Der Zauberer Bergil und das blinde Mädchen - Peter Marquardt - E-Book

Der Zauberer Bergil und das blinde Mädchen E-Book

Peter Marquardt

4,8

Beschreibung

Als die beiden Alten das weinende Kind am Rande des großen Waldes fanden, war es nur wenige Wochen alt. Es war ein Mädchen und sie gaben ihm den Namen Maja. Bald stellte sich heraus, dass sie blind war. Aber Maja verstand es, all ihre anderen Sinne so zu nutzen, dass sie die Welt fast wie jeder andere Mensch wahrnehmen konnte. So vermochte sie bald Kräuter und Früchte des Waldes zu erkennen und zu nutzen, lernte zu jagen, zu fischen und vieles mehr. Als ihre Pflegeeltern starben, war Maja sieben oder acht Jahre alt. Eine Dürreperiode und den strengen Winter hatten sie, nicht überlebt. Die Leute im Dorf machten das blinde rothaarige Kind für alles Unglück, dass ihnen widerfahren war verantwortlich. Schließlich konnte es nicht sein, dass eine Blinde, wie eine Sehende umher ging. Für Maja begann eine einsame Odyssee voller Gefahren und Abenteuer. Als sie schließlich auf den Zauberer Bergil trifft, öffnet sich ihr unverhofft die zweifelhafte Welt der Magie.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1: Im großen Wald

1. Die Kinderhexe

2. Die Vertreibung

3. Im Wald

4. Auf dem Scheiterhaufen

5. Der alte Wolf

6. Retters Geschichte

7. Garm

Teil 2: Im Palast

8. Der Zauberer Bergil

9. Bei den Moloks

10. Bergil XIV. (14.)

Teil 3: Die Verführung

12. Sate der Jäger

13. Sate und die kleine Macht

14. Graf Sate von Tabingen

15. Die Hexe Paula

16. Der Pakt

Teil 4: Auf und nieder

17. Nach oben

18. Herr Bergil greift ein

19. Glanz und Elend

20. Im Kerker

21. Die perfekte Illusion

22. Heinz Elmann

23. Abschied und Neubeginn

Prolog

Diese Geschichte spielt in einer Zeit, von der unsere Großmütter gern erzählten und deren Großmütter und die Großmütter von denen sicherlich auch. Meistens begannen sie mit: »Es war einmal…«

Eine Zeit, in der Hexen noch auf Besen flogen. In der es gute und böse Zauberer gab und in der Räuber, eben richtige Räuber waren. Im Orient herrschten Sultane, Scheiche und Emire und die Zauberer dort flogen auf Teppichen.

Magische Geister, die Dschinns genannt wurden, verschwanden in Flaschen oder alten Öllampen und kamen je nach Bedarf wieder daraus hervor. Im fernen China gab es Drachen, die fliegen und Feuer speien konnten. Von denen galten einige als gut und andere als böse.

Das Wichtigste aber, es gab noch richtige Helden.

Helden, die Abenteuer erlebten und bestanden, die so unglaublich abliefen, dass sie sich in Liedern und Geschichten bis heute erhalten haben.

Mit einem Wort, eine Zeit ohne elektrische Zahnbürste und Badeschaum.

Teil 1 Im großen Wald

1 Die Kinderhexe

Der Frühling, mit seinen lauen Lüften und wärmenden Sonnenstrahlen, die den hart gefrorenen Boden allmählich auftauten, lies bereits erstes Grün an Büschen und Bäumen erkennen. Der vorangegangene Winter hatte sich endlos hingezogen. Schneestürme waren scheinbar in ununterbrochener Folge über das Land getobt. Dann hatte der Frost seine Eisfinger tief in die Erde und die Herzen der Menschen gegraben. Niemand konnte sich an einen auch nur ähnlich strengen Winter erinnern. Selbst die ältesten im Dorf nicht. Wölfe waren mehrmals in Ställe eingebrochen, um Jungtiere zu reißen.

Viele Dorfbewohner, vor allem die Alten unter ihnen, erwiesen sich als außerstande diesem Treiben der Natur, zu trotzen.

Sie starben vor Hunger oder Erschöpfung. Etliche erfroren.

Dem beginnenden Frühjahr jedoch, fehlte der Regen. Die Schmelzwasser waren über dem gefrorenen Boden abgeflossen. Was übrig blieb, war trockene, harte Erde, die auch der Pflug nur mit Mühe aufbrach.

Im Dorf brannte es mehrfach. Die Menschen mussten noch enger zusammenrücken.

Die Not regierte. So viel Unglück konnte keine natürlichen Ursachen haben. Das stand für alle außer Zweifel. Hier mussten finstere Mächte ihre Hände im Spiel haben.

Jeder hatte sich so seine Gedanken gemacht und die meisten dieser Gedanken kreisten um die Kinderhexe.

Kinderhexe, so nannten sie das blinde Mädchen Maja, die unterhalb des Ortes, zwischen dem großen Wald und der Mündung des Baches lebte. Sie musste jetzt etwa sieben oder acht Jahre alt sein. Sie war von schlanker, fast dürrer Gestalt, trug schulterlanges, brandrotes Haar und besaß große, grüne Augen. Sie war von ruhigem und freundlichem Wesen, verstand es jedoch auch, sich durchzusetzen.

Ihre Eltern, besser gesagt Pflegeeltern, waren geachtete Leute im Dorf gewesen. Auch sie hatten den Winter nicht überlebt.

Anlass für die Dörfler, ihren Verdacht, nicht mehr zu verheimlichen: ›Schuldig an allem Unglück war die verdammte, rothaarige Kinderhexe.‹

Wen interessierte es, dass ihr Leben erst wenige Jahre zählte? Hexe ist Hexe und wer weiß, ob sie wirklich bloß ein Kind war.

»Das Böse erscheint in vielen Gestalten.«, hatte der Prediger immer wieder gesagt.

Von so manchem Hof, auf dem Maja ihre Kräuter und Wurzeln verkaufen wollte, verjagte man sie nun und beschimpfte sie: »Scher dich davon Hexenbalg, wir wollen mit dir und deines Gleichen nichts zu tun haben!«

Einige der Dörfler sprachen offen die Vermutung aus, dass die Kinderhexe ihre Pflegeeltern auf dem Gewissen hatte, um sich freie Bahn für ihr Teufelswerk schaffen.

Gleich nachdem der Frost von der Sonne aus dem Boden vertrieben worden war, begann Maja damit, hinter der Hütte, zwei Gräber auszuheben. Eine schwere Arbeit für das Mädchen, bei der ihr niemand half. Zur Bestattung jedoch war das ganze Dorf erschienen. Das Mädchen hatte wegen der Beerdigung dem Prediger Bescheid gesagt und so hatten am Ende alle davon erfahren.

Keine der Frauen versäumte es, im Anschluss an die Grabrede, in der kleinen Hütte vorbeizuschauen. Vielleicht ließe sich dort noch etwas finden, was sich lohnte mitzunehmen. Fast jede wurde fündig.

Natürlich bemerkte das Mädchen dies alles, doch was sollte sie tun? Also schwieg sie.

Gut, dass sie die wenigen Münzen, die sie besessen hatte, vorher dem Prediger für die Grabrede gegeben hatte. Nun besaß sie nichts mehr, außer der alten Kuh. Die hatte sich wohl niemand getraut mitzunehmen. Noch nicht.

Als sie wieder allein war, ging sie ins Haus zurück. Sie setzte sich auf die morsche Wäschetruhe, in der jetzt nur einige Lumpen zu finden waren. Dort weinte still sie vor sich hin.

Das Gesicht hielt sie in den Händen vergraben, ihr rotes Haar hatte sich wie ein Vorhang über das Gesicht des Mädchens gelegt.

2 Die Vertreibung

Majas Blindheit und die Art, wie sie damit umging; wie eine Sehende schritt sie durchs Dorf. Sammelte im Wald Kräuter und jeden, der ihr begegnete, grüßte sie mit seinem Namen und das ohne ihn sehen zu können. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Darüber herrschte seit langem Einigkeit unter den Dorfbewohnern.

Eines Nachmittags, die Dörfler hatten sich scheinbar zufällig auf dem Platz vor der Schmiede zusammengefunden, begannen sie damit ihrem Unmut Luft zu machen.

Es fing mit ein paar leise gemurmelten Worten an und mündete schon bald, in kräftiges Schimpfen, und heftigste Anschuldigungen.

Der Schmied, ein untersetzter Mann von mittleren Jahren, hatte die beiden Torflügel der Werkstatt weit geöffnet und tat seine Arbeit, scheinbar ohne den Menschen vor dem Haus Beachtung zu schenken.

In der Mitte des Platzes stand eine stattliche Eiche, deren junge, zarte Blätter durch den kräftigen Frühlingswind hin und her wogten. Gelegentlich wirbelte er eine Wolke aus Sand, Dreck und einigen vertrockneten Misteln auf. Die trug er, ein paar Fuß weit vor sich her und ließ sie als kleine Haufen zu Boden fallen, wo sie neuerliche Staubwolken aufwirbelten.

Die Sonne, die noch vor einiger Zeit so hoffnungsvoll geschienen hatte, war bereits seit Tagen nur noch in den Erinnerungen der Menschen vorhanden. Nun warteten wegen der Saat alle auf Regen. Der war allerdings nicht in Sicht und das, obwohl der Wind immer wieder neue Wolkenberge vor sich herschob.

»So kann das auf keinen Fall weiter gehen«, rief einer aus der Menge der Versammelten, »unsere Häuser brennen, unsere Familien sterben und wir alle hungern!«

»Genau, und ich sage euch, Schuld daran ist die Kinderhexe. Seit die Alten tot sind, stürzt sie das Dorf ins Verderben«, knurrte ein anderer laut genug, um von allen verstanden zu werden.

»Bestimmt hat sie ihre Leute auch auf dem Gewissen, hat sie einfach verhext!«, kreischte eine der Bäuerinnen.

»Jawohl, und die Wölfe hat sie uns ebenfalls geschickt«, rief eine magere Frau, wobei sie wütend an den Zipfeln ihres schwarzen Kopftuches riss, »wir sollten sie vertreiben, bevor sie uns alle umbringt!«

Ein Windstoß schlug eine der großen Flügeltüren der Schmiede zu, ein zweiter ließ sie wieder aufspringen.

Der Schmied, der bis dahin in seine Arbeit vertieft war, die darin bestand kraftvoll auf ein weißglühendes Stück Metall einzuschlagen, legte den Hammer zur Seite. Dann schwenkte er die Zange mit dem glühenden Eisen herum und versenkte das Werkstück in einen Bottich mit kaltem Wasser. Das Wasser zischte und sprudelte unter dem Einfluss des heißen Metalls. Dampfschwaden stiegen auf und hüllten den kleinen, stämmigen Mann kurzzeitig ein. Er verließ das schützende Dach der Schmiede und gingt auf die Menschen zu, die sich davor versammelt hatten.

Er war nicht nur der Schmied, er war auch der Ortsvorsteher und Prediger des Dorfes.

Schon in einigen Predigten, während des Winters, wetterte er gegen den Teufel und verschiedene Dämonen, welche ihr Unwesen unter ihnen trieben. Solchen finsteren Mächten muss man mit allen Kräften entgegentreten, um nicht vom Unglück übermannt zu werden.

»Widersteht dem Versucher«, rief er zu jeder sich bietenden Gelegenheit, fordernd und eindringlich. Wer oder was dieser Versucher war, hatte er allerdings bislang unerwähnt gelassen.

Jetzt, als er hervortrat, machte sich schweigen unter den Leuten breit. Bedächtig schaute er in die Runde und schien, jeden Einzelnen zu mustern. Dann sagte er mit lauter Stimme: »Niemand weiß, woher sie gekommen ist noch, aus wessen Leib sie kroch. Ich aber fordere euch auf, seht sie an, mit ihren roten Haaren und den grünen Augen, kann sie nur der Hölle entsprungen sein. Ich sage euch, sie ist eine der Töchter Satans. Wir sollten sie zu ihm zurückschicken! Es ist kein Platz für ihresgleichen in unserer Mitte!« Beifallheischend schaute er sich unter der kleinen Gruppe vor seiner Schmiede um.

Mit dem rußverschmierten Gesicht und dem leidenschaftlich funkelnden Blick bot er selbst ein erschreckendes Abbild finsterer Mächte.

Zuerst schwiegen sie. Dann setzte erneut leises Gemurmel ein.

Die Hexe vertreiben. Endlich etwas gegen das Unglück unternehmen zu können. Wütend begannen sie an ihre Fäuste zu schwingen. Unter dem Schlachtruf »zurückschicken, zurückschicken. ...«, wandten sie sich alsdann in Richtung des Hauses in dem Maja, seit einiger Zeit allein lebte. Auf dem Weg dorthin schlossen sich, der anfänglich kleinen Gruppe, immer mehr Dorfbewohner an die sich gegen den heftiger werdenden Wind aus Norden stemmte. Allen voran stapfte der Prediger, den Schmiedehammer fest umklammert.

Das Haus oder besser gesagt die Hütte in der Maja wohnte, stand abseits vom Rest des Dorfes. Fast in der Mitte zwischen dem Meer und dem großen Wald. Nur wenige Schritte davon entfernt plätscherte ein Bach. Vom großen Wald herkommend wand er sich mal in engen und mal in weiten Kurven herunter, bis er schließlich in der Unendlichkeit des Ozeans verschwand.

Die Hütte bestand aus lediglich drei Räumen. Dem Schlafraum, der Küche und dem Stall mit der Kuh.

Das Mädchen Maja war ein Findelkind.

In einer stürmischen Nacht vor fast neun Jahren war sie von dem Ehepaar, das bis dahin allein in dieser Hütte gelebt hatte, gefunden worden.

Jemand hatte sie am Waldrand auf einem Baumstumpf abgelegt. Das Mädchen schien zu jener Zeit nur wenige Monate alt gewesen zu sein. Ihre neuen Eltern gaben ihr den Namen Maja.

Da die Hütte weit abseits des Dorfes stand, war das Interesse der übrigen Dorfbewohner an dem unerwartet aufgetauchten Nachwuchs eher gering. So wurde Maja von den beiden Alten aufgezogen, als wäre sie deren eigenes Kind. Daran änderte sich auch nichts, als sie feststellen mussten, dass es blind war. Nur wenige Leute begannen, schon damals hinter vorgehaltener Hand, über sie zu tuscheln: »Ist das nicht merkwürdig? Ausgerechnet soweit draußen. Ob da wohl alles mit rechten Dingen zugeht?« So wuchs Sie heran, von einem Säugling, zu einem Mädchen.

Wie jedes Kind lernte es Maja, im Laufe der Jahre, sich in ihrer Welt zurechtzufinden. Da sie nicht sehen konnte, nutze sie die anderen Sinne, um diesen Mangel auszugleichen.

Sie fuhr mit dem alten Mann, den sie ihren Vater nannte, oftmals in dem kleinen Boot, zum Fischen.

Mit der Mutter ging sie an den Rand des nahen Waldes und auf die Wiesen.

Dort sammelten sie Kräuter, Wurzeln und Beeren. Schon bald kannte Sie alle Kräuter und Pflanzen der Umgebung. Natürlich wusste sie, sie auch zu verwenden.

Maja lief hinter dem Pflug her, der von der Kuh gezogen wurde, und war geschickt mit der Sense.

Sie lachte und sang gern. Wenn sie dies tat gingen den beiden Leuten, die in der Zwischenzeit schon ein stattliches Alter erreicht hatten, vor Glück und Stolz die Herzen auf.

Das Mädchen hatte es gelernt, mit Hilfe eines Stabs zu gehen, indem sie ihn vor sich hin und her schwenkte. So war sie in der Lage Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Meist jedoch nutzte sie ihn nur als Wanderstab, da ihr jeder Weg jeder Steg, jeder Strauch und jeder Baum in der Gegend bekannt waren.

Wenn die Jungen im Dorf allerdings meinten, sie wegen ihrer Blindheit hänseln oder ärgern zu können, war die Erfahrung, die sie mit diesem Stab machten eher schmerzhafter Natur.

Maja war schnell und sehr zielsicher. Was sie nicht sah, konnte sie hören.

Dann, in dem grausamen Winter dieses Jahres, waren die beiden liebsten Menschen, die sie hatte, ihre Pflegeeltern, kurz hintereinander gestorben.

Viele Tage hatte das Mädchen in der Hütte verbracht und geweint. Anfänglich kamen noch einige Frauen des Dorfes um ihr Trost zu spenden, wie sie sagten. Dabei vergaßen sie zugleich nie, Dinge die sie scheinbar gebrauchen konnten ganz beiläufig für sich zu registrieren.

An jenem Tag im Frühjahr bemerkte das Mädchen, dank ihres guten Gehörs, lange bevor die Leute aus dem Dorf ihr Haus erreichten, dass eine Gefahr auf sie zukam.

Eine Menschenmenge, die lärmte und schrie.

Maja vernahm Zorn in den Stimmen. Immer wieder hörte sie das Wort: »Kinderhexe.«

Das feindselige Verhalten einiger Dorfbewohner, grade in der letzten Zeit, war ihr nicht entgangen. Da sie sich einerseits keiner Schuld bewusst war und andererseits daran nichts zu ändern vermochte, hatte sie es einfach ignoriert.

Nun legte sie die Bürste, mit der sie grade den Tisch gescheuert hatte, beiseite und wischte die Hände hastig an der Schürze ab.

Ihr Atem fing an sich zu beschleunigen und Angst kroch in ihr hoch.

»Ich muss fliehen«, hämmerte es in ihrem Kopf.

Doch wohin sollte sie gehen? Sie war hier aufgewachsen und hatte das Dorf noch nie verlassen.

Einige mal lief sie unschlüssig hin und her. Schließlich eilte sie in den Stall. Der befand sich neben der Küche. Von dort führte eine kleine Tür an der Rückseite des Gebäudes ins Freie zum Waldrand.

An der Lautstärke ihrer Stimmen erkannte sie, dass die aufgebrachten Dorfbewohner schon bis auf wenige Schritte an das Haus herangekommen waren.

Maja eilte über die Beete im Garten und schlüpfte durch die Brombeerhecke, die ihn umzäunte. Dabei zog sie sich mehrere hässliche Kratzer zu.

Das Mädchen hatte Angst. Das erste mal in ihrem Leben, beschlich sie Panik. Sie versuchte, das Gefühl niederzukämpfen. Aber die Schluchzer konnte sie nicht unterdrücken.

Nach kurzem Abwägen lief sie einige Schritte nach rechts zum Bach. In ihrer Not wusste sie keinen anderen Rat, als an seinem Ufer entlang in den Wald zu laufen.

Sie hätte sich lieber zum Meer gewandt, das war kürzer und weniger umständlich. Aber das war sinnlos.

Bei einem der Frühlingsstürme hatte sich das kleine Boot, mit dem sie zum Fischen gefahren waren, losgerissen. Es wurde auf das Meer hinausgetrieben. Niemand erklärte sich bereit, dem Boot zu folgen, um es zu suchen. So war ihr dieser Fluchtweg nun versperrt.

Der Wald war groß und unheimlich. Wilde Tiere und die Waldgeister hausten hier. Das jedenfalls hatten ihr die Eltern ständig eingeschärft. Auch mit der Mutter war sie nie weit in das Dickicht eingedrungen. Gerade so, dass sie geschwind wieder herauseilen konnten, sobald sie ein drohendes Unheil vermuteten.

Jetzt jedoch war er für sie das kleinere Übel. Ein Ort der Sicherheit, dessen Gefahren eher theoretischen Charakter besaßen. Die hysterischen und wütend klingenden Stimmen, welche noch immer aus der Ferne an ihr Ohr drangen, machten ihr bedeutend mehr Angst. Sie versuchte, schneller zu laufen.

Während Maja unbemerkt von der tobenden Menge auf den Wald zu hastete, stetig am Bachufer entlang und dabei oftmals über Steine und Äste stolperte, hatten die Dorfbewohner das Haus des Mädchens erreicht. Der Schmied schlug, ohne anzuklopfen, die dünne Haustür mit seinem Hammer ein und die Meute stürmte hinter ihm her in das Innere.

»Sie ist nicht da«, rief einer. Enttäuschung lag in seiner Stimme.

»He Hexe wo bist du?«, rief der Schmied mit kehliger Stimme, »komm raus, sonst zünden wir dir das Haus an!«

»Jawohl, verbrennt das Miststück!«, kreischte eine der Frauen von draußen, die die Worte des Predigers aufgeschnappt hatte.

Im inneren des Hauses hatte jemand ein brennendes Stück Holz aus dem Herd geholt. Aus Ärger darüber, dass die Kinderhexe entkommen konnte und aus blinder Zerstörungswut warf er es in die offene Truhe mit den alten Tüchern. Die fingen sogleich Feuer und das leckte an der hölzernen Außenwand, deren trockenes Holz ebenfalls augenblicklich entflammte.

Innerhalb weniger Atemzüge war es kochend heiß in dem engen Raum und die Luft wurde knapp.

Die Leute stürzten zur Tür.

Die Tür war klein und schmal und alle wollten zur gleichen Zeit hindurch. Die Leute verkeilten sich hoffnungslos ineinander.

Der Geruch des Feuers und der Qualm waren auch in den Stall gezogen. Die Kuh geriet in Panik. Sie rammte mehrmals laut schreiend, mit gesengtem Schäden gegen die hölzerne Wand, bis die schließlich nachgab.

Stallwand und Wand des Wohnbereichs bildeten eine Einheit.

Diese kippte nun nach vorn. Dabei sackte das Dach ein gutes Stück ein. Mehrere schwere Balken fielen herunter. Sie begruben etliche der Menschen im Haus unter sich. Viele drängten sich noch immer um die kleine Türöffnung. Funken stoben wie glühende Geschosse in den Himmel. Beißender, schwarzer Qualm machte sich breit.

Der frische Wind der nun, durch die zusätzlich entstandene Öffnung, in den Rest des Hauses wehte, gab dem Feuer neue Nahrung. Der Rauch wurde weggeblasen, dafür schossen Flammen fast explosionsartig in die Höhe.

Die meisten Dorfbewohner die sich im Haus befunden hatten verbrannten unter lauten Schreien bei lebendigem Leib.

Als die ersten Dörfler mit hastig herbeigeholten Wassereimern gerannt kamen, hatte das Feuer sein grausiges Werk bereits beendet. Es gab nichts mehr zu löschen. Von der kleinen Hütte standen nur noch einige schwelende Balken. Der klägliche Bretterhaufen in ihrer Mitte qualmte leicht, und der Gestank nach verkohltem Fleisch lag in der Luft.

»Dafür wird sie bezahlen«, sagte der Schmied, der das Inferno als einer, der wenigen überlebt hatte. Die Flammen hatten ihm die Kopfhaare und die Augenbrauen weggebrannt.

Seine Augen blitzten unter einer Kruste von Ruß und Blut hervor, als wollten sie eine Welle abgrundtiefen Hasses in die Welt sprühen.

Auch die Kuh war den Flammen entkommen. Sie war in ihrer Angst in den Wald gelaufen, wo sie rasch ein Opfer der Wölfe geworden war.

Für Maja ein sicherlich glücklicher Umstand.

Von allen unbemerkt entkam sie in einiger Entfernung flussaufwärts ins Dickicht. Hier ließ sie sich kurze Zeit schwer atmend auf die Knie nieder, bevor sie die Flucht fortsetzte.

3 Im Wald

Noch niemals war Maja so tief in den Wald gelaufen wie jetzt.

Sie kam nur langsam voran. Immer wieder prallte sie gegen Bäume, oder stolperte über Büsche und Äste. Während sie unentwegt lief, rannen ihr Bäche von Tränen die Wangen herunter. Längst war sie ohne jede Orientierung.

Als sie aus dem Haus hatte fliehen müssen, war es später Nachmittag gewesen. Nun brach die Nacht herein. Das blinde Mädchen merkte es vor allem, an der Temperatur, die spürbar nach unten sackte, an den Vögeln, die nicht mehr sangen und den veränderten Geräuschen des Waldes. Die wurden jetzt von den verschiedenen Stimmen der Jäger der Nacht dominiert.

Maja trug nur ein dünnes Kleidchen und die bunte Schürze, die sie, während der Hausarbeit umgebunden hatte. Ihr war kalt. Dies und die fremden Laute ließen sie erschaudern.

Dennoch verharrte sie nur kurz um nach ihren Verfolgern zu lauschen, ehe sie weiterlief.

Gleich darauf verfing ihr sich Fuß in einem Hindernis und sie stürzte. Als sie wieder aufstehen wollte, ertastete sie einen Baum, dessen Wurzeln über dem Boden einen großen Hohlraum bildeten. Darin war durch den Wind, einiges Laub vom Vorjahr geweht worden. Außerdem hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet. Dadurch war eine natürliche Höhle entstanden. Dort huschte Maja hinein. Bis auf das Laub, war sie leer.

Das Mädchen schob einen Teil der Blätter, in die äußerste Ecke der Baumhöhle. Darauf setzte sie sich nieder.

Ein Zittern überkam sie. Maja fing, lautlos an zu schluchzen.

Der kleine Körper wurde von krampfartigen Zuckungen geschüttelt.

Wie lange sie so gelegen hatte, wusste sie nicht. Sie war am Ende ihrer Kräfte und der Schlaf hatte sie übermannt.

Das ferne Geschrei vieler Menschen ließ sie hochschrecken.

Wie eine Horde wild gewordener Tiere kamen sie näher.

Unzählige Beine stampften über den Waldboden, Äste krachten, wütende Schreie waren zu vernehmen. Der Hass auf die vermeintliche Hexe hatte sie die Angst vor den Gefahren des großen Waldes vergessen lassen. Kopflos waren sie der Flüchtigen hinterher gestürmt.

Schon vermochte Maja in ihrer Höhle einzelne Stimmen unterscheiden und Wortfetzen verstehen.

Wie das Mädchen am Brandgeruch feststellen konnte, trugen einige von ihnen Fackeln.

Als die Ersten Majas Versteck erreicht hatten, hörte sie die Stimme eines der Dörfler: »Hierher, kommt hierher, hier ist eine Baumhöhle!« Sie kannte den Mann. Einer der Gelegenheitsarbeiter, der manchmal in der Schmiede aushalf.

Der Mann hielt die Fackel zwischen die Wurzeln, um den kleinen Hohlraum auszuleuchten.

Maja war weit nach hinten in eine Ecke gekrochen und zitterte vor Angst am ganzen Körper.

Erneut erklang die grobe Stimme, nun direkt neben ihr: »Ah, kleine Hexe, haben wir dich endlich.« Laut rief er: »Kommt her, die Hexe ist hier!«

Sie hörte das Trappeln vieler Füße, und der Prediger brüllte: »Holt sie heraus, damit Gott sie richten kann!« Maja fühlte, wie mehrere Hände sie derb packten. Sie wollte sich zur Wehr setzen, doch es waren zu viele Hände, die nach ihr griffen. Gewaltsam wurde sie aus ihrem Versteck gezerrt.

»Hängt die Kinderhexe auf!«, rief einer.

Maja schrie aus Leibeskräften. Sie stieß mit aller Kraft um sich: »Lasst mich los, ich bin keine Hexe! Lasst mich los ihr Schweine!«

Sie brüllte es wieder und wieder, bis sie schließlich nur noch kreischte.

Jemand stopfte ihr ein Tuch in den Mund. Ein anderer band ihr die Arme auf den Rücken. Zwei kräftige Männer hielten sie fest, um sie am Fortlaufen zu hindern.

Majas Geschrei war unter dem Tuch zu einem leisen Wimmern geworden.

Der Prediger hatte sich in der Zwischenzeit auf eine der ausladenden Wurzeln des alten Baums gestellt, sodass er die Menge überragte.

Beschwörend hob er beide Arme in die Höhe. Mit pathetischer Stimme rief er: »Hört mich an Leute!«

Es wurde still im Wald. So still, dass man das leise Knarzen der Bäume hören konnte. Selbst die Nachtjäger waren, vor alldem verstummt.

»Gott, der Herr hat uns in seiner Güte und Weisheit in diesen Wald geführt«, durchbrach die Stimme des Predigers die Stille. Schrill, gnadenlos, fast überschlagend.

»Und er leitete uns die Stelle, an der die Kinderhexe versteckt gewesen ist. Gab er uns damit nicht ein Zeichen?« Er machte eine Pause um die Worte, wirken zu lassen. Dann sprach er mit tieferer bebender Stimme weiter: »Ein Zeichen, in seinem Namen zu handeln?« Wieder schwieg er. Nur das gedämpfte Schluchzen des Mädchens war zu hören.

Dann riefen alle wie auf Kommando: »Im Namen des Herrn, im Namen des Herrn!«

Erneut hob der Prediger die Arme: »In Flammen, denen des Fegefeuers gleich, wollen wir Satan aus ihr heraustreiben und die gereinigte Seele dem Herrn übergeben. Lasst uns beten!« Alle Dorfbewohner sanken vor dem Prediger auf die Knie. Sie falteten die Hände und er fing an, mit sonorer Stimme, zu rezitieren: »Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe ...«

Nach dem abschließenden »Amen« erhoben sich die Leute, und der Schmied kommandierte: »Los holt Holz und Reisig heran und last uns zur Ehre Gottes, einen Scheiterhaufen errichten, um diese Satanstochter durch das Feuer zu läutern.«

In weniger als einer Stunde hatten sie trotz der herrschenden Finsternis vor dem Baum, unter dessen Wurzeln Maja bis vor kurzem Schutz gefunden hatte, einen gut mannshohen Haufen aus Holz und Reisig errichtet.

Das Mädchen war zuvor mit Stricken an eine Wurzel gefesselt worden. Nun lösten sie deren Knoten und hoben das zierliche Kind, in die Höhe. Sofort wurde es dort erneut von derben Händen gepackt. Sie banden sie an einen Pfahl, welcher extra dafür aufgestellt worden war.

4 Auf dem Scheiterhaufen

Längst hatte Maja begriffen, was mit ihr geschehen sollte.

Aber wie kann der Geist eines neunjährigen Kindes das verarbeiten?

Sie war doch keine Hexe. Niemals hatte sie jemandem Böses gewollt oder gar zugefügt. Wer war dieser Herr oder Gott, für den sie verbrannt werden sollte? Warum war er nicht hier und redete mit ihr?

Das Tuch im Mund drohte sie zu ersticken. Jeder Atemzug schmerzte ihr in der Lunge. Ihr Geist schrie immer wieder voller Todesangst: «Hilf mir, bitte, hilf mir.«

Schließlich verlor sie das Bewusstsein. Die Angst und die Atemnot hatten ihr die Sinne schwinden lassen. Schlaff hing ihr Körper in den Seilen. Der Prediger, der mit Unterstützung einiger Dorfbewohner, den Scheiterhaufen erklommen hatte, stand unmittelbar vor Maja.

Er drehte ihr den Rücken zu und hatte sich den Dörflern zugewandt. Nun hob seine Fackel, die wie die der anderen fast heruntergebrannt war, empor und rief: »Nun lasset uns die Welt von der Brut Satans reinigen und der Herrlichkeit Gottes huldigen! Entzündet das heilige Feuer!« Während er sprach, sah der Schmied und Prediger, wie die Dorfbewohner voller Entsetzen zu ihm hoch starrten. Niemand warf eine Fackel auf den Reisighaufen. Mit leisem Raunen wichen die Leute einige Schritte zurück. Furcht lag in ihren Augen.

»Was ist los mit euch? Habt ihr Angst vor der Hexe? Sie wird gleich brennen. Seht doch nur, sie berührt die Erde nicht. Somit hat Satan, aus den Tiefen der Hölle, keine Macht über sie. Sie ist aller Magie beraubt und in Gottes gütigen Händen!« Beschwörend hob er beide Arme in die Höhe.

Grelle Lichter zuckten durch ihr Gehirn. Maja versuchte zu atmen, aber viel zu wenig der begehrten Luft gelangte in ihre Lungen. Welche Qualen musste sie erleiden. Hohe Berge stechenden Schmerzes stürzten sie hinab in tiefe Täler greller Pein. Im auf und nieder dieser Marter rauschte es in ihren Ohren als würden Pferdefuhrwerke durch ihren Kopf rasen. Eine fremde Stimme drang stetig stärker werdend durch diese Kakofonie aus Schmerzen, Blitz und Donner. Die Stimme dröhnte und hallte in ihrem Inneren wieder, mit einer solchen Macht, dass sie scheinbar hin- und hergeschüttelt wurde: »Lasst uns den Namen des Herren preisen, auf dass das Himmelreich unser werde…«

Ganz langsam erwachte Maja aus der Ohnmacht, die sie bis jetzt gnädig umfangen gehabt hatte. Sie begriff, dass das Entsetzliche, das hier mit ihr geschah, noch nicht vorbei war.

Gedanken umkreisten sie wie im Fieberwahn. Wieder hatte sie das Bedürfnis, Herzensangst und Verzweiflung hinaus zuschreien. Allein das Tuch in ihrem Mund erstickte jeden dieser Versuche im wahrsten Sinn des Wortes.

Dann aber spürte sie da etwas. Etwas, dass sie zu tiefst irritierte. Sie gewahrte mit ihren ausgeprägten Sinnen Panik.

Sie konnte sie förmlich riechen, die Furcht jener, die grade noch so viel Macht über sie gehabt hatten. Etwas stimmte nicht. Die Stimme des Predigers, die eben noch in ihren Ohren gedröhnt hatte, verstummte unverhofft.

Außerdem nahm sie in der Nähe eine leichte, für sie nicht zu deutende Bewegung war. Ein unangenehm aufdringlicher Geruch nach Dreck und Blut stieg ihr in die Nase.

Sie neigte zur besseren Konzentration den Kopf zur Seite.

Auch der Prediger war auf das merkwürdige Verhalten der Dorfbewohner aufmerksam geworden. Deshalb drehte er sich zu dem Mädchen um, um seine Anklage weiter hinauszuschreien. Im gleichen Moment jedoch packte auch ihn das Grauen.

»Die Dämonen der Hölle sind erschienen! Herr, steh uns bei!«, schrie er aus Leibeskräften. Von Angst gepackt, machte er einen Satz nach hinten. Dabei fiel er von der Wurzel, auf der er gestanden hatte, mitten in die Menge seiner Mitstreiter hinein. Da niemand mehr auf ihn geachtet hatte, wich auch niemand zu Seite. So riss der stämmige Schmied einige der Bauern um und landete mit ihnen im Dreck.

Keiner der Anderen beachtete es. Alle starrten wie gebannt auf den Scheiterhaufen.

Oben war ein Ungeheuer, so riesig und so furchteinflößend, wie es wohl noch nie jemand erblickt hatte. Es stand auf vier großen Pfoten, hatte ein grau schwarz verwaschenes Fell und leuchtend gelbe Augen. Aus dem riesigen Maul tropfte ein Gemisch aus Sabber und Blut.

Das Ungeheuer hob seinen massigen Schädel mit der lang gezogenen Schnauze und den mächtigen Hauern zum nachtschwarzen Himmel empor. Es stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Eine Mischung aus Heulen und einem dämonischen Kampfschrei.

Zu aller Entsetzen aber, donnerte es mit dröhnender Stimme, in menschlicher Sprache: »Dies, elendes Gewürm, ist mein Wald und ihr seit nun auch mein. Bis in alle Ewigkeit!« Der Prediger, den das Grauen gepackt hatte, sprang auf die Füße, wies mit zitterndem Arm nach oben und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Rette euch, die Dämonen der Hölle sind frei!«

Einer weiteren Aufforderung bedurfte es nicht. In ihrer Panik ließen die Leute die Fackeln fallen und stoben laut schreiend davon. Es krachte und knackte im Unterholz. Man hörte deutlich, wie einige stolperten, zu Boden gingen und sich fluchend wieder aufrappelten. Die sowieso schon fast herunter gebrannten Fackeln erloschen und bald war es still und finster um den Scheiterhaufen.

Die schnell wechselnden Ereignisse hatten Maja endgültig das Bewusstsein wiedererlangen lassen. Angestrengt lauschte sie in die nun eingetretene Stille. Sie war sich sicher, da war irgendwer und der hatte sie vor dem Feuertod bewahrt. Aber wo war er hin? War sie in Sicherheit oder war sie in eine neue, Gefahr geraten?

Sie vernahm ein keuchendes, leise pfeifendes Geräusch, als ringe jemand um Luft und dann war ihr, als würde etwas schweres, langsam umsinken.

Nun war das Atmen kaum mehr zu hören.

Maja war verzweifelt. Noch immer steckte der Stofflappen in ihrem Mund und sie konnte nicht sprechen. Nur erstickte Laute brachte sie heraus, die allerdings keine Reaktion zeigten. Ohne dieses schwache Luftholen ganz in ihrer Nähe, hätte sie annehmen müssen, dass sie wieder alleine sei.

Sie zerrte an den Fesseln und warf sich hin und her. Es half nichts, die Stricke saßen fest.

Nach einigen dieser vergeblichen Versuche gab sie vor Erschöpfung auf. Nun erst bemerkte sie, dass es seltsam still um sie her geworden war. Allmählich kamen ihre aufgepeitschten Nerven zur Ruhe. Dann forderte dieser wahnsinnige Tag seinen Tribut. Maja schlief am Baum gefesselt, trotz schmerzender Gliedmaßen, ein.

Gegen Morgen trat das lang erwartete Ereignis ein, es begann zu regnen. Die niederprasselnden Tropfen weckten Maja aus ihrem ohnmachtsähnlichen Schlaf. Ihr war kalt. Sie war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Körper. Die Geräusche des Waldes hatten sich erneut verändert. Zwischen dem Strom der fallenden Regentropfen vernahm sie das Zwitschern von Vögeln.

Schnell kam die Erinnerung an die Ereignisse der Nacht zurück und sie fragte sich ob das Wesen, das sie gerettet hatte, noch da war.

Erneut versuchte Maja, mit dem Knebel im Mund zu rufen, aber der ganze Rachenraum schmerzte ihr, war ausgetrocknet und aufgequollen. Kein Ton kam heraus.

›Da hatte gefälligst jemand zu sein. Man rettet niemanden vor dem sicheren Tod, um ihn anschließend doch, sterben zu lassen.‹ Ihre Gedanken rasten, der Puls wurde schneller. Das Luftholen wurde schwerer. Ringe begannen ihr vor den Augen zu tanzen und eine erneute Ohnmacht drohte sie zu übermannen. Sie versuchte, ihre Nerven zu beruhigen, in dem sie sich auf die Geräusche in ihrer Umgebung konzentrierte.

Es funktionierte. Ihr Atem wurde ruhiger und das Flimmern vor den Augen verschwand.

Es war kein Geräusch, dass sie als Erstes vernahm, nein es war eine Bewegung. So schwach, dass sie anfänglich dachte, sie hätte sich getäuscht. Einmal, zweimal und dann hörte sie ein unterdrücktes Stöhnen.

Sie schrie erneut in ihr Tuch. Dumpf und unartikuliert kam es heraus.

Eine leise, scheinbar gequälte Stimme drang an ihr Ohr: »Halte aus Mädchen, ich komme.«

Es war zwar mehr gehaucht als gesprochen, jedoch Maja hatte es genau verstanden: »Halte aus Mädchen, ich komme«, hatte die Stimme gesagt und Maja stand nun ganz still, ohne sich zu rühren. Erneut raste ihr Herz. Hoffnung begann, in ihr aufzusteigen.

Aber es geschah nichts. Alles blieb still und unbeweglich.

Langsam dämmerte es ihr. Das Wesen, das sie gerettet hatte, war selber krank, war unfähig aufzustehen. War es verletzt?

Maja vermeinte, wie zuvor in der Nacht, süßlichen Blutgeruch wahrzunehmen.

Nach schier unendlich langer Zeit, eine erneute Bewegung.

Diesmal hatte sie den Eindruck, als ob sich etwas auf sie zu bewegte. Unsicher tapsend, nein nicht tapsend, schleifend, kriechend.

Sie vernahm, wie einige der Äste des Haufens unter einem fremden Gewicht knackend zerbrachen. Schmerzvolles Stöhnen drang an ihr Ohr. Dann war es ganz dicht hinter ihr.

Es stank penetrant, ja fast faulig.

Dies war kein Mensch, dessen war das Mädchen sich sicher.

Sie spürte eine große Schnauze, wie die eines Schweins oder eines Hundes.

Sie bewegte sich langsam und schnüffelnd an ihren Körper entlang. Schließlich verharrte sie an dem Strick, mit dem man sie an den Pfahl gefesselt hatte. Dann ein kurzes, heftiges Zuschnappen.

Maja hatte die ganze Zeit die Luft angehalten und sich gezwungen, keinen laut der Angst von sich zu geben.

Das Seil glitt von ihren Armen herunter. Jedoch die Beine versagten ihr den Dienst, und da die Hände noch immer zusammengebunden waren, fiel sie auf das Gesicht. Nun entrann ihr doch ein gurgelnder Schmerzenslaut, der allerdings durch das Tuch stark gedämpft wurde.

Abermals spürte sie jene große Schnauze, diesmal an ihren Händen. Auch dieser Strick wurde mit einem einzigen Biss durchgetrennt.

Dann brach das Wesen neben ihr zusammen, wobei es ein schmerzerfülltes Knurren von sich gab.

Das Erste was Maja tat, sie riss sich den verdammten Lappen aus dem Mund. Sofort bereute sie das.

Ein Aufschrei entfuhr ihr. Der Fetzen war im Rachen regelrecht festgeklebt. Hatte ihr der Schlund schon vorher weh getan, brannte er jetzt wie Feuer. Sie hatte das Gefühl, die Zunge und den Gaumen mit heraus gerissen zu haben. Die Kehle war zugeschwollen und sie schmeckte Blut. Sie musste trinken, unbedingt Wasser, kaltes Wasser, in den Mund bekommen.

Maja ertastete den Rand des Scheiterhaufens und ließ sich herabgleiten. Sie fiel auf die Erde, mit dem Bauch zuerst. Der Aufprall drückte ihr das Zwerchfell zusammen, und sie bekam keine Luft. Sterne tanzten vor ihrem geistigen Auge.

Erst als sie bereits meinte zu ersticken, gelang es ihr, in ganz flachen Zügen, wieder Atem zu schöpfen. Dann versuchte sie aufzustehen. Die Beine knickten ihr sofort weg. Sie stöhnte vor Schmerz. Einen Moment verharrte sie reglos auf der nassen Erde. Verzweiflung bemächtigte sich ihrer. »Geht denn dieser Mist nie vorbei?«, schrie sie in den Wald. Hals und Kehle antworteten mit stechenden Schmerz. Tränen rannen ihr aus den Augen und vermischten sich mit dem Regen.

Bevor sie ihre Kräfte erneut verlassen konnten, zwang sie sich, vorwärts zu kriechen. Bald stieß sie auf eine kleine Erdmulde, in der Regenwasser eine Pfütze gebildet hatte. Das Wasser schmeckte erdig, aber es war kühl. Das Schlucken schmerzte. Dennoch war es erfrischend. Es schien ihr neues Leben einzuhauchen.

Sie drehte sich auf den Rücken, ließ Regentropfen auf ihr Gesicht und in den geöffneten Mund fallen.

Eine Weile lag sie so da, dann fiel ihr der unbekannte Retter ein: »Hallo!«, rief sie mit heiserer Stimme. Nur das leise Rauschen des Regens antwortete.

»Sind sie da?« Nichts. Das Mädchen versuchte aufzustehen.

Ihre Beine wollten sie noch immer nicht tragen. Erst nach einigen Versuchen kam sie taumelnd zum Stehen.

Maja machte mehrere zaghafte Schritte, die damit endeten, dass sie mit dem Kopf gegen einen Baum prallte. Der Aufprall riss sie erneut von den Füßen. Unsanft landete sie auf dem Hintern.

»So ein Mist!«, schimpfte sie.

Im Grunde genommen, so überlegte sie, müsste sie jetzt heulen und verzweifelt sein. Sie fühlte sich so einsam, von allen verlassen. Sie war doch erst neun Jahre alt. Was sollte das, verdammt noch mal?

Gleichzeitig wunderte sie sich, über die vielen unflätigen Worte, die sie dachte oder sagte. Das war nie ihre Art gewesen, aber Schämen wollte sie sich nicht dafür.

Wenn jemand sie jetzt sehen könnte, er hätte wirklich an eine Kinderhexe glauben müssen. Ihr Gesicht war wutverzerrt, die grünen Augen waren nun schwarz gefärbt und schienen Funken zu sprühen.

Ohne sich anderweitig zu bewegen, hob sie den Kopf, als wolle sie in den regentrüben Himmel starren, öffnete den Mund und fing an zu schreien.

Es war ein greller, ein lauter und lang anhaltender Schrei, mit dem sie ihre Wut und Verzweiflung, in die Welt hinaus schrie.

Als der Aufschrei endete, tat ihr Hals noch mehr weh. Würde sie jetzt etwas sagen wollen, kein Wort hätte sie hervorgebracht. Aber der Kopf war nun klar und sie atmete leichter.

Maja tastete suchend den schlammigen Boden ab. »Ich brauche einen Stock«, murmelte sie. Schließlich hielt sie einen Ast in der Hand. Er maß etwa zehn Fuß länge und war leidlich gerade gewachsen. Den brach sie nun unter Zuhilfenahme ihres Knies durch. Von den beiden Enden wählte sie das dickere. Die Zweige, die noch dran waren, brach sie ab. Der so entstandene Stab, war etwas größer als sie selbst. An ihm richtete sich nun auf. Dann hielt sie ihn von sich gestreckt und begann, langsam im Kreis zu gehen, wobei sie ihr Umfeld mit diesem Stock systematisch absuchte. Schließlich wollte sie nicht erneut gegen einen Baum rennen. Maja wusste, dass sie nur einige Schritte von dem Scheiterhaufen entfernt war.

So grotesk, wie es klingen mochte, der war im Augenblick ihr rettender Anker, denn dessen Umgebung kannte sie. Da war auch die Höhle, die Schutz vor dem Regen bot und ihr unbekannter Retter musste noch dort sein. Sie fühlte, dass er Hilfe benötigte.

Als sie sich langsam vorwärts bewegte, tapste sie in eine Pfütze. Sie kniete nieder und trank erneut einige Schlucke von dem sandigen Wasser. Nach wie vor schmerzte ihr Rachen.

Vor allem, wenn er mit dem Sand in Berührung kam. Während sie weiterging, lauschte sie, ob möglicherweise ein Atmen oder ein anderes Lebenszeichen von dem Unbekannten auf dem Scheiterhaufen, zu hören war. Doch der gleichmäßig fallende Regen verschluckte die meisten Geräusche.

Fast eine halbe Stunde verbrachte sie damit, die Gegend abzutasten.

Unzählige Male war sie dabei mit dem Kopf gegen herunterhängende Äste gelaufen, die ihr das Gesicht auf kratzten.

Dann, ein Aufstöhnen der Erleichterung. Ihr Stock stieß an den Scheiterhaufen. Sie war wohl in einem weiten Bogen um den Haufen herumgelaufen. Nun war sie scheinbar an seinem hinteren Ende angekommen. Dort wo die Dorfbewohner die Stange eingelassen hatten, an der sie gefesselt worden war.

»Hallo, sind sie noch da?«, rief sie nach oben. Niemand antwortete. Der Stapel war mindestens sechs bis sieben Fuß hoch. Maja wollte hinaufklettern, rutschte jedoch wegen der Nässe immer wieder ab.

Bei einem der Versuche, lösten sich mehrere Äste aus der Mitte und der Scheiterhaufen sackte ein wenig ein.

Das brachte sie auf eine Idee.

Sie entfernte nun absichtlich Äste und Zweige aus seiner Mitte, sodass der obere Teil Stück für Stück nachsackte.

Nach langer und unendlich mühevoller Arbeit hatte sie den Hügel soweit abgesenkt, dass sie ihn gut erklimmen konnte.

Sie war zwar am ganzen Körper zerschrammt und aus einigen Wunden sickerte Blut, aber sie fühlte auch so etwas wie Glück. Sie hatte nicht aufgegeben und erreicht, was sie wollte.

Nun kletterte sie, auf den verbliebenen Holzhaufen und suchte nachdem, was dort lag.

Das Erste, was sie wahrnahm, es stank fürchterlich. Irgendwie nach nassem Hund, nur viel intensiver und sie roch Blut.

Maja ertastete vier Pfoten und ein massigen Körper. Dann erreichten ihre Hände den Kopf, und sie erschrak. Das war ein riesiger Schädel. Niemals der von einem Hund. Das musste ein gewaltiger Wolf sein.

Zuerst erschauderte sie. Schließlich dachte sie daran, dass dieser Wolf, wenn es denn einer war, sie vor dem sicheren Feuertod gerettet hatte.

Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, ihn sprechen gehört zu haben. Aber das war wohl ein Irrtum. Das hatte ihr die Aufregung vorgegaukelt. Erneut tastete sie das große Tier ab und fand einige derbe Wunden, die zum Teil noch bluteten.

Ein Vorderlauf war gebrochen und mehrere Rippen. Jedoch er atmete, wenngleich auch nur schwach.

5 Der alte Wolf

Eine Woche war seit jenen schrecklichen Ereignissen, die Majas Leben so verändert hatten, vergangen. Diese Zeit war nicht unbedingt ereignislos verlaufen, allerdings viel ruhiger, als die zuvor.

Als Erstes hatte sie begonnen den Holzhaufen, der als ihr Scheiterhaufen angelegt worden war, weiter abzutragen.

Gerade so weit, dass sie den Wolf gut erreichen konnte, er aber nicht auf dem nassen Boden liegen musste.

Einen Teil des Reisigs, welches sie aus dem Haufen gezogen hatte, verwendete sie dazu, die Wurzelhöhle abzudichten. Als sie sich das erste mal darin zur Ruhe begab, erschien ihr der kleine Raum warm und sicher.

Am Tag darauf hatte es aufgehört zu regnen. Eine ungewohnte Stille legte sich über den Wald, als das Rauschen des Regens, auf dem Blätterdach, plötzlich verebbte. Maja spürte, wie zwischen den Bäumen einzelne Sonnenstrahlen wärmend auf den Waldboden trafen. Sie entledigte sich des durchnässten Kleides und breitete es auf einem Strauch aus, damit es trocknen konnte. Dann begann sie, ihre nähere Umgebung zu erkunden. Das war nicht einfach. Das Unterholz war dicht mit Büschen bewachsen. Um nicht laufend zu stürzen, musste sie sich oft auf Knien vorwärts tasten. Ihren Stab hatte sie natürlich ständig dabei. Holz hatte Sie genug und so brachte sie mit Ästen und Zweigen Markierungen an, welche ihr bei der Orientierung helfen sollten. Nach zig Übungen fand sie sich in einem Radius, von etwa zweihundertfünfzig Schritten zurecht.

In diesem Bereich begab sie sich nun auf die Suche nach wichtigen Kräutern, wie Kamille, Schafgarbe, Ringelblume, Thymian und vielen anderen.

Auch war sie, in einiger Entfernung, auf einen kleinen Bach gestoßen. Sein fröhliches Plätschern hatte sie angelockt. Er führte klares, kaltes Wasser, welches hervorragend schmeckte.

Mit seiner Hilfe begann sie die Wunden des immer noch bewusstlosen Wolfs, zu reinigen. Sie benutzte dazu das Tuch, das man ihr als Knebel in den Mund gesteckt hatte. Natürlich hatte sie es vorher mit Schwemmsand und dem Bachwasser gereinigt. Schließlich legte sie heilende Kräuter auf die Wunden und schiente den Vorderlauf. Danach zerrte sie das Tier, so vorsichtig wie möglich, in die Baumhöhle.

Die Verletzungen, die Maja zum Teil als schlimme Bisswunden erkannt hatte, waren über seinen ganzen Körper verteilt.

Deshalb musste sie das schwere Tier ständig hin- und herdrehen. Das war Schwerstarbeit für sie. Gelegentlich stöhnte der Wolf mit einem kehligen Laut auf, kam aber nicht zu Bewusstsein. Sein Atem ging jetzt flach und gleichmäßig.

Maja formte die Kräuter, die sie zur Behandlung ihres Patienten gesammelt hatte, zu kleinen Kugeln. Diese zerkaute sie dann im Mund zu einer Paste oder einem Brei und bestrich damit vorsichtig und geschickt die vielen Verletzungen.

Das tat sie zwei mal am Tag.

Für sich selbst suchte sie Kräuter und Beeren sowie verschiedene Wurzeln, die sie essen konnte.

Überdies hatte das Äußere des Mädchens in dieser Woche eine grundlegende Veränderung erfahren.

Dass ihr Kleid, dass sie nachdem Trocknen wieder übergezogen hatte, immer schmutziger wurde, war im Vergleich zu dem Rest noch das kleinere Problem. Ihre Schürze hatte sie irgendwo auf der Flucht verloren.

Zum Kräuter und Beeren sammeln war sie viel auf den Knien herum gerutscht. Dadurch war eine dicke Schicht aus Blut und Dreck darauf entstanden.

Beim Zerkauen der Kräuter lief ihr nicht selten ein wenig, der meist grünen Brühe, aus dem Mundwinkel. Die wischte sie dann einfach mit dem Handrücken ab. Der Erfolg davon war; ein bis zur Unkenntlichkeit schmuddeliges Gesicht.

Mit anderen Worten, Maja war völlig verdreckt und verkrustet.

Das schöne rote Haar war strähnig und von rostig brauner Farbe. Sie stank in der Zwischenzeit schlimmer als der Wolf.

Diese Nachlässigkeit kam allerdings nicht von ungefähr. In ihr hatte sich der Gedanke ihren Patienten retten zu müssen wie eine Besessenheit festgesetzt, die alles andere schlichtweg ausblendete. Wenn der Wolf stürbe, wäre sie schon wieder allein. Davor hatte sie wirklich Angst.

Sie hatte die Wunden des Tieres gewaschen und sein Fell grob gereinigt. Er roch zwar immer noch streng, jedoch bereits weit besser als vor einer Woche.

Im Morgengrauen des achten Tages, die Vögel im Wald waren gerade erwacht, schreckte Maja aus dem Schlaf hoch.

Etwas hatte sie geweckt.

Sie spürte deutlich, eine Veränderung in der kleinen Höhle, wusste aber nicht zu deuten, worum es sich dabei handelte.

Sie lauschte in die Stille. Dann erkannte sie es.

Das Atmen des Wolfs, es war anderes geworden, nicht mehr so flach, es war kräftiger und eher stoßweise.