieb ihn geradewegs nach Norden. Die Sonne lachte ihn von der Seite an. Nach sechs Stunden Fahrt legte Robert an einer einladenden Raststätte kurz vor Pritzwalk eine Pause ein, um seinen Elektrolythaushalt zu korrigieren. Er saß im Garten, genoss seine Cola und träumte ein wenig vor sich hin. Seit Havelberg hatte er das Elbtal verlassen und bewegte sich nun über Ebenen des Prignitzer Lands. Die Sommergerste war bereits geerntet und auch die Roggenernte ging ihrem Ende entgegen. Mähdrescher schleuderten auf den Feldern riesige Staubwolken auf. Zahlreiche Trabants und Wartburgs knatterten in Richtung Norden zur Seenplatte oder weiter zur Ostsee. Die nächtliche Stille war längst vorüber. Robert schloss die Augen. Selbstversunken, weggetreten, in einer anderen Welt, konzentrierte er sich auf die Stille des Sonnenspiels. Glitzerndes Glück huschte über sein Gesicht mit einem Anflug von Ekstase.

Bald schmetterte das Sonnenfeuer vom Zenit seine feierliche Hitze auf die Erde. In der Mittagsstunde radelte Robert gemütlich am Plauer See entlang. Das leicht hügelige Umland mit seinen farbenprächtigen Wiesen, bunten Feldern, ruhigen Wäldern und vielen kleinen und größeren Seen entpuppte sich als ein echtes Naturparadies. Kühlend wirkte der Stadtwald kurz vor Plau, der auch Heimat von Plaulina, der Hexe vom Kalüschenberg, war. Sie schien jedoch ausgeflogen zu sein.

Die abwechslungsreiche Landschaft mit sattgrünen Wiesen, bewaldeten Hügeln, Baumgruppen, Wäldern und idyllisch gelegenen Seen bot vielfältige Möglichkeiten zu schauen und zu genießen. Max Raabe sang später: »Manchmal ist das Leben ganz schön leicht, zwei Räder, und ein Lenker und das reicht.« Wie dieser Künstler empfand auch Robert das Rad als ein sehr angenehmes Fortbewegungsmittel. Er fuhr fast täglich auf seinem Rad ohne Gangschaltung und liebte es, sich zu bewegen, das eigene Tempo durch Muskelkraft zu bestimmen und seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Fahrradfahren war eine Art der Meditation, ein Weg tief in sein Inneres, und es machte ihn glücklich.

Inzwischen war es richtig heiß geworden. Robert ließ die Räder rotieren. Millionen Gedanken schossen durch seinen Kopf, und er erwischte sich, wie er mit offenen Augen meditierte. Die Mecklenburger Seenlandschaft flog an ihm vorüber, als wäre die Landschaft in Bewegung.

Eingebettet in eine typische Fluss- und Seenlandschaft lud Güstrow mit seinen vielen historischen Sehenswürdigkeiten Robert zu einer Pause ein. In einer der vielen urigen Kneipen in der Innenstadt mit ihren großartigen Bauten der Backsteingotik saß Robert und trank genüsslich eine Limonade. In dieser Stadt lebte einst Erst Barlach, der im Auftrag der Preußischen Regierung ein Ehrenmal erschaffen hatte, das im Magdeburger Dom seinen Platz finden sollte.

Ein betrunkener, weißhaariger Mann, der wohl aus der Steinzeit stammte, kam traurig vorbei gehumpelt, sein Gang war leicht schwankend und er hatte zwei Beutel voller Bierflaschen bei sich. Irgendwie schienen ihm seine Gliedmaßen und Sinne nicht so recht zu gehorchen. Da riss ihm der Henkel des einen Beutels.

»Scheiße!«, hörte Robert ihn fluchen.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Robert voller Mitgefühl.

»Scheiße«, sagte er noch einmal, »Wie soll ich den Mist nun nach Hause bekommen?«, wiederholte er.

»Wir könnten die Beutel auf meinem Rad transportieren. Haben Sie es noch weit?«

»Du bist ein guter Junge. Gleich da vorn, eine Straße weiter wohne ich. Wie heißt du?« fragte der Mann.

»Ich bin Robert. Einen Moment, ich hole mein Rad«,

»Du kannst Walter zu mir sagen!«, hörte Robert im Weggehen.

Sie packten die Beutel auf den Gepäckständer und schoben gemeinsam das Rad bis zur nächsten Straße, wo Robert dem Alten seine Getränke bis in die Wohnung brachte.

»Ich danke dir, mein Junge. Wo kommst du her?«

»Heute früh bin ich in Magdeburg gestartet und am Abend werde ich in Rostock sein!«

»Du bist ganz schön verrückt«, sprach der alte Mann.

»Das sagen viele«, antwortete Robert und lachte.

»Dann gute Reise, Robert. Komm gut an!«

Inzwischen hatte der Wind gedreht und wehte ihm aus Norden entgegen. Der Radweg schlängelte sich abseits der Straßen auf alten Saumwegen unmittelbar an dem schmalen, von Bäumen und Büschen begrenzten Weg entlang, doch Robert hatte keinen Blick mehr für die zauberhafte Landschaft. Die Luft war raus. Er quälte sich von Pause zu Pause vorwärts durch die Hügellandschaft. Fast eineinhalb Stunden benötigte er für die knapp 20 Kilometer.

Ab Schwaan radelte er zunächst auf einem separaten Radweg durch Felder nach Norden. Der Weg war schön durch Büsche gefasst. Er passierte Penitz, Bölchow und Papendorf, überwand mehrere Hügel bis fünfzig Meter Höhe und kämpfte sich völlig erschöpft nach Rostock. Drei Stunden hatte er für die letzten vierzig Kilometer benötigt. Kurz vor Rostock legte Robert an einem Restaurant noch eine Pause ein, um eine Soljanka zu essen. Wenig später kam er in Rostock mehr tot als lebendig an. Robert telegrafierte nach Hause, damit die Familie Bescheid wusste, dass er es geschafft hatte.

Robert fühlte sich nun wie Weihnachten kurz vor der Bescherung. Er saß mit großem Herzklopfen auf einem Bank mitten Rostock und wartete auf Margit, die er vor einem Jahr so leidenschaftlich geküsst hatte. Wenig später sah Robert sie von weitem in einem sexy blauen Kleid herantänzeln. Ihr Haar war inzwischen auf Schulterlänge gekürzt. Ihr Lächeln verursachte bei ihm sofort gute Laune, doch die Begrüßung war eher unbefangen.

Gemeinsam fuhren die beiden zu ihr nach Hause. Margits Mutter empfing die zwei und bot Robert ein Bad an. Höchstwahrscheinlich hatte seine permanente Beinarbeit so viel Schweiß aus ihm herausgetrieben, dass er sieben Meilen gegen den Wind müffelte.

Dieses warmes Vollbad war eine wahre Wohltat. Die Wärme entspannte seine Muskeln und damit auch den gesamten Körper. Durch den Auftrieb im Wasser wurde das Eigengewicht seines Körpers aufgehoben. Die Badezusätze wirkten sowohl entspannend als auch belebend. Ein erfrischter, blumiger Robert kehrte lächelnd zu Tochter und Mutter zurück ins Wohnzimmer, um ein deftiges Abendbrot zu genießen.

Das Gespräch der drei rankte sich um Roberts abenteuerlich Fahrt nach Rostock, sein Zuhause und die Familie. Margits Mutter war besonders neugierig, wie Robert schien, was aber auch nicht verwunderlich war, denn ihre Tochter war fünfzehn und er stand kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag. So war ihre mütterliche Achtsamkeit besonders groß.

Ein Stunde später brachten das Duo den Reisenden zu einem Lehrlingswohnheim, wo Margits Mutter ein Zimmer für Robert organisiert hatte. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, fiel er aufs Bett uns schlief augenblicklich ein.

Ein lauter Knall riss Robert aus dem Tiefschlaf. »Was war das?«, fragte er erschrocken, obwohl er die einzige Person im Zimmer war. Schläfrig rieb er sich seine müden Augen. »Hat sich angehört wie Donner«, stellte Robert fest und setzte sich aufgeregt auf die Kante seines Bettes.

Robert hatte keine Angst vor Gewittern, doch das laute Poltern des Donners und die Helligkeit der Blitze boten ein faszinierenden Schauspiel. Langsam schritt Robert zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite und blickte in die drückende Dunkelheit der Nacht.

Schwere Tropfen fielen nieder, beugten Grashalme und Blätter, bis sie wie Stahlkugeln auf den Asphalt der Straße aufschlugen. Verschwommen schien die Szenerie vor dem Fenster, da leuchtete ein weiterer Blitz und rief mit zuckender Bewegung den lange nachhallenden Donner aus den Wolken. Bald folgte Blitz auf Blitz. Nun schien die ganze Natur in einem einzigen Feuermeere zu schwimmen. In immer kürzeren Abständen schien das dröhnende Getöse des geborstenen Weltenkörpers über Robert hinwegzurollen. Es schien, als kreiste das Gewitter mit himmlischen Zorn und rasenden Kräften durch die Nacht.

Entsetzen, wie flammte sich nun der Himmel! Zehn schreckliche Blitze zerflossen in ein furchtbares Feuer, so dass der furchtlose Erdensohn die Hand vor das geblendete Auge hielt und in heißer Faszination den nachfolgenden Donner erwartete, welcher mit grellem stechendem Schall das Weltall aus den Angeln zu werfen drohte. Regen peitschte hernieder als ein barbarisches Wasserspiel, als erneut ein grässlicher Blitz niederfuhr und seine staunende Seele aus ihrer Betäubung aufrüttelte. Mit einem entsetzlichen, das innerste Mark durchschneidenden Schlag raste der folgende Donner am schwarzen Himmel mit nachhallenden Schlägen umher, bis das Unwetter nach und nach in die Dunkelheit der Sommernacht davonschlich.

Die Tag dämmerte kühl und frisch herauf, als Robert gleichzeitig gedankenvoll und gedankenleer aus dem Fenster seines Zimmers blickte und die lauen Luft einatmete, die durch das offene Fenster drang. Fern waren die zuckenden Blitze der Nacht. Der Tag strahlte in einem seltsamen Glanz der aufgehenden Sonne. Robert blickte sehnsüchtig den vorüberfliehenden Wolken nach und freute sich kindisch, wenn er aus den unbestimmten Formen derselben einen Drachen oder einen Riesen herausgrübeln konnte. Erst in diesem Augenblick realisierte er, dass er in einer ihm fremden Stadt war und warum er hier weilte.

Dem Frühstück schloss sich ein Einkaufbummel an. Robert und Margit schlenderten durch die Innenstadt und kehrten in der Jugendmode ein. Hosenanzüge und Miniröcke waren in dieser Zeit der Renner.

Zwei Jahre zuvor wurde in der Hauptstadt Berlin das Theaterstück »Die neuen Leiden des jungen W.« von Ulrich Plenzdorf aufgeführt. Die Schauspieler trugen Jeans. Das Stück brachte den Hunger einer ganzen Generation nach diesem Kleidungsstück zum Ausdruck. Im Reisejahr wurden im Süden der DDR die ersten Jeans produziert. Allerdings waren sie aus braunem Cord. Ihr offizieller Name war »Doppelkappnahthose«. Es gab schon immer Menschen, die dazu neigten, aus wohlklingen Worten Monsterbegriffe zu kreieren.

Robert saß auf einem Stuhl, während Margit verschiedene Hosen anprobierte. Und irgendwie kam er sich vor wie beim Blusenkauf von Otto Reuter: »Wenn Frau'n was kaufen, geht das flink, ich weiß, wie's meinem Freund erging, der, jung vermählt, wollt in der Früh mal ins Büro, da sagte sie: "Lass mich ein Stückchen mit dir gehen" - dann blieb sie vor ´nem Laden stehn. "Komm, gib mir's Geld - bin gleich zurück, es dauert nur ´nen Augenblick. Bleib draußen", sprach Frau Suse, "ich kauf mir bloß ´ne Bluse."«

Robert war verschossen in Margit. Es machte ihm nichts aus zu warten. Als sie schließlich aus der Kabine heraustrat, lobte er ihre reizende Figur, die durch die chice Hose durchaus betont wurde.

»Die Hose ist echt fetzig. Du solltest sie nehmen!«, brach es aus Robert heraus.

»Meinst du?«, Margit war nicht ganz sicher.

»Du siehst einfach kolossal aus, Margit! Das kannst du für bare Münze nehmen. Die oder keine!«

»Wenn du meine Meinung hören willst«, mischte sich eine Verkäuferin ein, »dein Freund hat recht. Du siehst sagenhaft aus!«

Zum Mittag saßen alle am Tisch vereint: Margits Mutter, ihr Vater, Margit und Robert. Aus einer Terrine dampfte Grüne Bohnensuppe. Der Vater blätterte im Neuen Deutschland. »Die sommerlichen Temperaturen der letzten Tage erreichten am gestrigen Freitag in der DDR einen Höhepunkt. Ein seit Jahren im Harz nicht gekanntes Maximum zeigte die Quecksilbersäule in Wernigerode über 30 Grad. Das hochsommerliches Erntewetter mit tropischen Temperaturen ermöglichte am Freitag in allen Teilen der Republik ein gutes Vorankommen bei der Bergung des Brotgetreides.«

»Da hast du eine großartige Leistung vollbracht, Robert«, eröffnete der Vater das Tischgespräch.

»Gut, dass ich so früh aufgebrochen bin. Am Ende war ich sichtlich erschöpft von der Anstrengung. Das Wetter selbst hat mir nicht so viel ausgemacht. Ich liebe die Sonne.«

Der Vater nickte lebenserfahren.

»Möchtest du noch etwas Suppe, Robert«, fragte Margits Mutter plötzlich, um die Stille zu überwinden.

»Ja, danke, ein klein wenig.«

Sie saßen schweigend und löffelten. Einmal war Robert, als hätte Margit ihm zugelächelt. Da er sich nicht ganz sicher war, lächelte er vorsichtshalber zurück.

»Was habt ihr beide denn heute noch vor?«, erkundigte sich der Vater, während er weiter im ND blätterte.

»Wir wollen heute Nachmittag ins Kino gehen, Papa. Dort zeigen sie einen neuen DEFA-Film«, antwortete Margit beherzt.

»Dann wünsche ich euch noch viel Vergnügen, ihr beiden!«, er stand auf, nahm seine Zeitung mit und legte sich auf die Couch.

Robert und Margit gingen in die Nachmittagsvorstellung. Dieser Kinobesuch hatte mit Sicherheit längerfristig positive Folgen, vor allem weil die beiden in vielerlei Hinsicht durch »Wie füttert man einen Esel« zum Lachen gebracht wurde. Die Bilder, die Geschichten, die Schauspieler und die Musik weckten Empfindungen in ihnen. Sie lösten Gefühle aus, brachten sie zum Lachen. Die Szenen wandelten die Gefühle, waren flüchtig oder intensiv. Die beiden fühlten sich derartig präsent, dass sie glaubten, dabei zu sein. In diesem dunklen öffentliche Raum war der Ort, an dem die Zuschauer, jeder für sich und doch gemeinsam im Raum, ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten. Als Fred Delmare bereits am Anfang des Films seine Mundharmonika verschluckte, ging ein flammendes Gelächter durch den Saal, obwohl der Protagonist ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Hauptheld Fred, gespielt von Manfred Krug, bekam die Ersatzbeifahrerin Jana zugeteilt, mit der er als Fernfahrer nach Bulgarien fuhr. Der Macho, der in jedem Städtchen ein Mädchen hatte, verliebte sich letztendlich in seine Begleitung. Es war eine unterhaltsame Liebesgeschichte, überwiegend kurzweilig und heiter erzählt mit musikalischer Untermalung.

»So eine Tour nach Bulgarien wäre auch etwas für mich. Jeden Tag etwas Neues sehen. Am Morgen nicht wissen, wo man am Abend ist. Immer in Bewegung«, begeisterte sich Robert nach dem Kinobesuch. »Und in jedem Städtchen ein Mädchen, das wäre es, nicht wahr?«, lachte Margit ihn an.

»Du kannst gern mitkommen, Margit. Prag, Budapest, Bukarest, das Schwarze Meer. Das könnte mich schon begeistern. Ich liebe es, wenn ich am Morgen noch nicht weiß, wo ich am Abend bin.«

»Ich weiß nicht. Zwei Wochen am Balaton würde mir auch gefallen. Aber immer unterwegs zu sein, ist nicht mein Ding!«, automatisch ließ Margit Rolands Hand los, »Ich möchte schon wissen, wo ich abends schlafe, mich waschen kann und esse.«

»Das Leben ist doch voller Überraschungen. Stell dir vor, unterwegs triffst du auf jemanden, der aufs Land zu einer Hochzeit fährt in die Karpaten und dich einlädt mitzukommen. Oder das Auto, mit dem du trampst, hat eine Panne, und man bietet dir ein Bett im Heu einer Scheune an? Oder du landest plötzlich ganz wo anders, weil der Fahrer einen besonderen Ort voller Magie kennt? Ich wäre sofort dabei!«

»Das wäre nichts für mich. Ich brauche einen gewissen Komfort: chice Sachen, einen Strand, an dem ich meinen Bikini ausführen kann, eine Eisdiele, eine Disco und eine Wiese, auf der ich mich wie ein Steak grillen kann. Vor allen möchte ich mich entspannen«, entgegnete Margit mit Nachdruck.

»Du kämst also nicht mit?«, hakte Robert zaghaft nach.

»Auf jeden Fall nicht jetzt. Da bin ich sowieso zu jung.«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, triumphierte Robert.

»Mach dir mal keinen Kopf. So weit sind wir noch lange nicht! Bevor ich 16 bin, lassen mich meine Eltern in keinem Fall allein auf die Reise gehen, schon gar nicht mit einem Jungen. Es ist doch schön, dass wir gemeinsam ins Kino durften.«

Letztendlich saßen alle gemeinsam am Abendbrottisch, sprachen beim Schmieren der Brote über den Tag und die Erlebnisse im Kino. Der Vater trank ein Bier, alle anderen Limonade. Alle schmatzten und waren guter Laune.

Das Fernsehen zeigte am Abend die dänische Komödie »Die Olsenbande läuft Amok«. Zu Beginn des Films wollte die Olsenbande die Tageseinnahmen eines Kinos stehlen, was wie immer misslang. Wieder einmal schaffte es Egon nicht, rechtzeitig zu flüchten, wurde verhaftet und erst acht Monate später aus dem Gefängnis entlassen. Diesmal holte ihn niemand vom Gefängnis ab, denn seine Bandenmitglieder Kjeld und Benny hatten sich von ihm losgesagt. Nach einer Reihe abenteuerlicher Missverständnisse versöhnten sich die drei wieder. Egon konnte nun endlich beginnen, mit Benny und Kjeld seinen eigentlichen Plan vorzubereiten. Letztendlich ging es wieder um eine Millionensumme, die aus einem Tresor von Franz Jäger aus Berlin entwendet werden musste – und wie das das Pech in dieser Kriminalkomödie auch spielte, letztendlich in der Müllverbrennungsanlage verbrannt wurde. Tragikomisch wie immer. Immer wieder füllte Gelächter und Begeisterung das Wohnzimmer, Robert hatte sogar das Gefühl, als würde der gesamte Wohnblock vor Lachen vibrieren. Diese drei Helden waren für eine heitere Stunde einfach prädestiniert.

Kennt ihr das, wenn die Eltern die Fotoalben herausholen, um sie Fremden zu präsentieren? Margits Mutter tat es. Margit versank fast im Boden, als ihre Mutter voller Stolz die Fotos der Jugendweihe zeigte. Die Mädchen im Minirock mit hoch gesteckten Frisuren, die Jungs in Anzügen mit Hemd und Krawatte oder Rollkragenpullover, die Haare bedeckten die Ohren. Robert kam es wie eine Ewigkeit vor. »Du sahst sehr elegant aus, Margit«, platze Robert heraus.

»Siehst du, Robert sagt das auch!«, fühlte sich die Mutter bestätigt.

»Mama!«

»Was hat sie nur?«, dachte Robert für sich und entschied dann, sich in die Nacht zu verabschieden.

Robert schlug die Augen auf. Die Sonne kitzelte ihn an der Nase und seine Ohren vernahmen den lieblichen Gesang der Vögel. Frisch, fromm, frei und fröhlich begab er sich zu Margit, um mit ihr diesen heiteren Vormittag in sonniger Gelassenheit zu verbringen.

»Hast du Lust zu tanzen? Dann lass uns heute Nachmittag nach Warnemünde fahren. Die Diskothek Daddeldu im Keller vom Hotel NEPTUN ist die erste Diskothek in der DDR. Der Discjockey Käpten James macht wirklich fetzige Musik«, schlug Margit vor.

»Das klingt nach einem guten Plan. Was macht eigentlich dein Vater?«, wechselt Robert das Thema.

»Wahnsinnig interessantes Thema«, entgegnete sie etwas verdrießlich. Er ist Kapitänleutnant bei der Marine. Er fährt auf einem Küstenschutzschiff auf der Ostsee und bewacht die Grenze. Im Grunde scheint er recht harmlos. Doch manchmal, wenn er rotsieht, dann wird er zum Tier«, jetzt lachte sie, »er liest das Neue Deutschland, weiß, wohin der Hase läuft, plant, alles, was er tut, spart emsig und ist ein vorbildlicher Zeitgenosse. Er ist mit sich im Reinen und so herrlich normal, ordentlich und vernünftig. Also genau das Gegenteil von dir.«

Margit hatte sich mit dem Rücken auf die Couch gelegt und blickte lächelnd zur Decke und fragte fast so nebenbei.

»Und deiner?«

»Im Grunde weiß ich gar nicht viel. Er fährt morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit und kommt abends wieder«, lachte Robert, »nein, im Ernst er ist für die Militärbeförderung auf Eisenbahnen im Bezirk Magdeburg mitverantwortlich. Etwas Aufregendes hat er mir noch nie berichtet. Wahrscheinlich ist es geheim. Ansonsten scheinen sich unsere Väter nicht sehr zu unterscheiden. Er ist sehr naturverbunden. Früher fuhren wir öfter mit dem Fahrrad in den Rote Horn Park und in den Herrenkrug. Jetzt bin ich lieber allein unterwegs. Er hat mir die Liebe zum Lesen vermittelt, ist aber eher streng und vorsichtig, eine Erlaubnis zu erteilen, und er hat seine Prinzipien. Doch so etwas wie meine Tour nach Rostock stimmte er zu.«

Margit dreht sich langsam zu Robert um: »Und deine Mutter?«

»Schwieriges Thema, Margit. Meine Mutti hat ihren Ehrgeiz auf mich ausgeweitet. Sie möchte stets, dass ich der Beste in der Schule bin, der bravste Sohn auf Erden, der kleine Mozart der Familie, der fleißige Helfer im Hause und das Kindermädchen für meine Brüder. Wenn ich beim Fahnenappell eine Urkunde bekomme, glaubt sie selbst, im Rampenlicht zu stehen. Entspreche ich nicht ihren Erwartungen, muss ich damit rechnen, gerecht bestraft zu werden. Schließlich bin ich ihr eigen Fleisch und Blut, und sie bestraft mich natürlich nur aus Liebe. Ständig macht sie mir ein schlechtes Gewissen. Geht sie zur Elternversammlung, fragt sie mich vorher, ob ich etwas zu beichten hätte, damit sie selbst nicht blöd dasteht, falls irgendwer irgendwas über mich sagen würde.«

Margit schaute ein wenig entsetzt. Anscheinend hatte sie mit Roberts Antwort nicht gerechnet. Stattdessen lachte sie unvermittelt auf und sagte: »Das reicht, du solltest dankbar sein, dass du heute hier bist. Ich bin ehrlich nett zu dir und freue mich, dass du da bist. Lass uns in die Küche gehen. Ich brate ein paar Schnitzel!«

»Gute Idee. Mir ist es wichtig, meine eigenen Erfahrungen zu machen und meine eigenen Grenzen auszutesten, ohne dass es jemanden gibt, der mir vorschreibt, was ich zu tun oder zu lassen habe. So wie auf meiner Tour hierher. Sechzehn Stunden Fahrt und nur ich selbst habe bestimmt, wo es langgeht. Ich selbst war meine Grenze.«

Wie ein großes, weißes Segel grüßte das Neptunhotel am Strand der Ostsee. Drei Jahre zuvor hatte das weiße Haus am Meer seine Türen für seine ersten Gäste geöffnet. Damals stand die gesamte Mannschaft, vom Pagen bis zum Hoteldirektor herausgeputzt, hochmotiviert und aufgeregt am roten Teppich.

Nur etwa 20 Minuten benötigt die S-Bahn vom Zentrum Rostocks nach Warnemünde. Margit und Robert spazierten vom Bahnhof über die Brücke am alten Strom zum Hotel. Die Sonne schien so prall, als wollte sie die beiden einladen, schwimmen zu gehen. Direkt auf der Strandpromenade, an der Mündung der Warnow in die Ostsee, reckte sich der alte Leuchtturm in den Himmel. Gleich nebenan hatte der Teepott seinen Platz, ein weiteres Wahrzeichen Warnemündes. Dieses Gebäude bestach mit dem geschwungenen Dach und einer Glasfassade, ähnlich der Hyparschale in Magdeburg. Beide Gebäude stammten vom König des Betonschalenbaus, Ulrich Müther, und beherbergten Geschäfte und Restaurants.

Plötzlich waren die beiden mitten im Geschehen. Sie standen zwischen jungen Leuten und nahmen alles in sich auf. Käpten James hatte die Puhdys aufgelegt. Die ersten Tänzer ließen ihre Hüften kreisen, warfen die Hände in die Lüfte und wackelten mit den Po. Robert gefiel der kleines Saal mit den kleinen runden Tischen und den langen Tischen, die an Ketten von der Decke hingen, die Lichtorgel, die im Takt die Farben wechselte und die großartige Stimmung. Er ließ sich vom Rhythmus mitreißen, tänzelte mir Margit zur Bar und bestellte, als hätte er in seinem Leben nichts anderes getan, zwei Wodka-Cola. Was für ein Tag! Wie eine Ohrfeige verspürte er die Forderung der Bedienung, die 6,60 Mark verlangte.

»Sieh dir das Leben an!«, sprach er zu Margit, »Was für eine verdammt fetzige Musik, an einem fetzigen Ort – und wir beide mittendrin. Margit, wir müssen loslegen und nicht stillstehen. Das Leben ist ein Tanz!«

Margit schaute ihn mit großen Augen an:

»Mach mal langsam. Wir sind eben erst angekommen und sollten erst einmal austrinken.«

Doch da hatte der DJ bereits Nina Hagens Du hast den Farbfilm vergessen aufgelegt. Die Tanzfläche hatte sich sofort gefüllt. Im erhitzten Zweilicht wanden sich die jungen Leiber, zappelten die Arme, glühte die zügellose Leidenschaft in den Augen. Die Füße stampften dröhnend wie eine Armee Soldaten, bis alle grölend mitsangen: »Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael…«

»Los, komm!« Robert nahm Margit an die Hand, sprang mit ihr ins Gewühl und ließ sich von der hypnotisierenden Atmosphäre mitreißen. Fast geistesabwesend starrte er mit wilden, geweiteten Augen ins Leere und gab sich mit psychedelischen Zuckungen der selbstzufriedenen Ekstase hin. Weiter ging es mit den Puhdys und ihrem stampfenden Hit von der Legende von Paul und Paula. Robert spürte nur noch sich, das rhythmische Stampfen und eine unbändige Lebenslust. Es gab immer noch ein Mehr. Es gingt immer noch ein bisschen weiter – niemals zu Ende. Margit und Robert wanden sich, verrenkten sich, glühten vor Begeisterung, als würde die Musik die beiden und die ganzen Welt umarmen und ihre Seelen in großer Freude für sich vereinnahmen. Sie fanden sich, sie verloren sich, sie rangen mit sich, sie kreisten, sie wirbelten, sie lachten, sie schwitzten, sie stöhnten und feuerten sich gegenseitig an, weiterzumachen, weiter und weiter, als gäbe es kein Morgen, bis um sechs Uhr abends alle aus der Disco in das pralle Strandleben des Warnmünder Strandlebens hinausgespült wurden, um das Leben hinauszutragen ins Licht, bis erneut der wilder Tanz begänne.

»Mannomann, da hat der Ringelnatz aber ein gute Werk getan«, begeisterte sich Robert.

»Wie kommst du jetzt auf Ringelnatz?«, entgegnete Margit verblüfft. »Er ist schließlich der Namensgeber der Disco«, entgegnete Robert triumphierend und fragte grinsend, »Und was machen wir nun mit dem angebrochenen Vormittag?«

»Da habe ich ein wirklich fetzige Idee. Ich sage nur Strand Eisdiele! Etwas Besseres gibt es in der ganzen Republik nicht!«, jubelte Margit. »Da bin ich dabei. Du scheinst mich zu kennen. Mein Rekord liegt bei zehn Kugeln!«, lachte Robert.

»Du bist verrück!«

»Klaro und darauf bin ich stolz! Was haben Alexander der Große, Goethe und ich gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Doch in kulinarischer Hinsicht teilen der Feldherr, der Dichter und ich etwas miteinander: die Vorliebe für Eis.«

»Die Hübeners von der Strand Eisdiele sind seit 1946 für ihr leckeres Eis in Warnemünde, ja in ganz Rostock und Umgebung bekannt. Die gut gehüteten Rezepte der Gründerin bilden auch heute noch die Grundlage der leckeren Eisvariationen«, erklärte Margit, als sie die Eisdiele in der Georginenstraße, Ecke Alexandrinenstraße erreichten. Robert war über die vielen Eissorten erstaunt. Neben Vanille, Schoko und Erdbeer gab es auch Nuss, Kirsch, Holunder und weitere Sorten. »Komm, setzen wir uns. Ich gebe einen Eisbecher aus!«, verkündete Robert, »Was möchtest du?«

»Den Vanilleeisbecher mit heißen Himbeeren mag ich besonders gern«, erklärte Margit.

»Gut, dann nehme ich den leckeren Schokobecher mit besonders viel Sahne«, bestellte Robert, ohne lange zu überlegen.

»Psychologen sollen aus den Eisvorlieben eines Menschen auf seine Vorlieben in Sachen Liebe Rückschlüssen gezogen haben und daraus gefolgert, dass die Eisdiele sicher ein geeigneter Platz für das erste Rendezvous sein müsse. Vorsicht sei geboten bei sogenannten Eisbeißern geboten, sie seien sehr impulsiv, zielstrebig, kreativ, aber leider auch untreu«, lachte Robert.

»Und wie isst du dein Eis?«

»Das wirst du selbst beurteilen können, Margit, denn da kommt es bereits.«

»Weißt du, ich mag Eis in jeder Form – als Kugel oder am Stiel. Beides schmeckt herrlich. Ich schlecke gern mein Eis mit der Zunge oder mit dem Löffel, das ist situationsabhängig. Ich bringe sowohl Eis als auch Herzen zum Schmelzen. Ich mag aber auch Becher und Löffel. Den gebe ich nicht ab. Nein, nicht so schnell. Kommt gar nicht in die Tüte. Aber ein Eisbeißer bin ich nicht! Meins ist einfach köstlich«, Robert grinste

»Ich liebe diese heißen Himbeeren auf aromatischen Vanilleeis. Das schmeckt mir einwandfrei. Jedes Mal, wenn ich hier bin, genieße ich diese Delikatesse, Robert«, erwiderte Margit schlemmend.

Robert fühlte sich wie jemand, der intensiv lebte und in jedem Augenblick alles fühlen konnte, alles sehen und alles hören und so lebte wie zwei, drei Menschen gleichzeitig, als ob sich seine Augen, Ohren, seine Hände vermehrt hätten. Er war bereit, die Welt zu umarmen. Und am liebsten hätte er mit Margit angefangen, die ihm gegenübersaß und versonnen ihr Eis löffelte. Er spürte ein Kribbeln in sich aufsteigen fand sie aus der Nähe noch erstaunlicher, noch anziehender und noch geheimnisvoller als vor einem Jahr. Von Zeit zu Zeit blickte sie ihn aus ihren tiefblauen Augen zurück, und er meinte, Flammen zu verspüren. Am liebsten hätt er sie sofort geküsst, wagte sich jedoch nicht.

So fuhren sie schweigsam und kusslos zurück nach Haus. Es war, als schwebte zwischen ihnen eine stille Traurigkeit, die ihnen die Luft zum Reden und den Mut zum Küssen genommen hatte. Eigenartig still ging es auch beim Abendbrot zu, so dass Robert schweren Herzens beschloss, sein Internatszimmer aufzusuchen.

»Warte, ich bringe dich noch zur Tür«, rief Margit plötzlich heiter.

An der Hauseingangstür kamen die beiden auf den Unterschied zwischen Freundin und Freundin zu sprechen.

»Meinst du, dass zwischen uns ist eher eine lockere Freundschaft? Oder glaubst du, da ist etwas mehr?«, fragte Robert.

»Es ist ein schönes Gefühl, mit dir zusammen zu sein, ich spüre gern deine Nähe. Alles ist so eigenartig. Auf der einen Seite, möchte ich dich gern berühren, dann wieder traue ich mich nicht. Was meinst du?«

»Ich wäre dir am liebsten viel näher und mag dich wirklich sehr, Margit. Ich habe viel an unsere Küsse in Bärenstein gedacht. Und nun bist du noch viel hübscher.«

Sein Herz schlug schneller. Margit schaute ihn aus ihren tiefblauen Augen an. Sie trug einen helle Bluse, einen blauen Rock und ein zauberhaftes Lächeln. Und ihre Lippen riefen: Küss mich! Und er küsste sie – zum ersten Mal seit einem Jahr – und hielt sie ganz fest. Er spürte, wie die Hitze durch seinen Körper strömte. Seine Hände zitterten. Er sah nichts. Nur sie. Da war sie wieder, diese ganz besondere Magie.

»Gute Nacht und träume süß«, hauchte er und ging überglücklich nach Hause.

Der frühe Vogel fängt den Wurm, heißt es. In Roberts Fall war es eher so, dass er nach der Morgentoilette seinem Tagebuch die großartigen Erlebnisse der letzen Tage anvertraute. Wenig später kredenzte