Der Würfel - Bijan Moini - E-Book

Der Würfel E-Book

Bijan Moini

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Beschreibung

Unsere Wirklichkeit wird mehr und mehr von künstlicher Intelligenz geprägt. Dieser brillante Roman erzählt auf packende Weise, wohin uns diese Entwicklung führt: in ein sorgenfreies Leben, über das der perfekte Algorithmus herrscht, genannt "Der Würfel". Die nahe Zukunft. Deutschland wird von einem perfekten Algorithmus gesteuert: Der "Würfel" ermöglicht den Menschen ein sorgenfreies Leben, zahlt allen ein Grundeinkommen, erstickt Kriminalität im Keim. Um das zu leisten, sammelt er selbst intimste Daten der Bevölkerung. Berechenbarkeit ist zum höchsten Gut geworden. Einer der wenigen Rebellen gegen dieses System ist der 28-jährige Taso. Mit großem Aufwand entzieht er sich der Totalerfassung, täuscht den Würfel über seine Vorlieben und Gedanken, indem er seine Entscheidungen mithilfe von Spielwürfeln und einer Münze trifft. Er ist ein "Gaukler", einsam, aber zufrieden. Doch dann bekommt er Besuch von einer jungen Frau: Dalia ist aus einer rückständigen Sekte geflohen und wünscht sich nichts sehnlicher als ein Leben in der schönen Welt des Würfels. Taso verliebt sich in sie, gerade als der Widerstand ihn rekrutieren will. Plötzlich steht er vor einer unmöglichen Entscheidung: Verrät er seine Ideale – oder eine ideale Welt?

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Bijan Moini

Der Würfel

Roman

 

 

 

Für Linny

1

Die Fenster waren mit schwarzer Folie überzogen. Es roch nach feuchtem Holz und chlorhaltigem Schimmelentferner. Die Lüftung im Bad und der Abzug in der Küche surrten auf Hochtouren. Ein schwerer Vorhang versperrte den Blick in den Flur, davor stapelten sich ungeöffnete Pakete.

Taso lag in Boxershorts und T-Shirt auf dem Schlafsofa. Seine Finger spielten geübt mit einer großen silbernen Münze, als von außen etwas leise an der Scheibe kratzte. Er erstarrte und lauschte, bis das Geräusch verstummte. Nachdem es still blieb, wandte er sich zur Deckenlampe und schloss abwechselnd das linke und das rechte Auge. Mal verdeckte der hängende Lampenschirm die Uhr über der Küchentür, mal nicht. Mal hatte er alle Zeit der Welt, mal war er zu spät.

Schon zum fünften Mal warf er die Münze in die Luft und fing sie mit der flachen Hand wieder auf. Bei den vorherigen Würfen hatte die kaum noch erkennbare Kopfseite oben gelegen. Nun war es die ebenso abgewetzte Fünf.

Taso stöhnte – aber Zahl war Zahl. Missmutig erhob er sich und schlurfte zum offenen Kleiderschrank neben dem Sofa. Die vielen Kleiderbügel waren jeweils von eins bis sechs nummeriert: Auf den ersten sechs Bügeln hingen Hosen verschiedener Farben und Schnitte, auf den nächsten Hemden, dann Pullover und Jacken. Darunter standen mehrere Paar Schuhe. Er beugte sich über einige Bauchfalten nach unten, entnahm einer Schublade des Schranks fünf Würfel und warf sie auf den Boden. Der Würfel, der dem Schrank am nächsten lag, zeigte eine Zwei. Taso griff nach dem zweiten Bügel der Stange. Die weiße Schlaghose also. Der zweitnächste Würfel zeigte eine Sechs. Taso verzog das Gesicht und nahm den sechsten Hemdenbügel aus dem Schrank.

Nachdem er sich vollständig angezogen hatte, prüfte er im Badspiegel seufzend seine Erscheinung. Hawaiihemd, Wollpullover und Jeansjacke passten nicht besonders gut zu Schlaghose und Turnschuhen. Er war zwar gewohnt, wie ein Verrückter rumzulaufen, aber so ganz überwunden hatte er seine Eitelkeit nie. Er strich sich etwas Haargel auf die Finger und verteilte es wild in seinen dunkelbraunen Haaren, damit sie ihm nicht mehr vor die Augen fielen. Während er sich die Hände wusch, vermied er weitere Blicke in den Spiegel. Vielleicht sollte er ihn abhängen, um sich unnötiges Leid zu ersparen. Oder einfach auch mit schwarzer Folie überkleben.

Zurück im Zimmer nahm er ein kugelförmiges Päckchen mit einer feinen Schleife vom Tisch und steckte es in die linke Hosentasche. In die rechte schob er routiniert seine Münze, trat durch den Vorhang in den Flur und schloss ihn so hinter sich, dass vom Rest der Wohnung nichts mehr zu sehen war. Auf einer Kommode neben der leeren Garderobe stand eine kleine schwarze Box. Er öffnete sie mit demselben Widerwillen wie früher seine Zahnspangendose. Sie war vollständig mit Schaumstoff ausgekleidet, der einen Behälter mit zwei Klappen schützte. Oder besser: Taso vor seinem Inhalt.

Unter der ersten Klappe schwammen zwei braune Kontaktlinsen in einer milchigen Flüssigkeit. Auf ihre Oberfläche war ein Abbild von Tasos Augen gelasert, die schwarzen Pupillen waren kleine Kameras. Mit gestrecktem Zeigefinger setzte sich Taso die Linsen nacheinander ins Auge; sofort sogen sie sich an seinem Augapfel fest. Taso verabscheute dieses Gefühl und mehr noch, was darauf folgte. Für einen Moment war alles schwarz. Dann sah er wieder die Garderobe im Flur, übertragen von den Kameras in seinen Augen. Vor ihm drehte sich ein dreidimensionaler Würfel ein paar Sekunden um die eigene Achse und wechselte dabei fließend die Farbe von Weiß zu Grau zu Silber und schließlich zu Gold.

Nach dem Würfel erschienen Buchstaben. Bitte setze deine SmEars ein.

Taso hatte die zweite Klappe bereits geöffnet, nahm zwei wachsartige Stöpsel heraus und schob sie in die Ohren, wo sie sich sofort verkürzten und gleichzeitig so ausdehnten, dass sie seinen Gehörgang perfekt verschlossen.

Danke, dass du Smarts von YEE nutzt, die meistgetragenen SmEyes und SmEars der Welt, sagte eine Frauenstimme in seinen Ohren.

Im Randbereich seines Blickfelds erschienen die Icons zahlreicher Applikationen. Ein Newsfeed und ein Kalender bettelten wackelnd um Aufmerksamkeit, auf der anderen Seite blinkten die Absender und Betreffzeilen einiger E-Mails und einer Videonachricht. Von Tim war nichts dabei.

»Vision leeren«, sagte Taso und sah wieder nur den nackten Flur. Mit einem leichten Stechen im Bauch verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Vor ihm erschien ein dreidimensionales Schlüsselsymbol in der Luft.

Die Tür verriegelt sich in drei Sekunden.

Er ging die Treppe hinunter und hörte den Schließmechanismus der Wohnungstür, bevor sich der Schlüssel vor ihm in einen grünen Haken verformte, der einen Augenblick später verschwand. Eine halbe Etage tiefer blieb er auf der untersten Treppenstufe stehen. Der Schritt auf die Straße kostete ihn jedes Mal Überwindung. Die Wohnung war seine Welt, draußen herrschte der Würfel. Der Würfel war überall: in Drohnen am Himmel, in Fahrzeugen auf der Straße, in den Smarts anderer Menschen, in Kameras, Mikrofonen und Sensoren an Kleidern, Körpern und Gebäuden. Er lauerte gierig, wartete auf Taso, auf einen Moment der Schwäche, eine unüberlegte Äußerung, eine unwillkürliche Geste, eine Gefühlsregung. Er war wach, wenn Taso müde war, war da, wenn Taso allein sein wollte. Er scherte sich nicht um Tasos Bemühungen, sich seinem bohrenden Blick und unerbittlichen Urteil zu entziehen.

Taso atmete noch einmal tief durch wie ein Schauspieler vor der Premiere, beschwor ein Lächeln herauf und trat durch die sich öffnende Haustür nach draußen.

 

Es war der erste Freitag im April, und schwere Wolken verdeckten den Himmel. Das Brummen unzähliger Propeller übertönte jedes Frühlingsgeräusch. Lieferdrohnen mit kleinen und großen Ladungen flogen geschäftig von hier nach dort. Über ihnen drehten Polizeidrohnen wie Adler ihre Kreise. Noch weiter oben schwebten dickbäuchige Mutterschiffe mit Tauschbatterien, betrieben von gewaltigen Solarsegeln.

Vor Taso rollte eine Herde selbstfahrender Autos lautlos die Straße entlang. Der Gehweg war verwaist. Er steckte die Hand in die Hosentasche und fühlte die Münze. Mit etwas ruhigerem Puls lief er los.

Über sich hörte er das Surren einer Drohne, die die schwarzen Fenster seiner Wohnung nach Nahrung absuchte, nach einem Loch im Dunkel. Sie fuhr einen Schaber aus und kratzte über das Glas – erfolglos, weil die Folie von innen aufgeklebt war – und zog wieder davon. Triumphierend sah Taso ihr nach.

Die Drohne schürfte für ihren Besitzer nach Daten. Der Würfel zahlte gut für frische Informationen. Für die Suche nutzten Datenschürfer Karten, auf denen weiße Flecken eingezeichnet waren – Orte, über die der Würfel keine, wenige oder veraltete Daten besaß.

Tasos Wohnung war ein solcher Fleck, sein weißer Fleck. Der Würfel hatte keine Ahnung, wie es darin aussah, ob es dreckig oder sauber war, wie oft er Zähne putzte, masturbierte oder aufs Klo ging, was er hörte, las oder sang, aß oder trank, sprach oder schrieb. Jede zu Hause verbrachte Stunde war ein bisschen Chaos, jede Minute ein Akt des Widerstands.

Taso reckte das Kinn und richtete seinen Blick wieder auf den Gehweg.

Soll ich dir gutes Wetter smalen?, fragte die Stimme in seinen Ohren.

Er holte die Münze aus der Hosentasche und wog sie in der Hand. Seit er denken konnte, hatte sie ihn fasziniert. Früher hatte sie seiner Großmutter gehört, die sie als Kind bekommen und als eine Art Glücksbringer bei sich getragen hatte. Jedes Mal, wenn Taso sie besuchte, wollte er die Münze sehen, mit ihr spielen, sie stundenlang mit sich herum tragen. Irgendwann begann seine Großmutter, sie für ihn zu werfen. Zeigte sie fünfmal hintereinander Zahl, dürfe er sie behalten, sagte sie. Als er fünfzehn war, gehörte sie ihm. Seit diesem Tag fühlte er bei jedem Verlassen des Hauses nach dem vertrauten Silberstück in seiner Hosentasche. Auch die Beerdigung seiner Großmutter vor einigen Jahren ertrug er nur, indem er die Münze fest in seiner Hand umschlossen hielt.

Er warf sie in die Luft. Zahl.

»Ja, smal mir gutes Wetter«, sagte er trocken. Im Zeitraffer wichen die Wolken strahlendem Sonnenschein. Die ganze Straße leuchtete auf, Autos und Häuser warfen Schatten, und er spürte beinahe die Sonne auf der Haut – wäre da nicht der feucht-kühle Wind gewesen, der ihm um die Ohren fegte. Ein paar Cent pro Stunde würde ihn dieses absurde Wetter-Feature jetzt kosten.

Wohin möchtest du?

Taso befragte wieder die Münze – Kopf – und schwieg. Als er die Straße überquerte, hielten die Sefas automatisch, Ampeln gab es schon lange nicht mehr. Seinen Weg begleiteten virtuelle Werbeplakate, mal erschienen sie auf dem Boden, mal vor ihm in der Luft. Er verdiente zu seinem Grundeinkommen kaum etwas hinzu, weshalb er den Werbeblocker nur selten einsetzte. Die Angebote waren bunt gemischt und unspektakulär: keine Reisen ins All oder per Überschall nach Afrika, kein Loft mit Blick auf den Fernsehturm am Alex, kein eigenes Sefa, sondern Werbung für einen Offlinerintegrationskurs, für eine neue Generation günstigen Fleischersatzes und für ein Augmented-Reality-Spiel, in dem man sich den Weg zur Arbeit mit einem Lichtschwert freikämpfen musste. Der Chefentwickler schwor, dass das Spiel Tasos Lust auf die Arbeit um zehn Prozent steigern würde.

Nichts davon interessierte ihn auch nur im Geringsten. Aber er genoss die kläglichen Versuche des Würfels, seinen Geschmack zu erraten. Denn sie zeigten, dass seine Mühe nicht umsonst war und er dem Würfel ein Rätsel blieb – so, wie es sich für einen routinierten Gaukler gehörte. Taso vereinbarte seinen x-ten Termin für einen Integrationskurs, den er nie besuchen würde, bestellte etwas Kunstfleisch und trug für Montag in den Kalender ein, auf dem Weg zur Arbeit das dämliche Jedi-Spiel auszuprobieren. Plötzlich brauste ein Polizei-Sefa an ihm vorbei und hielt ein paar Meter vor ihm am Straßenrand. Er verkniff sich ein Seufzen.

»Sag Peter bitte, dass ich zur Polizei muss und mich verspäte«, murmelte er und ärgerte sich sofort über das »Bitte«. Eigentlich hatte er nichts gegen die Verzögerung, große Lust hatte er auf die Geburtstagsparty seines Zwillingsbruders nicht, aber auf ein Zusammentreffen mit der Polizei hätte er heute trotzdem verzichten können.

Erledigt.

Sollte er störrisch sein? Er warf die Münze: Zahl. Also ja. Als er das Fahrzeug erreichte, stieg eine Frau aus. Sie war um die dreißig, trug eine enge Uniform, die eine sportliche Figur erkennen ließ, und hatte ihr dickes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Hallo, Herr Doff, Vogel mein Name.« Sie gab ihm die Hand. »Tragen Sie Smarts?« Ihr Tonfall war bestimmt.

»Ja.«

»Gut. Würden Sie mich bitte für eine halbe Stunde aufs Revier begleiten?«

Taso gab sich empört: »Muss das sein? Ich bin gerade auf dem Weg zur Geburtstagsfeier meines Bruders.«

Die Polizistin hielt inne, offenbar ging sie ein paar ihr angezeigte Informationen durch. »Richtig … herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie schließlich mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich muss Sie trotzdem bitten mitzukommen. Hätten Sie auf eine unserer drei Ladungen reagiert …«

»Ich hatte dieses Jahr schon zwei Gespräche«, unterbrach Taso sie genervt. »Warum denn schon wieder?«

Vogel hatte offenbar nicht mit Widerstand gerechnet und wischte mit den Händen vor sich durch die Luft. Vielleicht aktivierte sie ihre Konversationshilfe, vielleicht rief sie Verstärkung.

»Ich entscheide nicht selbst über Gefährderansprachen.« Eine fußballgroße Polizeidrohne flog herbei und positionierte sich über ihr. »Laut unseren Informationen ist ein Gespräch mit Ihnen überfällig. Wenn Sie also bitte mitkommen würden …« Die Polizistin zeigte mit einer auffordernden Handbewegung auf ihr Sefa.

Taso holte seine Münze aus der Tasche und warf sie vor der irritierten Polizistin in die Luft. Die Drohne surrte etwas lauter und öffnete kleine Klappen an ihren Vorderseiten, aus denen sich schlanke Rohre schoben. Taso sah auf die Münze: Kopf. Wortlos stieg er in das Fahrzeug. Draußen hörte er die Polizistin ausatmen.

Taso sah während der gesamten Fahrt stumm aus dem Fenster. Polizei-Sefas durften schneller fahren als andere, von Würfelhand bildeten die Fahrzeuge vor ihnen eine Gasse. Aus dem Wageninneren wirkten die Straßen noch voller als vom Gehweg, die Sefas fuhren im Abstand von wenigen Zentimetern hintereinander her, ohne einen Unfall zu verursachen. Vor zwei Jahren hatte die Stadt die U-Bahn geschlossen, weil Carsharing günstiger geworden war als der öffentliche Nahverkehr. Nur Logistikunternehmen nutzten noch die alten Tunnel. Abgasfreie, leise Autos hatten auch die Wohnungen an viel befahrenen Straßen wieder attraktiv gemacht. In die Erdgeschosswohnungen konnte Taso allerdings nicht sehen. Früher hatte es Vorhänge gegeben, heute versagten ihm seine SmEyes den Einblick. Nur manche Fenster sah er nicht verschwommen, sondern klar: die mit schwarzer Folie beklebten. Erschrocken stellte er fest, wie wenige es geworden waren. Sein Blick blieb an einem Café hängen, aus dessen Frontscheibe ein Baum herauszuwachsen schien. Früher war hier ein Comicladen gewesen, in dem sein Bruder und er ganze Nachmittage verbracht hatten, immer auf der Hut vor dem Besitzer und seinen Ermahnungen, die Hefte nicht nur zu lesen, sondern gefälligst auch zu kaufen. Einige dieser Comics hatte Taso noch immer. Von den Ladengeschäften seiner Kindheit war aber keines übrig geblieben. Stattdessen reihte sich nun Café an Restaurant an Bar. Als würden die Menschen den ganzen Tag nur noch trinken und essen und trinken. Und so war es eigentlich auch. Zumindest für viele.

Das Polizeihauptquartier lag nur wenige Minuten entfernt. Die dunklen Scheiben des riesigen Gebäudes waren von weißem Beton umrandet. Wie ein Wachturm stand es in der Häuserlandschaft, überragte die angrenzenden Gebäude mindestens um das Doppelte. Vogel parkte den Wagen in der Tiefgarage und führte Taso zu einem Aufzug.

Er kannte das Revier schon viel zu gut: Zwanzigmal war er bestimmt schon hier gewesen, meist für Gefährderansprachen. Das erste Mal hatte man ihn kurz nach dem Referendum vorgeladen. Damals hieß das Gebäude noch Internationales Handelszentrum und beherbergte überwiegend Unternehmen; die Polizei belegte nur vier Etagen. Die Einführung des Würfels stülpte jedoch die gesamte Wirtschaft um, und das Gebäude leerte sich rasch. Nur eine Anwaltskanzlei in der fünfzehnten Etage, die sich früh auf den Wandel eingestellt hatte, hatte überlebt. Den Rest des Gebäudes übernahm schrittweise die in den Jahrzehnten zuvor aufgeblähte Polizei. Nach einem Einbruch der Kriminalitätsrate besetzte der Verfassungsschutz immer mehr Etagen. Vogel fuhr mit Taso in den vierten Stock und führte ihn wortlos einen Gang hinunter, bis sie vor einem kleinen, hellen Raum stehen blieb. »Mein Büro«, sagte sie und deutete auf ein spärlich befülltes Wandregal und einen leeren Schreibtisch mit zwei Stühlen davor. »Es wird noch etwas trostlos auf Sie wirken. Ich bin gerade erst eingezogen und habe noch keine Version für Gäste gesmalt.«

Taso nahm Platz und stellte sich an die Wand gesmalte Videos von Vogels wildesten Gefährderansprachen vor. »Ich muss sowieso meine Smarts rausnehmen, richtig?«

Sie sah ihn irritiert an und las dann hektisch etwas durch, das ihr ihre SmEyes anzeigten. »Richtig«, sagte sie nach einer Weile und lächelte angestrengt. Das war offenbar ihre erste Gefährderansprache.

Taso nahm seine SmEars heraus. »Ich mag die Dinger sowieso nicht«, sagte er, »aber ohne kommt man ja nicht mal mehr in seine Wohnung und wird überall hin von Datenschürfern verfolgt.«

Vogel holte einen Smartsbehälter aus dem Regal. Umständlich fummelte sie daran herum, bis er endlich aufsprang, und reichte ihn mit spitzen Fingern über den Tisch.

Nachdem Taso auch die SmEyes herausgenommen und in dem Behälter verstaut hatte, verstand er, warum Vogel plötzlich so nervös war: Sie hatte ihr äußeres Erscheinungsbild gesliftet. Ohne Smarts sah er nun, wie sie wirklich aussah: Sie war nicht dreißig, sondern höchstens um die zwanzig. Ihre Haut war unreiner als eben noch, die Wangen leicht gerötet. Das satte Schwarz ihrer Haare war einem dumpfen Rotton gewichen; geschminkt war sie auch nicht mehr. Ihre Uniform spannte über der Hüfte und den breiten Oberschenkeln, auch ihre Körpergröße hatte sie in ihrer Slifting-Version gestreckt. Außerdem war auf dem Schreibtisch eine Schüssel mit Schokoladentäfelchen aufgetaucht, die sie offenbar für Gäste und bestimmt auch für Kollegen weggesmalt hatte. Taso war amüsiert, ließ sich aber nichts anmerken. Ein so aufwendiges Slifting war rechenintensiv und damit teuer, ging aber bestimmt auf Staatskosten. Vogel mied seinen Blick, setzte sich und sah angestrengt an ihm vorbei, während sie offenbar ihre Anweisungen durchging.

Sie räusperte sich vor dem Hauptteil des Gesprächs.

»Sie wissen, warum Sie hier sind?« Ihre Stimme klang nun sehr viel höher.

»Nicht wirklich«, antwortete Taso freundlich. »Darf ich?« Er zeigte auf die Schüssel mit den Schokoladen.

»N-natürlich«, stammelte Vogel, woraufhin er ein Täfelchen ergriff, auswickelte und sich in den Mund schob.

Vogel sah ihn kurz an und fuhr dann fort. »Wir sprechen regelmäßig mit Personen, die demnächst Straftaten begehen könnten. Eingangs muss ich Ihnen erklären, warum wir Sie für ein Risiko halten.« Sie verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und wurde etwas ruhiger. »Zunächst einmal haben Sie einen extrem niedrigen Pred-Score. Ehrlich gesagt habe ich noch nie jemanden mit einem niedrigeren getroffen, dabei kenne ich gar nicht so wenige Offliner – und sogar noch einen anderen Gaukler.«

Taso fühlte sich geschmeichelt. Wenn er auf irgendetwas im Leben stolz war, dann auf seinen Predictability-Score. Der niedrige Wert hob ihn von den vielen Menschen ab, die ein möglichst vorhersehbares Leben führen wollten. Manche taten es für die damit verbundene Bequemlichkeit, andere für ein höheres Grundeinkommen, und wieder andere sahen in der Jagd nach Pred-Punkten schlicht ein Spiel, das immer schwieriger wurde, je weiter man kam. Taso erschauderte bei dem Gedanken an den dänischen Archivar, der mit knapp 91 Preds den Rekord hielt; es gab niemanden, den der Würfel besser vorhersehen konnte.

Taso arbeitete unablässig daran, das Gegenteil zu gewährleisten. Keiner seiner Offlinerfreunde machte es dem Würfel schwerer, sein Verhalten vorherzusehen, keiner gaukelte ihm erfolgreicher etwas vor. Aber es gab unter den Offlinern ohnehin kaum noch Gaukler. Seinen Pred-Score niedrig zu halten war harte Arbeit, denn 60 bis 70 Preds erreichte man schnell. Die meisten Offliner versteckten sich deshalb lieber vor dem Würfel, den sie als Feind Gottes oder ihrer Selbstbestimmtheit verdammten. Taso aber wollte sich nicht verstecken. Lieber gaukelte er dem Würfel Gedanken und Gefühle vor, die er nicht hatte – mit einer Disziplin, die ihn zu einem der besten Gaukler der Stadt machte. Aber auch sehr einsam.

»Gaukeln Sie doch selbst mal – ist sehr befreiend!« Er zerknüllte das Schokoladenpapier, legte es neben die Schüssel und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Vogel fuhr ungerührt fort: »Sie wurden seit dem Referendum zwölf Mal wegen Chaosstiftens verurteilt. Zwölf Mal in nur acht Jahren …«

»Das hat man mal demonstrieren genannt«, unterbrach Taso sie. Er wollte das Ganze zwar nicht unnötig in die Länge ziehen, aber er konnte nicht einfach dasitzen und ruhig zuhören, wie beim letzten Mal.

»Demonstrieren ohne Anmeldung! Das stürzt jedes Mal das öffentliche Leben ins Chaos. Drei Mal hat man Ihnen sogar Vorsatz nachgewiesen.«

»Weil ich bei Flashmobs mitgemacht habe.«

»Es ist egal, was genau Sie gemacht haben. Jedenfalls war es strafbar.« Vogel atmete tief durch.

Taso musste an seinen ersten Flashmob zurückdenken, kurz nach dem Referendum. Er hatte sich mit Gleichgesinnten am Potsdamer Platz verabredet, damals die meistbefahrene Kreuzung der Stadt. Auf ein Kommando waren sie auf die Straße gestürmt und hatten einen Tanzkurs veranstaltet. Als das erste Hupkonzert verklungen war, hatten sich mehr und mehr Autofahrer lachend zu ihnen gesellt. Nur ein Jahr später wurden sie bei einer ähnlichen Aktion ausgebuht, so große Angst hatten die meisten Menschen schon da vor einem Abfall ihres Pred-Scores.

»Sie waren vor dem Referendum ein sehr aktiver Gegner des Kubismus …«

»Ich lehne den Würfel bis heute ab.«

Vogel nickte. »Sie besuchen immer noch regelmäßig Würfelfreie Zonen und haben mutmaßlich viel Kontakt zu anderen Offlinern. Andererseits sind Sie noch nie im Zusammenhang mit Extremisten aufgefallen. Seit zwei Jahren sind Sie auch nicht mehr politisch aktiv.« Sie sah ihn eindringlich an. »Ist das alles so korrekt?«

Taso wusste, dass Vogel jede seiner sicht- und hörbaren Körperreaktionen in Echtzeit auswerten ließ. »Ja«, antwortete er mit kräftiger Stimme.

Sie musterte ihn eine Weile und schien zufrieden. »Sie sind trotzdem auf einem sehr unguten Weg, wenn ich das so sagen darf«, sagte sie in einem Ton, als dürfte sie das so sagen. »Bei Ihren Vorstrafen drohen Ihnen bei erneuten Verstößen hohe Geldstrafen oder sogar die Kündigung Ihres Dienstverhältnisses. Erst recht, wenn Sie doch einmal in die falschen Kreise geraten sollten.«

Taso hätte am liebsten mit der Hand auf den Tisch geschlagen und der ungelenken Polizistin entgegengeschmettert, was er von ihrem belehrenden Ton und diesem ganzen Affenzirkus hier hielt, aber er sah sie nur aufmerksam an. Wie so oft schluckte er es hinunter, schluckte alles einfach hinunter, fütterte damit seinen inneren Antrieb. »Danke für Ihre Besorgnis, Frau Vogel«, sagte er, »aber sie ist vollkommen unbegründet – ich habe mich vorhin erst zu einem Integrationskurs angemeldet. Ich bin für den Kubismus keine Gefahr.« Taso erhob sich. »Kann ich jetzt gehen oder haben Sie sonst noch …?«

Vogel sprang auf, allerdings nicht wegen Taso, sondern wegen des Mannes, der plötzlich in der Tür stand. Als Taso ihn erkannte, zog sich alles in ihm zusammen.

»Na, Frau Vogel«, sagte Zhong Schneider, »haben Sie Besuch von einem Stammgast?« Er lachte und trat ins Büro.

Taso hatte Schneider lange nicht gesehen. Vor einiger Zeit hatte er gehört, dass der alte Polizist in den Verfassungsschutz gewechselt war und dort eine neue Einheit leitete, die sich ausschließlich dem antikubistischen Extremismus widmete. Er hatte gehofft, ihm nie wieder zu begegnen, denn eigentlich war Schneider für Gefährderansprachen nicht mehr zuständig.

Ein Blick auf Vogel verriet, dass der hohe Besuch auch sie überraschte. Aufgeregt begrüßte sie Schneider und bot ihm ihren Stuhl an. Er nahm wie selbstverständlich Platz und forderte Taso auf, sich wieder zu setzen. Mit einem schmallippigen Lächeln kam Taso der Aufforderung nach.

»Gut sehen Sie aus, Herr Doff! Wie ich sehe, gaukeln Sie immer noch auf höchstem Niveau – oder dem niedrigsten, besser gesagt.« Er lachte wieder und scrollte mit der Hand durch sein Blickfeld. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »19,84 Punkte! Wahnsinn. Wie mühsam das sein muss!«

Schneider richtete seinen Blick wieder auf Taso und sah ihn eine gefühlte Ewigkeit einfach nur an. So hatte er bislang jede Ansprache begonnen. Taso ertrug dieses wortlose Starren nur schwer. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte es ihn aus der Bahn geworfen. Seine jugendliche Arroganz hatte sich so schnell aufgelöst wie der muskulöse Bauch nach Ablauf seines bislang einzigen Slifting-Abos. Die sorgfältig vorbereitete Argumentationskette war augenblicklich vergessen gewesen, nach einer Minute hatte er einfach nur noch rausgewollt.

Schneider stützte seine drahtigen Unterarme auf den Tisch. Nun würde er zu sprechen beginnen. »Vielleicht überrascht Sie das, aber trotz Ihres eigentümlichen Hobbys zähle ich Sie zu den Guten. Deshalb bin ich heute hier.«

Taso lehnte sich zurück. Deshalb war wohl auch er selbst heute hier.

»Wir befürchten einen größeren Terroranschlag. Die Informationen sind vage, aber es könnten sehr viele Menschen zu Schaden kommen. Man munkelt, dass sich der Widerstand zunehmend radikalisiert.«

Taso blickte kurz zu Vogel, die geschäftig nickte, obwohl sie das vermutlich selbst zum ersten Mal hörte.

»Ich muss Ihnen nicht erklären, wie gefährlich die HF, CRAC und die ganzen anderen Verrückten sind.« Schneider lockerte seine Schultern, bis es knackte. »Ich möchte Sie bitten, Augen und Ohren offen zu halten – in den Würfelfreien Zonen der Stadt oder wo Sie sich sonst so rumtreiben … Ihre Freizeit verbringen, meine ich.« Er sah Taso wieder eindringlich an. »Ich weiß, dass Sie immer noch gut vernetzt sind. Und Sie wissen, dass der deutsche Staat Hinweisgeber ordentlich bezahlt. Es würde sich also für alle lohnen.«

Taso konnte nicht verhindern, dass seine Augen etwas größer wurden. Es war kaum zu glauben: Der große Schneider bat ihn um Hilfe. Entweder war er verzweifelt oder ahnungslos. So oder so schien der Widerstand ganze Arbeit zu leisten.

»Sie wollen, dass ich Ihnen helfe?«

»Warum denn nicht? ›Gewalt gegen eine vom Volk gewünschte Herrschaftsform ist nicht legitim!‹«, las Schneider vor. »Das waren mal genau Ihre Worte.«

Taso schwieg. Er fand die Vorstellung absurd, für Schneider zu spitzeln – völlig egal, was er erfahren würde oder einmal gesagt hatte. Ja, er war strikt gegen Gewalt, auch gegen den Kubismus, trotzdem würde er Schneider keine Informationen zustecken. Niemals.

»Als ich das gesagt habe, war ich fast noch ein Kind.«

Schneider hob die Augenbrauen. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Terroranschläge inzwischen gutheißen?« Sein Blick wurde todernst. »Wenn ich mitbekommen sollte, dass Sie Terroristen decken, stecke ich Sie persönlich in den Knast. Das garantiere ich Ihnen.«

»So meinte ich das nicht«, sagte Taso schnell. »Ich halte Gewalt immer noch für den falschen Weg, da können Sie mir die Worte im Mund verdrehen, wie Sie wollen.« Er griff erneut in die Schüssel mit den Schokoladen, um Schneiders Blick auszuweichen. Der sah verdutzt zu Vogel, die daraufhin hektisch in der Luft herumfuchtelte und ihm ein nun wohl für jedermann sichtbares Täfelchen anbot. Schneider lehnte es mit einer unwirschen Handbewegung ab und wandte sich wieder an Taso.

»Heißt das, Sie helfen uns?«

Taso zögerte. Er holte seine Münze heraus.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, rief Schneider. »Das ist kein Spiel, es geht um Menschenleben, verdammt!«

Taso warf die Münze ungerührt in die Luft – Zahl. »Wenn ich etwas höre, das mir zu weit geht, melde ich mich.«

Schneider schüttelte den Kopf und widmete sich einer Anzeige in seinem Sichtfeld. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Der Würfel hat eine Wahrscheinlichkeit von 73,52 Prozent errechnet, dass Sie das ernst meinen. Damit kann ich vorerst leben. In spätestens einem Monat lade ich Sie zum Rapport.«

Taso unterdrückte ein Grinsen. Vielleicht war er nicht nur einer der besten Gaukler, sondern der beste überhaupt.

2

Lustlos stand Taso vor dem Haus seines Bruders. Die vom Regen nasse Jeansjacke klebte an seinen Armen, obwohl der gesmalte Himmel noch immer wolkenlos war. Er prüfte seine E-Mails. Wieder nichts von Tim. Zögernd näherte er sich der Haustür, die sich sofort automatisch entriegelte.

Peter und seine Familie bewohnten das Dachgeschoss des Altbaus. Wie fast jedes Mal zwang Tasos Münze ihn, die Treppe zu nehmen. Er fluchte innerlich.

Fünf Stockwerke später stand er schnaufend vor der angelehnten Wohnungstür und lauschte dem Stimmengewirr dahinter. Beschämt sah er an sich herunter. Wenn er doch wenigstens nicht die Schlaghose gewürfelt hätte! Er fühlte sich wie ein Schüler, der gleich vor seine neue Klasse treten musste, wollte kehrtmachen und nie wiederkommen.

Du betrittst eine Privatveranstaltung. Andere Besucher sehen dein öffentliches Profil. Konversationshilfe aktivieren?

»Nein«, sagte Taso und trat ein. Prompt hörte er durch seine SmEars sanfte Musik.

Er war fast zwei Stunden zu spät. Überall standen ihm unbekannte Menschen. Kühle Luft zog von der West- zur Ostterrasse, verteilte den Duft frischer Häppchen und das Parfüm herausgeputzter Gäste. Taso konnte sich nicht erinnern, je selbst eine so große Party geschmissen zu haben. Zwei Frauen in seiner Nähe lachten laut. Ihre Figuren und Frisuren sahen makellos aus, die Sliftings mussten ein Vermögen kosten. Eine trug ein Kleid aus Schlangenhaut, die andere strahlte ganz in Weiß; die Farben ihrer Cocktails waren perfekt auf ihre Erscheinungen abgestimmt. Im Wohnzimmer saß eine Gruppe Männer mit aufgerissenen Augen nebeneinander auf der Sofakante. Einer packte grob den Unterarm seines Nachbarn, ein anderer schlug sich fluchend auf den Oberschenkel, während ein dritter genüsslich grinsend die Arme in die Luft reckte. Vermutlich hatten sie ihre Smarts für ein Spiel verbunden. Ein Kreischen ertönte, und an Taso rannte erst ein kleines Mädchen, dann ein kleiner Junge vorbei, beide in Ghostbusterskostümen und offenbar auf der Jagd nach etwas, das ihre SmEyes anzeigten. Auf die Wände waren aufwendige Kunstwerke gesmalt, die sich um Balken, Ecken und Kanten herumschlängelten und mit wechselnden Farben im Rhythmus der Musik pulsierten, dazwischen erschien immer wieder eine 28.

Ihre Gastgeber-App musste Roya über Tasos Ankunft informiert haben, schon nach wenigen Sekunden drückte ihn seine Schwägerin an sich. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, das sich spiralförmig um ihren Körper wand und schmale Streifen nackter Haut zeigte, ihre dunklen Locken fielen frei über die Schultern. Sie wirkte ausgelassen und beschwipst.

»Alles Gute zum 28.!«, rief sie mit der warmen Stimme, die er so mochte. »Wie schön, dass du da bist! Konntest du nicht früher?«

Während sie seine Jacke aufhängte, erklärte sich Taso mit einem Bericht vom Umweg über das Polizeirevier.

»Meine Güte, haben die nichts Besseres zu tun?«, sagte Roya und schüttelte den Kopf. Taso zuckte nur mit den Achseln und zeigte auf die bunten Wände. »Hast du das selbst gesmalt?«

Roya lachte. »Schön wärs – sieht klasse aus, oder? Das war eine unserer Proxistinnen.« Sie zeigte auf eine junge Frau, die an der gegenüberliegenden Wand stand und sich mit zwei älteren Männern unterhielt. Sie trug einen engen Einteiler, der aus diversen hellen Stofffetzen zusammengenäht war und einen tiefen Ausschnitt hatte.

»Pass auf, wo du hinguckst«, hörte er Roya sagen, aber sein Blick hatte offenbar schon zu lange an der falschen Stelle verweilt: Vor seinen Augen sank der Ausschnitt des Kleids, bis die Karikatur einer weiblichen Brust hervorsprang, völlig deformiert und bläulich angelaufen. Die junge Frau drehte sich zu ihm und grinste schelmisch. Roya lachte, während Taso sich peinlich berührt abwandte.

»Zugegeben, sie ist etwas speziell. Aber ich bin noch nie einer schnelleren Proxistin begegnet. Die Wände hatte sie in zwei Stunden fertig. Unglaublich!«

Wenn er Roya jetzt nicht in eine andere Richtung lenkte, würde sie stundenlang über die Eleganz von Codezeilen sprechen, über die virtuelle Tastatur als neue Farbpalette und die Eroberung der Kunst durch die Informatik oder der Informatik durch die Kunst, denn Roya war Kuratorin im Museum für »Art by Proxy«. Taso war kein großer Bewunderer dieser Kunstform, in der Computerprogramme Bilder, Filme oder Installationen generierten und Künstler nur noch durch die Veränderung von Codezeilen Einfluss nahmen, nickte Roya aber anerkennend zu.

»Alles Gute zum Geburtstag, Brüderchen!«, rief eine vertraute Stimme hinter ihm. Taso fuhr herum. Ein etwas aufdringlicher Herrenduft und ein Hauch Alkohol streiften seine Nase. Peters Anblick erinnerte ihn immer daran, wie gut auch er aussehen könnte, wenn er sich nur modisch kleiden und ein wenig sliften würde. Peters perfekt sitzende Bluejeans passte hervorragend zu dem anthrazitfarbenen Hemd, dessen Ärmel er lässig umgeschlagen hatte, sodass man das rot gepunktete Innenfutter sah. Er hatte seine Figur sportlicher gesliftet, auch seine kurzen dunklen Haare wirkten voller als in Wirklichkeit, nur das Gesicht war unverändert. In gleicher Kleidung und ohne Slifting sähen sich die beiden so ähnlich, dass man sie nur an der Haarlänge unterscheiden könnte.

»Dir auch«, sagte Taso, und sie umarmten sich – wie immer eine Sekunde länger und ein Newton kräftiger als zwischen Brüdern üblich. Und wie jedes Mal blitzte in Tasos Kopf die Erinnerung daran auf, wie ihre Mutter sie an ihrem sechsten Geburtstag aufgefordert hatte, sich mit einer Umarmung gegenseitig zu gratulieren. Er hatte es erst komisch gefunden, aber das Wohlgefühl, das ihn damals ergriffen hatte, die Wärme und Vertrautheit, überwältigten ihn noch heute bei jeder Umarmung seines Bruders, ganz gleich wie sie gerade zueinander standen.

Sie lösten sich voneinander. Das Gefühl verschwand.

»Welch eine Ehre«, spottete Peter. »Passiert ja nicht jeden Tag, dass ein waschechter Staatsfeind zu Besuch kommt!« Taso erwiderte nichts, woraufhin Peter ihm lachend auf die Schulter klopfte. Roya sah ihren Mann vorwurfsvoll an und wandte sich anderen Gästen zu.

Taso konnte nicht behaupten, dass ihm Peters Kommentare nichts ausmachten, aber er hatte sich damit längst abgefunden. Er zog das kugelförmige Päckchen aus der Hosentasche und reichte es Peter, der ihn irritiert ansah. »Wir schenken uns doch nichts.«

Taso zuckte mit den Schultern. Sein Bruder löste die Schleife und packte einen roten Ball aus, dessen Hälften er so gegeneinander verschob, dass sie sich öffneten. Aus der unteren Ballhälfte nahm er einen kleinen Würfel, der auf drei Seiten schwarz schimmerte, auf den drei anderen weiß.

Peter wendete ihn in den Fingern und strich über die harten Kanten und die seidenweichen Oberflächen. Taso freute sich, dass sein Bruder zumindest für einen Moment fasziniert war. Ob er an ihre alte Würfelsammlung zurückdachte? Plötzlich verhärtete sich Peters Blick, und er steckte den Würfel in die Hosentasche.

»Danke«, murmelte er und sah Taso flüchtig an. Für einen Moment standen sie wortlos voreinander. Taso hätte Peter gern erzählt, dass der Würfel über hundert Jahre alt war, zu einem chinesischen Glücksspiel gehörte und einem früheren Eigentümer ein Vermögen beschert hatte. Stattdessen wechselte er zum erstbesten Standardthema. »Wie läufts bei der Arbeit?«

»Alles wie immer.«

»Ihr habt da was Neues entwickelt – Crazindi oder so? Hat mir eure App neulich empfohlen.«

»Ja, genau.«

Peter sprach nicht gern über seine Arbeit. Seine Programmiererei sei geheim, hatte er mal gesagt. Taso wusste nur, dass sein Bruder Storytelling-Algorithmen für ein Unternehmen schrieb, das individuelle Filme produzierte. Der größte Teil der Unterhaltungsindustrie bestand mittlerweile aus Filmen, Serien, Büchern, Musik oder Spielen des Indi-Genres. Peters Algorithmen erfanden spontan Geschichten – spannende, lustige, romantische, fantastische –, die weitere Algorithmen dann über die Smarts der Konsumenten sofort zum Leben erweckten. Fotorealistisch animiert entsprachen sie ganz der Vorliebe und Stimmung der Nutzer. Die Figuren glichen meist einst beliebten Schauspielern, um den Simulationen die Illusion echter Filme zu verleihen. So konnte jeder stets genau das sehen, hören, lesen, spielen, wonach ihm der Sinn stand, ohne selbst auswählen zu müssen. Auch Taso konsumierte Indi-Unterhaltung. Es war eine nervtötende, aber einfache Methode, den Würfel mit falschem Feedback über den eigenen Geschmack zu täuschen.

Taso blieb hartnäckig. »Crazindi – das sind Indi-Filme mit Logikfehlern, oder?« Peter deutete ein Nicken an. »Aber werbt ihr nicht mit Storys ohne Logikfehler?«

Peter zögerte einen Moment. »Natürlich sind logische Storys unsere größte Leistung. Aber das hat Indi-Filme auch stark eingeschränkt: Lässt man Logikfehler zu, kann man viel verrücktere Geschichten erzählen. Viele mögen das.«

Taso grinste. »Könnten dann nicht einfach wieder Menschen Filme machen?«

Peter winkte ab. »Viel zu teuer. Aber wie läufts bei dir denn so?«

Bevor Taso antworten konnte, kamen Yasin und Lisa auf ihn zugestürmt. Sein Neffe und seine Nichte trugen Piratenkostüme mit sperrigen Hüten und Augenklappen und grinsten über das ganze Gesicht. Der sechsjährige Yasin baute sich stramm wie ein Soldat vor Taso auf und rief viel zu laut: »Guten Tag, der Herr!« Er hatte die dunklen Locken seiner Mutter, die ungebändigt unter seinem Hut hervorsprangen.

»Guten Tag, Herr Ponykuchen!«, antwortete Taso mit tiefer Stimme. Yasin kniff die Augen zusammen und kicherte. Taso begrüßte die beiden stets mit wechselnden Fantasienamen, eines der wenigen öffentlichen Rituale, die er sich gönnte.

Lisa versuchte die Haltung ihres drei Jahre älteren Bruders zu imitieren. Mit ihrer Stupsnase und den riesigen schwarzen Augen sah sie noch niedlicher aus als er. »Guten Tag, der Herr!«

»Guten Tag, Frau Dackeltorte!«, antwortete Taso. Beide Kinder prusteten los und umarmten ihn.

Taso liebte die kindliche Freude und Unbeschwertheit der beiden, auch wenn er sie nie wirklich teilen konnte. Warum auch sie ihn so mochten, konnte er sich nicht erklären: Er begegnete ihnen meist kühl und distanziert, hatte wenig Verständnis für ihre digitalen Spiele, und reich beschenken konnte er sie auch nicht. Disziplinierter Gaukler, der er war, blickte er immer ungerührt drein, wenn sie ihn anlächelten. Vielleicht genügten aber seine Begrüßungen und die darauffolgenden festen Umarmungen, um ihnen seine wahren Gefühle zu vermitteln.

Als er sich wieder aufrichtete, zogen die Kinder weiter. Peter war bereits in ein Gespräch mit drei Unbekannten verwickelt. Tasos SmEyes zeigten neben ihren Köpfen in kleinen Blasen ihre öffentlichen Profile an, aber statt sie zu lesen, folgte er seinem Hunger in die Küche. Auf großen Platten mit Holzoptik lagen unzählige Häppchen, eins verlockender als das andere. Er war allein und wusste, dass hier keine Kameras hingen. Er schloss die Augen, beugte sich über die verschiedenen Platten und roch ausgiebig an dem karamellisierten Kunsthuhn mit Mandeln, dem Krabbencocktail mit gehäuteten Mandarinenstückchen und dem Linsensalat mit Minze und Basilikum.

Selbst mit verdeckten SmEyes könnte er keines der leckeren Häppchen essen, ohne dass der Würfel es erführe. Der letzte Besucher der Küche hatte das Essen sicher gesehen, auch der nächste würde SmEyes tragen, sodass der Würfel Taso jedes fehlende Gramm zuordnen könnte. Er öffnete die Augen, nahm sich schweren Herzens nur eins der Gläschen mit dem Krabbencocktail, legte sich zwei Blätterteigküchlein mit Fenchel auf einen Teller – er hasste Fenchel – und ging ins Wohnzimmer.

Betont genüsslich kaute er auf dem scheußlichen Gemüse herum und suchte nach vertrauten Gesichtern. Auf der anderen Seite des Zimmers erkannte er drei Männer, die er vor einiger Zeit als Peters Studienfreunde kennengelernt hatte. Kollegen seines Bruders schienen keine da zu sein, wie schon im letzten Jahr. Peter hatte offenbar wenig Kontakt, wenn er im stillen Kämmerlein seine ach so geheimen Codes schrieb.

Von der Terrasse hörte Taso das Maschinengewehrlachen seines ehemaligen Schulfreundes Luke herüberschallen. Wahrscheinlich stand er mit seiner mausgesichtigen Frau Vanessa zusammen, umringt von irgendwelchen Langweilern, und gab peinliche Heldengeschichten zum Besten, während er sich ein Bier nach dem anderen in den Rachen kippte. Dass Peter immer noch mit ihm befreundet war, wollte Taso nicht in den Kopf. Er selbst hatte vor genau einem Jahr das letzte Mal mit Luke gesprochen und auf Lebzeiten keinen Bedarf an einer Fortsetzung.

»Na?«, hatte Luke damals gesagt und seinen schweren Arm um Tasos Schulter gelegt. »Noch immer offline?« Mit breitem Grinsen hatte er sich seiner Frau zugewandt. »Taso gaukelt, hat einen niedrigeren Pred-Score als mein Opa!« Er lachte laut auf, und Taso stimmte mit ein, versuchte dabei, die Tonlage zwischen aufrichtig und zynisch schwanken zu lassen.

Luke steckte sich ein Lachsschnittchen in den Mund und nuschelte: »Und lebt von unseren Daten.«

Das hatten Taso schon viele Menschen vorgeworfen. Es fiel ihm deshalb nicht schwer, ausgiebig zu lächeln, als hätte Luke ihm ein Kompliment gemacht. »So sehe ich das nicht«, sagte er ruhig.

»Du bekommst doch ein Grundeinkommen, oder? Ohne unsere Daten könnte der Würfel Angebot und Nachfrage nicht mehr steuern und keine Grundeinkommen erwirtschaften – und wir würden Arbeitszeit und Ressourcen verschwenden.«

Seine unreflektierte Wiedergabe von Würfelpropaganda klang wie von der Konvohilfe abgelesen. Aber so einfach ließ sich Taso nicht provozieren. »Wir könnten auch so genug erwirtschaften, um gut zu leben, das hat früher ja auch geklappt.«

»Weil es da noch genug Arbeit gab!«, sagte Luke und wischte sich über den Mund.

»Gäbe es immer noch, wenn nicht immer alles so ultraeffizient sein müsste.«

Luke nahm ein weiteres Kanapee vom Büfett. Er hielt seiner Frau eine grün-grau bestrichene Weißbrotscheibe hin, sie schüttelte den Kopf. »Also ich habe jedenfalls keine Lust, länger zu arbeiten, nur damit Leute wie du …« Der Rest des Satzes verschwand in Kaugeräuschen.

Taso hatte sich wortlos selbst etwas zu essen genommen und war aus der Küche gegangen.

Soll ich dir alle Personen anzeigen, die du kennst? Taso aß die letzte Ecke Blätterteig und nickte. Seine SmEyes markierten neben den bereits gesichteten sechs weitere Personen. Er las in den angezeigten Profilen, wer sie waren und woher er sie kannte: Drei Kolleginnen von Roya waren darunter, eine weitere Kommilitonin von Peter und ein mit beiden befreundetes Paar, mit dem er offenbar auf der letzten Geburtstagsfeier ein paar Floskeln ausgetauscht hatte.

Keiner von ihnen würde sich gern mit ihm unterhalten.

Das war nicht immer so gewesen. Vor dem Referendum hatten Freunde und Bekannte seine Einstellung zum Datenschutz noch toleriert, ja sogar respektiert. Es hatte als angesagt gegolten, einen Totalverweigerer wie ihn auf Partys einzuladen. Mit der Zeit sahen sie ihn aber immer kritischer. Als er nach dem Referendum zu gaukeln begann, verdorrte sein Sozialleben rasch. Die Freundschafts-Apps der Kubisten errechneten geringe Chancen auf nachhaltige Beziehungen zu ihm, weil sie zu wenig Daten über ihn hatten. Kaum einer wollte bei ihren Treffen noch seine Smarts herausnehmen, weil es ihnen zu umständlich war und ihre Pred-Scores reduzierte. Außerdem belohnte der Würfel immer stärker den Kontakt zu Menschen, die einen hohen Score hatten, und zog Punkte ab, wenn man Gaukler und damit Chaos in sein Leben ließ. Wer dennoch zu ihm hielt, wurde von den anderen so lange mit Misstrauen und Unverständnis gestraft, bis auch er nachgab und den Kontakt zu Taso abbrach. So hatte er einen Freund nach dem anderen verloren, bis niemand mehr übrig geblieben war. Außer Tim.

Auch Fremde sprachen nicht gerne mit Taso. Ihre Konvohilfen warnten, dass sie wegen seines niedrigen Pred-Scores keine Gesprächsthemen empfehlen könnten. Die meisten suchten dann das Weite, denn wer hatte schon Lust auf steifen Small Talk, selbst erfundene Witze oder unangenehme Gesprächspausen, wenn er sich mit anderen sofort über per Konvohilfe eingeblendete Gemeinsamkeiten unterhalten konnte? Früher hatte Taso sich eingeredet, dass ihm all das nichts ausmache, dass es ein Opfer sei, das er zu bringen bereit war. Er hatte sich durch seine Gaukelei stark und unabhängig, im Grunde auch überlegen gefühlt. Aber inzwischen war sein selbstbewusster Auftritt nur noch Fassade. Wenn er in seiner oft lachhaften Kleidungskombination inmitten erfolgreicher, geslifteter Rhetorikgenies stand, die mit ihm höchstens über den täuschend echten Geschmack ihres Kunsthähnchenspießes oder die eindrücklichen Farben der Wandinstallationen sprechen konnten, wollte er allem am liebsten den Rücken kehren, um zurück in seiner Wohnung seine Smarts herauszureißen und laut in ein Kissen zu schreien. Er wollte schon gar keine neuen Menschen mehr kennenlernen. Früher hatte er in Windeseile Bande zu anderen geknüpft und sogar Spaß daran gehabt, aber nun machte ihn jede Kontaktaufnahme nervös. Er hatte Angst, dass seine Themen nicht spannend genug waren, seine Witze nicht lustig oder seine Äußerungen deplatziert. Und seit einer Weile bohrte sich eine Frage immer tiefer in seinen Kopf: Wie wäre es wohl, wieder dazuzugehören? Wieder unbeschwert mit seinen alten Freunden reden und lachen zu können, wieder gerne auf ihre Partys zu gehen und vor allem, dazu eingeladen zu werden?

Zugleich schämte er sich für solche Gedanken. Er hatte sich nicht ohne Grund für dieses Leben, für ein selbstbestimmtes Leben entschieden. Er wollte dazugehören, ja – aber auf keinen Fall wollte er nachgeben und so berechenbar und fremdgesteuert werden wie die anderen. Außerdem war er mit seinen Überzeugungen nicht allein. Er überprüfte seinen E-Mail-Eingang. Wieder nichts.

 

Er war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, als Roya nach ihm rief. Mit geröteten Wangen kam sie auf ihn zu, dicht gefolgt von einem unsicher lächelnden Mittdreißiger. Der Mann hatte schütteres Haar und schiefe Schneidezähne. Ein selten natürlicher Anblick. »Taso, ich möchte dir Fritz vorstellen. Seine Tochter Lin ist eine Freundin von Lisa. Vielleicht wollt ihr euch ein bisschen unterhalten.« Sie lächelte zufrieden und rauschte davon.

»Glückwunsch«, sagte Fritz. Er hielt kurz sein Sektglas hoch und trat zögerlich einen Schritt näher.

»Danke«, antwortete Taso. »Offliner?« Es konnte nur einen Grund geben, weshalb Roya sie zusammengeführt hatte: Auf jeder Party gab es mindestens zwei Offliner. Die Gastgeber sorgten stets dafür, dass sie sich fanden.

Fritz wirkte überrascht. »Ja, aber eher unfreiwillig. Ich hab die letzten zehn Jahre in Afrika gelebt und bin mit meiner Tochter erst vor zwei Wochen wieder nach Deutschland zurückgekommen.«

Taso horchte auf. Das Gespräch versprach interessanter zu werden, als er gedacht hatte. »Wo habt ihr gelebt?«

»Simbabwe.«

Taso überlegte. »Ist das nicht unter harmonistischer Kontrolle?«

»Ja.«

Taso konnte nicht anders, als die Stirn zu runzeln. Wenn er irgendetwas noch weniger mochte als den Kubismus, war es der Harmonismus. Der Würfel belohnte zwar Vorhersehbarkeit, was Taso rundheraus ablehnte – aber immerhin schrieb er niemandem vor, wie er sich zu verhalten hatte. Man konnte vor dem Würfel ein egoistischer Vollidiot sein, Hauptsache, man war konsequent darin. Xi hingegen, sein harmonistisches Pendant, erzwang Vorhersehbarkeit, indem es mit Permasmarts die Einhaltung langer Verhaltenskataloge kontrollierte, die die Kommunistische Partei Chinas verfasste. Jeder Bewohner eines harmonistischen Staats startete mit einem »Sozialkredit« von eintausend, der bei Wohlverhalten stieg, bei Verstößen sank. Der Gedanke an diese extreme Form der Fremdbestimmung änderte manchmal sogar Tasos Blick auf den Kubismus. Wenn auch nur kurz.

Fritz bemerkte Tasos Unbehagen sofort: »Ich bin aber kein Harmonist«, beteuerte er. »Im Gegenteil – das System ist mir völlig zuwider! Ich hab etliche Bekannte, die Job, Freunde und sogar ihre Freiheit verloren, weil sie sich nicht konform verhalten haben. Das geht unheimlich schnell: Für jeden Pups gibt es Punktabzug, also bildlich gesprochen.« Fritz lachte kurz auf und beeilte sich weiterzureden, als Taso keine Reaktion zeigte. »China behauptet zwar immer, dass jedes Partnerland selbst definiert, welches Verhalten es belohnt oder bestraft, aber natürlich machen sie als Erfinder des Sozialkredits ihren ›Partnern‹ ununterbrochen ›Vorschläge‹. Also verliert auch in Simbabwe jeder, der China kritisiert, sofort zwischen 15 und 75 Punkten. Da rutscht man schnell mal unter 600. Und dann wirds ernst.«

Taso freute sich über die kritischen Worte. »Aber warum bist du dann dorthin gezogen?«

»Ausländer aus nicht harmonistischen Staaten genießen Privilegien, dafür haben die Chinesen ebenfalls gesorgt.« Fritz schüttelte den Kopf. »Ist Teil ihrer Expansionsstrategie. Vor allem aber stammte meine Frau aus Simbabwe. Sie wollte nach dem Studium dorthin zurück, und ich bin mit.« Sein Blick wurde leer, er sprach nicht weiter.

Taso wechselte das Thema: »Und mit dem Pred-Score des Würfels hast du kein Problem?«

Fritz zuckte mit den Schultern. »Immerhin schreibt mir hier niemand vor, was ich zu sagen und zu tun habe. Und der Kubismus ist demokratisch.«

»Na ja … es gibt zwar noch ein Parlament, aber keine Wahlen mehr.«

»Aber dafür ernennt der Würfel Abgeordnete, die unsere Gesellschaft widerspiegeln.«

»Und zementiert so bestehende Verhältnisse. Ohne Wahlen kämpft niemand mehr für neue Ideen. Und unabhängig sind die Damen und Herren Volksvertreter auch nicht, denn ohne den Segen des Würfels trifft sowieso niemand mehr Entscheidungen.«

Fritz trat von einem Fuß auf den anderen. »Wie ist es denn bei dir? Du bist ein Gaukler, oder?«

Taso blickte spöttisch an sich herab, ohne etwas zu sagen.

»Das heißt, du lügst immer?«

Die direkte Frage überraschte ihn. »So würde ich es nicht sagen … Ich täusche! Mal entspricht mein Verhalten meiner Einstellung, aber oft eben auch nicht.«

Fritz nickte und blickte zu Peter, der es sich gerade mit Luke auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. »Aber dein Bruder …«

»… ist überzeugter Kubist, ja.« Und bevor die Nachfrage kam, ergänzte Taso etwas leiser: »Das war nicht immer so. Früher war er genauso kritisch wie ich.«

»Und eure Eltern?«

Diesmal war es Taso, der keine Lust hatte, seine Familiengeschichte zu erzählen. Er sah zu Peter hinüber, der sein Cocktailglas klirrend gegen Lukes Bierflasche stieß. Er erinnerte sich noch gut an die manchmal interessierten, meist aber irritierten Blicke von Schulfreunden, die früher bei Familie Doff zu Besuch gewesen waren. Tasos Eltern hatten sie stets gebeten, ihre Smartphones und Datenbrillen in einen Safe zu legen, der erst am Ende des Besuchs wieder geöffnet wurde. War die Familie draußen unterwegs gewesen, hatte sie große Hüte mit Schleiern gegen die Videokameras getragen, später auch Masken und Sonnenbrillen. Taso hatte sich oft gefragt, warum die anderen Kinder sie nicht schon damals komplett gemieden hatten. Vielleicht, so erklärte er es sich später, weil Peter und er unzertrennlich gewesen waren: immer zu zweit, immer doppelt so stark, lustig und selbstbewusst wie die anderen. Vielleicht hatte ihm fremder Spott deswegen so wenig ausgemacht. Er hatte seinen besten Freund immer bei sich gehabt, egal, wohin sie reisten, weil sein bester Freund sein Bruder gewesen war. Und sie waren häufig verreist. Schon als junger Journalist hatte ihr Vater viel Zeit im Ausland verbracht und nahm später die Brüder oft mit, während ihre Mutter in Deutschland ein Architekturbüro aufbaute. Halb Europa hatten sie gesehen, bevor ihr Vater seinen Job an Algorithmen verloren hatte und sie kürzertreten mussten. Aber auch das hatte die Familie, die nun immerhin mehr Zeit füreinander hatte, eher zusammengeschweißt als entzweit.

Bis Luke in ihre Klasse kam. Peter war auf einmal wie verwandelt, hing an dem Labersack wie ein Hund an seinem Herrchen. Was immer Luke ausheckte, Peter wollte dabei sein. Heimlich kaufte er sich eine Datenbrille und schlich abends zu Luke und seinen anderen neuen Freunden in den Wald, um dort Krieg zu spielen. Gemeinsam testeten sie die Anmachsprüche einer Dating-App an den Mädchen der höheren Klassen und schmiedeten Pläne für eine Weltreise nach dem Abitur. Lange redete Taso sich ein, dass ihm Peters Luke-Verehrung egal war. Aber als sich sein Bruder auf Lukes Drängen an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Soulbookaccount einrichtete, platzte etwas in Taso, und er verpetzte ihn bei ihren Eltern, die von Peters Abtrünnigkeit bislang nichts mitbekommen hatten. Es war fast zehn Jahre her, aber Taso erinnerte sich noch genau an den Streit, der folgte. Ihre Eltern fielen aus allen Wolken, es gab Geschrei und Tränen, Türen knallten und Bande rissen. Ein paar Wochen später zog Peter aus. Ihr Vater schloss sich aus lauter Hilflosigkeit in seinem alten Arbeitszimmer ein und verabschiedete sich nicht einmal von ihm, während ihre Mutter unentwegt auf Peter einredete, der von einer Ecke seines Zimmers in die nächste eilte und seine Habseligkeiten zusammensuchte. Taso hatte teilnahmslos herumgesessen, unfähig zu begreifen, was vor sich ging, und voller Schuldgefühle.

Er verstand bis heute nicht, wie Peter sich vom Rest der Familie so hatte entfernen können – und das noch vor dem Referendum, als es weder Offliner noch Kubisten gab. So konnte Taso es nicht einmal auf den Würfel schieben.

Er sah wieder zu Fritz und brauchte einen Moment, um sich an dessen Frage zu erinnern. »Unsere Eltern leben in Humaning.«

Fritz sah ihn fragend an.

»Einer Würfelfreien Zone auf dem Land.«

Als Fritz ihn nur weiter mit großen Augen ansah, fuhr Taso fort: »In den letzten Jahren sind viele Offliner in WfZs auf dem Land gezogen, Humanisten wie unsere Eltern, aber auch sogenannte Religs, die den Würfel aus religiösen Gründen ablehnen. Die Radikalsten unter ihnen nennen wir Namische, Neue Amische.«

»Von den Namischen hab ich schon gehört.« Fritz nippte mit abwesendem Blick an seinem Sektglas. Taso vermutete, dass ihm seine Smarts eine etwas längere Beschreibung von WfZs eingespielt hatten. »Wie viele Offliner gibt es denn noch?«, fragte er nach einer Weile.

Taso überlegte. »Ich glaube, es haben noch etwa sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung einen Pred-Score von unter 50. Ich weiß aber nicht, wie viele ihn aus Überzeugung dort halten.«

»Fritz!«, unterbrach sie Peter vom Sofa und kam leicht schwankend zu ihnen herüber. »Unterhalt dich bloß nicht zu lang mit dem, sonst steigt dein Pred-Score nie!« Er lachte und sah mit glasigen Augen von einem zum anderen. Es versetzte Taso einen Stich, dass Peter ausgerechnet heute noch angriffslustiger als sonst war.

»Schon okay, hier komme ich dafür ja nicht gleich ins Gefängnis«, sagte Fritz lächelnd.

»Das ist gar nicht okay!« Peter ließ ein Rülpsen in der Faust verschwinden. »Tasos Gaukelei kostet meine Kinder verdammt viele Preds – von mir selbst ganz zu schweigen!« Er wusste, dass sich Taso nicht öffentlich provozieren ließ. Trotzdem versuchte er es ständig. Taso spürte heiße Wut in sich aufsteigen, Wut, die nicht ausbrechen durfte. »Heute musste er schon wieder zur Polizei! Das war das vierte Mal dieses Jahr, oder?«

Taso antwortete nicht. Peter warf die Arme in die Luft. »Ein Wiederholungsgefährder! Mein eigener Bruder!«

Taso widerstand dem Impuls, eine Hand zur Faust zu ballen. Die umstehenden Gäste sahen zu ihnen herüber. Fritz fühlte sich sichtlich unwohl. »Hast du die Kinder gesehen?«, fragte er mit suchendem Blick, aber Peter ignorierte ihn.

»Ich musste Taso sogar mal aus dem Gefängnis abholen!«

»Nach einer Demo«, sagte Taso so ruhig wie möglich.

»Peter!« Roya war offenbar von ihrer Gastgeber-App alarmiert worden. Sie ergriff sachte den Oberarm ihres Mannes. Als Peter seinen harten Blick nicht von Taso löste, wiederholte sie noch bestimmter: »Peter!« Er drehte sich zu ihr. »Gehst du mal bitte zu Thomas und Jasmin auf die hintere Terrasse? Die haben nach dir gefragt.«

Peter stand einen Moment unentschieden herum, bevor er sich abwandte und davonging. Auf dem Weg zur Terrasse holte er sein Cocktailglas vom Couchtisch und nahm einen ausgiebigen Schluck.

Taso entspannte sich etwas, Fritz atmete hörbar aus. »Ich schaue mal nach Lin«, murmelte er und verschwand ebenfalls.

Roya sah Taso entschuldigend an. »Tut mir leid, er ist nicht gut drauf.«

»Was ist denn los mit ihm? So heftig war es schon lange nicht mehr. Das kann doch nicht nur an den Cocktails liegen.«

»Yasin hat immer noch keine Spezialisierungskurse.«

Taso sah sie fragend an.

»Kurse, in denen gezielt die Stärken der Kinder entwickelt und gefördert werden.« Er hatte davon noch nie gehört, war aber auch nicht überrascht, dass der Würfel schon Sechsjährige in Schubladen stopfte. »Er ist jetzt der Letzte in der Klasse, der nur Allgemeinkurse besucht.« Zu Tasos Überraschung klang auch Roya nun verärgert. »Sein Profil sei noch nicht klar genug, sagt die Schulleitung.«

Plötzlich verstand Taso. »Und Peter denkt, das ist meine Schuld.«

»Ja.«

»O Mann …« Dass Peter ihn für die vermeintlich verkorkste Ausbildung seines Sohnes verantwortlich machte, war neu.

Wie auf Kommando rannte Yasin um die Ecke, mit einem kleinen Vogel in der Hand. »Guck mal, Taso, hat Papa mir geschenkt!«, rief er und warf das Tier in die Luft. Es entpuppte sich als ein Kolibri, der munter im Wohnzimmer umherflog.

Taso wollte schon den Kopf einziehen, als seine SmEyes neben dem Vogel ein Fenster mit Informationen anzeigten, die den Kolibri als »Ped« auswiesen, als personalisierte Drohne, Eigentümer Yasin Aziz-Doff, Hobbynutzer. Peds waren erst seit Kurzem für die breite Masse erschwinglich und schon jetzt der letzte Schrei. Die Werbung bezeichnete sie als »das dritte Auge für Klein und Groß«. Man konnte mit ihnen um die Ecke, nach hinten oder aus der Totalen blicken, in einem Menschenauflauf den Überblick bewahren und bei Konzerten seinen Schwarm oder bei Fußballspielen seinen Helden aus der Nähe bestaunen. Wenn man irgendwo anstand, erkundete das Ped die Lage am Anfang der Schlange, beim Bergsteigen die nächsten Griffe oder ganze Routen, oder es hielt bei Übernachtungen im Freien Wache. Außerdem schnappten Peds mit etwas Glück wertvolle Daten auf, die sonst niemand erhob. Sie flogen autonom, ihre Besitzer mussten nur Ladeports auf den Schultern tragen. Die meisten Peds nahmen für Smartsträger eine besondere Gestalt an, häufig die eines kleinen Vogels. Aber mit entsprechendem Zusatzabo konnte man ihnen auch jederzeit ein anderes Aussehen smalen. Besonders beliebt waren Feen, Superhelden oder weiße Engelchen.

Für Taso waren Peds eine weitere Ausgeburt des Teufels. Es wunderte ihn nicht, dass Peter seinen Kindern ein Ped gekauft hatte, trotzdem ärgerte es ihn in diesem Moment sehr. Er schluckte und atmete tief ein, bevor er sprach. »Wie schön, ihr habt Yasin ein Ped geschenkt!«

Roya sah ihn unschlüssig an. Offenbar hatte es doch ironisch geklungen. Taso biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht war das Ped sogar ihre Idee gewesen. Er hätte es einfach ignorieren sollen.

»Ist er nicht schön?«, fragte Yasin lachend.

Bevor Taso antworten konnte, kam Peter von der Terrasse zurück. Er blickte immer noch missmutig drein.

Bevor er sich einen anderen Gesprächspartner suchen konnte, winkte Roya ihn heran. »Taso hat gerade Yasins neues Ped bewundert.«

»Taso, Taso, du musst gucken!«, rief Yasin wieder.

Taso hielt einen Daumen hoch und lächelte. Diese kleine Geste reichte offenbar, um Peter wieder auf hundertachtzig zu bringen. Seine Miene verfinsterte sich, Roya wischte hektisch vor sich in der Luft herum – wahrscheinlich aktivierte sie die Kindersicherung. Yasin würde sie über seine Smarts nun mit freundlich lächelnden Gesichtern sehen und zu einem belanglosen Thema wie Arbeit oder Fußball reden hören. Oder sie würde …

Roya hat für dein Gespräch mit sich und Peter den Privatkonversationsmodus aktiviert.

Die übrigen Gäste konnten nun zwar sehen, dass sie sich stritten, aber sie würden nicht erfahren, worüber.

»Ich freue mich wirklich, ist doch ein klasse Geschenk!« Taso würde sich keine Mühe mehr geben, die Situation noch zu retten. Peters Verhalten und seine Anschuldigungen waren einfach lächerlich.

Peter schwang sein wieder volles Cocktailglas durch die Luft, sodass es überschwappte. »Red nicht so blöd daher, du kannst vielleicht den Würfel verarschen, aber nicht mich. Ich weiß, was du denkst!«

»Was denk ich denn, Klugi?« Peter hatte es schon als Kind gehasst, wenn Taso ihn so genannt hatte.

Peter wurde rot im Gesicht. »Dass wir Kontrollfreaks sind, keinen Respekt vor deiner Privatsphäre haben und blind jedem Trend hinterherrennen – es ist doch immer dieselbe Leier!« Peter strengte sich sichtlich an, klar zu sprechen. »Aber alle Eltern schalten sich in die Smarts ihrer Kinder ein. Und diese ›Trends‹ sind die Zukunft! Bleib du ruhig so ignorant und einsam in der Vergangenheit hocken wie Mama und Simon!«

Taso war sprachlos. So hatte sich Peter noch nie aufgeführt. Es kostete ihn alle Kraft, nicht vor den Augen des Würfels auszurasten. Mühsam presste er ein paar Worte heraus. »Ach Quatsch, ich freue mich, dass ihr so auf eure Kinder achtet.« Er versuchte, keine Miene zu verziehen, wagte aber nicht, Peter ins Gesicht zu sehen. Das hätte auch sein eigenes Fass zum Überlaufen gebracht.

Peter kam noch näher. »Anstatt hier dumme Sprüche zu klopfen, könntest du die Peds wie jeder normale Mensch einfach wegsmalen, wenn sie dich stören, und wir könnten wie früher zusammen feiern und uns ganz normal unterhalten. Stattdessen streiten wir schon wieder, weil du dich von irgendwelchem Spielzeug verrückt machen lässt. Und nicht mal das machen wir richtig, weil du nie einfach sagst, was du denkst, sondern mich immer mit dieser Maske abspeist.« Taso sah Peter wieder in die Augen, die nun einen traurigen Glanz hatten. »Wie eine verdammte Statue, die zwar so aussieht wie mein Bruder, mir aber fremder ist als jeder andere hier. Wer bist du überhaupt?«

Taso schüttelte den Kopf. Er brodelte vor Wut, andererseits machte ihn die Fassungslosigkeit seltsam ruhig. Wie konnte sein eigener Bruder die Realität nur so verdrehen? Er musste sich wehren. Er musste Peter zeigen, dass er zu weit gegangen war.

Betont gelassen zog er seine Münze aus der Tasche. Er wusste, dass Peter ihn insgeheim immer um sie beneidet hatte, oder vielleicht eher um sein besonderes Verhältnis zur Großmutter. Mittlerweile hasste Peter das kleine Metallstück geradezu. Wie erwartet weiteten sich seine Augen sofort. »Das ist nicht dein Ernst!«

Taso warf die Münze in die Luft und fing sie wieder auf. Kopf. Er steckte sie zurück in die Tasche und sah seinen Bruder stumm an. Den Streit hatte er gewonnen, das spürte er, aber das Triumphgefühl blieb aus.

Als Yasin sich an seine Mutter schmiegte und wissen wollte, was los war, tat Taso das, was er schon viel früher hätte tun sollen: Er verließ die Wohnung.

Draußen ließ er sich von seinen Füßen nach Hause tragen. Er fühlte sich elend und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Erst das Blinken einer neuen E-Mail holte ihn zurück in die Gegenwart. Tim hatte sich gemeldet. Taso las die Nachricht und atmete sogleich etwas leichter. Morgen klappt.

3

Um den Würfel abzuschütteln, nahm Taso wie immer einen kleinen Umweg über das nächste Kryptocenter. Es befand sich nicht weit von seiner Wohnung in einem ehemaligen Hotel. Dort würde er sich mit anderen Offlinern mischen, damit der Würfel nicht wissen konnte, dass er nach Diagon Alley weiterzog.

Er ging den Fußweg dorthin immer bewusst langsam. Nicht, weil die Strecke so schön war, sondern weil er es dem Würfel gern unter die Nase rieb, dass er gleich von seiner Bildfläche verschwinden würde. Als er das »Krypto One« erblickte, lächelte er. Vom früheren Hotelnamen war an der Front nur der zweite Teil übrig geblieben. Mit seinen heruntergelassenen Rollläden wirkte es wie eine Festung. Für Taso war es einer der schönsten und erhabensten Bauten der Stadt.

Er grüßte den Hausmeister, der gerade ein an die Wand gespraytes »Schmarotzer!« entfernte, und trat durch eine abgedunkelte Schiebetür in die Lobby. Im Inneren des Gebäudes war es kühl, aber das störte ihn nicht.

Du hast eine Würfelfreie Zone betreten und bist jetzt offline.

Vollkommene Stille umgab ihn, als hätten seine SmEars auf »taub« geschaltet. Es gehörte zum guten Ton in Kryptocentern, nicht laut zu sprechen.

Wo sich früher die Rezeption befunden haben musste, standen nun Schließfächer. Jedes gehörte zu einem der Zimmer, von denen laut Anzeige gerade vierzehn frei waren. Vor den Fächern warteten etwa zwei Dutzend Menschen, eine normale Zahl für einen Samstag. Manche trugen ebenso bunte Kleidung wie Taso, andere Grau in Grau, wieder andere Masken.

Er stellte sich ans Ende der Schlange. Die Frau vor ihm hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und den Kopf zu Boden gesenkt, als schämte sie sich dafür, hier zu sein. Weiter vorn flüsterte ein Pärchen und kicherte dabei immer wieder. Vor ihnen stand ein Mann in einem Batmankostüm mit seinem als Robin verkleideten Sohn. Der Junge hatte ungefähr Yasins Alter. Der Gedanke an seinen Neffen und Peter versetzte Taso einen Stich.

Plötzlich drangen laute Stimmen durch die Stille. Er drehte sich zur Tür und sah eine Gruppe junger Männer hereinkommen. Sie grölten und lachten, waren offenbar betrunken.

»Wie siehst du denn aus?«, rief ein großer Dunkelhaariger und zeigte lachend auf einen seiner Freunde, der einen schmuddeligen Jogginganzug trug. »Smarts funktionieren in WfZs nicht, du Idiot! Also Frauen kannste heute vergessen!« Der Angesprochene schien sich für seine Unwissenheit oder die Kleiderwahl nicht zu schämen, und lachte einfach mit.

Der Dunkelhaarige sah zu der Menschenschlange und fuhr sich lässig mit der Hand durchs Haar. Er war offensichtlich der Anführer der Horde. Sein gutes Aussehen, seine Gestik, sein abschätziger Blick – alles an ihm provozierte Taso. »Was ist das denn für eine traurige Veranstaltung?«, rief er den Wartenden zu. »Gibts hier keine Musik?«

Daraufhin lallte er eine Melodie, die Taso nicht kannte, und dirigierte mit den Fingern den Chor seiner Freunde. Sie waren nicht halb so melodiesicher wie er, und so erstarb das Gebrumme rasch wieder.