Der Wiener Kongress - Wolf D. Gruner - E-Book

Der Wiener Kongress E-Book

Wolf D. Gruner

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Beschreibung

200 Jahre nach Eröffnung des Wiener Kongresses im September 1814 zeichnet der Rostocker Historiker Wolf D. Gruner ein anschauliches Bild des wichtigsten europäischen politischen Kongresses der Neuzeit überhaupt, der nach Napoleon einen ganzen Kontinent mit einem dicken Bündel politisch-territorialer Gemengelagen so weit ordnete, dass die Staaten ihre innere Entwicklung betreiben und ihren Bestand sehr weitgehend über hundert Jahre wahren konnten. Ein europäischer Machtausgleich ersten Ranges.

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Seitenzahl: 305

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Wolf  D. Gruner

Der Wiener Kongress 1814/15

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960598-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019252-8

www.reclam.de

Inhalt

1.  Einleitung: Europa und der Wiener Kongress

2.  Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den europäischen Transformationsprozess (1750–1830)

3.  Europa zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Napoleonischen Empire (1789–1814)

4.  Bedürfnisse und Forderungen für eine europäische Friedensordnung nach den Kriegen

5.  Der Wiener Kongress 1814/15 und die Neuordnung der europäischen Staatengesellschaft

Die deutsche Verfassungsfrage und das Deutsche Komitee 1814

Die Auseinandersetzungen über die polnische und sächsische Frage bis zum Jahresende 1814

Die polnische und sächsische Frage zwischen Krieg und friedlicher Konfliktlösung Anfang 1815

Die Regelung der anderen europäischen und deutschen Territorialfragen

Entstehung und Abschluss der Bundesakte, Gründung des Deutschen Bundes und das Ende des Wiener Kongresses

6.  Ergebnisse und Wirkung des Kongresses

7.  Der Wiener Kongress in der Rezeption durch Zeitgenossen und Geschichtsschreibung

Zeittafel

Abkürzungsverzeichnis

Literaturhinweise

Register

Zum Autor

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

1.  Einleitung: Europa und der Wiener Kongress

Der 80jährige österreichische Feldmarschall Karl Joseph Fürst von Ligne bemerkte im Herbst 1814, wenige Wochen nach Eröffnung des Kongresses, bei dem offensichtlich Feste, Bälle und musikalische Veranstaltungen im Mittelpunkt des Interesses standen, der »Kongress geht nicht voran, er tanzt« (»Le Congrès ne marche pas, il danse«). Sein vielzitiertes Bonmot wurde zu einem geflügelten Wort. Die Zeitgenossen nahmen dieses nicht so ernst. Sie wussten, dass Ligne wegen seiner engen Kontakte zu Marie-Louise, der Tochter des österreichischen Kaisers und zweiten Frau Napoleons, nicht Teil des Wiener Informationsnetzwerkes war. Die Nachwelt übernahm seinen Ausspruch unreflektiert oder in politisch-ideologischer Absicht. Bis in die Gegenwart scheint dieses Bild vom Wiener Kongress und seiner Arbeit, trotz aller Forschungen, noch immer charakteristisch für seine Bewertung zu sein. Der europapolitische Anlass für den Kongress in Wien als »Friedensvollzugskongress« geht dabei verloren. Verdrängt wird auch seine nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Staatengesellschaft, für die notwendige Schaffung einer neues Völkerrecht setzenden europäischen Ordnung, für die Friedenssicherung, für die damit verbundene Stabilität als wichtige Voraussetzung für die Entwicklungschancen Europas im 19. Jahrhundert sowie für das sich zunehmend globalisierende internationale System im langen 19. Jahrhundert. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Wiener Kongress im Prozess der Transformation vom Alten Europa des Ancien Régime zum Europa der Moderne und der Ausbildung industrieller Massengesellschaften eine wichtige Scharnierfunktion besaß.

Das Urteil über den Wiener Kongress fällt je nach der ideologischen oder nationalgeschichtlichen Sehweise aus. In Wien sei eine »gegenrevolutionär-konservative« Ordnung geschaffen worden, die schon wenige Jahre später nicht mehr haltbar war und revolutionär in Frage gestellt wurde. Die Entscheidungen von Wien hätten eine liberale und demokratische Fortentwicklung Europas gehemmt und blockiert. Damals sei der Keim für Konflikte im Spannungsfeld von Reform und Modernität und rückwärtsgewandter, konservativer Beharrung gelegt worden. Der Kongress sei bestrebt gewesen, »die Dynastien wieder in ihre alten Rechte einzusetzen und in Deutschland sowie Italien Konföderationen zu schaffen, die unter der Führung der Habsburger Monarchie stehen sollten«, sowie durch die Nachkriegsordnung eine feste Schranke gegen die »fortschrittlichen nationalen und liberalen Bewegungen in Europa« zu setzen (Karl Obermann). Auch die Hauptakteure auf dem Kongress »ließen sich bei der Regelung der staatlichen Verhältnisse in Deutschland von egoistischen Interessen, von dem Streben nach territorialen Gewinnen leiten« (L.-A. Zak). Sie »formten die Karte Europas ohne jegliche Berücksichtigung der Interessen der Völker um«. Die unterschiedlichen Ziele der europäischen und deutschen Mächte und die Furcht vor neuen revolutionären Erschütterungen ließen sie fortschrittliche Prinzipien verwerfen und den »Befreiungskampf« in Deutschland unterdrücken (L.-A. Zak).

Die europäische Neuordnung von 1815 sollte sich vom Europa Napoleons nachhaltig unterscheiden, doch bewahrte es von diesem »strukturell« viel. Wir haben es daher 1815 nicht mit einer »Restauration« zum Europa des Ancien Régime zu tun. Der Charakter des Europa von 1815 hatte »ein Janusgesicht: restaurativ und rücksichtslos modern zugleich«, denn keiner der Architekten der Neuordnung hatte sich dem Zeitgeist entziehen können. »Keiner von ihnen ist ein reiner Konservativer im ideologischen Sinne gewesen« (Werner Conze).

Aus der Perspektive der internationalen Beziehungen und der europäischen Neuordnung nach den langen und entbehrungsreichen Kriegen gegen die Revolution und Napoleon durfte die Hegemonie Napoleons über Europa nicht durch die eines mächtigen Nationalstaats im Herzen Europas abgelöst werden. Stabilität, Sicherheit und Frieden konnten nur durch ein multipolares neues Gleichgewichtssystem von großen, mittleren und kleinen Staaten und Föderationen mit den Großmächten als europäischem Sicherheitsrat geschaffen werden. Dabei wird deutlich, dass die Wiener Ordnung einem systemischen Wandel im Spannungsfeld von Legitimitätsprinzip und nationalem Interesse unterworfen war, der es dem internationalen System der Nachkongresszeit erlaubte, flexibel auf Krisen und Konflikte zu reagieren, ohne die gesamteuropäische Ordnung zu gefährden.

Bei der Neuordnung der europäischen Staatengesellschaft war es 1815 weder möglich noch wünschenswert, zum Status quo ante von 1789 zurückzukehren. Die Veränderungsprozesse zwischen 1789 und 1815 erfassten nahezu alle menschlichen Lebensbereiche und führten zu tiefgreifenden territorialen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen.

Auf dem Wiener Kongress konnte und sollte aus verschiedenen konzeptionellen Überlegungen als Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation kein deutscher Nationalstaat, wie ihn der Freiherr vom Stein, Ernst Moritz Arndt, die deutsche Nationalbewegung und andere anstrebten, gegründet werden. Mit dem Ende des Alten Reiches befreiten sich die territorial vergrößerten deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die die napoleonische Flurbereinigung überstanden hatten, aus der Zwangsjacke des Alten Reiches und wurden erstmals völkerrechtlich souverän. Sie wurden seit 1806 zu einem berücksichtigenswerten Faktor in der Geschichte des deutschen Mitteleuropa. Mit dem Deutschen Bund wurde 1814/15 eine mitteleuropäische Föderativordnung geschaffen, die den europäischen Interessen und denen der deutschen Staaten am besten entsprachen.

Der Deutsche Bund übernahm in der Wiener Ordnung als Band der föderativen deutschen Nation deutsche und europäische Aufgaben. Er hat bis heute in der deutschen historischen Wahrnehmung als Ergebnis einer an der Gründung des preußisch-deutschen Nationalstaates von 1870/71 orientierten Geschichtspolitik und einer historischen Legitimierung der deutschen Mission Preußens durch die »Reichshistoriographie«, aber auch durch den österreichischen und habsburgischen Reichsgedanken ein negatives Image. Treitschke nannte die Bundesakte des Deutschen Bundes, »die unwürdigste Verfassung, welche je einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrschern auferlegt ward«, und die »Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf«. Die »schattenhafte Bundesverfassung« habe nicht die Kraft besessen, »das Erstarken des einzigen lebendigen deutschen Staates zu hindern – des Staates, der berufen war dereinst ihn selber zu zerstören und diesem unglücklichen Volke eine neue, würdige Ordnung zu schenken« (Heinrich von Treitschke). Hinzu kommt, dass zahlreiche Persönlichkeiten aus der Zeit der Befreiungskriege, beispielsweise Ernst Moritz Arndt mit seinen wuchtigen Versen und Liedern, für die Reichsgründung instrumentalisiert wurden. Auch in der liberalen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts wurden der Deutsche Bund, die mit ihm verbundenen Erwartungen und seine unwirksamen Institutionen kritisiert. Die Organisationsform des Bundes habe die »hochgespannten Hoffnungen der deutschen Nationalisten und Liberalen« enttäuscht. Es wurde die Chance vertan, einen Deutschen Bund zu schaffen, »in dem Liberalismus, Zivilisation und Humanität eine Stätte hätten finden können«. So konnte die Einheit Deutschlands »später nur noch mit Blut und Eisen zusammengeschweißt werden« (Harold Nicolson).

Der wichtige, auch in seiner Langzeitwirkung wegweisende europäische Kongress, der im Oktober 1814 in der Kaiserstadt Wien zusammentrat und im Juni 1815 mit der Unterzeichnung der Akte des Deutschen Bundes und der Kongressakte zu Ende ging, war sehr viel besser, effektiver, interessanter und zukunftsträchtiger als sein Ruf. Er wirkt über die damals entwickelte Organisationsform für die Struktur und die Abläufe von Konferenzen und die damit verbundene Professionalisierung bis in unsere Gegenwart hinein. Der Wiener Kongress als europäisches Ereignis bedeutete daher sehr viel mehr als nur einen »tanzenden Kongress« und die Atmosphäre rauschender Ballnächte, das Erlebnis von Theateraufführungen, von Opern- und Konzertereignissen, Pomp, Galadiners und anderen Vergnügungen. Er schuf die Grundierung für die internationale Ordnung, das zunächst noch weitgehend eurozentrische internationale System im langen 19. Jahrhundert.

Vom Wiener Kongress gingen wichtige Impulse aus. Er war eine zentrale Wegmarke der europäischen Geschichte. Er schuf grundlegende Rahmenbedingungen, die für die Entwicklungen im langen 19. Jahrhundert Europas Katalysatorwirkung besitzen sollten. Er selbst war Ausdruck einer Zeit der Transformation und leistete einen gewichtigen Beitrag für den Weg Europas von einer Konflikt- zu einer Friedensgemeinschaft. Bemerkenswert im Zusammenhang mit dem Ende der langen Kriegsepoche und dem Wiener Kongress war, dass in dieser Zeit und über diese Zeit – und dies ist für Zeiten der Krise, des Umbruchs und der Neuorientierung charakteristisch – zahlreiche Memoiren veröffentlicht wurden und dass eine interessante, über den engeren Bereich der Politik ausgreifende Diskussion über die zu schaffende Nachkriegsordnung für Europa und die damit verbundene Friedenssicherung geführt wurde. Dabei standen in der öffentlichen Diskussion in Form von namentlich gekennzeichneten oder anonymen Schriften und Aufrufen Forderungen zur Bildung eines nationalen Staates neben Europakonzepten für eine europäische Föderation und eine neue Gleichgewichtsordnung.

Für die Analyse und Bewertung der europäischen Neuordnung von 1814/15 ergibt sich ein anderer, neuer Zugriff, wenn das Ende der Revolutions- und Napoleonischen Kriege und die Ausbildung einer veränderten europäischen Staatengesellschaft für die Zeit nach der langen Kriegsperiode nicht allein aus dem Blickwinkel der Politik- und Personengeschichte betrachtet wird, wenn Elemente nationalgeschichtlicher, nationalstaatsbezogener historisch-ideologischer Legitimationszwänge möglichst weitgehend ausgeblendet werden und der Wiener Kongress aus einer europäischen Perspektive als Schnittstelle des europäischen Transformationsprozesses vom 18. zum 19. Jahrhundert bewertet und eingeordnet wird.

Für die Zeit nach 1814/15 von einer Epoche der Reaktion und Restauration zu sprechen ist problematisch und lässt die notwendige Differenzierung vermissen. Eine Betrachtung der »europäischen Sattelzeit« unter strukturgeschichtlichen Aspekten kann daher ein neues, verändertes, faireres und zugleich komplexeres Bild dieser Epoche des Übergangs vermitteln.

Das sogenannte »Zeitalter der Französischen Revolution«, wie bis heute die Epoche zwischen der Großen Französischen Revolution von 1789 und der europäischen Neuordnung von 1814/15 bezeichnet wird, war durch Krisen, Konflikte, tiefgreifende politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, mentale, kulturelle und territoriale Veränderungen gekennzeichnet. Sie beeinflussten und veränderten nachhaltig die Lebensbedingungen der europäischen Völker. Die Zerstörung alter Strukturen, der vertrauten Lebensräume der Menschen, verlangte nach neuen Orientierungen. Der Ausgangspunkt für diese Periode ist unter der Perspektive der Transformation jedoch bereits um 1750 anzusetzen und muss u. a. die Zeit der europäischen Aufklärung einbeziehen.

Der Wiener Kongress war in vielerlei Hinsicht ein zentrales Ereignis in der Geschichte Europas im langen 19. Jahrhundert. Er erhielt eine entscheidende Katalysatorfunktion für den Gang Europas in die Moderne, indem er die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen schuf, beispielsweise eine durch die Wiener Ordnung für die Entwicklung des Königskontinents Europa wichtige lange Friedensperiode ohne großen Krieg, der alle Großmächte einbezog.

Europa hatte in der Periode zwischen 1792 und 1814/15 große territoriale Veränderungen erfahren. Zahlreiche Staaten und politische Einheiten waren verschwunden, u. a. als Folge der napoleonischen Flurbereinigung, oder waren als Folge der zahlreichen Kriege in einen neuen Herrschaftsverbund inkorporiert worden. Diese Veränderungen, die sich auch auf die Wirtschaft, die Gesellschaft und das Leben der Menschen auswirkten, mussten in einer Friedensordnung politisch und auch sicherheitspolitisch berücksichtigt werden. Sie betrafen vor allem die Niederlande, Italien, Polen und das deutsche Mitteleuropa, aber auch Nordeuropa und am Rand sogar den Orient. Einige Probleme an der europäischen Peripherie – in Skandinavien und Südosteuropa – waren weitgehend im Vorfeld der Friedensverhandlungen durch die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und Russland durch Friedensverträge geregelt worden, um die gemeinsamen Kriegsanstrengungen gegen Napoleon nicht zu belasten und einen erneuten Zusammenbruch einer antinapoleonischen Koalition zu vermeiden. Fragen, die auf der Pariser Friedenskonferenz 1814 nicht endgültig gelöst werden konnten oder aus verschiedenen Gründen offenblieben, mussten entweder zwischen dem Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 und dem Beginn des Kongresses in Wien abgeschlossen werden oder erst auf dem Kongress selbst. Dies betraf vor allem die Kolonialfragen. Es lag im britischen Interesse, diese vor dem Wiener Kongress von der Agenda zu nehmen, um mit dem Kolonialthema die Beratungen nicht zu belasten und es vor allem zu verhindern, dass die Seerechtsfragen Diskussionsthema wurden. Verhandlungen zwischen Großbritannien und den Niederlanden regelten im Juni vertraglich abschließend die Frage der Rückgabe von Kolonien. Ein weiteres Problem beeinträchtigte zunächst den Handlungsspielraum für die britische Politik in Wien: der Krieg zwischen Großbritannien und den USA in Nordamerika, der Ende 1814 ohne russische Mediation durch den Frieden von Gent beendet werden konnte. Belastend für die Wiener Verhandlungen wurden die polnische und sächsische Frage. Der Konflikt über die Zukunft Polens und Sachsens eskalierte seit November 1814. Er führte die Großmächte an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung. Die Nachricht über den Streit in der Allianz ermunterte Napoleon, im Februar 1815 aus Elba zurückzukehren und den Kampf um die Macht in Frankreich und Europa erneut aufzunehmen.

Der Wiener Kongress selbst war Ausdruck einer Zeit der Transformation und des Übergangs zwischen dem frühneuzeitlichen Europa des Ancien Régime des 17. und 18. Jahrhunderts und dem Europa der Moderne und der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Der Kongress am Ende der Napoleonischen Kriege ist somit aus strukturgeschichtlicher Perspektive eingebunden in einen komplexen europäischen Veränderungs- und Erneuerungsprozess. Dieser ist auf verschiedene Faktoren und Phänomene zurückzuführen, die in dieser Periode wirksam wurden. Sie sollen hier kurz vorgestellt werden.

2.  Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den revolutionären europäischen Transformationsprozess (1750–1830)

Die Renaissance, der Humanismus, die Glaubensspaltung und die Überseeexpansion hatten Europa seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert politisch, territorial, gesellschaftlich, konfessionell, ökonomisch, mental und in der Selbstwahrnehmung verändert, einen Säkularisierungsprozess eingeleitet und den Aufstieg Europas vorbereitet. Sie läuteten das bis zum Ersten Weltkrieg andauernde »europäische Zeitalter« ein. Die politische, wirtschaftliche, militärische, gesellschaftliche und kulturelle Europäisierung der Welt mit unterschiedlichen Akteuren zu verschiedenen Zeiten seit dem 16. Jahrhundert ermöglichte nach einer längeren geistigen Vorbereitung den Aufbruch Europas in die Moderne, charakterisiert durch ein neues Menschenbild und ein modernes Bild der Gesellschaft. Beigetragen hatte hierzu u. a. die Verlagerung der europäischen Haupthandelswege vom Mittelmeer und von Mitteleuropa hin zum Atlantik und seinen Seehäfen. Die Erträge aus dem Überseehandel schufen die finanziellen Rahmenbedingungen für den Prozess der Modernisierung. Die Zentren der Innovation und des technologischen Fortschritts verlagerten sich an die West- und Südwestküsten Europas. Die alten innovatorischen Handelszentren verloren ihre Rolle und Bedeutung. Sie konnten ihre Standortnachteile erst seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert durch Verbesserungen in der Technik, durch den Einsatz von Maschinen, durch neue Mittel der Kommunikation sowie durch neue Transportmittel und den Kanal- und Eisenbahnbau allmählich ausgleichen. Vor diesem Zeitpunkt, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, standen Süd-, Mitteleuropa und in noch höherem Maße Osteuropa in anderen Entwicklungs- und Modernisierungszusammenhängen als Westeuropa. Um 1800, in der europäischen Sattelzeit, wurden die Auswirkungen dieses Entwicklungsgefälles zwischen West-, Mittel- und Osteuropa deutlich.

Welche Einflussfaktoren bestimmten und bedingten den nachhaltigen Transformationsprozess Europas und damit auch die Strukturen der künftigen europäischen Ordnung, der Staatengesellschaft und des internationalen Systems? Neben der Neuorientierung der Handelsströme und der Ausbildung von Kolonialreichen in Übersee sowie dem Aufschwung des Seehandels waren der Aufstieg des Bürgertums in diesen Staaten, die nachhaltigen Veränderungen bei den finanziellen Ressourcen der einzelnen Länder sowie des verfügbaren Finanzpotentials wirtschaftlich, sozial und politisch bedeutsam. Antriebskräfte der Veränderungen seit dem frühen 18. Jahrhundert waren die Agrarrevolution, die wissenschaftlich-technologische Revolution – neben der Entwicklung der Dampfmaschine gekennzeichnet durch die »Spinning Jenny«, durch Erfindungen und Entwicklungen in der Chemie und durch die Gründung der ersten Technischen Hochschulen – und die von den Britischen Inseln ausgehende Industrialisierung und Industrielle Revolution. Grundlegend war es in diesem Zusammenhang für die weitere Entwicklung, dass die genannten Erfindungen – »Symbole« der Industriellen Revolution und wichtige Voraussetzungen für die europäische Industrialisierung – sich wirtschaftlich durchsetzen konnten, d. h., dass für diese technischen Innovationen »eine bestehende oder zumindest latente Nachfrage nach dem Produkt, für dessen Herstellung Maschine oder Verfahren benutzt werden können, und die Wirtschaftlichkeit ihrer Anwendung« (Christian Kleinschmidt) entscheidend war. Hinzu kommt u. a. die durch die Fortschritte in der Medizin und in der Hygiene sowie durch verbesserte landwirtschaftliche Anbaumethoden bedingte demographische Revolution, gekennzeichnet durch nachhaltiges Bevölkerungswachstum. Zu berücksichtigen sind auch die Wirkungen der europäischen Aufklärung, der Wissenschaften und der Anfänge einer Wissensgesellschaft. Kennzeichnend waren die Gründung von Akademien, das Zusammentragen des verfügbaren Wissens in Enzyklopädien sowie die Gründung und Einrichtung von Museen unterschiedlichsten Charakters. Sie alle trugen entscheidend zu den gesamtgesellschaftlichen Veränderungen bei.

Für ein neues Politikverständnis, das im Sinne Montesquieus eine Partizipation des einzelnen am politischen Prozess und die Gewaltenteilung forderte, sollte die transatlantische Doppelrevolution – die Gründung der USA als Demokratie und Republik in Nordamerika sowie die Französische Revolution von 1789 in Europa – stehen. Sie hatte nachhaltige Wirkungen auf die europäische Staatenwelt, auf die Idee von der Nation und das Ideal, dass die Nation als Großgruppe in einem nationalen Staate zusammenfinden sollte, aber auch hinsichtlich der Idee der Partizipation des einzelnen am politischen Entscheidungsprozess für das Gemeinwesen, die res publica.

Hinzu treten in der Periode des Wandels vom Alten Europa zum Europa der Moderne die Transformationen im kulturellen Bereich. Zu nennen sind der Übergang in der Literatur, in der Malerei, in der Skulptur und in der Plastik von der Klassik zur Romantik, von der Übereinstimmung von Inhalt und Form und der Annäherung an das griechische Kunstideal als Abkehr von der Strenge der Klassik und Aufklärung, die Flucht in die Phantasie, die Märchen, Sagen und Mythen, verknüpft mit der Sehnsucht nach Natur und der Idealisierung der Vergangenheit. Die bildenden Künste der Romantik und des Klassizismus waren eng mit den philosophischen Antriebskräften ihrer Zeit verknüpft. Sie waren aber zugleich ebenso tief in die neuzeitlichen Denktraditionen eingebunden. Die Malerei der Romantik, für sie steht insbesondere Caspar David Friedrich, bediente die gleichen Sehnsüchte und Motive wie die Literatur und wurzelte vielfach in einer tiefen Religiosität. In der Form der Erweckungsbewegung sollte die Religiosität schließlich auch stark in den politisch-staatlichen Bereich hineinwirken.

Bedeutsam für die europäische Sattelzeit um 1800 und ihre Ausstrahlungen in das 19. Jahrhundert hinein waren auch die Architektur und die Musik. In der Architektur kam es zu einer Abkehr vom alten Formenkanon. Im Gewerke- und Siedlungsbau eröffneten sich neue Arbeitsfelder. Im 18. Jahrhundert erfolgte auch eine Trennung von Baukunst und Ingenieurkunst. Die Entwicklungen im Ingenieurwesen, die Ausbildung von Ingenieuren an Technischen Hochschulen, die Erfindung und der Einsatz von neuen Baustoffen und damit auch neuen Techniken eröffneten weitere Möglichkeiten, neue Bauformen zu verwirklichen. Diese wurden vor allem im zunehmend wichtiger werdenden Gewerbe- und Industriebau, im Brückenbau, aber auch beim Bau repräsentativer öffentlicher Gebäude eingesetzt. Es kam schließlich zu einer Vermischung moderner bautechnischer und architektonischer Methoden und von Ansätzen mit romantisierenden Neoformen, wie dem Historismus, der Neugotik und der Neorenaissance.

In der Musik vollzieht sich zwischen 1750 und 1850 der Übergang von der Musik des Barock zur Musik der Klassik und schließlich der Romantik. Diese Prozesse überlagern sich teilweise. Charakteristisch für diese Epoche wurde es, dass sich neben der Barockoper die bürgerliche Oper etablierte. Mittelpunkt des musikalischen Lebens bildete nicht mehr die ihrem Charakter nach mythologisch-historische fürstliche ›Ausstattungsoper‹. Im Vordergrund stand auch nicht mehr die kirchliche Musik. Wie in anderen Bereichen fand auch in der Musik eine Säkularisierung statt. Diese bedingte, dass sich die Instrumentalmusik in Form von Symphonien, Trios und Quartetten etablierte. Wegweisend wurde Joseph Haydn. Er machte die Instrumentalmusik zu einer eigenen und anerkannten Gattung. Dadurch eröffneten sich für die Komponisten neue Möglichkeiten und Formen, etwa durch die Hausmusik, die Salons und die Musikgesellschaften. Die Musik büßte ihren ›exklusiv aristokratischen Charakter‹ ein, denn durch die Hausmusik wurde vor allem auch das aufstrebende Bürgertum erreicht. Das Mäzenatentum veränderte sich ebenfalls. Während des Kongresses kam es in Wien, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem Zentrum der europäischen Musikwelt entwickelt hatte, zur Uraufführung von Ludwig van Beethovens Kantate Der Glorreiche Augenblick, in der der Wiener Kongress gefeiert wurde. Beethoven erhoffte sich vom Kongress für seine Arbeit als Komponist finanzielle Vorteile und komponierte verschiedene Stücke. Die musikalisch exzellente Kantate Beethovens geriet aber wegen des »mediokeren Textes« in Vergessenheit.

Neben diese wirtschaftlich-sozialen, technologisch-wissenschaftlichen und künstlerisch-kulturellen Einflüsse traten Faktoren, die sich aus dem Bewusstsein und dem Bewusstseinswandel entwickelten. Die zahlreichen, blutigen und langen Kriege und die europäischen Krisen des 17. Jahrhunderts ließen eine tiefe Friedenssehnsucht, den Wunsch nach einem ewigen, dauerhaften und sicheren Frieden wachsen. Frieden und Sicherheit wurden so seit dem 18. Jahrhundert Leitkategorien in der europäischen Politik, auch wenn die zahlreichen Erbfolgekriege, vom spanischen zum polnischen, österreichischen und bayerischen Erbfolgekrieg, vor allem aber der transatlantische siebenjährige Doppelkrieg seit 1756, der Beginn der Orientalischen Frage seit 1770 sowie die Kriegsjahre seit 1792 dagegen zu sprechen schienen. Der Topos vom »ewigen Frieden« findet sich seit dem frühen 18. Jahrhundert in zahlreichen Schriften und Abhandlungen, auch jenseits der »Gelehrtenrepublik«. Ziel war es dabei, u. a. in den Schriften William Penns, John Bellers, des Abbé de Saint Pierre, Jean-Jacques Rousseaus, Immanuel Kants, Jean Baptiste Isouards (Delisle), Friedrich von Gentz’ und anderen, zur Sicherstellung eines ewigen Friedens in Europa eine gemeinsame, funktionsfähige, rechtlich und institutionell abgesicherte politische Organisationsform für Europa ohne Krieg zu schaffen. Angestrebt wurde, das machen die zahlreichen Traktate und politischen Manifestationen deutlich, einen ›ewigen Frieden‹ zu verwirklichen. Vorgeschlagen wurden Modelle für einen europäischen Völkerbund oder eine europäische Föderation. Diskutiert wurde seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert auch ein europäisches Gleichgewicht als Lösung. Völkerrechtlich abgesicherte und funktionsfähige Völkerbund- und Gleichgewichtskonzepte hatten als Hauptmotiv den Wunsch, gemeinsam einen dauerhaften europäischen Frieden herbeizuführen und zu sichern. Die augenscheinlichen Rückschläge im 18. Jahrhundert und die lange Kriegsperiode von 1792 bis 1814 verstärkten den Wunsch nach Frieden und Sicherheit. Sie bewirkten einen Bewusstseinswandel in der Politik. Dieser sollte dann bei der Etablierung eines dauerhaften, von allen Beteiligten akzeptierten und stabilen Friedens nach den Napoleonischen Kriegen sichtbar werden.

Auslöser für den tiefgreifenden Wandel im Politikverständnis Europas vom 18. zum 19. Jahrhundert waren nicht allein die personelle und materielle Ressourcen verschlingenden Kriege des 18. Jahrhunderts sowie ein modernes Menschen- und Gesellschaftsbild, sondern damit einhergehend ein durch die Massenheere völlig verändertes Kriegsbild, veränderte Militärstrategien und Kriegstechniken, neue Waffen und eine Ideologisierung der Kriegführung. Die Kriege seit der Französischen Revolution hatten ein gemeinsames Merkmal: Sie wurden immer aufwendiger, brutaler, grausamer, totaler und zerstörerischer und bezogen die Menschen in immer höherem Maße mittelbar und unmittelbar in das Kriegsgeschehen ein. Einen eindrucksvollen Einblick vermitteln beispielsweise die zwischen 1810 und 1814 entstandenen Graphiken Francisco José de Goya y Lucientes »Die Schrecken des Krieges«.

Die tiefgreifenden territorialen Veränderungen – die napoleonische Flurbereinigung – sowie die Entwurzelung und »Zwangsmobilität« der Menschen in Europa erhielten für eine Neugestaltung der Staatengesellschaft nach den Kriegen zentrale Bedeutung. Gefragt waren Konzepte jenseits von Machtpolitik, Krieg und Gewalt. Diese ließen sich nur in einem neuen, multipolaren Gleichgewichtssystem mit neuen und veränderten Methoden und Mechanismen der Konfliktregulierung verwirklichen. Die neuen Ansätze zur Friedenssicherung und Konfliktregulierung waren allerdings nicht in erster Linie das Produkt der langen und verlustreichen Kriege, auch wenn die daraus resultierenden Erfahrungen und Wirkungen nicht unterschätzt werden sollten. Sie resultierten auch nicht allein aus dem Willen der Sieger, ihre politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und territorialen Vorstellungen den Besiegten im Friedensschluss aufzuerlegen. Vielmehr war es von grundlegender Bedeutung, dass Europa neue Formen für das Zusammenleben seiner Völker, Konzepte jenseits von Krieg, Machtpolitik und Gewalt entwickelte. Unter der Mehrzahl der Staaten, die nach der napoleonischen Flurbereinigung noch übriggeblieben waren, hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die überkommene Kabinettspolitik des Ancien Régime nicht mehr tragfähig und zeitgemäß war. Internationale Krisen und Konflikte ließen sich nicht mehr allein mechanisch durch Teilungen und territoriale Veränderungen zur Bewahrung des Gleichgewichtes und durch blutige Kriege lösen, wie sie charakteristisch für das 18. Jahrhundert zum Erhalt des »klassischen Gleichgewichtssystems« angewandt wurden. Die drei polnischen Teilungen, von denen die nach dem Nordischen Krieg und dem Siebenjährigen Krieg in den Rang einer Großmacht aufgestiegenen Großmächte Russland und Preußen profitierten, waren hierfür ein aussagekräftiges Beispiel. Die überkommenen Regulierungsmechanismen hatten sich als der falsche Weg zur Krisen- und Konfliktbewältigung erwiesen. Bereits im Vorfeld der Revolution von 1789 lässt sich die Pentarchie, das klassische Gleichgewicht der fünf europäischen Großmächte, »als labile Großmachtkonstellation« (Peter Krüger) charakterisieren. Es sollte sich sehr bald zeigen, dass die Interessen ihrer Mitglieder divergierten und sich somit die Risiken für nicht mehr zu steuernde militärische Auseinandersetzungen erhöhten. Es mussten daher neue, den veränderten Rahmenbedingungen angepasste institutionelle und rechtliche Methoden der Konfliktregulierung und Friedenssicherung jenseits von Gewalt und nationaler Machtpolitik gefunden werden. Neben den Völkerbundideen wurde vor allem in der zeitgenössischen Staatswissenschaft und auch in der Politik ein neues Gleichgewichtssystem als Ordnungsprinzip für die europäische Staatengesellschaft diskutiert. Zu einem ihrer Protagonisten wurde in verschiedenen Schriften seit 1800 Friedrich von Gentz.

Seit der Französischen Revolution von 1789 und dem innenpolitisch motivierten »Export« der Ideen von 1789 zur Befreiung der Nachbarvölker lassen sich in der historischen Analyse das Zusammenspiel innen- und außenpolitischer Einflussgrößen nicht mehr trennen. Die innenpolitischen Konstellationen wirken sich auf die Außenpolitik und die internationale Ordnung aus und Krisen und Konflikte in der Staatenordnung haben ihre Rückwirkungen auf die jeweiligen Innenpolitiken. Die Regierungen mussten in ihren Entscheidungen in zunehmendem Maße auf die innenpolitischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen in ihren Ländern Rücksicht nehmen.

Wichtig für diese Zeit des Übergangs ist es auch, und das wirkt sich unmittelbar auf die Politik der Friedenssicherung aus, dass sich zwischen der Französischen Revolution und dem Wiener Kongress der Typ des ›Berufspolitikers‹ ausbildete, der seinem Land und nicht mehr allein seinem Stand oder seiner Klasse verpflichtet war und auch die fachlichen und geistigen Voraussetzungen für seine Tätigkeit mitbrachte. Ein weiteres Moment kam hinzu. Die oftmals wenig fähigen Fürsten – Österreich und andere deutsche Staaten können hierfür in dieser Periode als gutes Beispiel dienen – umgaben sich mit Kabinettsräten als Beratern, die mit ihren Aufgaben überfordert waren. Sie besaßen zwar einen gesellschaftlichen Status, aber nicht unbedingt die Fachkompetenzen. In den Verwaltungen und in den Regierungskanzleien kam es in der Periode der Transformation zu grundlegenden Veränderungen, zum Aufbau einer modernen, effizienten Verwaltung. Die Gewichte verlagerten sich zugunsten von Fachministerien. Für die Ernennung von Beamten spielten als eine Auswirkung der Französischen Revolution nun Bildung, Erfahrung und Sachkenntnis eine entscheidende Rolle. Wirkungsvolles staatliches Handeln und der Erhalt der Eigenständigkeit waren ohne den Aufbau einer modernen Staatsverwaltung auf allen Ebenen kaum möglich. Hierzu gehörte die »Schaffung eines leistungsfähigen, sachkundigen, nicht mehr bestechlichen Beamtentums, das durch das demokratische, in Frankreich entwickelte Sieb der Prüfungen gegangen« war (Eberhard Weis). Sie gründeten sich nicht mehr »auf Privileg und Herkunft, sondern auf Qualität und Leistung«. Die Qualifikation durch Prüfungen ersetzte nun, nicht allein in Frankreich, sondern auch in den reformwilligen Staaten, die Qualifikation durch Stand, Geburt und Familienbeziehungen. Dieses Verfahren war eine »eminent demokratische Errungenschaft« (Eberhard Weis) und ermöglichte den standesunabhängigen Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Kompetenz an Stelle von Herkunft wurde für die europäische Sattelzeit zu einem wichtigen Kriterium und sollte einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklungen und Entscheidungsprozesse zwischen 1789 und 1815 und weit darüber hinaus erhalten. Sie muss bei der Analyse berücksichtigt werden.

Die hier skizzierten Determinanten verdeutlichen, dass die Einbeziehung von bisher nicht gesehenen bzw. vernachlässigten Einflussgrößen die Zeit der Transformation vom Alten Europa des 18. Jahrhunderts zum sich modernisierenden und industrialisierenden Europa des 19. Jahrhunderts in einen neuen Rahmen stellt, zu neuen Erkenntnissen und Bewertungen dieser komplexen und anregenden Epoche der europäischen Geschichte führen wird und damit einen durchaus grundlegenden Beitrag zur historischen Forschung leistet.

Der Wiener Kongress, das Wiener System und die dort geschaffene neue Staatengesellschaft und Völkerrechtsordnung sowie die Nachfolgeorganisation des Alten Reichs, der Deutsche Bund, als zentrales Element des »doppelten europäischen Gleichgewichts«, als Stabilisator eines europäischen Sicherheitssystems, als Band der deutschen Nation und als »Friedensstaat« von Europa erscheinen so auch in veränderten, europäisch-internationalen und deutschen Bezugssystemen.

3.  Europa zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Napoleonischen Empire (1789–1814)

Was waren die Voraussetzungen nach dem Zusammenbruch der auf dem klassischen Gleichgewicht und der Kabinettspolitik des Ancien Régime basierenden europäischen Staatenordnung für eine Neuordnung des internationalen Systems und der politisch-territorialen Neugliederung der Staatenwelt? Die Französische Revolution von 1789 und die langen, zerstörerischen und blutigen Kriege hatten tiefgreifende Wirkungen auf die europäische Staatenordnung, organisiert als dynastische Nationalstaaten, als multiethnische Großreiche und Territorien. Sie fegten die Staaten- und Rechtsordnung Alteuropas hinweg. Das Gleichgewichtssystem des 18. Jahrhunderts wurde funktionsunfähig. Machtegoismus und staatlich-dynastisches Eigeninteresse bestimmten nun die zwischenstaatlichen Beziehungen, wie dies insbesondere im Auflösungsprozess des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation sichtbar werden sollte.

Zum Zeitpunkt der Französischen Revolution von 1789, die mittelbar und unmittelbar den tiefgreifenden europäischen Transformationsprozess zwischen 1789 und 1830 beeinflusste, zählte das Herzland des Kontinents, das Heilige Römische Reich deutscher Nation, mehr als 300 große, mittlere und kleine weltliche und geistliche Territorien und Herrschaften. Allerdings besaß das Alte Reich mit dem Kaiser und dem Reichstag, anders als Italien, gemeinsame und institutionelle Bezugspunkte. Im Jahr der Französischen Julirevolution 1830 waren als Ergebnis der Revolutionskriege und der napoleonischen Flurbereinigung in Mitteleuropa unter dem Verfassungsdach der in seinen Grenzen kaum veränderten Nachfolgeorganisation des Alten Reiches nur noch 39 Staaten verblieben. Dazwischen lag ein nachhaltiger, teilweise beschleunigter, teilweise durch die äußeren Rahmenbedingungen gebremster gesellschaftlicher, politischer, mentaler, wirtschaftlicher und territorialer Transformationsprozess. In dieser Zeit entstanden durch territorialen Zugewinn und Arrondierung die süddeutschen Flächenstaaten, auch das neue Königreich Hannover. Österreich zog sich aus Südwestdeutschland und den habsburgischen Niederlanden zurück und erwarb Salzburg sowie mit der Lombardei und Venetien auch Besitz in Norditalien. Preußen, das nach dem Frieden von Tilsit 1807 Territorium verlor und auf den Status einer ostelbischen Mittelmacht zurückgestuft wurde, wuchs als Ergebnis seiner territorialen Westverschiebung und der Gebietsgewinne in Sachsen nach Deutschland hinein.

Im Spannungsfeld von revolutionären und aufgeklärten Impulsen, traditionalistischem und gegenrevolutionärem Beharrungsvermögen und intensiven Reformanstrengungen vollzog Mitteleuropa in diesen Dekaden den Übergang zu moderner Staatlichkeit. Die Kriege seit den frühen 1790er Jahren mit ihren politischen und territorialen Veränderungen und dem Vordringen der Ideen der Revolution von 1789 in die Territorien des Alten Reiches ermöglichten bzw. erzwangen aufgrund der Rahmenbedingungen und einzelstaatlichen Erfordernisse umfassende Reformen in vielen Territorien des Reiches, insbesondere seit den späten 1790er Jahren in späteren Rheinbundstaaten wie der Markgrafschaft Baden durch Freiherr von Reitzenstein und dem Kurfürstentum Bayern durch Graf Montgelas. Die Reformpolitik in Österreich und Preußen wurde unter anderem durch die Tatsache ermöglicht, dass ihr Handlungsspielraum als europäische und deutsche Großmächte mit Territorium außerhalb der Grenzen des Reiches größer war als der der großen Territorien im Reich, die oft auch kein geschlossenes Staatsgebiet hatten. Beide mussten keine Rücksicht auf das Reich nehmen. Im Falle Preußens kam hinzu, dass es in der Phase der von Joseph II. wieder aufgegriffenen und diskutierten Idee einer Reichsreform daran nicht interessiert war, denn diese hätte die Stellung des österreichischen Kaiserstaates gestärkt und eine Abtretung von Souveränitätsrechten an die zu schaffende reformierte Reichsgewalt bedeutet. Hierzu war Preußen nicht bereit. Auch 1815 war es nicht willens, der Bildung eines deutschen Nationalstaates als Nachfolgeorganisation des Alten Reiches zuzustimmen. In vieler Hinsicht war Preußen zwischen der Erhebung zum Königreich 1701 und der militärischen und politischen Katastrophe von Jena und Auerstedt janusköpfig. Es war rückständig, weil es auf der Erbuntertänigkeit in Ostelbien und der herausragenden Rolle der bewaffneten Macht im Staate beharrte sowie eine das Bürgertum benachteiligende merkantilistische Wirtschaftspolitik verfolgte. Zugleich war es aber auch in vielen Bereichen innovativ. So kam es zu Reformen, um eine leistungsfähige und effektive Justiz und Verwaltung zu schaffen. Das Allgemeine Landrecht wurde gegen Widerstände durchgesetzt und stellte die Rechtseinheit des preußischen Staates her. Wichtig für die Binnenentwicklung Preußens wurde das »Klima der Toleranz«. Wegen seines handels- und gewerbefreundlichen Charakters wurde Preußen auch zum Modell für andere Staaten. Trotz seines Aufstieges zur europäischen Großmacht sah es als kleinste europäische Großmacht seine Existenz und Sicherheit immer wieder bedroht. Zwischen 1792 und 1814 versuchte es daher mehrfach – nicht immer erfolgreich –, seine Eigenstaatlichkeit durch Koalitionswechsel zu bewahren.

In Österreich hatte unter Maria Theresia und Joseph II. ein Reformprozess eingesetzt. Die Josephinischen Reformen führten die Gleichheit vor dem Gesetz ein, leiteten die Bauernbefreiung ein, schafften die Erbuntertänigkeit ab und initiierten und intensivierten den Prozess der Säkularisierung. Der Kaiser versuchte die gleichmäßige Besteuerung aller gesellschaftlichen Gruppen durchzusetzen und das religiöse Koexistenzproblem zu lösen. Er hatte seine Reformen wenig einfühlsam, volksfremd und kaum überzeugend begründet gegen alle Widerstände – so in Ungarn und den habsburgischen Niederlanden – durchgesetzt. In den habsburgischen Niederlanden entlud sich der Widerstand gegen Zentralisierung und Abbau von Autonomie und Privilegien in der Brabantischen Revolution. Josephs Bruder und Nachfolger, Leopold II. – er war als Großherzog von Toskana durch seine Reformpolitik hervorgetreten –, setzte auf eine stärkere Partizipation des Volkes an der Regierung. Ihm schwebte sogar eine auf der Volkssouveränität gegründete Verfassungsordnung vor. Wegen der Kriegsgefahr für Österreich und das Reich wurden einige Maßnahmen Josephs zurückgenommen und eigene zunächst geplante Reformen zurückgestellt. Die Kriegserklärung des revolutionären Frankreich 1792 und der Beginn der Revolutionskriege beendeten in Österreich zunächst die Zeit der Reformen. Als Leopold II. 1792 starb, war sein Neffe Franz II. an Reformen und am Heiligen Römischen Reich wenig interessiert und entwickelte sich – schlecht beraten durch seine zaudernden, überalterten und vielfach unfähigen Minister und Militärs – zum fanatischen Antirevolutionär.

Die »rein deutschen« Territorien waren stärker lehensrechtlich in die Reichsverfassung eingebunden. Reformprogramme im Sinne des aufgeklärten Absolutismus waren daher sehr viel schwieriger zu realisieren. Die eingeleitete Reform blieb teilweise stecken oder wurde abgebrochen. Der aufgeklärte Absolutismus hat dennoch für die deutsche Reformzeit der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts eine kaum zu unterschätzende Vorarbeit geleistet. Er betrieb auf dem Feld der Wirtschaft, der Polizei im weitesten Sinne, der Landwirtschaft, dem Gesundheitswesen, dem Hochschul-, Schul- und Bildungswesen sowie im Bereich der Justiz bereits ›Innenpolitik‹. Diese Maßnahmen erfolgten nicht allein im Interesse der jeweiligen Dynastie. Bei der Planung und Ausführung spielten durchaus Überlegungen für das Gemeinwohl einer möglichst großen Zahl von Untertanen eine Rolle. Feudale Strukturen waren vor allem im politischen, weniger im gesellschaftlichen Bereich entmachtet worden und stärkten so die territoriale Zentralgewalt. Trotz der Reformimpulse durch den aufgeklärten Absolutismus und ihrer in die Zukunft weisenden Anfänge gelang es keiner Regierung der deutschen Territorien vor 1803/06, »den Graben zu überspringen, den ein Jahrtausend geformt hatte, und die herkömmliche Gerichts-, Agrar-, Militär- und Wirtschaftsverfassung grundsätzlich anzutasten« (Eberhard Weis).

Im Vergleich zu den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern kam für die Reichsterritorien ein nicht zu unterschätzendes zusätzliches Element hinzu. Als sich in Westeuropa dynastische Nationalstaaten mit zentralstaatlicher Organisationsstruktur ausformten, hatte sich für das deutsche Mitteleuropa des Reiches nicht der nationale, sondern der partikulare Staat mit partikularem Bewusstsein und entsprechenden Loyalitäten als Lebensorientierung ausgebildet. Der Westfälische Frieden von 1648 hatte das multikonfessionelle Prinzip festgeschrieben. Es beförderte neben der territorialen vor allem die kulturelle Vielfalt. Gerade für die »deutsche Reformzeit« sollten diese unterschiedlichen historischen Traditionen und politisch-territorialen Rahmenbedingungen zu einem wichtigen Aspekt werden, der unterschiedliche Reform- und Modernisierungsmodelle beförderte. Die konfessionelle Spaltung und Regionalisierung des Bewusstseins der Menschen war für den Weg Deutschlands in die Moderne von zentraler Bedeutung, trotz der Tatsache, dass nach der europäischen Neuordnung von 1814/15 kein deutscher Staat mehr monokonfessionell war. Aus der Perspektive der regionalen Orientierung der Deutschen ergab sich ein vom Konzept der französischen Idee von der einen und unteilbaren Nation verschiedenes Nationsverständnis, das der Tradition der Reichsnation entsprach, nämlich das Konzept der regional verankerten »föderativen Nation«, die im Prozess der Neuordnung des deutschen Mitteleuropa 1814/15 eine gewichtige Rolle spielte.

Im Alten Reich hatte der Reichskrieg gegen die Französische Revolution tiefgreifende Interessengegensätze aufbrechen lassen. Vor allem Österreich und Preußen als Mitglieder des Reiches mit ihren ›deutschen Gebieten‹ und zugleich als europäische Großmächte mit über das Reich hinausgreifenden Zielen verspielten zwischen 1795 und 1806 die durchaus vorhandene Chance, das Heilige Römische Reich deutscher Nation durch einen gemeinsamen Frieden zu einen und zu festigen. Beiden deutschen Vormächten ging es aber um eine hegemoniale Stellung in Mitteleuropa, um eine machtpolitische Verbesserung, um einen politisch-territorialen Zugewinn innerhalb der Grenzen des Alten Reiches auf Kosten der kleinen und mittleren Territorien des Reiches.