Der wunderbare Zauberer von Oz - Die Oz-Bücher Band 1 - L. Frank Baum - E-Book

Der wunderbare Zauberer von Oz - Die Oz-Bücher Band 1 E-Book

L. Frank Baum

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Beschreibung

Im 1. Band der Oz-Reihe - Der wunderbare Zauberer von Oz - wird die Geschichte des Mädchens Dorothy erzählt, das mit ihrem Hund Toto von einem Wirbelsturm in das ferne Land Oz getragen wird. Um wieder nach Hause zurückzukehren, legt Dorothy ihr Schicksal in die Hände des Großen und Schrecklichen Zauberers Oz. Auf dem Weg zu ihm freundet sie sich mit einem blechernen Holzfäller, einer Vogelscheuche und einem feigen Löwen an, mit denen sie gemeinsam einige Gefahren durchstehen muss. Doch am Ende kommt alles anders als gedacht ... Empfohlenes Alter: 5 bis 10 Jahre. Große Schrift, auch für Leseanfänger geeignet.

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Seitenzahl: 194

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Vorwort.

BRAUCHTUM, Legenden, Mythen und Märchen haben die Kindheit im Laufe der Jahrhunderte begleitet, denn jedem gesunden Kind wohnt eine natürliche und instinktive Liebe zu phantastischen, märchenhaften und offensichtlich unwirklichen Geschichten inne. Die geflügelten Feen Grimms und Andersens haben den kindlichen Herzen mehr Freude eingeflößt als alle anderen menschlichen Schöpfungen.

Doch das Zaubermärchen der alten Zeiten, das seit Generationen aufgetischt wurde, mag jetzt in der Kinderbibliothek als „historisch“ eingestuft werden; denn es an der Zeit für eine Reihe von neueren „Wundergeschichten“, in denen der übliche Geist, der Zwerg und die Fee zusammen mit all den schrecklichen und das Blut gerinnen machenden Geschehnissen beseitigt werden, die von ihren Autoren entwickelt worden sind, um durch die Erzeugung von Furcht eine Moral zu jeder Geschichte zu vermitteln. Die moderne Bildung beinhaltet Moral; deshalb sucht das moderne Kind in seinen Wundergeschichten bloß Unterhaltung und verzichtet gern auf alle unangenehmen Vorfälle.

Die Geschichte des „Wunderbaren Zauberers von Oz“ wurde geschrieben, um Kindern von heute zu gefallen. Es will ein modernisiertes Märchen sein, in dem Verwunderung und Freude bewahrt, und Kummer und Alpträume ausgelassen werden.

L. Frank Baum

Chicago, April 1900.

Inhalt.

Kapitel 1: Der Wirbelsturm.

Kapitel 2: Der Rat der Munchkins.

Kapitel 3: Wie Dorothy die Vogelscheuche rettete.

Kapitel 4: Der Weg durch den Wald.

Kapitel 5: Die Rettung des blechernen Holzfällers.

Kapitel 6: Der Feige Löwe.

Kapitel 7: Die Reise zum Großen Oz.

Kapitel 8: Das tödliche Mohnfeld.

Kapitel 9: Die Königin der Feldmäuse.

Kapitel 10: Der Torwächter.

Kapitel 11: Die wunderbare Stadt Oz.

Kapitel 12: Die Suche nach der Bösen Hexe.

Kapitel 13: Die Rettung.

Kapitel 14: Die Geflügelten Affen.

Kapitel 15: Oz, der Schreckliche.

Kapitel 16: Die Zauberkünste des Großen Schwindlers.

Kapitel 17: Wie der Ballon abhob.

Kapitel 18: Nach Süden.

Kapitel 19: Der Angriff der Bäume.

Kapitel 20: Das zierliche Porzellanland.

Kapitel 21: Der Löwe wird König der Tiere.

Kapitel 22: Im Land der Quadlinge.

Kapitel 23: Die Gute Hexe Glinda gewährt Dorothys Wunsch.

Kapitel 24: Wieder zu Hause.

Kapitel 1.

Der Wirbelsturm.

DOROTHY lebte mit Onkel Henry, der ein Farmer war, und Tante Em, seiner Frau, inmitten der großen Prärien von Kansas. Ihr Haus war klein, denn das zum Bau benötigte Holz mußte viele Meilen mit dem Wagen transportiert werden. Es gab vier Wände, einen Boden und ein Dach, was zusammengenommen einen Raum ergab; und dieser Raum enthielt einen rostig aussehenden Kochherd, einen Schrank für das Geschirr, einen Tisch, drei oder vier Stühle und die Betten. Onkel Henry und Tante Em hatten ein großes Bett in einer Ecke und Dorothy ein kleines Bett in einer anderen Ecke. Es gab keinen Dachboden und keinen Keller – außer einem kleinen Loch, das in den Boden gegraben worden war, und das Sturmkeller genannt wurde, wo die Familie hingehen konnte, falls sich einer jener großen Wirbelstürme erhob, die mächtig genug waren, um jedes Gebäude in ihrem Lauf zu zerstören. Es wurde durch eine Falltür in der Mitte des Bodens erreicht, von der eine Leiter in das kleine, dunkle Loch führte.

Wenn Dorothy in der Tür stand und sich umsah, konnte sie nichts als die große graue Prärie auf jeder Seite sehen. Kein Baum oder Haus durchbrach die weite Ausdehnung des flachen Landes, das in allen Richtungen bis zum Horizont reichte. Die Sonne hatte das gepflügte Land zu einer grauen Masse gebacken, durch die sich kleine Risse zogen. Selbst das Gras war nicht grün, denn die Sonne hatte die Spitzen der langen Halme verbrannt, bis sie die gleiche graue Farbe aufwiesen, wie alles andere um sie herum. Früher war das Haus einmal angestrichen gewesen, aber die Sonne hatte die die Farbe abgeblättert und der Regen sie weggewaschen, und jetzt war das Haus so trist und grau wie alles andere.

Als Tante Em hergekommen war, um dort zu leben, war sie eine hübsche junge Braut gewesen. Die Sonne und der Wind hatten auch sie verändert. Sie hatten das Funkeln aus ihren Augen genommen und sie in ein nüchternes Grau verwandelt; sie hatten das Rot von ihren Wangen und Lippen genommen, die ebenfalls grau waren. Sie war dünn und hager und lächelte jetzt nicht mehr. Als Dorothy, die eine Waise war, gerade zu ihr gekommen war, war Tante Em so erschrocken über das Lachen des Kindes gewesen, daß sie aufschrie und sich die Hand aufs Herz preßte, sobald Dorothys fröhliche Stimme an ihre Ohren drang; und sie wunderte sich noch immer darüber, daß das kleine Mädchen etwas zum Lachen finden konnte.

Onkel Henry lachte nie. Er arbeitete hart von morgens bis abends und wußte nicht, was Freude war. Er war auch grau, von seinem langen Bart bis zu seinen groben Stiefeln, und er sah streng und ernst aus und sprach nur selten.

Es war Toto, der Dorothy zum Lachen brachte und sie davor bewahrte, so grau zu werden wie ihre übrige Umgebung. Toto war nicht grau. Er war ein kleiner schwarzer Hund mit langem, seidigem Fell und kleinen schwarzen Augen, die fröhlich zu beiden Seiten seiner lustigen, kleinen Nase funkelten. Toto spielte den ganzen Tag, und Dorothy spielte mit ihm und liebte ihn über alles.

Heute spielten sie jedoch nicht. Onkel Henry saß auf der Schwelle und sah besorgt in den Himmel, der noch grauer war als sonst. Dorothy stand mit Toto in ihren Armen in der Tür und schaute auch in den Himmel. Tante Em wusch das Geschirr ab.

Weit im Norden hörten sie leise den Wind heulen, und Onkel Henry und Dorothy konnten sehen, wo sich das lange Gras in Wellen vor dem nahenden Sturm niederbog. Es lag jetzt ein scharfes Pfeifen aus dem Süden in der Luft, und als sie ihre Augen in diese Richtung wandten, sahen sie auch Wellen im Gras, die aus dieser Richtung kamen.

Plötzlich stand Onkel Henry auf.

„Da kommt ein Wirbelsturm, Em“, rief er seiner Frau zu. „Ich werde nach der Herde sehen.“ Dann rannte er zu den Ställen, wo die Kühe und Pferde gehalten wurden.

Tante Em ließ ihre Arbeit liegen und kam zur Tür. Ein Blick verriet ihr die drohende Gefahr.

„Rasch, Dorothy!“, rief sie. „Lauf in den Keller!“

Toto sprang aus Dorothys Armen und versteckte sich unter dem Bett, und das Mädchen beeilte sich, ihn wieder herauszuholen. Tante Em, die sehr große Angst hatte, öffnete die Falltür im Boden und kletterte die Leiter hinunter in das kleine, dunkle Loch. Dorothy, der es endlich gelang, Toto wieder einzufangen, wollte ihrer Tante folgen. Als sie das Zimmer halb durchquert hatte, heulte der Wind plötzlich sehr laut, und das Haus bebte so heftig, daß sie den Halt verlor und sich plötzlich auf dem Boden wiederfand.

Dann passierte etwas Seltsames.

Das Haus wirbelte zwei- oder dreimal herum und erhob sich langsam in die Luft. Dorothy fühlte sich, als würde sie in einem Ballon aufsteigen.

Die Nord- und Südwinde trafen sich genau dort, wo das Haus stand, und machten es zum Zentrum des Wirbels. In der Mitte eines Wirbelsturms ist die Luft für gewöhnlich still, aber der starke Druck des Windes auf jeder Seite des Hauses hob es höher und höher, bis es ganz oben an der Spitze des Wirbels war; und dort blieb es und wurde viele Meilen weit fortgetragen, als wäre es so leicht wie eine Feder.

Es war sehr dunkel, und der Wind heulte entsetzlich um sie herum, aber Dorothy fand, daß es nicht allzu schlimm war. Nach den ersten paar Umdrehungen und einem anderen Mal, als das Haus sich sehr zur Seite geneigt hatte, hatte sie das Gefühl, als würde sie so sanft geschaukelt wie ein Baby in einer Wiege.

Toto gefiel es überhaupt nicht. Er rannte mal hierhin, mal dorthin durch den Raum, und bellte dabei laut; aber Dorothy saß ganz still auf dem Boden und wartete ab, um zu sehen, was passieren würde.

Einmal kam Toto zu nah an die offene Falltür und fiel hinein; und zuerst dachte das kleine Mädchen, sie hätte ihn verloren. Aber bald sah sie eines seiner Ohren durch das Loch ragen, denn der starke Luftdruck hielt ihn oben, so daß er nicht fallen konnte. Sie kroch zu der Öffnung, packte Toto am Ohr und zerrte ihn wieder in den Raum. Danach schloß sie die Falltür, damit keine weiteren Unfälle geschehen konnten.

Stunde um Stunde verging, und langsam überwand Dorothy ihren Schrecken; aber sie fühlte sich ziemlich einsam, und der Wind brüllte so laut um sie her, daß sie beinahe taub wurde. Zuerst hatte sie sich gefragt, ob sie in Stücke gerissen werden würde, wenn das Haus wieder herabfiel; aber als die Stunden vergingen und nichts Schreckliches geschah, hörte sie auf, sich Sorgen zu machen und beschloß, ruhig zu warten und zu sehen, was die Zukunft bringen würde. Schließlich kroch sie über den schwankenden Boden zu ihrem Bett und legte sich darauf; und Toto folgte ihr und legte sich neben sie.

Trotz des Schwankens des Hauses und des Heulens des Windes schloß Dorothy bald ihre Augen und fiel in tiefen Schlaf.

Kapitel 2.

Der Rat der Munchkins.

SIE wurde von einem Stoß geweckt, der so plötzlich und stark war, daß Dorothy, wenn sie nicht auf dem weichen Bett gelegen hätte, vielleicht verletzt worden wäre. So wie es war, ließ die Erschütterung kurz ihren Atem stocken, und sie wunderte sich, was geschehen war. Toto stupste seine kalte kleine Nase in ihr Gesicht und winselte kläglich. Dorothy setzte sich auf und bemerkte, daß sich das Haus nicht bewegte; auch war es nicht dunkel, denn der helle Sonnenschein, der durch das Fenster hereinkam, schien in das kleine Zimmer. Sie sprang aus ihrem Bett, rannte mit Toto im Schlepptau zur Tür und öffnete sie.

Das kleine Mädchen schrie überrascht auf und sah sich um. Ihre Augen wurden größer und größer bei dem wundervollen Anblick, der sich ihr bot.

Der Wirbelsturm hatte das Haus sehr sanft – für einen Wirbelsturm – inmitten eines Landes von wunderbarer Schönheit abgesetzt. Um sie herum befanden sich schöne Wiesen mit stattlichen Bäumen, die viele saftige Früchte trugen. Überall waren Beete voller entzückender Blumen, und Vögel mit schönem und glänzendem Gefieder sangen und flatterten in den Bäumen und Sträuchern. Ein kleines Stück entfernt glitte ein kleiner Bach glitzernd zwischen grünen Ufern dahin und murmelte in einem Ton, über den sich das kleine Mädchen sehr freute, das so lange in der trockenen grauen Prärie gelebt hatte.

Während sie dastand und die seltsamen und schönen Anblicke neugierig betrachtete, bemerkte sie, daß eine Gruppe der seltsamsten Leute, die sie je gesehen hatte, auf sie zukam. Sie waren nicht so groß wie die erwachsenen Menschen, die sie kannte; aber sie waren auch nicht sehr klein. Tatsächlich schienen sie ungefähr so groß zu sein wie Dorothy, die ein für ihr Alter gut gewachsenes Kind war, obwohl sie, wenn man vom Aussehen ausging, um viele Jahre älter sein mußten.

Drei der Personen waren Männer und eine war eine Frau, und alle waren seltsam gekleidet. Sie trugen runde Hüte, die bis zu einer kleinen Spitze, ein Fuß über ihren Köpfen, emporragten, und von deren Krempen kleine Glöckchen herabhingen, die bei jeder Bewegung leise klingelten. Die Hüte der Männer waren blau, der Hut der kleinen Frau war weiß, und sie trug ein weißes Kleid, das in Falten drapiert von ihren Schultern hing. Es war mit kleinen Sternen bestreut, die wie Diamanten in der Sonne glitzerten. Die Männer waren in Blau gekleidet, im gleichen Farbton wie ihre Hüte, und trugen gut polierte Stiefel mit einem blauen Wulst an den Spitzen. Die Männer, schätzte Dorothy, waren ungefähr so alt wie Onkel Henry, denn zwei von ihnen hatten Bärte. Aber die kleine Frau war zweifellos viel älter. Ihr Gesicht war mit Runzeln bedeckt, ihr Haar war fast weiß und sie ging ziemlich steif.

Als diese Leute sich dem Haus näherten, in dem Dorothy in der Tür stand, hielten sie inne und flüsterten untereinander, als hätten sie Angst, näherzukommen. Aber die kleine alte Frau ging zu Dorothy, verbeugte sich tief und sagte mit freundlicher Stimme:

„Edle Zauberin, du bist im Land der Munchkins willkommen. Wir sind dir sehr dankbar, daß du die Böse Hexe des Ostens getötet und unser Volk aus der Knechtschaft befreit hast.“

Dorothy hörte diese Rede mit Erstaunen. Was konnte die kleine Frau nur damit meinen, sie eine Zauberin zu nennen und zu sagen, sie hätte die Böse Hexe des Ostens getötet? Dorothy war ein unschuldiges, harmloses kleines Mädchen, das von einem Wirbelsturm viele Meilen von zu Hause fortgetragen worden war; und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie etwas getötet.

Aber die kleine Frau erwartete offensichtlich, daß sie antwortete. Also sagte Dorothy zögernd: „Sie sind sehr freundlich, aber da muß ein Fehler vorliegen. Ich habe überhaupt nichts getötet.“

„Dann hat es eben dein Haus getan“, antwortete die kleine alte Frau lachend, „und das ist dasselbe. Sieh!“, fuhr sie fort und deutete auf die Ecke des Hauses. „Da sind ihre zwei Füße, die immer noch unter einem Holzblock hervorstehen.“

Dorothy sah hin und stieß einen kleinen Schreckensschrei aus. In der Tat, genau unter der Ecke des großen Balkens, auf dem das Haus ruhte, stakten zwei Füße heraus, die in silbernen, vorne spitz zulaufenden Schuhen steckten.

„Ach du meine Güte! Oje, oje!“, rief Dorothy und rang verzweifelt ihre Hände. „Das Haus muß auf sie gefallen sein. Was sollen wir nur tun?“

„Es gibt nichts zu tun“, sagte die kleine Frau ruhig.

„Aber wer war sie?“, fragte Dorothy.

„Sie war die Böse Hexe des Ostens, wie ich sagte“, antwortete die kleine Frau. „Sie hat alle Munchkins jahrelang in Knechtschaft gehalten und sie Tag und Nacht zu ihren Sklaven gemacht. Nun sind sie alle frei und dir sehr dankbar für den Gefallen.“

„Wer sind die Munchkins?“, fragte Dorothy.

„Das ist das Volk, das in diesem Land des Ostens lebt, wo die Böse Hexe herrschte.“

„Bist du eine Munchkin?“, fragte Dorothy.

„Nein, aber ich bin ihre Freundin, obwohl ich im Land des Nordens lebe. Als sie sahen, daß die Hexe des Ostens tot war, sandten die Munchkins einen schnellen Boten zu mir, und ich kam sofort. Ich bin die Hexe des Nordens.“

„Ach!“, rief Dorothy. „Sind Sie eine echte Hexe?“

„Ja, das bin ich“, antwortete die kleine Frau. „Aber ich bin eine gute Hexe und die Leute lieben mich. Ich bin nicht so mächtig wie die böse Hexe, die hier herrschte, sonst hätte ich die Leute selbst befreit.“

„Aber ich dachte, daß alle Hexen böse wären“, sagte das Mädchen, das etwas verängstigt war, weil sie einer echten Hexe gegenüberstand.

„Oh, nein, das ist ein großer Irrtum. Es gab nur vier Hexen im ganzen Land von Oz, und zwei von ihnen, diejenigen, die im Norden und im Süden leben, sind gute Hexen. Ich weiß, daß das stimmt, denn ich bin selbst eine von ihnen und kann mich nicht irren. Diejenigen, die im Osten und im Westen wohnten, waren in der Tat böse Hexen, aber jetzt, wo du eine von ihnen getötet hast, gibt es im ganzen Land von Oz nur noch eine böse Hexe – diejenige, die im Westen lebt.“

„Aber“, sagte Dorothy nach kurzem Nachdenken, „Tante Em hat mir erzählt, daß alle Hexen tot wären – seit vielen vielen Jahren schon.“

„Wer ist Tante Em?“, erkundigte sich die kleine alte Frau.

„Sie ist meine Tante, die in Kansas lebt, wo ich herkomme.“

Die Hexe des Nordens schien eine Zeitlang nachzudenken, wobei sie den Kopf senkte und zu Boden blickte. Dann sah sie auf und sagte: „Ich weiß nicht, wo Kansas ist, denn ich habe das Land noch nie erwähnen gehört. Aber sag mir, ist es ein zivilisiertes Land?“

„Oh ja“, antwortete Dorothy.

„Dann erklärt es sich. In den zivilisierten Ländern gibt es, glaube ich, keine Hexen mehr, und auch keine Zauberer, Zauberinnen oder Magier. Aber das Land von Oz war nie zivilisiert, denn wir sind vom ganzen Rest der Welt abgeschnitten. Deshalb haben wir immer noch Hexen und einen Zauberer unter uns.“

„Was für einen Zauberer?“, fragte Dorothy.

„Oz selbst ist der Große Zauberer“, antwortete die Hexe und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Er ist mächtiger als der Rest von uns zusammen. Er lebt in der Smaragdstadt.“

Dorothy wollte noch eine Frage stellen, aber in diesem Augenblick schrien die Munchkins, die schweigend bei ihm gestanden hatten, laut auf und deuteten auf die Ecke des Hauses, wo die Böse Hexe gelegen hatte.

„Was habt ihr denn?“, fragte die kleine alte Frau, sah selbst hin, und fing an zu lachen. Die Füße der toten Hexe waren vollständig verschwunden, und nichts mehr außer den Silberschuhen war übrig geblieben.

„Sie war so alt“, erklärte die Hexe des Nordens, „daß sie schnell in der Sonne vertrocknete. Das war es nun mit ihr. Aber die Silberschuhe gehören dir, und du sollst sie tragen.“ Sie griff nach unten, hob die Schuhe auf und reichte sie Dorothy, nachdem sie den Staub abgeschüttelt hatte.

„Die Hexe des Ostens war stolz auf diese Silberschuhe“, sagte einer der Munchkins, „und mit ihnen ist ein Zauber verbunden; aber was für einer, haben wir nie herausgefunden.“

Dorothy trug die Schuhe ins Haus und legte sie auf den Tisch. Dann ging sie wieder nach draußen zu den Munchkins und sagte:

„Ich möchte unbedingt zu meiner Tante und meinem Onkel zurückzukehren, denn ich bin mir sicher, daß sie sich Sorgen um mich machen werden. Könnt ihr mir helfen, den Weg nach Hause zu finden?“

Die Munchkins und die Hexe sahen erst einander und dann Dorothy an und schüttelten dann die Köpfe.

„Im Osten, nicht weit von hier“, sagte einer, „gibt es eine große Wüste, und niemand könnte es überleben, sie zu durchqueren.“

„Im Süden ist es das gleiche“, sagte ein anderer, „denn ich war dort und habe es gesehen. Im Süden liegt das Land der Quadlinge.“

„Mir wurde gesagt“, sagte der dritte Mann, „daß es im Westen dasselbe ist. Und dieses Land, in dem die Winkies leben, wird von der Bösen Hexe des Westens beherrscht, die dich zu ihrer Sklavin machen würde, wenn du ihr über den Weg läufst.“

„Der Norden ist meine Heimat“, sagte die alte Dame, „und an seinem Rand beginnt dieselbe große Wüste, die dieses Land von Oz umgibt. Ich fürchte, meine Liebe, du wirst bei uns leben müssen.“

Dorothy begann bei diesem Gedanken zu schluchzen, denn sie fühlte sich einsam unter all diesen seltsamen Leuten. Ihre Tränen schienen die gutherzigen Munchkins zu betrüben, denn sie nahmen sofort ihre Taschentücher heraus und begannen ebenfalls zu weinen. Was die kleine alte Frau anbetrifft, so nahm diese ihren Hut ab und balancierte die Spitze auf ihrer Nasenspitze, während sie mit feierlicher Stimme „Eins, zwei, drei“ zählte. Der Hut verwandelte sich plötzlich in eine Schiefertafel, auf der in großen weißen Kreidezeichen geschrieben stand:

LASS DOROTHY

ZUR SMARAGDSTADT GEHEN

Die kleine alte Frau nahm die Tafel von ihrer Nase, und fragte, nachdem sie die Worte gelesen hatte: „Ist dein Name Dorothy, meine Liebe?“

„Ja“, antwortete das Kind, sah auf und trocknete seine Tränen.

„Dann mußt du in die Smaragdstadt gehen. Vielleicht wird Oz dir helfen.“

„Wo ist diese Stadt?“, fragte Dorothy.

„Sie ist genau in der Mitte des Landes und wird von Oz, dem Großen Zauberer, von dem ich dir erzählt habe, beherrscht.“

„Ist er ein guter Mensch?“, erkundigte sich das Mädchen besorgt.

„Er ist ein guter Zauberer. Ob er ein Mensch ist oder nicht, kann ich nicht sagen, weil ich ihn nie gesehen habe.“

„Wie komme ich dorthin?“, fragte Dorothy.

„Du mußt zu Fuß gehen. Es ist eine lange Reise, durch ein Land, das manchmal angenehm und manchmal düster und schrecklich ist. Allerdings werde ich alle magischen Künste aufwenden, die ich kenne, um dich vor Unheil zu bewahren.“

„Möchten Sie nicht mit mir gehen?“, fragte das Mädchen, das begonnen hatte, die kleine alte Frau als ihre einzige Freundin anzusehen.

„Nein, das kann ich nicht“, antwortete sie, „aber ich werde dir meinen Kuß geben, und niemand wird es wagen, jemanden zu verletzen, der von der Hexe des Nordens geküßt wurde.“

Sie ging nahe an Dorothy heran und küßte sie sanft auf die Stirn. Wo ihre Lippen das Mädchen berührten, hinterließen sie ein rundes, glänzendes Mal, wie Dorothy bald herausfand.

„Die Straße zur Smaragdstadt ist mit gelben Ziegelsteinen gepflastert“, sagte die Hexe, „also kannst du sie nicht verfehlen. Wenn du zu Oz kommst, hab keine Angst vor ihm, sondern erzähle ihm deine Geschichte und bitte ihn, dir zu helfen. Auf Wiedersehen, meine Liebe.“

Die drei Munchkins verbeugten sich tief vor ihr und wünschten ihr eine angenehme Reise, worauf sie durch die Bäume davon gingen. Die Hexe nickte Dorothy freundlich zu, wirbelte dreimal auf ihrer linken Ferse herum und verschwand sofort, sehr zur Überraschung des kleinen Toto, der ausnehmend laut nach ihr bellte, als sie gegangen war, obwohl er sich gefürchtet hatte, auch nur zu knurren, als sie neben ihm stand.

Aber Dorothy, die wußte, daß sie eine Hexe war, hatte erwartet, daß sie auf diese Weise verschwinden würde, und war nicht im geringsten überrascht.

Kapitel 3.

Wie Dorothy die Vogelscheuche rettete.

ALS Dorothy allein war, begann sie, sich hungrig zu fühlen. Also ging sie zum Schrank und schnitt sich etwas Brot ab, das sie mit Butter bestrich. Sie gab Toto etwas davon ab, und dann nahm sie einen kleinen Kübel aus dem Regal, trug ihn hinunter zum kleinen Bach und füllte ihn mit klarem, glitzerndem Wasser. Toto rannte zu den Bäumen und begann die dort sitzenden Vögel anzubellen. Dorothy fing ihn wieder ein, und sah dabei solche köstlichen Früchte von den Zweigen herabhängen, daß sie ein paar davon pflückte. Sie fand sie gerade passend für ihr Frühstück.

Dann ging sie zurück zum Haus, und nachdem sie und Toto sich an dem kühlen, klaren Wasser sattgetrunken hatten, bereitete sie sich auf die Reise in die Smaragdstadt vor.

Dorothy hatte nur ein anderes Kleid, aber das war sauber und hing an einem Haken neben ihrem Bett. Es war kariert, mit Karos in Weiß und Blau; und obwohl das Blau nach vielen Wäschen verblaßt war, war es immer noch ein schönes Kleid. Das Mädchen wusch sich vorsichtig, zog das saubere karierte Kleid an und befestigte ihren rosa Sonnenhut auf ihrem Kopf. Sie nahm einen kleinen Korb, füllte ihn mit Brot aus dem Schrank und legte ein weißes Tuch darüber. Dann sah sie auf ihre Füße und bemerkte, wie alt und abgetragen ihre Schuhe waren.

„Sie werden ganz gewiß keine lange Reise aushalten, Toto“, sagte sie. Und Toto sah ihr mit seinen kleinen schwarzen Augen ins Gesicht und wedelte mit dem Schwanz, um ihr zu zeigen, daß er genau wußte, was sie meinte.

In diesem Moment sah Dorothy auf dem Tisch die Silberschuhe liegen, die der Hexe des Ostens gehört hatten.

„Ich frage mich, ob sie mir passen würden“, sagte sie zu Toto. „Sie wären genau das Richtige, um einen langen Spaziergang zu machen, denn sie können sich nicht abnutzen.“

Sie zog ihre alten Lederschuhe aus und probierte die silbernen an, die ihr so gut paßten, als wären sie für sie gemacht worden.

Schließlich hob sie ihren Korb auf.

„Komm mit, Toto“, sagte sie. „Wir werden in die Smaragdstadt gehen und den Großen Oz fragen, wie wir wieder nach Kansas kommen können.“

Sie schloß die Tür, verriegelte sie und steckte den Schlüssel sorgsam in die Tasche ihres Kleides. Und dann machte sie sich mit dem braven Toto im Schlepptau auf die Reise.