Der Zigeuner und die Jungfrau - D. H. Lawrence - E-Book

Der Zigeuner und die Jungfrau E-Book

D H Lawrence

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Beschreibung

In 'Der Zigeuner und die Jungfrau' von D. H. Lawrence taucht der Leser in eine Welt voller Leidenschaft, Konflikte und inneren Kämpfen ein. Das Buch erzählt die Geschichte eines ungleichen Paars, einer Jungfrau aus gutbürgerlichem Hause und einem Zigeuner, die sich in einer ungewöhnlichen Liebesbeziehung wiederfinden. Lawrences literarischer Stil zeichnet sich durch seine poetische Sprache, tiefgehende Charakterentwicklung und die Darstellung von Emotionen aus, was dem Leser ermöglicht, sich in die Gedankenwelt der Protagonisten einzufühlen. Das Werk reflektiert Lawrences Interesse an den menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Normen seiner Zeit und wirft dabei wichtige Fragen zur Identität und Liebe auf.

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D. H. Lawrence

Der Zigeuner und die Jungfrau

 
EAN 8596547732211
DigiCat, 2023 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Der Zigeuner und die Jungfrau
Die Tochter des Pferdehändlers
Die Hauptmanns-Puppe
Zwei blaue Vögel
Lächeln

Der Zigeuner und die Jungfrau

Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis

Als die Frau des Vikars mit einem jungen Habenichts durchbrannte, gab es eine Entrüstung ohne Grenzen. Ihre beiden kleinen Mädchen waren doch erst sieben und neun Jahre alt. Und der Vikar war ihr ein so guter Mann. Gewiß, er hatte graues Haar. Aber sein Schnurrbart war noch schwarz, er sah gut aus, und er war seiner leidenschaftlichen und schönen jungen Frau mit stummer Glut zugetan.

Warum ging sie davon? Warum brannte sie mit einer derartig aufregenden Plötzlichkeit durch, als hätte sie den Verstand verloren?

Niemand wußte die Frage zu beantworten. Bis auf die Frommen: die sagten, sie wäre eine Verworfene. Ein paar von den guten, also nicht verworfenen Ehefrauen schwiegen dazu. Sie kannten den Grund.

Die beiden kleinen Mädchen erfuhren ihn nie. Sie waren tief getroffen und kamen zu dem Schluß, daß ihre Mutter sich nichts aus ihnen gemacht habe.

Der böse Wind, der noch niemals Irgendwem etwas Gutes zugeblasen hat, fegte die Vikarsfamilie mit schlimmem Stoß hinweg. Aber man sehe und staune: Da bekommt der Vikar, der sich mit einiger Auszeichnung durch Aufsätze und Streitschriften hervorgetan hat und der sich durch sein Schicksal das Mitgefühl der Gelahrten erwarb, die Pfarre in Papplewick. Der Herr hat ihn gnädigen Sinnes vor dem Unheilswind in eine Pfarre im Norden gerettet.

Das Pfarrhaus war ein ziemlich häßliches Steingebäude; man sieht es, bevor man ins Dorf kommt, am Ufer der Papple liegen. Weiterhin, nachdem die Straße den Fluß gekreuzt hat, kommt man an die Steingebäude der alten Baumwollspinnereien, die sich früher ihre Antriebskraft aus dem Wasser holten. Dann schwingt sich die Straße hügelan, in die kahlen Steinstraßen des Dorfes.

Für die Vikarsfamilie bedeutete die Verpflanzung in die Pfarrstelle eine gründliche Veränderung. Der Vikar – oder vielmehr jetzt: der Pfarrherr – holte sich seine alte Mutter, seine Schwester und auch einen seiner Brüder aus der Stadt herbei. Die beiden kleinen Mädchen lebten nun in einer ganz anderen Umwelt als früher.

Der Pfarrer war zu dieser Zeit siebenundvierzig Jahre alt; er hatte sich nach der Flucht seiner Frau einem heftigen und nicht eben durch Würde gehemmten Kummer hingegeben. Mitfühlende Damen hatten ihn vom Selbstmord zurückgehalten. Sein Haar war nun fast weiß, und er blickte aus wilden Augen mit tragischem Ausdruck um sich. Man brauchte ihn nur anzusehen, so wußte man gleich, wie furchtbar das alles war und wie schlimm das Geschick ihm mitgespielt hatte.

Und doch war da irgendein falscher Ton in dem Ganzen. Und einige gerade von den Damen, deren Mitgefühl mit dem Vikar am tiefsten gewesen war, hatten gegen den Pfarrer so etwas wie eine heimliche Abneigung. Es war, wenn man ihn einmal recht besah, ein Zug versteckter Selbstgerechtigkeit in seinem Wesen.

Die kleinen Mädchen machten sich natürlich, in der noch unbewußten Art von Kindern, das in der Familie geltende Urteil zu eigen. ›Großmuttchen‹, die über Siebzig war und nicht mehr gut sah, spielte die Hauptrolle im Hause. Tante Cissie führte den Haushalt: über Vierzig, blaß, fromm, von einem verborgenen Leiden innerlich zernagt. Blieb noch Onkel Fred, ein kümmerlicher, graugesichtiger Mann von vierzig Jahren, der schmuddlig für sich hinlebte und jeden Tag zur Stadt fuhr. Nun, und der Pfarrer war natürlich die Hauptperson – nächst Großmuttchen.

Großmuttchen wurde ›Mater‹ angeredet. Sie gehörte zu den grobschlächtigen, gerissenen alten Haudegen, die ihr Leben lang ihren Willen kriegen, weil sie den Schwächen ihres Mannsvolks Butter aufs Brot zu schmieren verstehen. Und sie wußte sofort, wie das Ding anzufassen war. Der Pfarrer ›liebte‹ die Pflichtvergessene noch immer und würde sie lieben bis ans Grab. Also – psst: heilig war des Pfarrers Gefühl. In seinem Herzen beschlossen wie in einem Schrein war das reine Geschöpf, das er umworben und angebetet hatte.

Durch die böse Welt da draußen wanderte währenddessen eine mit Schande bedeckte Frau, die den Pfarrer betrogen und ihre kleinen Kinder verlassen hatte. Sie war nun an einen jungen und niederträchtigen Mann gefesselt, und er würde ihr ganz gewiß die Erniedrigung antun, die sie verdiente. Dies war mit aller Deutlichkeit klarzumachen, und dann – psst! Denn in der erhabenen Reinheit des pfarrherrlichen Herzens blühte noch immer im reinen Weiß eines Schneeglöckchens das Bild seiner jungen Braut. Das weiße Schneeglöckchen welkte nicht. Jenes andere Geschöpf, das mit dem niederträchtigen jungen Manne durchgebrannt war, hatte nichts damit gemein.

Also bestieg die Mater, die als Witwe in einem kleinen Hause ein bißchen an Würde und Bedeutung verloren hatte, ihren Thron im beherrschenden Lehnstuhl des Pfarrhauses und pflanzte ihren massigen alten Leib wieder fest in den Boden. Sie würde sich nicht wieder entthronen lassen. Listig weihte sie der pfarrherrlichen Treue für das weiße Schneeglöckchen einen ehrfürchtigen Seufzer, während sie Mißbilligung dafür heuchelte. Mit listig betonter Ehrfurcht vor der großen Liebe ihres Sohnes unterdrückte sie jedes abfällige Wort gegen die Nessel, die jetzt draußen in der bösen Welt wucherte und einst den Namen Mrs. Arthur Saywell geführt hatte. Da sie sich wieder verheiratet hatte, hieß sie jetzt, Gott sei Dank! nicht mehr Mrs. Arthur Saywell. Keine Frau trug den Namen des Pfarrherrn. Das reine weiße Schneeglöckchen blühte in perpetuum, ohne Benennung. Und in den Gedanken der Familie lebte es als ›sie, die einst Cynthia war‹.

Das alles war Wasser auf die Mühle der Mater. Es sicherte sie gegen die Gefahr, daß Arthur sich wieder verheiratete. Sie gängelte ihn an der schwächsten aller Schwächen: an seiner heimlichen Eigenliebe. Er hatte ein unvergängliches weißes Schneeglöckchen geheiratet. Der Glückliche! Ihm war Leid geschehen. Der Arme! Er hatte gelitten. Aber ach, welch ein wahrhaft liebendes Herz! Und er hatte – verziehen! Ja, dem weißen Schneeglöckchen war verziehen worden. Er hatte der Ungetreuen sogar in seinem letzten Willen gedacht, für den Fall, daß der Andere, der Schurke, einmal – – Aber psst! Nicht einmal in Gedanken sollte man der Nessel da draußen in der verderbten Welt zu nahe kommen! ›Sie, die einst Cynthia war.‹ In unzugänglicher Höhe soll das weiße Schneeglöckchen auf dem Gipfel der Vergangenheit blühen. Die Gegenwart steht auf einem anderen Blatt.

In dieser Luft, gemischt aus Gerissenheit, Selbstheiligung und bewußtem Verschweigen, wuchsen die Kinder auf. Auch sie sahen das Schneeglöckchen auf unzugänglicher Höhe blühen. Auch sie wußten, daß es in einsamem Glanze über ihrem Leben thronte, auf ewig unberührbar.

Dennoch drang zuweilen aus der unreinen Welt ein böser Pesthauch von Selbstsucht und verderbter Lust herein: der Hauch von jener Nessel, von ›ihr, die einst Cynthia war‹. Die Nessel brachte es tatsächlich fertig, von den beiden kleinen Mädchen, ihren Töchtern, dann und wann ein Briefchen zu ergattern. Und die silberhaarige Mater bebte insgeheim vor Wut. Denn wenn ›sie, die einst Cynthia war‹, jemals wiederkam, dann würde von ihr, der Mater, nicht viel übrig bleiben, das wußte sie. Ein heimlicher Strom des Hasses ging von der Großmutter aus und traf die beiden Mädchen: Waren sie doch die Kinder jener geil wuchernden Nessel, jener Cynthia, die der Mater mit so leidenschaftlicher Verachtung begegnet war.

Für die Kinder mischte sich mit alledem eine vollkommen deutliche Erinnerung an ihr eigentliches Heim, an das Vikarshaus im Süden, und an Cynthia, ihre zauberhafte, aber nicht eben verläßliche Mutter. Ein großer Glanz war um sie gewesen, ein Flutwirbel von Leben, wie eine fliegende und gefährliche Sonne kam und ging sie, kam und ging sie im Hause. Die Erinnerung an sie war für immer eine Erinnerung an Glanz, aber auch an Gefahr; an Zauber, aber auch an beklemmende Selbstsucht.

Nun war der Zauber dahin, und frierend stand, wie eine porzellanene Blüte, das weiße Schneeglöckchen auf seinem Grabe. Nicht minder dahin war die Gefahr der Unstetigkeit, war jene besonders gefährliche Art von Selbstsucht, bei der man an Löwen und Tiger denken mußte. An ihre Stelle war eine vollkommene Stetigkeit getreten, in der man ganz ungestört zugrunde gehen konnte.

Aber die Beiden gingen nicht zugrunde – sie wuchsen heran. Und je größer sie wurden, um so deutlicher wurde ihre Verwirrung, ihre Verwunderung, ihr Erstaunen vor dem Leben. Die Mater verlor im Altern immer mehr ihr Augenlicht. Sie mußte sich im Hause umherführen lassen. Sie stand erst gegen Mittag auf. Aber blind oder nicht, bettlägerig oder nicht – sie gab die Herrschaft im Hause nicht aus der Hand.

Übrigens war sie gar nicht bettlägerig. Sobald sie die Männer im Hause wußte, saß die Mater auf ihrem Thron. Sie war zu schlau, um sich zur Nachlässigkeit verlocken zu lassen. Besonders da sie Nebenbuhlerinnen hatte.

Ihre eigentliche Nebenbuhlerin war Yvette, die jüngere der beiden Schwestern. Yvette hatte etwas von der ungreifbar schweifenden, achtlosen Heiterkeit der entschwundenen Cynthia. Nur daß sie lenksamer war. Die Mater hatte sie vielleicht noch rechtzeitig in den Zügel genommen. Vielleicht –!

Der Pfarrer war vernarrt in Yvette und verzog sie mit seiner blind verliebten Zuneigung; auf eine Art, die immer zu sagen schien: Bin ich nicht ein weichherziger, nachgiebiger alter Knabe? Er gefiel sich in dieser Rolle, und die Mater kannte seine Schwächen haargenau. Sie kannte sie und schlug Kapital daraus, indem sie lauter schmückende Vorzüge und gute Eigenschaften daraus machte. Er sah sich gern im Besitz bestrickender Eigenschaften, so wie Frauen sich gern im Besitz bestrickender Kleider sehen. Und die Mater klebte klug und umsichtig Schönheitspflästerchen auf seine Mängel und Gebrechen. Ihre Mutterliebe verlieh ihr eine hellsichtige Erkenntnis seiner Schwächen, und sie verbarg sie vor seinem Blick unter ehrendem Schmuckwerk. Wohingegen ›sie, die einst Cynthia war‹ – Aber nicht einmal erwähnen sollte man sie in solchem Zusammenhang. In ihren Augen war doch der Pfarrer beinahe ein Krüppel und ein Idiot gewesen.

Hier ist die wunderliche Tatsache zu erwähnen, daß die Mater insgeheim Lucille, die ältere Schwester, gründlicher haßte als die verzogene Yvette. Lucille, schwierig und reizbar, empfand die Macht der Mater mehr und schwerer als die verzärtelte und ungreifbar schweifende Yvette.

Tante Cissie wiederum haßte Yvette. Sie haßte schon den Namen – ›Yvette‹. Tante Cissie hatte ihr ganzes Leben der Mater geopfert, und Tante Cissie wußte es, und die Mater wußte, daß sie es wußte. Im Laufe der Jahre freilich war eine Überlieferung, ein vertraglicher Zustand daraus geworden. Dieser überlieferte Zustand wurde von Allen anerkannt, Tante Cissie selbst mit einbegriffen. Diese Erkenntnis spielte eine große Rolle in ihren Gebeten. Womit wiederum bewiesen ist, daß auch sie irgendwo ihr eigenes und selbständiges Empfinden hatte, die Arme. Sie war kein eigener Mensch namens Cissie mehr, sie hatte ihr Leben und ihr Geschlecht eingebüßt. Und nun, da sie den Fünfzigern zuschlich, flackerten zuweilen seltsame grüne Flammen der Wut in ihr auf, und in solchen Augenblicken war sie wie von Sinnen.

Aber die alte Mater hatte sie und ließ sie nicht los. Tante Cissie hatte nur eine Aufgabe im Leben: sie mußte für die Mater sorgen.

Dieser höllische Haß, der manchmal wie grüne Flammen in Tante Cissie aufschoß, richtete sich gegen alles, was jung war. Dann betete sie, die Arme, und versuchte vom Himmel Vergebung zu erlangen. Sie aber konnte nicht vergeben, was ihr angetan war, und zuweilen hatte sie siedendes Gift in den Adern.

Nun muß man nicht glauben, daß die Mater eine warme, gütige Seele war. Das war sie keineswegs. Sie verstand es, pfiffig, wie sie war, nur zu scheinen. Und den Enkelinnen dämmerte allmählich die Erkenntnis ihres wahren Wesens. Unter ihrem altmodischen Spitzenhäubchen, unter ihrem Silberhaar, unter der schwarzen Seide, die sich über ihrem stämmigen, kurzen, vorgewölbten Körper spannte, verbarg die alte Frau ein schlau berechnendes Herz, das immer und immer nur auf Erhaltung ihrer weiblichen Macht sann. Mit der Schwäche der unfrischen, unlebendigen Männer hatte sie diese Macht gleichsam großgefüttert, und sie hielt sie unwandelbar fest, indessen ihre Jahre dahinflossen: vom siebzigsten zum achtzigsten und vom achtzigsten, mit neuem Anlauf, dem neunzigsten entgegen.

Denn es gab da ein überliefertes Familiengesetz, das ›festes Zusammenhalten‹ verlangte: Zusammenhalten Aller untereinander, vor allem aber im Verhältnis zur Mater. Die Mater war natürlich die Achse, um die sich das Leben der Familie drehte. Die Familie war eigentlich nur ihr erweitertes Ich. Die Macht, unter der sie die Familie hielt, war Naturgesetz. Da ihre Söhne und Töchter schwach waren, jeder für sich ein unselbständiger Splitter, so waren sie natürlich zum ›Zusammenhalten‹ geneigt. Denn – fanden sie draußen, außerhalb der Familie, etwas anderes als Gefahr und Kränkung und Schmach? Vorsicht also! hieß die Losung. Vorsicht und Zusammenhalten gegenüber der bösen Welt! Mochte es auch innerhalb der Familie noch so viel Haß und Reiberei geben – darauf kam es nicht an. Der Welt gegenüber mußte die Familie ein Wall unzerstörbarer Einheit sein.

2

Inhaltsverzeichnis

Aber erst, als die beiden Schwestern endgültig von der Schule heimkamen, fühlten sie das volle Gewicht, mit dem die tote alte Hand der Mater auf ihrem Leben lastete. Lucille war damals fast einundzwanzig, Yvette neunzehn. Sie hatten eine gute Mädchenschule besucht und waren dann ein abschließendes Jahr in Lausanne gewesen; nun waren sie genau das, was man erwarten durfte: schlanke junge Geschöpfe mit frischen, beweglichen Gesichtern, mit kurzem Haar und jungenhaften Ich-scher-mich-den-Teufel-Manieren.

»Was ich so scheußlich öde in Papplewick finde,« sagte Yvette, indessen sie auf dem Kanaldampfer standen und die grauen, grauen Klippen von Dover langsam näherrücken sahen, »-es sind überhaupt keine Männer da. Weshalb hat Papa nicht ein paar nette alte Kerle in seiner Freundschaft? Na, und Onkel Fred – ich danke!«

»Oh, man weiß doch nie – es kann ja was auftauchen«, sagte Lucille, die mehr zu weltweiser Betrachtung neigte.

»Tu nicht so, als ob du nicht wüßtest, was uns erwartet«, sagte Yvette. »Sonntags Chorgesang, und ich kann gemischten Chor nicht ausstehen. Jungenstimmen allein sind entzückend, aber es dürfen keine Frauenstimmen dazwischen kommen. Na, und Sonntagsschule, und Jungfrauenverein, und gesellige Zusammenkünfte – alle die lieben alten Seelen, die wissen wollen, wie es Großmuttchen geht. Meilenweit nicht ein einziger netter Junge.«

»Na, ich weiß doch nicht –!« sagte Lucille. »Da sind doch schließlich immer noch Framleys. Und Gerry Somercotes himmelt dich an, das weißt du doch.«

»Ich kann Bengels, die mich anhimmeln, nicht ausstehen!« rief Yvette und kehrte ihre nervöse Nase zum Himmel. »Sie öden mich an. Sie hängen Einem an wie Blei.«

»Also anhimmeln sollen sie dich nicht. Schön. Aber was verlangst du denn eigentlich? Ich finde es furchtbar nett, sich anhimmeln zu lassen. Daß man sie nicht heiratet, versteht sich von selbst – also weshalb sollen sie nicht himmeln, wenn es ihnen Spaß macht?«

»Ich will mich aber verheiraten«, rief Yvette.

»Schön. Dann laß dich doch von ihnen anhimmeln, bis du einen darunter findest, der allenfalls fürs Heiraten in Frage kommt.«

»Auf die Art finde ich nie einen. Nichts bringt mich dermaßen auf wie ein augenverdrehender Verehrer. Sie öden mich an! Mir wird hundsmiserabel davon.«

»Mir auch, wenn sie Einem zu nahe rücken. Aber aus einiger Entfernung finde ich sie ganz nett.«

»Ich möchte mich mal ganz furchtbar verlieben.«

»Das sieht dir ähnlich! Ich nicht! Ich würde es abscheulich finden. Du wahrscheinlich auch, wenn es dir tatsächlich passierte. Und schließlich müssen wir uns wohl erst mal ein bißchen einleben, bevor wir wissen, was wir wollen.«

»Aber findest du es nicht auch scheußlich, daß wir jetzt wieder nach Papplewick müssen?« sagte Yvette und kehrte ihr nervöses Näschen zum Himmel.

»Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen. Gewiß, wie werden uns wohl ein bißchen langweilen. Ich wollte, Papa schaffte sich einen Wagen an. Wahrscheinlich müssen wir unsere alten Fahrräder wieder aus dem Stall holen. Wär's nicht nett, mal wieder nach Tansy Moor hinaufzufahren?«

»Oh, entzückend! Wenn es auch ein gräßliches Stück Arbeit ist, so eine alte Tretmühle die Hügel hinaufzustrampeln.«

Das Schiff näherte sich den grauen Klippen. Es war Sommer, aber der Tag war grau. Die beiden Mädchen hatten die Pelzkragen ihrer Mäntel hochgeklappt und ihre flotten kleinen Hüte über die Ohren herabgezogen. Hochgewachsen waren sie, schlank, mit frischen Gesichtern, unverbildet kindlich, dabei selbstbewußt, allzu selbstbewußt in ihrem schulmädchenhaften Dünkel – und in alledem so furchtbar englisch. Sie schienen so frei – und waren natürlich innerlich in lauter Vorurteile verwickelt und verstrickt. Sie schienen so kühn und unabhängig – und waren in Wahrheit natürlich ganz und gar abhängig und in sich selbst wie in einen Käfig eingesperrt. Sie sahen aus wie mutige, schlanke Segler, die eben aus dem Hafen auf das weite Meer des Lebens hinausfahren. Und sie waren natürlich nichts weiter als zwei arme steuerlose Lebensschiffe, die vom einen Ankerplatz nur losgekettet waren, um zum anderen zu treiben.

Als sie ins Pfarrhaus kamen, fuhr ihnen ein Frösteln ins Herz. Es kam ihnen häßlich, fast schmutzig vor; es hatte die muffige Atmosphäre jener kleinbürgerlichen, ungepflegten Behaglichkeit, die aufgehört hat, behaglich zu sein und nur noch staubig und unsauber ist. Das unfreundliche steinerne Haus mutete sie beklemmend unsauber an, sie hätten nicht zu sagen gewußt, warum. Die schäbigen Möbel schienen ihnen irgendwie schmutzig – nichts im ganzen Hause atmete Frische. Sogar das Essen, das auf den Tisch kam, hatte jene abscheuliche trostlose Gewöhnlichkeit, die für ein ›von draußen‹ kommendes junges Geschöpf so ekelerregend ist. Rostbraten und nasser Kohl, kaltes Hammelfleisch und Kartoffelbrei, saure Gurken und unentschuldbare Puddinge.

Großmuttchen, die ›gern ein Häppchen Schweinernes aß‹, bekam auch besondere Gerichte, Fleischbrühe und Zwieback oder ein Schüsselchen mit duftendem Eierrahm. Die graugesichtige Tante Cissie aß überhaupt nichts. Sie saß stumm am Tisch und legte sich nichts weiter als eine einzige einsame nackte gekochte Kartoffel auf den Teller. So saß sie mit bösartiger Beharrlichkeit während der ganzen Mahlzeit, indessen Großmuttchen eilig das für sie Zubereitete hinunterschlabberte – man konnte von Glück sagen, wenn sie sich dabei nicht den vorgewölbten Bauch bekleckerte. Was auf den Tisch kam, war in keiner Weise verlockend; wie konnte es das auch sein, wenn Tante Cissie alles Eßbare, ja den Vorgang des Essens selbst verabscheute und niemals ein Dienstmädchen auch nur ein Vierteljahr im Hause halten konnte? Die beiden Schwestern aßen mit Widerwillen, wobei Lucille wacker Haltung wahrte, während Yvettes empfindsames Näschen deutlich ihre Abneigung ausdrückte. Nur der Pfarrer, weißhaarig, machte eine Ausnahme: er wischte seinen langen grauen Schnurrbart mit dem Mundtuch und machte behaglich seine Witzchen. Auch er begann schwerfällig und träge zu werden, da er den ganzen Tag in seinem Studierzimmer saß und jede körperliche Anstrengung mied. Aber er riß immerzu seine spöttischen Witzchen und saß behaglich unter der schirmenden Obhut der Mater.

Die Landschaft mit ihren steilen Hügeln und ihren tiefen, schmalen Tälern war ernst und düster, aber es lag eine ganz eigene mächtige Kraft darin. Zwanzig Meilen entfernt begann die schwarze Industriegegend des Nordens. Aber das Dorf Papplewick war so etwas wie eine Insel, und das Leben darin war steinig und starr. Alles war aus Stein und von einer schroffen Härte, die in ihrer Unnachgiebigkeit beinahe etwas Erhabenes hatte.

Alles traf ein, wie es die Schwestern vorausgesehen hatten: sie traten wieder in den Chor ein, sie halfen in der Kirchspielarbeit. Aber Yvette wehrte sich entschieden gegen die Sonntagsschule, den Hoffnungsbund und den Christlichen Jungfrauenverein – kurz gegen alle die Betätigungen, die von ausgemachten alten Jungfern und eigensinnigen, beschränkten ältlichen Männern ausgeübt wurden. Sie drückte sich soviel wie möglich um die Kirchenpflichten und verließ das Pfarrhaus bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Die Framleys, eine große, schmuddelige, vergnügte Familie droben auf dem Grange, waren ihr da eine unschätzbare Zuflucht. Jede Einladung zu einer Mahlzeit außerhalb des Hauses nahm sie sogleich an, sogar wenn eine von den Arbeiterfrauen sie einlud, zum Tee zu bleiben. Sie spürte ein seltsames Gefühl der Erregung, wenn sie in solche Häuser kam. Sie unterhielt sich gern mit den Arbeitern; viele von ihnen hatten, fand sie, so prachtvoll geschnittene, hartlinige Köpfe. Aber sie lebten natürlich in einer anderen Welt.

So gingen die Monate hin. Gerry Somercotes war ein treuer Anbeter. Natürlich waren auch noch andere da – Söhne von Landwirten oder Mühlenbesitzern. Eigentlich hätte es für Yvette eine gute Zeit sein müssen. Es gab ununterbrochen Gesellschaften und Tanzabende, Freunde holten sie im Wagen ab und sausten mit ihr zur Stadt, zum Nachmittagstanz im vornehmsten Hotel oder in dem ›fabelhaften‹ neuen Tanzpalast, ›Pally‹ genannt.

Bei alledem ging sie immer umher wie unter einem hypnotischen Bann. Niemals fühlte sie sich so frei, daß sie wahrhaft heiter sein konnte. Tief in ihr wühlte unablässig ein unerträgliches Gefühl der Gereiztheit, die ihr selbst wie ein Unrecht vorkam, die ihr selbst verhaßt war, und die dadurch nur um so schlimmer wurde. Sie wurde sich niemals darüber klar, wodurch dieses Gefühl entstand.

Zu Hause war sie tatsächlich äußerst reizbar und benahm sich gegen Tante Cissie abscheulich grob. Yvettes böse Launenhaftigkeit wurde sprichwörtlich in der Familie.

Lucille, die schon immer mehr zum Praktischen neigte, nahm in der Stadt eine Stellung als Privatsekretärin bei einem Manne an, der Jemanden mit fließendem Französisch und Stenographie brauchte. Sie machte die Fahrt zur Stadt und von der Stadt täglich im gleichen Zuge wie Onkel Fred. Aber sie fuhren niemals gemeinsam; Lucille radelte bei gutem wie bei schlechtem Wetter zum Bahnhof, und Onkel Fred ging zu Fuß.

Die beiden Schwestern waren sich in einem Punkte einig: Sie wollten ein wirklich kurzweiliges gesellschaftliches Leben führen. Und es war für sie ein immer neuer Anlaß zur Wut, daß das Pfarrhaus für ihre Freunde ›unmöglich‹ war. Im Erdgeschoß waren nur vier Räume: die Küche, in der die beiden mißvergnügten weiblichen Dienstboten hausten; das dunkle Speisezimmer; das Studierzimmer des Pfarrers; und das große, ›gemütliche‹, traurige Wohnzimmer, auch ›Salon‹ genannt. Im Speisezimmer war ein Gasofen. Nur im Wohnzimmer wurde ein richtiges wärmendes Feuer unterhalten. Denn hier war natürlich Großmuttchens Thron aufgeschlagen.

In diesem Raum versammelte sich die Familie. Abends, nach dem Essen, pflegten der Pfarrer und Onkel Fred mit Großmuttchen unweigerlich Kreuzworträtsel zu lösen.

»Na, Mater, bist du so weit? N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«

»Wie? Was? M Punkt Punkt Punkt W?«

Großmuttchen war schwerhörig.

»Nein, Mater. Nicht M! N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«

»N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein chinesischer Beamter.«

»– siamesisch.«

»Wie –?«

» Siamesisch! Siam!«

»– ein siamesischer Beamter! Was kann das wohl sein?« sagte die alte Dame tiefsinnig und faltete die Hände über dem rundlichen Bauch. Die beiden Söhne stellten Vermutungen an, und die alte Dame sagte »Aha! aha!« dazu. Der Pfarrer war erstaunlich findig beim Lösen von Kreuzworträtseln. Fred aber verfügte über einen gewissen technischen Wortschatz.

»Das ist aber mal eine harte Nuß«, sagte die alte Dame, wenn sie sämtlich nicht weiter wußten.

Lucille saß derweil in einer Ecke, hielt sich die Ohren zu und tat, als läse sie; Yvette arbeitete mit verärgertem Gesicht über ihrem Zeichenblock oder summte laute und herausfordernde Melodieen, um so zum Familienkonzert beizutragen. Tante Cissie holte sich Schokolade aus der Schachtel, ein Stück nach dem anderen, ihre Kinnladen arbeiteten pausenlos. Sie lebte buchstäblich von Schokolade. Sie saß abseits, schob ein neues Stück in den Mund und sah dann wieder in die Kirchenzeitschrift. Schließlich hob sie den Kopf und stellte fest, daß es Zeit war, für Großmuttchen die abendliche Tasse Horlicks zu holen.

Sobald sie draußen war, öffnete die nervöse Yvette mit einer erbitterten Bewegung das Fenster. Die Luft im Zimmer war niemals frisch, und Yvette meinte immer einen Geruch zu spüren: es roch nach Großmuttchen. Die Mater, schwerhörig, wie sie war, hatte Ohren wie ein Wiesel, sobald sie etwas nicht hören sollte.

»Hast du das Fenster aufgemacht, Yvette? Ich finde, du solltest eigentlich daran denken, daß wir Älteren schließlich auch noch da sind«, sagte sie.

»Man erstickt hier ja! Es ist nicht auszuhalten! Kein Wunder, daß wir alle immer erkältet sind.«

»Ich finde, das Zimmer ist groß genug, und das Feuer brennt ausgezeichnet.« Die alte Dame schüttelte sich ein bißchen. »Es zieht hier, daß wir uns alle den Tod holen können.«

»Kein bißchen zieht es«, schrie Yvette. »Bloß ein bißchen frische Luft.«

Die alte Dame schüttelte sich abermals und sagte:

»Frische Luft. Soso.«

Worauf der Pfarrer zum Fenster ging und es fest zumachte. Dabei sah er seine Tochter nicht an. Er handelte höchst ungern gegen ihren Willen. Aber sie mußte doch schließlich die Grenze kennen.

Die Kreuzworträtselraterei, vom Teufel persönlich erfunden, ging weiter, bis Großmuttchen ihre Tasse Horlicks getrunken hatte und den Weg ins Bett antrat. Nun kam die feierliche Handlung des Gutenachtsagens. Alle standen auf. Die Schwestern bekamen von der blinden alten Dame ihren Kuß, der Pfarrer reichte ihr den Arm, und Tante Cissie folgte mit einer Kerze in der Hand.

Dies alles geschah erst um neun Uhr, obwohl Großmuttchen nun wirklich alterte und eigentlich schon eher hätte im Bett sein sollen. Wenn sie dann aber im Bett lag, konnte sie nicht schlafen, bis Tante Cissie kam.

»Seht ihr,« sagte Großmuttchen, »ich habe niemals allein geschlafen. Vierundfünfzig Jahre lang habe ich keine Nacht geschlafen, ohne daß der Pater seinen Arm um mich gelegt hatte. Und als er von mir gegangen war, hab ich versucht, allein zu schlafen. Aber jedesmal, sobald ich die Augen zugemacht hatte, gabs meinem Herzen einen Stoß, daß es mir fast aus dem Leibe sprang, und ich flog an allen Gliedern. Ach, denkt meinetwegen, was ihr wollt, aber es war fürchterlich – nach vierundfünfzig Jahren einer wunschlos glücklichen Ehe. Ich hätte gewünscht, daß der Herr mich vor dem Pater heimrief, aber der Pater – ja, also ich glaube wirklich, er hätts nicht überstanden.«

Infolgedessen schlief Tante Cissie bei Großmuttchen. Und sie beklagte sich bitter. Sie käme niemals zum Schlafen, sagte sie. Und sie wurde grauer und grauer, und das Essen, das auf den Tisch kam, wurde immer schlechter, und schließlich mußte Tante Cissie sich operieren lassen.

Großmuttchen aber stand, wie immer, gegen Mittag auf, und beim Mittagessen führte sie, mit vorgewölbtem Bauch in ihrem Lehnstuhl thronend, den Vorsitz; ihr gerötetes Gesicht mit den Hängebacken – sein Ausdruck war so etwas wie abscheuliche Majestät – fiel unter der Mauer ihrer hohen Stirn in sanften Wellen herab, und ihre blauen Augen spähten blicklos umher. Ihr weißes Haar wurde dünn, und das Ganze war ein bißchen unappetitlich. Aber der Pfarrer schoß wohlgelaunt seine Witzchen auf sie ab, und sie tat, als ärgere sie sich darüber. In Wahrheit aber saß sie in ihrer betagten Fülle vollkommen zufrieden und behaglich da; nach den Mahlzeiten pflegte sie den Wind aus ihrem Magen zu entfernen, indem sie die Hand auf den Busen drückte und mit großem körperlichen Behagen rülpste.

Der schlimmste Ärger für die beiden Schwestern war die Tatsache, daß unabänderlich, wenn sie das ihnen befreundete junge Volk ins Haus brachten, Großmuttchen auf ihrem Platz thronte und alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchte: ein greuliches Götzenbild aus vielem alten Menschenfleisch. Es war ja nur ein einziges Zimmer für Alle da. Da saß denn die alte Dame, und Tante Cissie hielt scharfe Wacht. Jeder Besucher mußte zuerst der Mater vorgestellt werden; sie war geneigt, leutselig zu sein, denn sie hatte gern Gesellschaft. Von Jedem mußte sie wissen, wer er war, und woher er kam; dazu alles, was sich in seinem Leben zugetragen hatte.

Dann, wenn sie ›im Bilde‹ war, konnte sie die Führung des Gesprächs an sich reißen.

Nichts hätte die beiden Schwestern ärger aufbringen können. »Ist sie nicht wundervoll, die alte Mrs. Saywell?« sagten die Besucher. »Wieviel Anteil nimmt sie noch am Leben – mit ihren beinahe neunzig Jahren!«

»Sie nimmt Anteil an den Angelegenheiten anderer Leute – wenn ihr das ›Leben‹ nennt«, sagte Yvette.

Sogleich aber hatte sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich war es doch wirklich wundervoll, beinahe neunzig Jahre alt und dabei so klaren Geistes zu sein! Und dann tat Großmuttchen, wenn man es recht bedachte, niemals Irgendwem etwas zuleide. Es lag mehr daran, daß sie im Wege war. Und eigentlich war es doch wohl recht häßlich, einen Menschen nur deshalb zu hassen, weil er alt und im Wege war.

Yvette also bereute sogleich und war nett. Großmuttchen blühte auf und schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, da sie noch ein kleines Mädchen war, in einem Städtchen in Buckinghamshire. Sie schwatzte und schwatzte und wußte ihre Hörer so zu unterhalten–! Ja, sie war eigentlich doch wirklich wundervoll.

Nachmittags kamen dann Lottie und Ella und Bob Framley mit Leo Wetherell.

»Oh, kommt herein!« – und dann ging der ganze Schwarm ins Wohnzimmer, wo Großmuttchen mit ihrem weißen Häubchen beim Feuer saß.

»Großmuttchen, darf ich dir Mr. Wetherell vorstellen?«

»Mr. –, wie war Ihr Name? Sie dürfen mir nicht böse sein, ich höre ein bißchen schwer.«

Großmuttchen gab dem jungen Manne, dem unbehaglich zumute war, die Hand und starrte ihn stumm, blicklos an. »Sie sind wohl nicht aus unserem Kirchspiel?« fragte sie.

»Aus Dinnington!« brüllte er.

»Wir möchten gern morgen einen Ausflug machen, nach Bonsall Head, in Leos Wagen. Wir können uns alle hineinquetschen«, sagte Ella leise zu den Anderen.

»Bonsall Head, haben Sie gesagt, nicht?« fragte Großmuttchen.

»Ja.«

Verblüfftes Schweigen.

»Im Wagen wollen Sie hinfahren, haben Sie gesagt, nicht?«

»Ja! in Mr. Wetherells Wagen.«

»Hoffentlich fährt er gut. Es ist eine gefährliche Straße.«

»Er fährt sehr gut!«

»Er fährt nicht gut?«

»Doch! Er fährt sehr gut!«

»Wenn ihr nach Bonsall Head fahrt, muß ich euch wohl eine Nachricht für Lady Louth mitgeben.«

Großmuttchen wußte diese elende Lady Louth jedesmal ins Gespräch zu bringen, wenn Besuch da war.

»Wir fahren aber die andere Strecke!« schrie Yvette.

»Welche Strecke denn?« fragte Großmuttchen. »Ihr müßt doch über Heanor fahren.«

Worauf sie, um mit Bob Framley zu reden, alle miteinander dasaßen wie die Stopfgänse und unbehaglich auf ihren Stühlen rückten.

Tante Cissie kam herein – und das Mädchen mit dem Tee. Nun erschien das unabänderliche und augenscheinlich für die Ewigkeit reichende Stück Bäckerkuchen auf dem Tische. Aber es kam auch eine Schüssel mit frischen kleinen Kuchen. Tante Cissie hatte tatsächlich zum Bäcker geschickt.

»Der Tee, Mater!«

Die alte Dame griff nach den Armlehnen ihres Sessels. Alle standen auf und blieben stehen, während sie, an Tante Cissies Arm, langsam und schwerfällig zu ihrem Platz am Tische ging.

Während sie Tee tranken, kam Lucille von ihrer Arbeit in der Stadt heim. Sie war ganz einfach erschöpft und hatte schwarze Schatten unter den Augen. Und sie schrie auf, als sie die ganze Gesellschaft versammelt sah.

Sobald das Durcheinander der Stimmen verstummt und wieder verlegenes Schweigen eingetreten war, sagte Großmuttchen:

»Du hast mir nie von Mr. Wetherell erzählt, nicht, Lucille?«

»Ich kanns wirklich nicht sagen«, antwortete Lucille.

»Nein, du hast mir bestimmt nicht von ihm erzählt. Ich habe den Namen nie gehört.«

Yvette nahm sich noch ein Stück Gebäck von der jetzt beinahe leeren Schüssel. Tante Cissie, die durch Yvettes ungreifbar schweifende und achtlose Art fast zum Wahnsinn getrieben wurde, fühlte, wie in ihrem Herzen wieder die grünen Flammen der Wut aufzüngelten. Sie nahm ihren Teller mit dem einen einzigen Stück Gebäck darauf, das sie sich gestattete, bot ihn Yvette an und fragte mit vergifteter Höflichkeit:

»Möchtest du nicht meines nehmen?«

»Oh, danke«, sagte Yvette und fuhr aus ihrer verärgerten Gedankenlosigkeit auf. Und sie nahm, achtlos wie immer, Tante Cissies Gebäck; um dann, mit nachträglichem Bedenken, hinzu zufügen: »Möchtest du's denn aber auch wirklich nicht selbst ...?«

Nun hatte sie zwei Stück Kuchen auf ihrem Teller. Lucille war geisterblaß geworden und neigte sich über ihre Teetasse. Tante Cissie hatte den grünen Blick giftiger Entsagung. Die Verlegenheit wurde zur Todesqual.

Großmuttchen aber, behäbigen Leibes thronend und völlig ahnungslos, sagte inmitten des Unwetters nur:

»Wenn ihr morgen nach Bonsall Head fahrt, Lucille, dann nimm doch, bitte, eine Nachricht von mir für Lady Louth mit.«

»Oh!« sagte Lucille und warf über den Tisch hinweg einen sonderbaren Blick auf die blinde alte Dame. Lady Louth war das überlieferte Prunkstück der Familie und wurde von Großmuttchen unweigerlich zur Bewirtung von Besuchern hervorgeholt. »Na schön.«

»Sie war vorige Woche wieder so sehr liebenswürdig. Sie hat mir durch ihren Chauffeur ein Kreuzworträtselbuch geschickt.«

»Aber du hast dich doch bei ihr bedankt«, schrie Yvette.

»Ich möchte ihr aber gern einen Brief schicken.«

»Den können wir ja in den Postkasten stecken«, schrie Lucille.

»Nein, nein. Ich möchte lieber, daß ihr ihn mitnehmt. Als Lady Louth mich das letzte Mal besuchte – –«

Das Jungvolk saß da wie ein Schwarm junger Fische, die lautlos an der Oberfläche des Wassers nach Luft schnappen; während Großmuttchen sich weiterhin über Lady Louth verbreitete. Mit Tante Cissie war, wie die Schwestern wohl wußten, noch immer nicht zu rechnen, da sie in einem wahren Krampf fast besinnungsloser Wut über die Geschichte mit dem Kuchen dasaß. Vielleicht betete sie auch, die arme Tante Cissie.

Es war eine Erlösung, als die Freunde schließlich aufbrachen. Nun aber waren auch die beiden Schwestern so weit, daß ihnen die wilde Wut aus den Augen sprang. Und da nun geschah es, daß Yvette bei einem Rundblick durchs Zimmer plötzlich den steinernen und unbezähmbaren Willen zur Macht erkannte, der in dem alten und scheinbar so mütterlichen Großmuttchen lebte. Da saß die alte Dame gewölbten Leibes in ihren Stuhl zurückgelehnt, unempfindlich; ihr gerötetes altes Gesicht mit den Hängebacken, ein wenig fleckig, trug jetzt kaum den Ausdruck der Bewußtheit und war doch unerbittlich: wie eine Maske, hinter der sich etwas Steinernes und Erbarmungsloses barg. Dieses Etwas war die unerschütterlich im Gleichgewicht bleibende Beharrungskraft ihrer haßerregenden Macht. Eine Minute noch, dann würde sie den Mund auftun, um Alles und Jedes über Leo Wetherell zu ermitteln. Jetzt, für den Augenblick, war sie wie eingeschlossen in einen Dämmerschlaf ihrer uralten Betagtheit. In einer Minute aber würde sie den Mund auftun, ihr Geist würde in einem Aufflackern wach werden; und mit ihrer unersättlichen Gier nach Leben, nach dem Leben Anderer, würde sie mit der Fragerei nach Allem und Jedem beginnen. Sie glich der alten Kröte, von deren Anblick Yvette einmal wie gebannt gewesen war: auf dem Rande des Bienenkorbes hatte das Tier gesessen, unmittelbar vor dem Flugloch, durch das die Bienen ins Freie kamen; und mit einem teufelhaft blitzschnellen Zuschnappen seiner beutelartigen Backen hatte es jede Biene gefangen, die herauskam, um in die Luft zu entschweben; eine nach der anderen hatte es verschlungen, als könnte es den ganzen Inhalt des Korbes in seinem alten, gewölbten, beutelartigen, runzeligen Bauche verschwinden lassen. So hatte es die Bienen verschluckt, die herauskamen, um in die Lenzluft zu entschweben, Jahr auf Jahr, Jahr auf Jahr, Generationen.

Der Gärtner aber, den Yvette herbeirief, geriet in Wut und tötete das Geschöpf mit einem Stein.

»Von mir aus magste ja gut gegen die Schnecken sein«, sagte er, als er mit dem Stein herbeikam. »Aber du sollst mir hier doch nicht das ganze Bienenvolk in deinen dicken Bauch runterschlucken.«

3

Inhaltsverzeichnis

Der nächste Tag war trübe und bedrückend grau, und die Straßen waren fürchterlich, denn es hatte seit Wochen geregnet; dennoch fuhr das junge Volk los, wie es geplant war, und zwar ohne Großmuttchens Brief mitzunehmen. Die Beiden entwischten, als die alte Dame nach dem Frühstück langsam die Treppenreise in ihr Zimmer machte. Um keinen Preis hätten sie bei Lady Louth Besuch gemacht. Die Witwe des geadelten Doktors, übrigens ein durchaus harmloses Geschöpf, war eine verhaßte Plage in ihrem Leben geworden.

Sechs junge Empörer waren sie, und sie saßen recht hochnäsig in dem Wagen, der durch den spritzenden Kot sauste. Aber auch ein wenig ratlos und verlegen sahen sie aus. Wenn man es recht bedachte, so gab es eigentlich gar nichts, wogegen sie sich hätten auflehnen können – für keinen von ihnen. Sie waren so ganz und gar frei in ihrem Tun und Lassen. Ihre Eltern ließen sie fast völlig tun, was ihnen beliebte. Da gab es keine Fesseln zu sprengen, da gab es kein Gefängnisgitter zu durchsägen und keinen Riegel zu brechen. Sie hatten den Schlüssel zu ihrem Leben in der eigenen Hand. Und schlenkerten damit umher, ohne ihn verwenden zu können.

Es ist so sehr viel leichter, Gefängnisriegel zu sprengen, als unentdeckte Tore ins Leben aufzuschließen. Das junge Volk pflegt die Wahrheit dieses Satzes mit einigem Ärger zu erfahren. Gewiß, da war Großmuttchen; aber – armes altes Großmuttchen, man konnte doch wohl schließlich nicht zu ihr sagen: »Du bist alt genug geworden; nun leg dich hin und stirb!« Wenn sie auch eine rechte alte Plage war – sie tat doch Niemandem jemals wirklich etwas zuleide. Es war nicht anständig, sie zu hassen.

Da fuhren nun also die Sechs und versuchten sich recht großartig und selbständig zu gebärden. Infolgedessen konnten sie natürlich gar nichts weiter tun, als im Wagen sitzen und eine Menge Abschätziges über andere Leute reden und ein bißchen spielerische Liebelei treiben, auf eine törichte Art, die eigentlich ziemlich langweilig war. Hätten sie wenigstens ein paar ›strenge Verbote‹ gehabt, die sich übertreten ließen! Aber nichts dergleichen war vorhanden: abgesehen allenfalls von dem nicht mitgenommenen Brief an Lady Louth, aber da war die Billigung des Pfarrers zu erwarten, denn er stand dem Familienprunkstück ebenfalls ablehnend gegenüber.

Sie sangen, ein bißchen durcheinander, die neuesten angeblich komischen Schlager, indessen sie durch die verdrossen aussehenden Dörfer fuhren. Im großen Park war das Wild in Rudeln bis dicht an die Straße herangekommen, Damhirsche und Rehe; sie ruhten im trüben Nachmittagsdämmer unter den Eichen an der Straße, als suchten sie den Anreiz menschlicher Gesellschaft.

Auf Yvettes Verlangen mußte der Wagen halten: sie wollte aussteigen und zu den Tieren reden. So stapften die Mädchen in ihren hohen Russenstiefeln durch das nasse Gras, indessen die Tiere ihnen mit großen, furchtlos erwartungsvollen Augen entgegenblickten. Der Hirsch trottete davon, ohne Hast, den Kopf, der das schwere Geweih trug, in den Nacken geworfen. Die Hindin aber, mit den großen Ohren wedelnd (ihre halberwachsenen Jungtiere waren um sie versammelt), blieb ruhig auf ihrem Platz unter dem Baume liegen, bis die Mädchen ganz dicht herangekommen waren; dann schritt sie leichtfüßig davon, den Schwanz von den gefleckten Flanken hebend. Die Kälber trotteten flink hinterdrein.

»Sind sie nicht furchtbar süß? Sieh mal, wie zierlich!« rief Yvette. »Ich möchte nur mal wissen, wie sie so behaglich in dem feuchten Grase liegen können.«

»Na, manchmal müssen sie sich ja wohl hinlegen, denk ich mir«, meinte Lucille. »Und unter den Bäumen ist es ganz hübsch trocken.« Sie besah sich das niedergedrückte Gras an der Stelle, wo die Tiere gelegen hatten.

Yvette ging hin und legte die Hand ins Gras, um zu erproben, wie es sich anfühlte.

»Ja –,« sagte sie zweifelnd, »ich glaube, es ist ein bißchen warm.«

Das Wild hatte sich in ganz geringer Entfernung wieder zum Rudel gesammelt und stand reglos im trüben Nachmittagsdämmer. Fern, am Fuße der grasigen und bewaldeten Hügelhänge, jenseits des rasch strömenden Flusses und des Geländers, das die Brücke säumte, hockte das mächtige herzogliche Schloß; aus ein paar Schornsteinen stieg bläulicher Rauch. Dahinter hoben sich purpurne Wälder.

Die Mädchen klappten die Pelzkragen ihrer Mäntel bis zu den Ohren auf und standen, mit den langen Armen schlenkernd, in stummer Betrachtung; ihre großen Russenstiefel schützten sie vor der Nässe des Grases. Das große Haus hockte vierkantig und gelblichgrau drunten. Ganz nahe bei ihnen, unter den alten Bäumen, stand da und dort in kleinen Rudeln das Wild. Und das Ganze war unendlich still, unendlich schlicht – und traurig.

»Ich möchte wohl mal wissen, wo der Herzog jetzt ist«, sagte Ella.

» Hier jedenfalls nicht«, sagte Lucille. »Der ist gewiß irgendwo im Ausland, wo die Sonne scheint.«

Von der Straße her rief die Hupe, und sie hörten Leos Stimme:

»Kommt doch, Jungens! Wenn wir noch auf den Head fahren und unten in Amberdale Tee trinken wollen, wirds hohe Zeit!«

Sie pferchten sich wieder in den Wagen, mit eiskalten Füßen, und fuhren los – durch den Park, vorüber am stumm ragenden Spitzturm der Kirche, hinaus durch das große Tor, über die Brücke, in das große, feuchte, steinerne Dorf Woodlinkin, das am Flusse lag. Von da ab ging es lange Zeit durch die schlammige und feuchte Dunkelheit des Tales, oft an steil aufragenden nackten Felsen dahin: zur einen Seite der Straße das brodelnde Wasser, zur anderen jähe Felsen oder düstere Bäume.

Schließlich, im Dunkel von Bäumen, die sich tief über die Straße neigten, ging es bergauf, und Leo ging auf den zweiten Gang zurück. Langsam und mühevoll kletterte der Wagen durch den weißlichgrauen Schlamm, in das steinerne Dorf Bolehill, das am Felshang hing; dann im Bogen um das alte Kreuz mit den Stufen davor: es stand an der Stelle, wo die Straße sich gabelte; vorüber an den niedrigen Häusern, aus denen ein wundervoller Duft von heißem Teekuchen kam; weiter, immer bergan, unter tropfenden Bäumen und vorüber an zerklüfteten, mit Farnkraut bewachsenen Abhängen – immer bergan. Schließlich verengte sich die Schlucht, die Bäume hörten auf, die Abhänge zur Rechten und zur Linken waren nun mit dürftigem, trübsinnigem Grase bewachsen; niedrige, aus rohen Steinen gefügte Mauern schlossen die Straße ein. Sie kamen auf den Kamm des Head.

Alle hatten schon seit einer Weile geschwiegen. Zu beiden Seiten der Straße zog sich ein Grasstreifen dahin; dann kam eine niedrige Steinmauer und die geschwungene Bogenlinie des Gipfels. Darüber der tiefhängende Himmel.

Unter dem tiefhängenden grauen Himmel, auf der kahlen Gipfelstraße lief der Wagen dahin.

»Soll ich mal einen Augenblick halten?« rief Leo.

»Oh ja!«

Und abermals kletterten die Mädchen aus dem Wagen, um einen Rundblick zu tun. Der Gipfel des Berges war ihnen seit langem vertraut. Und doch – wenn man auf den Head kam, mußte man einen Rundblick tun.

Die Hügel glichen den Knöcheln einer Hand; nach der Tiefe zu, zwischen den Fingern, waren die Täler, eng, steil und dunkel. Drunten, ganz tief, qualmte ein Eisenbahnzug, der langsam nordwärts kroch: ein winziges Geschöpf der Tiefenwelt. Wunderlich klang, vom Echo zurückgeworfen, der Lärm der Maschine herauf. Dann kam der dumpfe, altbekannte Ton einer Sprengung in einem Steinbruch.

Leo, unrastig wie immer, trieb zum Aufbruch.

»Wollen wir nicht weiter?« sagte er. »Wie ist's – wir wollten doch zum Tee nach Amberdale runterfahren? Oder wollen wirs mal irgendwo mehr in der Nähe versuchen?«

Nein; alle stimmten für Amberdale, und zwar für den ›Marquis of Grantham‹.

»Schön; und welchen Weg wollen wir auf der Rückfahrt nehmen? Wollen wir über Codnor und Croßhill fahren oder über Ashbourne?«

Das war die Frage, die sich jedesmal erhob. Schließlich wurde beschlossen: die Höhenstraße über Codnor sollte es sein. Mit prachtvollen Schwung sauste der Wagen los.

Nun waren sie auf dem Gipfel der Welt: auf dem Rücken der Faust. Er war kahl, wie ein Handrücken es ist; er war dem Himmel ganz nahe und von einem düsteren, schweren Grün. Wie Adergeflecht zog sich ein Netzwerk alter Steinmauern darüber hin und teilte die Felder, da und dort unterbrochen von den verfallenen Resten alter Bleibergwerke und Gruben. Ein einsam stehendes steinernes Gutshaus streckte sechs kahle spitze Bäume wie Borsten von sich. Fern war ein Dörfchen: ein grauer rauchender Steinhaufen. Auf einigen Feldern grasten düstergraue Schafe, stumm. Kein Ton war zu vernehmen, keine Bewegung zu sehen. Sie waren auf dem Dache Englands, und es war steinern und kahl, wie Dächer nun einmal sind. Fern, tief drunten, lagen die Grafschaften.

»All die Farben in den Grafschaften da unten –!« sagte Yvette zu sich selbst. Hier oben freilich gab's keine Farben. Ein Schwarm Krähen strich aus dem Nichts heran. Sie waren nickend und pickend über ein kahles frischgedüngtes Feld gegangen. Der Wagen lief zwischen den Grasstreifen und Steinmauern der Hochlandstraße dahin, und die Mädchen ließen stumm die Blicke wandern: hinaus über das ferne Netzwerk der Steinmauern unter dem Himmel, hinab zu den Krümmungen der Straße, deren Gefälle den Abstieg in eines der verborgenen Unterweltstäler ankündigte.

Vor ihnen fuhr ein leichter Karren, von einem Manne gelenkt; nebenher trottete eine stämmige ältere Frau, die einen Sack auf dem Rücken trug. Der Mann hatte sie eingeholt und hielt nun mit ihr Schritt.

Die Straße war schmal. Leo ließ heftig die Hupe dröhnen. Der Mann auf dem Wagen sah sich um; die Frau trottete stetig und rasch weiter, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

Yvettes Herz tat einen Sprung. Der Mann auf dem Wagen war ein Zigeuner: einer von der schwarzen, ganz und gar unbekümmerten, hübschen Art. Er blieb auf seinem Karren sitzen, wandte sich und starrte unter dem Schirm seiner Mütze hervor die Insassen des Autos an. Seine Haltung war nachlässig, sein Blick unverschämt in seiner Gleichgültigkeit. Unter seiner schmalen, geraden Nase wuchs ein dünner schwarzer Schnurrbart; um den Hals trug er ein großes rot und gelb gemustertes seidenes Taschentuch. Jetzt sagte er ein Wort zu der Frau. Sie blieb eine Sekunde lang stehen, auf stämmigen Beinen, um sich umzudrehen und die Insassen des Wagens zu betrachten, der nun ganz dicht herangekommen war. Leo ließ abermals die Hupe dröhnen, mit gebieterischem Nachdruck. Die Frau, die ein grau und weiß gestreiftes Tuch um den Kopf geschlungen trug, wandte sich mit einer entschiedenen Schwankung, um wieder mit dem Karren Schritt zu halten; der Lenker hatte sich, auch er, wieder zurechtgerückt und hob die Zügel an, mit einer Bewegung seiner locker gehaltenen schmalen Schultern. Aber er wich nicht von der Straße.

Leo ließ die Hupe brüllen, indessen er auf die Bremse trat und der Wagen dicht hinter dem Karren seinen Lauf verlangsamte. Bei dem Lärm wandte sich der Zigeuner und sagte etwas, das sie nicht hören konnten; sein dunkles Gesicht unter der dunkelgrünen Mütze lachte, die weißen Zähne unter dem schmalen schwarzen Schnurrbart blitzten, und er machte eine Bewegung mit der dunklen lässigen Hand.

»Geht doch gefälligst aus dem Wege!« brüllte Leo.

Statt jeder Antwort brachte der Mann das Pferd, das nach dem Straßenrand zu ausbog, mit kundigem Griff zum Stehen. Es war ein tüchtiger Rotschimmel und ein tüchtiger, nett aussehender, dunkelgrün gestrichener Karren.

Der wütende Leo mußte durchbremsen und ebenfalls anhalten.

»Wollen die hübschen jungen Damen nicht ihre Zukunft hören?« fragte der Zigeuner auf dem Karren, und sein ganzes Gesicht lachte – nur die schwarzen aufmerksamen Augen nicht, die von Einem zum Andern wanderten und auf Yvettes zartem jungen Gesicht verweilten.

Eine Sekunde lang begegnete sie den schwarzen Augen: ihrem ganz unverhüllten Suchen, ihrer Unverschämtheit; ihrer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen Leute wie Bob und Leo; und ein Feuer sprang auf in ihrer Brust. Sie dachte: »Er ist stärker als ich! Ihm ist alles gleich.«

»Oh ja! ja!« rief Lucille sofort.

»Oh ja!« stimmten die anderen Mädchen ein.

»Na hört mal! Wie lange soll denn das nun wieder dauern?« rief Leo.

»Dauern – ! Dauern – ! Irgendwer muß einem doch immer die Uhr unter die Nase halten!« rief Lucille.

»Na, also wenn es euch egal ist, wann wir nach Hause kommen – mir ist es nicht egal!« sagte Leo heldenhaft.

Der Zigeuner hatte mittlerweile lässig seitwärts auf seinem Karren gesessen und aufmerksam die Gesichter betrachtet. Nun sprang er von der Deichsel herab, mit etwas steifen Knieen. Er mochte etwas über dreißig Jahre alt sein und war gewiß nach den Begriffen seines Volkes ein schöner Mann. Er trug eine Art von Joppe, zweireihig, aus dunkelgrün und schwarz gestreiftem Fries, die nur bis zu den Hüften reichte; ziemlich enge schwarze Hosen, schwarze Stiefel und eine dunkelgrüne Kappe; dazu das breite rot und gelb gestreifte Halstuch. Sein ganzer zigeunerhafter Aufzug wirkte sonderbar elegant und war auch wohl verhältnismäßig kostspielig. Auch sah er hübsch aus, wie er jetzt mit dem ererbten Dünkel der Zigeuner das Kinn an den Kragen preßte und für die Fremden scheinbar keinen Blick mehr hatte, während er seinen guten Rotschimmel von der Straße führte, um den Karren zurückzusetzen.