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In 'Der Regenbogen' erforscht D. H. Lawrence mit meisterhafter Prosa die komplexen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft im England des späten 19. Jahrhunderts. Der Roman folgt der Geschichte der Familie Brangwen über mehrere Generationen und beleuchtet die Entwicklung der weiblichen Identität sowie die Spannungen zwischen persönlichen Wünschen und gesellschaftlichen Normen. Lawrence verwendet eine bildreiche Sprache und symbolische Motive, um die inneren Konflikte seiner Charaktere zu beleuchten, und schafft einen tiefen emotionalen und psychologischen Kontext, der den Leser in die Gefühlswelt seiner Protagonisten eintauchen lässt. D. H. Lawrence, geboren 1885 in einer Arbeiterfamilie, erlebte selbst die Herausforderungen einer sich schnell verändernden sozialen Landschaft. Sein Hintergrund und die eigene Suche nach Identität und Freiheit prägten seine literarische Stimme und sein Engagement für die menschliche Erfahrung. Lawrence rebellierte gegen die konventionellen Normen seiner Zeit, was sich auch in 'Der Regenbogen' widerspiegelt, wo er Themen wie Sexualität, Individualität und die Rolle der Frau in der Gesellschaft aufgreift. 'Der Regenbogen' ist ein unverzichtbares Werk der modernen Literatur, das nicht nur als Familiengeschichte, sondern auch als kraftvolle Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und menschlichem Verlangen dient. Es lädt den Leser ein, die Spannungen und die poetische Schönheit des Lebens durch die Augen von Lawrence zu erleben und bietet eine faszinierende Perspektive auf die Entwicklung des menschlichen Geistes. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Zwischen innerem Verlangen und gesellschaftlicher Ordnung spannt sich ein Bogen, der Menschen über Generationen prägt. D. H. Lawrences Roman Der Regenbogen entfaltet diese Spannung nicht als abstraktes Problem, sondern als gelebte Erfahrung in Familien, Partnerschaften und Gemeinschaften. Das Werk fragt, wie sich Identität formt, wenn Tradition und Moderne zugleich fordern. Es beobachtet, wie Nähe und Freiheit einander anziehen und bedrohen. Dabei richtet es den Blick auf die Kräfte, die Leben gestalten: Natur, Arbeit, Liebe, Glauben, Bildung. Lawrence verfolgt diese Kräfte über lange Zeiträume und lässt erkennen, wie sich inneres Wachstum mit sozialen Umbrüchen verschränkt.
Der Regenbogen erschien 1915 und gehört zu den prägenden Werken des englischsprachigen Modernismus. Verfasst in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs, verbindet der Roman innovative Erzählformen mit einer scharfen Gegenwartsdiagnose. Lawrence, 1885 in Nottinghamshire geboren, nutzte die Landschaft und die Industrie der englischen Midlands als Erfahrungsraum für seine Figuren. Die Veröffentlichung stieß in Großbritannien auf Widerstand; wegen angeblicher Anstößigkeit wurde das Buch verfolgt und zeitweise unterdrückt. Erst später setzte sich eine differenzierte Wertschätzung durch. Heute zählt Der Regenbogen zu den Klassikern, die sowohl literarisch als auch kulturgeschichtlich bedeutsam sind.
Im Mittelpunkt steht eine Familie, deren Wege über drei Generationen in den englischen Midlands verfolgt werden. Die Erzählung beginnt in einer ländlichen Welt, in der Arbeit, Jahreszeiten und Nachbarschaft den Alltag strukturieren. Mit der Zeit dringen neue Werte und Technologien vor, verändern Landschaften, Erwartungen und Beziehungen. Der Roman interessiert sich weniger für spektakuläre Ereignisse als für die leisen, nachhaltig wirkenden Verschiebungen von Haltungen und Gefühlen. Auf diese Weise entsteht ein Panorama des Übergangs von Tradition zur Moderne, in dem sich die Frage stellt, wie Menschen ihre Bindungen erneuern, ohne sich selbst zu verlieren.
Der Titel verweist auf ein zentrales Symbol: den Regenbogen als Bild für Übergang, Sehnsucht und Verknüpfung. Er spannt sich zwischen Natur und Kultur, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Körper und Geist. Lawrence nutzt dieses Motiv, um das Streben nach Ganzheit auszudrücken, ohne einfache Harmonie zu versprechen. Der Regenbogen ist bei ihm weder sentimentaler Trost noch rein dekorative Metapher. Er markiert den Versuch, getrennte Sphären ins Gespräch zu bringen und Spannungen fruchtbar zu halten. So entsteht eine poetische Struktur, in der Hoffnung, Ambivalenz und Erneuerung stets zusammen auftreten.
Literarisch zeichnet sich Der Regenbogen durch eine dichte, bildkräftige Sprache und eine psychologisch eindringliche Nahsicht aus. Lawrence arbeitet mit freier indirekter Rede, rhythmischer Prosa und wiederkehrenden Motivketten, die seelische Zustände konkret fassbar machen. Szenen entfalten sich oft in intensiven Momentaufnahmen, in denen Gesten, Licht, Wetter und Geräusche Bedeutung tragen. Gleichzeitig ist die Erzählung episodisch und über weite Zeiträume gespannt, wodurch individuelle Erfahrungen mit historischen Bewegungen korrespondieren. Diese formale Beweglichkeit erlaubt es, Innen- und Außenwelt unauflöslich miteinander verschränkt zu zeigen und das Subjekt als dynamischen Knoten sozialer Kräfte zu begreifen.
Als Klassiker gilt das Werk, weil es die zentrale Moderne-Frage nach dem Verhältnis von Individualität und Gesellschaft mit außergewöhnlicher sprachlicher und struktureller Konsequenz stellt. Lawrence verbindet Sinnlichkeit und Intellekt, Naturerfahrung und Kulturkritik, ohne dabei in Programmatik zu verfallen. Seine Figuren sind weder Thesenfiguren noch bloße Symptome der Epoche; sie verkörpern Konflikte, die Literatur seitdem prägen. Der Roman hat nachfolgende Prosa beeinflusst, die psychische Innenwelten, Körperlichkeit und Geschlechterrollen neu akzentuiert. Er steht damit neben anderen innovativen Unternehmungen der Zeit und behauptet doch einen unverwechselbaren Ton, der bis heute nachhallt.
Der Publikationsverlauf gehört zur Wirkungsgeschichte: Die Ausgabe von 1915 wurde in Großbritannien aufgrund von Obszönitätsvorwürfen verfolgt und vom Markt genommen. Diese Zensur prägte die frühe Wahrnehmung, weil sie den Roman als Grenzfall zwischen künstlerischer Freiheit und moralischer Regulierung rahmte. Spätere Neuauflagen und literaturkritische Neubewertungen hoben hingegen die künstlerische Moderne und die ethische Komplexität des Textes hervor. Heute ist Der Regenbogen in Studien der Literatur- und Kulturgeschichte präsent, nicht zuletzt, weil die damalige Kontroverse anhaltende Debatten über Kunst, Sexualität und Öffentlichkeit spiegelt.
Die thematische Kühnheit zeigt sich besonders im Blick auf intime Beziehungen, Rollenbilder und das Begehren. Lawrence beschreibt Nähe nicht bloß als Privatsache, sondern als Ort sozialer und historischer Auseinandersetzung. Die Aufmerksamkeit für weibliche Perspektiven, für Bildungserfahrungen und für das Ringen um Selbstbestimmung macht den Roman zu einem wichtigen Bezugspunkt späterer Diskussionen über Geschlecht und Freiheit. Zugleich vermeidet der Text einfache Lösungen. Er zeigt, wie tief verankerte Gewohnheiten und Interessen jede Neuordnung begleiten, und wie verletzlich die Räume sind, in denen ein anderes Leben ausprobiert wird.
Neben der Intimität wird die soziale Landschaft der Moderne sichtbar: Industrialisierung, Mobilität, neue Arbeitsrhythmen und Bildungswege verändern Selbst- und Weltbilder. Der Roman führt vor, wie solche Prozesse bis in Sprache, Wahrnehmung und Gefühlslagen hineinreichen. Das Ländliche bleibt nicht unberührt, sondern wird zum Labor für Übergangsformen. Religion, Schule, politische Institutionen und technische Medien wirken als Kräfte der Umformung. Indem Der Regenbogen diese Einflüsse durch die Augen Einzelner erfahrbar macht, verknüpft er historische Analyse mit existenzieller Dringlichkeit und zeigt die Moderne als gelebte, widersprüchliche Bewegung.
Auch ästhetisch erhöht Lawrence die Erfahrungsdichte, indem er Naturphänomene, Arbeitssituationen und Körperwahrnehmungen symbolisch verschaltet. Wiederkehrende Muster – Lichtwechsel, Wetterumschläge, musikalische und farbliche Motive – bilden einen Resonanzraum für innere Wandlungen. Die poetische Logik folgt dabei nicht einem starren Programm; sie lässt Assoziationen zu, die Bedeutungen öffnen, ohne sie festzuschreiben. So bleibt der Roman interpretierbar, lädt zum Wiederlesen ein und antwortet auf verschiedene Lektüreinteressen: als Familiengeschichte, als Bildungsroman, als Symbolgewebe, als stiller Essay über Freiheit und Bindung.
In Lawrences Werk nimmt Der Regenbogen eine Scharnierfunktion ein. Er bereitet Themen und Figurenkonstellationen vor, die in späteren Schriften weitergeführt wurden, und steht zugleich als eigenständige Komposition. Oft wird das Buch in Verbindung mit dem später erschienenen Women in Love gelesen; dennoch lässt es sich vollständig unabhängig erschließen. Wer Der Regenbogen liest, begegnet einem Erzählraum, der Traditionen aufnimmt, bricht und neu verknüpft. Diese Offenheit prägt die Lektüreerfahrung: Sie fordert mit, entdeckt nebenbei und macht die Bewegung des Denkens selbst zum Gegenstand der Darstellung.
Heute überzeugt Der Regenbogen durch seine Unerschrockenheit im Umgang mit Fragen, die weiterhin offen sind: Wie gelingt Selbstentwurf in Zeiten des Wandels? Wie lassen sich Beziehungen gestalten, die Freiheit nicht opfern und Bindung nicht verflachen? Der Roman antwortet nicht mit Thesen, sondern mit Formen der Aufmerksamkeit, die Wahrnehmung schärfen und Urteilskraft fördern. Seine zeitlosen Qualitäten liegen in der Sprachkraft, der psychologischen Genauigkeit und der Bereitschaft, Widersprüche auszuhalten. Darum bleibt dieses Buch relevant: Es zeigt, dass Erneuerung weder Flucht vor der Geschichte ist noch deren bloße Fortsetzung, sondern ein tastendes, mutiges Beginnen.
Der Regenbogen, 1915 von D. H. Lawrence veröffentlicht, entfaltet eine generationenübergreifende Familiensaga in den englischen Midlands. Im Mittelpunkt stehen die Brangwens, deren Leben vom Übergang von ländlicher Tradition zu industrieller Moderne geprägt ist. Lawrence verfolgt die innere Entwicklung seiner Figuren ebenso wie soziale Verwerfungen, die Geschlechterrollen, Bildungsideale und religiöse Orientierungen berühren. Die Erzählung schreitet chronologisch voran und verknüpft persönliche Bindungen mit historischen Umbrüchen. Sie untersucht, wie sich Menschen in Ehe, Familie und Arbeit behaupten, und welche Spannungen zwischen Körper, Geist und Gesellschaft entstehen. Ohne einfache Schlussfolgerungen sucht der Roman nach Momenten, in denen sich neue Möglichkeiten abzeichnen.
Zu Beginn steht Tom Brangwen, ein Landwirt, dessen Dasein von Jahreszeiten, Vieh und Dorfleben bestimmt ist. Eine unerwartete Begegnung mit Lydia Lensky, einer polnischen Witwe in der Nähe, durchkreuzt seine gewohnte Welt. Zwischen beiden entsteht eine Anziehung, die kulturelle Unterschiede und Sprachbarrieren überwindet. Diese Verbindung öffnet Tom einen Zugang zu einer intensiveren Innerlichkeit, während Lydia in der ländlichen Sicherheit Halt findet. Ihre Ehe bildet den ersten prägenden Wendepunkt: Sie bringt ein anderes Temperament, eine andere Vergangenheit und eine neue Vorstellung von Nähe in die Brangwen-Familie und setzt das Motiv der Durchdringung von Fremdheit und Vertrautheit.
Das gemeinsame Leben von Tom und Lydia entfaltet sich zwischen Ernte, Haushalt und einem stillen Ringen um Deutungshoheit. Lydia bringt ihre Tochter Anna in die Ehe ein, wodurch ein Patchwork-Gefüge entsteht, das Zugehörigkeit neu aushandelt. Die Figuren tasten sich an eine Balance aus Sinnlichkeit, Fürsorge und geistiger Sehnsucht heran. Alltägliche Pflichten verbinden sich mit Momenten starker Hingabe, aber auch mit Missverständnissen und Verletzlichkeit. Der Roman zeichnet, ohne zu idealisieren, die Mühe nach, aus Verschiedenheit eine tragfähige Ordnung zu schaffen. Zugleich bereitet er die Bühne für die nächste Generation, in der die Spannungen andere Gestalt annehmen.
Anna wächst in diesem Spannungsfeld heran und entwickelt einen eigenwilligen Anspruch auf Selbstbestimmung. Im Übergang zur Jugend prallen ihr Trotz und ihr Bedürfnis nach Anerkennung auf elterliche Grenzen. Ihre Begegnung und spätere Ehe mit Will Brangwen, einem jungen Verwandten mit künstlerischem und religiösem Empfinden, verschiebt die Dynamik des Romans. Das Werben und die Heirat markieren einen zweiten, deutlich sichtbaren Wendepunkt: Die Geschichte wechselt von der Erfahrung des Ankommens in einer bestehenden Ordnung zur Aufgabe, als Paar eine neue Welt zu bauen, ohne die alten Konfliktlinien einfach zu wiederholen.
Der Alltag von Anna und Will wird zur Bühne für Machtfragen, Glaubensbilder und intime Nähe. Leidenschaft und Trotz treiben sie aneinander und voneinander fort. Ihre Wohnung, ihr Umgang mit Festen und Ritualen, ihr Blick auf Arbeit und Muße werden Prüfsteine für die Frage, wie weit Individualität in der Ehe Platz findet. Religiöse Anziehung konkurriert mit sinnlicher Begierde; beide suchen in der Bindung zugleich Geborgenheit und Transzendenz. Mit der Gründung einer eigenen Familie ändert sich der Fokus: Die Geburt von Kindern, unter ihnen Ursula, verlagert die Erzählung auf die Frage, welches Erbe – emotional, geistig, sozial – an die Nächsten weitergegeben wird.
Ursula wächst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auf. Schule und Lektüre öffnen ihr Perspektiven jenseits des Hofs und der häuslichen Routinen. Sie erfährt die Anziehung urbaner Möglichkeitsräume und spürt zugleich die Trägheit vertrauter Erwartungen. Lehrerinnen und Lehrer, Institutionen und Prüfungen konfrontieren sie mit Maßstäben, an denen sie sich reibt. Der Roman begleitet ihr Erwachen zu einem eigenen Denken, das sich nicht mehr selbstverständlich in die Pfade der Eltern fügt. Dabei rückt das Spannungsfeld zwischen weiblicher Selbstbehauptung, beruflicher Bildung und familiärer Loyalität in den Mittelpunkt.
In der frühen Erwachsenenzeit erprobt Ursula Beziehungen und Beruf. Eine enge Bindung zu einer Lehrerin und eine Liebe zu einem jungen Offizier stellen unterschiedliche Versprechen in Aussicht: geistige Gleichrangigkeit hier, gesellschaftliche Sicherheit dort. Parallel erfährt sie den Schulbetrieb aus der Perspektive einer Lehrkraft und entdeckt die Grenzen eines Systems, das Konformität belohnt. Ihre Vorstellungen von Freiheit, Arbeit und Partnerschaft werden dadurch geschärft, aber auch verunsichert. Die Suche nach einer Lebensform, die weder Unterordnung verlangt noch bloße Ungebundenheit feiert, führt zu inneren Konflikten und zu Entscheidungen, die ohne abschließende Gewissheit bleiben.
Außenwelt und Innenleben geraten zunehmend in Reibung. Industrialisierung, Klassenschranken und die frühmoderne politische Atmosphäre bilden einen Druckraum, in dem Ursulas Ideale erprobt werden. Enttäuschungen im Beruf und Irritationen in der Liebe zwingen sie, Konventionen auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen. Dabei meidet Lawrence einfache moralische Urteile und zeigt, wie sich Gewissheiten verflüssigen. Wendepunkte ergeben sich weniger aus spektakulären Ereignissen als aus Verschiebungen im Bewusstsein: Einsichten, die alte Deutungen unterlaufen, und Ahnungen, dass jenseits der gegenwärtigen Ordnung andere Möglichkeiten warten, ohne dass der Roman ihnen eine endgültige Form gäbe.
Am Ende steht keine eindeutige Lehre, sondern eine Haltung: Der Roman deutet an, dass Erneuerung aus der Bereitschaft wächst, Widersprüche auszuhalten und Verbindungen neu zu denken. Der titelgebende Regenbogen fungiert als Motiv der Spannweite zwischen Erde und Himmel, Körper und Geist, Nähe und Freiheit. Der Regenbogen war bei Erscheinen umstritten, nicht zuletzt wegen seiner Offenheit im Umgang mit Begehren und Autorität, und gilt heute als wichtiger Vorläufer moderner Bewusstseinsprosa. Seine nachhaltige Bedeutung liegt in der Beharrlichkeit, mit der er das Werden des Selbst in einer sich rapide wandelnden Welt verfolgt – offen, tastend, zukunftsgewandt.
Der Regenbogen ist in den englischen East Midlands verortet und umfasst die Zeit vom mittleren 19. Jahrhundert bis in die frühen 1900er Jahre. Die Landschaft zwischen Nottinghamshire und Derbyshire verbindet bäuerliche Höfe, Flussauen und aufkommende Industriereviere. Dominante Institutionen sind die anglikanische Kirche, das auf Gutsbesitz beruhende Landpachtsystem, die Familie als rechtlich-patriarchale Einheit sowie Schule und Gemeindeverwaltung. Über allem steht das Britische Empire als politischer und kultureller Bezugspunkt. In diesem Rahmen entfalten sich örtliche Loyalitäten, fest verankerte Sitten und ein moralischer Kodex viktorianischer Prägung, die im Roman auf die Bewegungen von Markt, Maschine und moderner Verwaltung treffen und dadurch unter Spannung geraten.
Das 19. Jahrhundert beschleunigt in den Midlands die Industrialisierung. Bergbau, Eisenbahnen und Fabriken verändern die Erewash- und Trent-Region grundlegend. Der Übergang von der handwerklich-bäuerlichen Wirtschaft zur Lohnarbeit verschiebt Lebensrhythmen, Geschlechterrollen und Machtverhältnisse. Schornsteine, Gruben und Werkstore setzen Takt und Zeitdisziplin, während die Eisenbahn Arbeit, Waren und Menschen in Bewegung bringt. Diese Umwälzungen dringen in die häusliche Sphäre ein, verformen Traditionen und Erwartungen. Im Roman spiegelt sich dies in der Reibung zwischen agrarischer Selbstgewissheit und der anonymen, getakteten Welt der Fabrik, die neue Chancen verheißt, zugleich aber Bindungen und Selbstbilder auf die Probe stellt.
Die Landwirtschaft bleibt im 19. Jahrhundert bedeutsam, verändert sich aber durch Mechanisierung, Kunstdünger und die stärkere Anbindung an städtische Märkte. Pächter stehen unter dem Einfluss der Gutsbesitzer, während Landarbeiter saisonalen Schwankungen ausgeliefert sind. Einst stabile dörfliche Hierarchien geraten durch Preiszyklen, Landkonsolidierung und neue Maschinen in Bewegung. Ländliche Feste, Kirchenjahr und Hofführung werden weiterhin gepflegt, doch der ökonomische Druck nimmt zu. Diese Struktur liefert den sozialen Kontrast im Roman: bäuerliche Verwurzelung, die Würde körperlicher Arbeit und der Schutz lokaler Gemeinschaften treffen auf eine marktgetriebene Modernität, die Sicherheit unterminiert und Ambitionen weckt.
Religiöse Institutionen prägen Moral und Alltag. Die anglikanische Kirche dominiert, doch methodistische und baptistische Kapellen gewinnen im 19. Jahrhundert Zulauf, besonders unter Handwerkern und Bergleuten. Damit einher gehen Bibellesen, Gesangskultur und strenge Selbstdisziplin. Zugleich erschüttern Darwin und die historisch-kritische Bibelforschung vertraute Gewissheiten. Die Spannung zwischen geerbter Frömmigkeit und naturbezogener, persönlicher Sinnsuche wird im Roman nicht als theologisches Pamphlet, sondern als existenzieller Ton vernehmbar. Figuren ringen mit Institution und Innerlichkeit, während der Erfahrungsraum von Landschaft, Körper und Arbeit zu einer Quelle von Spiritualität wird, die gegen dogmatische Maßstäbe eigensinnig bleibt.
Die Ausweitung der Volksbildung verändert die soziale Landkarte. Mit dem Education Act von 1870 entstehen Schulbehörden und flächendeckende Elementarschulen; spätere Gesetze machen den Besuch obligatorisch, schaffen Gebühren ab und heben das Mindestalter an. Der Balfour Act von 1902 überführt die Schulaufsicht in lokale Bildungsbehörden und stärkt weiterführende Angebote. Lehrerbildungsanstalten und Mädchenschulen öffnen Aufstiegswege, besonders für begabte Kinder aus Arbeiter- und Kleinbauernfamilien. Diese Entwicklungen bilden den Hintergrund für Bildungsambitionen im Roman: Unterricht, Inspektionen und pädagogische Normen werden zu Schauplätzen, an denen Freiheit, Autorität und Persönlichkeitsbildung heftig verhandelt werden.
Parallel dazu verschieben Frauenbewegungen den Handlungsspielraum. Eigentumsrechte für verheiratete Frauen werden im späten 19. Jahrhundert ausgeweitet, und eine wachsende Zahl von Frauen arbeitet als Lehrerin, Schreibkraft oder Ladenangestellte. In den 1900er Jahren radikalisiert sich der britische Suffragismus; die militanten Aktionen der WSPU verstärken die öffentliche Debatte. Das Bild der New Woman – gebildet, mobil, ökonomisch eigenständiger – kursiert in Presse und Kultur. Im Roman artikuliert sich dieser Wandel als Suche nach Autonomie im Beruf und in Beziehungen. Dabei bleiben gesellschaftlicher Widerstand, moralische Doppelmoral und rechtliche Hürden deutlich spürbar.
Die Diskussion um Sexualität verlagert sich um 1900 in ein offeneres, wenn auch konfliktreiches Terrain. Sexologen wie Havelock Ellis und Sozialreformer wie Edward Carpenter thematisieren Lust, Ehe und Rollenbilder. Gleichzeitig wirken strikte Zensurtraditionen fort: Das Obscene Publications Act von 1857 ermöglicht Beschlagnahmen, moralische Vereine überwachen die Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund stößt Lawrences explizitere Darstellung von Körperlichkeit und Begehren auf Widerstand. Nach Erscheinen 1915 wird Der Regenbogen in London wegen Obszönität angeklagt; Exemplare werden eingezogen und vernichtet. Die juristische Unterdrückung prägt seine frühe Rezeptionsgeschichte und spiegelt die Verwerfungen um Sexualmoral im Krieg.
Der Erste Weltkrieg verstärkt die repressive Stimmung. Das Defence of the Realm Act erweitert staatliche Eingriffsrechte, während Patriotismus und Misstrauen gegenüber Abweichungen wachsen. Öffentliche Sittenwächter sehen in literarischer Nonkonformität nicht nur moralische, sondern auch nationale Gefahr. Lawrence, der mit der deutschstämmigen Frieda zusammenlebt, erlebt in dieser Atmosphäre Überwachung und Einschränkungen. Diese politische und soziale Verdichtung erklärt, warum ein Roman über intime Bindungen, Erziehung und Spiritualität 1915 als Provokation galt. Die Kriegszeit macht Privates politisch und verschiebt die Grenzen des Sagbaren, gegen die das Buch tastend und trotzig anläuft.
Lawrences Herkunft liefert dem Roman konkrete Milieukenntnis. 1885 in Eastwood, einer Bergarbeitergegend in Nottinghamshire, geboren, wächst er zwischen der Kultur eines Minenarbeiters (Vater) und bürgerlicherer Ambition (Mutter) auf. Schulische Förderung und eine frühe Tätigkeit als Schülerlehrer sowie die Ausbildung in Nottingham führen ihn in Klassenzimmer, Amtsstuben und Arbeiterhäuser. Diese Erfahrungen prägen die präzise Wahrnehmung von Sprache, Geste und sozialem Druck in ländlich-industriellen Grenzräumen. Die im Roman gezeichneten Landschaften, Dialekte und Körperhaltungen haben daher eine dokumentarische Schärfe, die historische Wirklichkeit und poetische Symbolik eng verwebt.
Literarisch gehört Der Regenbogen in die Frühphase des britischen Modernismus. Um 1900 lösen sich Autorinnen und Autoren vom viktorianischen Realismus, wenden sich Innerlichkeit, Symbolen und formaler Experimentierfreude zu. Zeitgenössische Debatten um Vitalismus, Lebensphilosophie und Kulturkritik gegen Mechanisierung liegen in der Luft. Lawrence übersetzt diese Impulse in eine Prosa, die Gefühl, Instinkt und Wahrnehmung zentral setzt. Die Hinwendung zum Elementaren – Erde, Wasser, Körper – stellt einer technizistischen Welt ein anderes Wissen gegenüber. So reflektiert der Roman ästhetisch jene Krise des Fortschrittsglaubens, die auch Philosophie, Psychologie und Bildende Kunst jener Jahre beschäftigt.
Technische Innovationen durchdringen den Alltag der 1880er bis 1910er Jahre: Eisenbahnnetze strukturieren Regionen neu, Telegraph und Telefon beschleunigen Kommunikation, Städte elektrifizieren Straßen und Betriebe. Das Fahrrad verbreitet Mobilität, gerade für Frauen, und Schreibmaschinen öffnen Büroarbeit als Berufsfeld. In den Schulen halten naturwissenschaftliche Anschauungsmittel und standardisierte Prüfungen Einzug. Diese Neuerungen verschieben Distanzen, Zeitgefühle und Chancenverteilungen. Der Roman registriert, wie Beweglichkeit und technische Verfügbarkeit Beziehungen verändern: Wege werden kürzer, Horizonte weiter, doch die Taktung von Arbeit und Erwartung erzeugt zugleich Erschöpfung und Entfremdung, die in familiären und erotischen Spannungen wiederkehren.
Die imperiale Dimension bildet einen ideologischen Hintergrund. Um 1900 feiert Großbritannien koloniale Macht, doch der Burenkrieg legt Schwächen frei und schürt nationale Selbstzweifel. Diskurse über Männlichkeit, Fitness und gesellschaftliche Regeneration durchziehen Schulen, Vereine und Presse. In ländlich-industriellen Gemeinden verbinden sich Reichspatriotismus und lokale Identität; Abweichungen werden skeptisch beäugt. Diese Atmosphäre erklärt die Hartnäckigkeit normativer Erwartungen an Geschlecht, Nation und Pflichtgefühl. Der Roman lässt spüren, wie imperiale Selbstbilder bis in private Entscheidungen hineinwirken und wie skeptische, naturverbundene Gegenentwürfe entstehen, ohne dass eine einfache Abkehr von der dominanten Kultur möglich wäre.
Gleichzeitig wächst die Arbeiterbewegung. Der Trades Union Congress gewinnt an Einfluss, und in den 1890er Jahren erstarken neue Gewerkschaften. Bergbaugebiete, auch in den Midlands, erleben Arbeitskämpfe und Organisationsschübe; 1912 kommt es zum landesweiten Bergarbeiterstreik. Politisch formiert sich 1900 das Labour-Lager und zieht 1906 ins Parlament ein. Diese Mobilisierung trägt Forderungen nach Lohn, Bildung und Respektabilität in Dörfer und Kleinstädte. Im Roman ist die Spannung zwischen Lohnarbeit, bäuerlicher Selbstbehauptung und aufstrebender Arbeiterwürde ein leiser, aber konstanter Grundton, der familiäre Rollen, Männlichkeitsbilder und Zukunftsangst verschiebt.
Urbanisierung und Konsumkultur verändern die Midlands-Städte wie Nottingham und Derby. Die Textil- und Spitzenindustrie, Warenhäuser, elektrische Straßenbahnen und frühe Kinos gestalten neue öffentliche Räume. Kommunale Reformen verbessern Wasserversorgung und Hygiene, Verwaltung und Bildungsangebote professionalisieren sich. Für junge Menschen eröffnen sich Übergänge zwischen Dorf, Kleinstadt und Metropole, oft begleitet von sozialem Aufstieg und Entwurzelung. Der Roman greift diese Bewegungen als Spannung zwischen vertrauter Nähe und anonymem Chancenraum auf: die Stadt lockt mit Bildung, Kultur und Arbeit, zugleich fordert sie Anpassung an bürokratische und kommerzielle Ordnungen, die Intimität und Eigenwillen begrenzen.
Die Landschaft bleibt nicht bloß Kulisse, sondern historisches Dokument. Flussauen von Trent und Erewash, Heckenfelder, Grubenhalden und Schornsteinbänder zeigen eine Umwelt im Umbau. Saisonzyklen, Wetter und Bodenfruchtbarkeit bleiben sinnstiftend, doch Rauch, Lärm und Abgrabungen liefern Gegenbilder. Diese ökologische Verflechtung ist im Roman Symbol und Realität zugleich: Natur bietet Widerstand gegen Vereinheitlichung, aber sie ist der Ausbeutung nicht entzogen. So entsteht eine Topographie, in der Wünsche nach Ursprünglichkeit und die Erfahrung von Eingriffen untrennbar sind, was die existenziellen Themen des Buches vertieft und historisch erdet.
Die Erscheinung des Romans 1915 führt zu einem der markantesten Zensurvorgänge der Zeit. Wegen angeblicher Obszönität verurteilt ein Londoner Gericht das Buch; Exemplare werden beschlagnahmt und vernichtet, der Verkauf untersagt. Kritische Stimmen variieren zwischen Moralempörung und Anerkennung seiner künstlerischen Wucht. Erst Mitte der 1920er Jahre kommt der Roman im Vereinigten Königreich wieder in Umlauf. Der Fall steht in einer längeren Reihe literarischer Zensur, deren öffentliche Auseinandersetzungen Jahrzehnte später im Prozess um Lady Chatterley’s Lover kulminieren; er markiert die Spannung zwischen künstlerischer Erkundung und staatlich-moralischer Kontrolle.
Damit emerget eine doppelte historische Lesart: Der Regenbogen ist zugleich Produkt und Kritik seiner Zeit. Er registriert die Verwerfungen von Industrialisierung, Empire, Kirchenmoral und Bildungsbürokratie und prüft, was in Beziehungen, Körpern und Landschaften an lebendiger Wahrheit bleibt. Ohne Programme zu verkünden, legt das Buch die Risse im Versprechen des Fortschritts frei und sucht im Bild des Regenbogens eine Hoffnung nach dem Sturm – nicht als Rückzug ins Gestern, sondern als tastende Möglichkeit neuer Verbindungen. So kommentiert der Roman die britische Moderne, indem er ihre Kräfte sichtbar macht und ihre Zwänge infrage stellt.
David Herbert Lawrence (1885–1930) war ein englischer Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayist der frühen Moderne. Seine Werke erkunden mit ungewöhnlicher Direktheit Körperlichkeit, Begehren, Machtverhältnisse und die Verwerfungen der Industrialisierung. In einer Zeit rasanter gesellschaftlicher Umbrüche verband er psychologische Schärfe mit Naturbildern und mythischen Anklängen. Lawrence polarisierte das Publikum und geriet wegen vermeintlicher Obszönität in Konflikt mit Zensoren, gewann jedoch langfristig große literarische Bedeutung. Er schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte, Reiseprosa und Kulturkritik und zählt heute zu den prägenden Stimmen der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, deren Spannweite ästhetische wie moralische Debatten maßgeblich beeinflusste.
Aufgewachsen in einer Kohleregion Nottinghamshires, verband Lawrence die Erfahrung industrieller Arbeitermilieus mit intensiver Lektüre. Er besuchte lokale Schulen, absolvierte eine Lehrerausbildung am University College Nottingham und arbeitete anschließend als Lehrer in Croydon, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Früh gefördert wurde er unter anderem durch den Verlagslektor Edward Garnett; Texte erschienen in Zeitschriften wie The English Review. Literarisch stand er zwischen Naturalismus und früher Moderne, geprägt von Autorinnen und Autoren wie Thomas Hardy und Walt Whitman sowie von Debatten um Psychoanalyse und Vitalismus. Diese Einflüsse verdichtete er zu einer eigenständigen, sinnlich-intellektuellen Poetik.
Sein Romandebüt The White Peacock (1911) und The Trespasser (1912) etablierten Lawrence als neue Stimme, doch den Durchbruch brachte Sons and Lovers (1913), ein psychologisch scharfes Porträt von Herkunft, Begehren und künstlerischem Erwachen. Parallel schrieb er Erzählungen wie The Prussian Officer and Other Stories (1914) und für die Bühne, etwa The Widowing of Mrs Holroyd (1914). Kritikerinnen und Kritiker lobten die Intensität der Figurenzeichnung, monierten jedoch die freimütige Darstellung von Sexualität. Bereits in dieser frühen Phase traten Motive hervor, die sein Werk prägen sollten: die Spannung zwischen Instinkt und gesellschaftlicher Konvention sowie Skepsis gegenüber modernem Mechanismus.
Während des Ersten Weltkriegs verschärften sich die Konflikte mit dem britischen Establishment. The Rainbow (1915) wurde wegen Obszönität verboten; Exemplare wurden beschlagnahmt. Die Fortsetzung Women in Love erschien erst 1920 nach erheblichen Publikationshürden. Lawrence, der nationalistischen Kriegsrausch und Missachtung des Individuums kritisierte, sah sich behördischer Überwachung und sozialen Anfeindungen ausgesetzt. Die Erfahrungen jener Jahre verstärkten sein Misstrauen gegenüber autoritären Institutionen und kollektiven Ideologien. Thematisch wandte er sich zunehmend Visionen einer „lebendigen“ Ordnung zu, die Körper, Gefühl und Natur gegen Entfremdung verteidigen sollte, ohne sich einfachen politischen Programmen zu unterwerfen. Zudem verschlechterte sich seine Publikationslage in Großbritannien spürbar.
Nach dem Krieg unternahm Lawrence ausgedehnte Reisen, die seine Stoffe erweiterten. Er lebte zeitweise in Italien, bereiste Sardinien, Ceylon und Australien, hielt sich in den USA und Mexiko auf und schrieb darüber in Twilight in Italy (1916), Sea and Sardinia (1921) und Mornings in Mexico (1927). Parallel entstanden Romane der mittleren Phase: The Lost Girl (1920), Aaron’s Rod (1922), Kangaroo (1923) und The Plumed Serpent (1926). Als Lyriker erreichte er mit Birds, Beasts and Flowers (1923) besondere Beachtung. Auch als Kritiker profilierte er sich, etwa mit Studies in Classic American Literature (1923), das kanonische US-Autorinnen und -Autoren neu las.
In den späten 1920er-Jahren verdichtete Lawrence zentrale Anliegen seines Werks zu provokanten Spätformen. Lady Chatterley’s Lover (1928) erschien ungekürzt zunächst außerhalb Großbritanniens und blieb in mehreren Ländern lange verboten; die britische Gerichtsverhandlung von 1960 markierte einen Wendepunkt der Zensurdebatte. Weitere Prosaarbeiten wie St Mawr (1925) und die in Mexiko und Italien inspirierten Texte setzten seine Natur- und Gesellschaftskritik fort. Reise- und Kulturstudien wie Etruscan Places wurden postum veröffentlicht. Lawrence verfolgte eine ästhetische Ethik der Lebendigkeit, die Intimität, Arbeit, Landschaft und Sprache neu verband und die moralischen Kategorien seiner Zeit herausforderte.
Gesundheitlich angeschlagen, litt Lawrence an Tuberkulose und starb 1930 im südfranzösischen Vence. Sein Ansehen schwankte in den Jahrzehnten danach; doch mit der Lockerung der Zensur und neuen literaturwissenschaftlichen Zugängen wuchs die Wertschätzung für die Kraft seiner Prosa, die Lyrik und die Essays. Heute gilt er als zentrale Figur der englischen Moderne, deren Werk Debatten über Sexualität, Geschlechterrollen, Naturverhältnis und Technikkritik nachhaltig geprägt hat. Zugleich bleibt er Gegenstand kontroverser Lektüren, die seine emphatische Körper- und Instinktphilosophie kritisch befragen. Die anhaltende editorische und akademische Auseinandersetzung bezeugt die Lebendigkeit seines Vermächtnisses. Seine Bücher werden in neuen Editionen und Kontexten weiterhin breit gelesen und diskutiert.
Manche Geschlechter der Brangwens schon hatten auf dem Marschenhofe gelebt, auf den Wiesen, wo der Erewash[1] sich träge durch Ellernbüsche windet, ein Grenzstrich zwischen Derbyshire und Nottinghamshire. Zwei Meilen weiter auf einem Hügel stand ein Kirchturm, zu dem die Häuser der kleinen Landstadt scheinbar eilig hinaufkletterten. Hob einer der Brangwens auf dem Felde den Kopf von seiner Arbeit, so sah er den Kirchturm von Ilkeston gegen den leeren Himmel stehen. Daher blieb ihm, wenn er sich der ebenen Erde wieder zuwandte, das Gefühl von etwas über ihm und weit, weit weg Stehendem.
Der Blick in den Augen der Brangwens war voller Erwartung, voller Sehnsucht nach dem Unbekannten. Sie sahen aus, als wären sie gefaßt auf alles, was da kommen möchte, sicher, erwartungsvoll, wie geborene Besitzer.
Sie waren frische, hellhaarige, schwerfällig redende Leute, die sich vollständig, aber langsam zu erkennen gaben, so daß man in ihren Augen jede Übergangsstufe vom Lachen zum Zorn, von lichtblauem Lachen zu hartem, blitzblauem Zorn, beobachten konnte, durch alle Schwankungen des Himmels bei unbeständigem Wetter.
Dadurch daß sie auf fettem Boden, auf eigener Scholle saßen, dicht bei einer emporblühenden Stadt, hatten sie vergessen, was es heißt, in knappen Verhältnissen zu leben. Reich waren sie nie geworden, weil immer Kinder da waren und das Erbe jedesmal geteilt werden mußte. Aber stets herrschte auf dem Marschenhofe reichliche Fülle.
So kamen und gingen die Brangwens ohne Furcht vor Not, harte Arbeiter aus innerem Lebensdrange, nicht aus Geldmangel. Sie waren aber auch nicht verschwenderisch, über den letzten halben Groschen gaben sie sich Rechenschaft, und ihre Anlage ließ sie keine Apfelschale umkommen, denn sie konnte ja noch zum Viehfutter dienen. Aber Himmel und Erde rund um sie her waren so fruchtbar, und wie sollte das je anders werden? Sie fühlten, wie der Saft im Frühling emporquoll, sie kannten die unaufhaltsame Welle, die jedes Jahr allen Samen zur Zeugung vorwärtstreibt und zurückflutend das Neugeborene auf Erden zurückläßt. Sie kannten die Wechselbeziehungen zwischen Himmel und Erde, wußten, wie diese den Sonnenschein in Brust und Eingeweide einsaugt, wie sie tagsüber den Regen einschlürft, kannten die Nacktheit, die mit den Herbstwinden kommt und alle Vogelnester den Blicken preisgibt, da sie nun keinen Versteck mehr brauchen. Ihr Leben und seine Wechselbeziehungen waren derart: sie fühlten den Puls und den Leib der Erde, die sich in ihren Furchen dem Saatkorn öffnet und unter ihrem Pfluge wieder glatt und eben wurde, die sich mit einem Gewicht an ihre Füße hängte als sehnte sie sich nach ihnen, und hart und unzugänglich dalag, wenn das Korn reif zum Schneiden war. Das junge Korn wogte in seidigem Glanz, der über die Glieder der Männer hinglitt wenn sie es sich ansahen. Sie nahmen das Euter ihrer Kühe, die Kühe gaben Milch und ihr Pulsschlag teilte sich den Händen der Männer mit, der Puls des Blutes in den Zitzen der Kühe ging in den Pulsschlag in der Menschenhand über. Sie stiegen zu Pferde und hielten Leben in der Umklammerung ihrer Knie, sie schirrten ihre Pferde vor den Wagen und lenkten mit der Hand am Zügelring die Zugkraft der Pferde nach ihrem Willen.
Im Herbste schwirrten Rebhühner empor, Vogelschwärme sausten wie ein Sprühregen über das Brachfeld, Krähen erschienen am grauen, wässerigen Himmel und flogen krächzend dem Winter entgegen. Dann saßen die Männer zu Hause am Feuer, wo die Frauen sich voller Sicherheit umherbewegten, und Leib und Seele der Männer waren erfüllt von ihrem Tagewerk, von Vieh und Boden und Pflanzenwuchs und Himmel; sie saßen am Feuer und ihr Denken ruhte, während das Blut müde von der Tageslast durch ihre Adern floß.
Die Frauen waren anders. Auch über ihnen lag eine gewisse Schwerfälligkeit infolge der Beziehungen des Blutes zu saugenden Kälbern und den Scharen umherlaufender Hühner und unruhig flügelschlagender junger Gänse, die unter ihren Händen zitterten, wenn sie ihnen das Futter in die Kehle stopften. Aber die Frauen blickten über das aufgeregte, blinde Hofleben hinweg nach der redenden Welt in der Ferne aus. Sie fühlten, wie Lippen und Sinne der Welt sprachen und Gedanken äußerten, hörten ihren Klang in der Ferne und horchten aufmerksam auf ihn.
Den Männern genügte es, daß die Erde strotzte und ihnen ihre Furchen öffnete, daß der Wind wehte, den feuchten Weizen zu trocknen und die jungen Kornähren sausend im Kreise herumzutreiben; es war genug, wenn sie der Kuh in ihren Wehen beistanden oder die Ratten unter der Tenne wegfingen, oder mit einem scharfen Handschlag einem Kaninchen das Genick brachen. Sie fühlten in ihrem Blute so viel Wärme und Zeugungskraft und Schmerz und Tod, kamen mit diesem in so vielerlei Beziehungen, daß ihr Leben voll und übervoll davon war, ihre Sinne volle Nahrung in ihnen fanden und ihre Gesichter sich dauernd der Hitze des Blutes zuwandten, in die Sonne starrend, betäubt von dem Blick auf die Quellen des Lebens und unfähig, sich von ihnen abzuwenden.
Die Frau aber sehnte sich nach anderer Lebensart; nach etwas über diese Beziehungen des Blutes Hinausgehendem. Ihr Teil des Hauses war von den Hofgebäuden und den Feldern abgekehrt, er überblickte den Weg und die Stadt mit der Kirche und dem Amtshaus und dem was dahinter lag. Sie stand und wünschte die ferne, ferne Welt der Städte zu sehen, mit der Regierung und dem weiten Tätigkeitsfelde der Menschen, einem Zauberlande für sie, in dem alle Geheimnisse gelöst und alle Wünsche erfüllt wurden. Sie blickte nach außerhalb, wo die Männer sich als Herrscher und Schöpfer bewegten, dem heißen Pulsschlag der Zeugung den Rücken kehrten und mit ihr als Rückhalt auf Entdeckung des Jenseits ausgingen, um die eigene Wirksamkeit, ihr Gesichtsfeld, ihre Freiheit zu erweitern; die Brangwen-Männer dagegen blickten nach innen, in das schwellende Leben der Mutter Natur, das sich unverwässert durch ihre Adern ergoß.
Wie sie so notwendigerweise von der Vorderseite ihres Hauses auf die Tätigkeit der Menschen in der großen Welt hinausblickte, während ihr Mann von der Hinterseite aus nach Himmel und Ernte und Vieh und Land aussah, blickte sie angestrengt nach dem, was die Menschen da draußen in ihrem Kampfe ums Wissen vollbrachten; sie horchte scharf auf die Ergebnisse ihrer Eroberungsfahrten; ihre tiefste Sehnsucht hing an diesem Kampf, dessen Toben sie in weiter Ferne, an der Grenze des Unbekannten, vernahm. Sie auch wollte wissen und zum kämpfenden Heere gehören.
In ihrer Heimat, ja ihr ganz nahe, in Cossethay saß der Vikar, der jene andere, jene Zaubersprache verstand und sich so ganz anders, so viel feiner benahm, was sie beides zwar wohl bemerken, sich aber doch nicht angewöhnen konnte. Der Vikar bewegte sich in einer anderen Welt als der, in der ihr Mannsvolk lebte. Kannte sie ihr Mannsvolk etwa nicht: frische, langsame, muskelstrotzende Kerls, herrisch genug wohl, aber auch wieder leichtsinnig, Erdgeborene, denen es an Äußerem, an Bewegungsfreiheit fehlte. Der Vikar dagegen, dunkel und welk und klein neben ihrem Gatten, hatte etwas Rasches, etwas Zielbewußtes in seinem Wesen, das Brangwen mit seiner breiten Fröhlichkeit stumpf und bäurisch erscheinen ließ. In des Vikars Wesen lag aber noch etwas anderes, was über ihr Verständnis hinausging. Wie Brangwen über sein Vieh herrschte, so herrschte der Vikar über ihren Gatten. Was hatte der Vikar denn nur an sich, das ihn so hoch über den gemeinen Mann erhob wie den Menschen über das Vieh? Das hätte sie zu gern gewußt. Sehnlichst gern hätte sie dies höhere Wesen erlangt, wenn auch nicht mehr für sich selbst, so doch für ihre Kinder. Was den Menschen so stark macht, wenn er auch klein und körperschwach ist, just so wie neben einem Bullen jeder Mann klein und schwach dasteht und doch stärker ist als der Bulle, was war das nur? Geld, oder Einfluß, oder Stellung waren es nicht. Welchen Einfluß hatte denn der Vikar wohl auf Tom Brangwen –, gar keinen! Aber zog man beiden die Kleider aus und setzte sie auf einer öden Insel aus, dann war der Vikar der Herr. Sein Geist war Herr über den des anderen. Und warum? – warum? Sie kam zu dem Schlusse, das müsse an seinen Kenntnissen liegen.
Der Kurat war zwar recht ärmlich und als Mann auch nicht weit her, und doch stand er auf derselben Stufe mit jenen anderen, den Oberen. Sie paßte auf, als seine Kinder zur Welt kamen, sah sie als winzige Wesen neben ihrer Mutter herlaufen. Und sofort waren sie ganz ausgesprochen anders als ihre eigenen. Warum trugen ihre Kinder ein Mal, das sie jenen unterordnete? Warum gingen die Kinder des Kuraten unweigerlich den ihren vor, warum war ihnen von Anbeginn an Obmacht gegeben? Geld war es nicht, auch der Stand nicht. Es war Erziehung und Erfahrung, sicherlich.
Das war's, diese Erziehung, diese höhere Lebensart, die die Mutter ihren Kindern zu geben wünschte, so daß auch sie auf Erden ein Leben wie die Oberen führen könnten. Denn ihre Kinder, wenigstens die Kinder ihres Herzens, besaßen vollkommen die Anlagen, um als Ebenbürtige mit allen wirklich Lebenden im Lande zu teilen, und nicht im Dunkel unter Arbeitsleuten zu verschwinden. Warum sollten sie ihr ganzes Leben unbekannt nach Atem ringen, warum sollten sie unter Mangel an Bewegungsfreiheit leiden? Wie konnten sie Zutritt zu den feineren, lebensvolleren Kreisen des Daseins erlangen?
Ihre Einbildungskraft wurde durch die Frau des Gutsbesitzers auf Shelly Hall angefeuert, die mit ihren Kindern in Cossethay zur Kirche ging, kleinen Mädchen in glatten Biberumhängen und hübschen kleinen Hüten; die Frau selbst wie eine Christrose so hell und zierlich. Und doch, ob noch so weiß, so feingliedrig, so strahlend, welche Empfindungen konnte Mrs. Hardy hegen, die sie, Mrs. Brangwen, nicht auch besaß? Inwiefern unterschied sich Mrs. Hardys Veranlagung von der der gewöhnlichen Frauen in Cossethay, worin war sie ihnen überlegen? Alle Frauen von Cossethay redeten eifrig über Mrs. Hardy, über ihren Mann, ihre Kinder, ihre Gäste, ihre Kleider, ihre Dienstboten und ihren Haushalt. Die Herrin von Shelly Hall war der lebendige Traum ihres Lebens, Mrs. Hardys Dasein das Heldengedicht, das dem ihren Seele verlieh. Ihre Einbildungskraft lebte gänzlich in dieser Frau und dem Klatsch über ihren Gatten, der trank, ihren schändlichen Bruder, ihren Freund Lord Bentley, den Parlamentsabgeordneten des Bezirks; eine ganze Odyssee spielte sich vor ihren Blicken ab, sie sahen Penelope und Odysseus mit Circe und den Schweinen und dem nicht zu Ende kommenden Gewebe vor sich.
Also waren die Frauen des Ortes ganz glücklich. Sie erblickten sich selbst in der Herrin des Gutshauses, jede erlebte ihre eigene Erfüllung in Mrs. Hardy. Und die Brangwen-Frau in der Marsch wollte über sich selbst hinaus, verlangte mehr nach dem ihr ferner liegenden Leben der feinen Dame, nach dem ausgedehnten Gesichtskreise, den sie zu erkennen gab, wie ein Reisender seinem Inneren vorschwebende ferne Gegenden durch sein beherrschtes Wesen kundgibt. Warum aber sollte die Kenntnis ferner Gegenden ein Menschenleben zu etwas anderem machen, etwas Schönerem, Größerem? Und warum ist der Mensch mehr als jedes Tier, als das Vieh, das ihm dient? Es ist hier wie dort ganz dasselbe.
Die männlichen Rollen des Heldengedichtes wurden von Leuten wie Lord William und dem Vikar gespielt, mageren, scharfen Leuten mit seltsamen Bewegungen, Männern, die auf ferner gelegenen Gefilden den Befehl führten, deren Leben sich über einen weiten Umkreis erstreckte. Ach, das war noch etwas wonach man sich so heiß sehnen durfte, dies Wissen, die Berührung mit diesen wunderbaren Männern, die solche Macht im Denken und Verstehen besaßen! Die Frauen des Ortes hatten gewiß Tom Brangwen viel lieber und fühlten sich mit ihm viel wohler, und doch, wären der Vikar und Lord William ihrem Leben genommen worden, es wäre ihm damit die Tragrebe abgeschnitten gewesen, sie hätten sich schwer, ohne geistigen Inhalt gefühlt, wären dem Haß anheim gefallen. Solange dies Wunder aus dem Jenseits vor ihnen stand, konnten sie weiterkommen, mochte ihr Los sein, wie es wollte. Und Mrs. Hardy und der Vikar und Lord William, sie alle bewegten sich ja in jenem Wunderland und blieben bei all ihrem Tun den Augen von Cossethay sichtbar.
Um das Jahr 1840 wurde eine Wasserstraße durch die Wiesen des Marsch[4]enhofes gelegt, um einige neuerschlossene Kohlengruben mit dem Erewash-Tale[2] zu verbinden. Ein hoher Damm durchlief die Felder und trug den Wasserweg, der dicht am Wohngebäude vorbeiging und beim Zusammentreffen mit der Landstraße diese auf einer schweren Brücke überschritt.
Damit war die Marsch von Ilkeston abgeschnitten und auf den kleinen Talboden beschränkt, der in dem buschigen Hügel mit dem Kirchturm von Cossethay seinen Abschluß fand.
Die Brangwens bekamen eine hübsche Summe Geld für diesen Eingriff in ihren Besitz[1q]. Kurze Zeit später wurde dann ein Kohlenschacht auf der anderen Seite des Wasserweges niedergetrieben, und wieder nach einer Weile kam die Midlandbahn[3] am Fuße des Hügels von Ilkeston das Tal herab, und damit war die Überflutung vollkommen. Die Stadt wuchs rasch heran, die Brangwens hatten mit der Beschaffung von Vorräten alle Hände voll zu tun, immer wohlhabender wurden sie, wurden beinahe zu Handelsleuten.
Trotzdem verblieb der Marsch ihre Abgelegenheit und Eigenart auf der unverändert ruhigen Seite des Dammes, in dem sonnigen Tale, wo sich das Wasser träge zwischen steifen Ellerbüschen einherwand und der Weg unter Eschenbäumen an Brangwens Gartentür vorüberlief.
Sah man aber von der Gartentür den Weg hinab nach rechts, durch die dunkle viereckige Öffnung der Dammunterführung hindurch, so stand dort, nahebei, das neue Kohlenbergwerk in vollem Betriebe; weiter weg bedeckte ein dichter Schwarm roter, roher Häuser das Tal, und noch ferner, jenseits alles dessen lag schattenhaft der rauchende Hügel der Stadt.
Das Anwesen befand sich grade noch auf der ruhigen Seite der Gesittung, außerhalb des Tores. Das Wohnhaus stand etwas von der Straße ab, ein Gartenpfad, an dem im Frühling die Narzissen in dicken gelben und weißen Haufen blühten, führte schnurgrade darauf zu. Neben dem Hause standen Fliederbüsche und Schneeball und Liguster und verdeckten die Hofgebäude vollständig.
Auf der Rückseite schloß sich ein Wirrsal von Schuppen, die zwei oder drei undeutlich erkennbare Höfe bildeten, zu einem Gehöft zusammen. Der Ententeich lag jenseits der äußersten Umzäunung und streute seine weißen Federn über die festgetretene Einfassung hin, während einzelne lose schmutzige Federn über das Gras und zu den Ginsterbüschen an der Dammböschung hinanflogen, die sich dicht daneben wie ein hoher Wall erhob, auf dem gelegentlich die Gestalt eines Mannes oder ein Mann mit einem Zugpferde wie ein Schattenriß gegen den Himmel daherzog.
Zuerst staunten die Brangwens über all dies Leben um sie her. Der Bau der Wasserstraße quer über ihr Land machte sie zu Fremdlingen auf der eigenen Scholle; der rohe Erdwall, der sie von der Umwelt ausschloß, beunruhigte sie. Wenn sie auf dem Felde arbeiteten, flog von dem ihnen allmählich ganz vertraut gewordenen Damme her das genau abgemessene Geräusch der Windevorrichtungen herüber, zuerst beunruhigend, später aber rein wie ein Schlummerlied. Dann wieder hallte das schrille Pfeifen eines Zuges ihnen durchs Herz, ein freudiger Schreck, der das Herankommen des Weit-Abgelegenen in unmittelbare Nähe verkündete. Fuhren sie aus der Stadt nach Hause, so stießen sie, die Landleute, auf kohlengeschwärzte Bergleute, die vom Schachteingang heimwärts zogen. Brachten sie die Ernte ein, so führte der Westwind ihnen einen schwachen Schwefelgeruch von den brennenden Schutthalden zu. Zogen sie im November Rüben aus, so machte das scharfe Klick-klick-klick-klick der leeren, auf ein Nebengleis laufenden Kohlenwagen ihre Herzen in der Erkenntnis erzittern, es gäbe außer ihrem eigenen Tätigkeitsfelde auch noch ein anderes.
Der Alfred Brangwen dieses Zeitabschnittes hatte ein Mädchen aus Heanor zur Frau genommen, eine Tochter aus dem »Schwarzen Roß«[5]. Sie war ein zierliches, hübsches dunkles Frauenzimmer, sonderbar in ihren Redensarten, witzig, so daß die scharfen Dinge, die sie sagte, nicht wehtaten. Sie führte ein merkwürdiges Sonderdasein, war in ihrem Benehmen fast quengelig, stand aber innerlich allem fern und gleichgültig gegenüber, weswegen ihre langen, jammervollen Klagen, erhob sie die Stimme gegen ihren Gatten im besonderen und alle übrigen außer ihm, eigentlich die Zuhörer nur mit Verwunderung und Mitleid gegen sie erfüllten, selbst wenn sie sich durch sie gereizt fühlten und die Geduld mit ihr verloren. Ausdauernd und laut zog sie über ihren Mann her, aber stets in gleichmäßigem, leichtem Tonfall und in einer merkwürdigen Ausdrucksweise, die ihn innerlich mit Stolz und männlichem Siegergefühl erfüllte, während er doch bitterlich murrte über das, was sie sagte.
Infolgedessen bekam Brangwen selber ein listiges Zwinkern um die Augenwinkel, eine Art fettigen Lachens, sehr ruhig und voll, und er wurde verwöhnt wie der Herr der Schöpfung selbst. Er tat ruhig alles was er wollte, lachte über ihr Schelten, brachte seine Entschuldigungen in einem neckenden Ton vor, den sie zu gern mochte, folgte all seinen inneren Neigungen, und wenn ihm etwas gar zu nahe ging, erschreckte und duckte er sie zuweilen durch einen tiefen, schweren Wutausbruch, der sich tagelang in ihm festzusetzen und auf ihm zu lasten schien, so daß sie alles drum gegeben hätte, ihn zu besänftigen. Sie waren zwei grundverschiedene Wesen, auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden; sie wußten nichts voneinander, und doch gingen ihre getrennten Wege von einer gemeinsamen Wurzel aus.
Vier Söhne und zwei Töchter waren da. Der älteste Junge lief früh davon, ging zur See und kam nicht wieder. Nach diesem Ereignis wurde die Mutter noch mehr als früher zum Hauptschwingungsknoten und Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit im Hause. Der zweite Sohn, Alfred, den die Mutter am höchsten schätzte, war der zurückhaltendste. Er wurde nach Ilkeston auf die Schule geschickt und machte zunächst auch einige Fortschritte. Aber trotz all seiner verbissenen, schmerzlichen Bemühungen gelangte er doch nicht über die einfachsten Grundlagen der Dinge hinaus, ausgenommen im Zeichnen. Hierin, wofür er gewisse Anlagen besaß, arbeitete er, als wäre es seine einzige Hoffnung. Nach vielem Murren und wütendem Widerstand gegen alles und jedes und vielerlei unsicherem Hin- und Hertasten, als sein Vater schon voll heißen Zornes gegen ihn war und seine Mutter fast an ihm verzweifelte, wurde er Zeichner in einer Spitzenweberei in Nottingham.
Er blieb schwerfällig und etwas grobschlächtig, sprach mit breitem Derbyshire-Tonfall[6], und hing mit seiner ganzen Zähigkeit an seinem Berufe und seiner Stellung in der Stadt, machte auch gute Zeichnungen und brachte es zu leidlichem Wohlstande. Beim Zeichnen schwang seine Hand sich wie von selbst in kühnen, großen Zügen, etwas reichlich ungezwungen, so daß es ihm grausam hart ankam an seinen Spitzenentwürfen herumzupüttchern, streng in den kleinen Vierecken auf dem Papier zu bleiben, zu zählen und zu grübeln und herumzustricheln. Aber hartnäckig, voller Seelenqualen, blieb er dabei, quetschte sich die Eingeweide im Leibe zusammen und verbiß sich in sein selbstgewähltes Los, koste es was wolle. Und so fügte er sich steif und gesetzt ins Leben, ein wenig sprechender, etwas sauertöpfischer Mensch.
Er heiratete die Tochter eines Drogenhändlers, der sich eine etwas höhere gesellschaftliche Stellung angequält hatte, und wurde in seiner verbissenen Art so etwas wie ein Bildungsprotz mit einer Leidenschaft für alle äußerlichen Feinheiten im Haushalt; er konnte rein wahnsinnig werden, ging irgend etwas schief oder wurde gar etwas verbummelt. Später, als seine drei Kinder herangewachsen waren und er selbst scheinbar ein besonnener Mann in mittleren Jahren war, fing er an hinter fremden Frauenzimmern herzulaufen und wurde zu einem schweigsamen, undurchdringlichen Liebhaber verbotener Genüsse, der seine hierüber verschnupfte Biederfrau ohne die leisesten Gewissensbisse links liegen ließ.
Frank, der dritte Sohn, verweigerte von Anfang an jede Beschäftigung mit Lernkram. Von Anbeginn an trieb er sich mit Vorliebe beim Schlachthause herum, das seitab auf dem dritten Hofe ganz hinten in dem Anwesen stand. Die Brangwens hatten immer selbst geschlachtet und versorgten auch die Nachbarschaft. Hieraus entwickelte sich ein richtiges Schlachtergeschäft in Verbindung mit dem Hofe.
Schon als Kind war Frank von dem dunklen, über das Pflaster sickernden Blut nach dem Leutehof gezogen worden, oder durch den Anblick eines Mannes, der ein mächtiges halbes Rind mit den frei daliegenden, in schwere Fettpolster gebetteten Nieren nach dem Fleischhaus schleppte.
Er war ein hübscher Junge mit weichem, braunem Haar und regelmäßigen Gesichtszügen, ungefähr wie ein Jüngling der späteren Römerzeit. Er war leichter erregbar, ließ sich leichter hinreißen als die übrigen, ein weicheres Gemüt. Mit achtzehn Jahren heiratete er ein kleines Arbeitermädchen, ein blasses, pulliges, ruhiges Ding mit schlauen Augen und einschmeichelnder Stimme; sie verstand sich ihm unentbehrlich zu machen, bescherte ihm jedes Jahr ein Kind und zog ihn gründlich auf. Sobald er die Schlachterei übernommen hatte, ließ ihn eine wachsende Gleichgültigkeit, eine Art Verachtung seinen Beruf sofort vernachlässigen. Er fing an zu trinken und war häufig in seiner Kneipe anzutreffen wie er drauflos schwatzte, als verstünde er alles und jedes, während er in Wirklichkeit doch nur ein lauter Hansnarr war.
Von den Töchtern heiratete die älteste, Alice, einen Bergmann und führte in Ilkeston eine Zeitlang ein stürmisches Leben, ehe sie mit ihrer zahlreichen jungen Nachkommenschaft nach Yorkshire zog. Effie, die jüngere, blieb zu Hause.
Das letzte Kind, Tom, war beträchtlich jünger als seine Brüder, so daß er mehr mit seinen Schwestern zusammen gehörte. Er war seiner Mutter Liebling. Sie raffte sich zu einem Entschlusse auf und schickte ihn, als er zwölf Jahre alt war, mit Gewalt auf die Lateinschule nach Derby. Er empfand keine Lust dazu und sein Vater hätte ihm auch wohl nachgegeben, aber Frau Brangwen hatte nun mal ihr Herz drangesetzt. Ihr zierlicher, hübscher Leib in der eng anliegenden Jacke und den weiten Röcken war jetzt der Mittelpunkt aller Entschlüsse im Hause, und hatte sie sich einmal auf irgend etwas versteift, was nicht oft vorkam, so gab die ganze Gesellschaft ihr gegenüber nach.
Also bezog Tom die Schule, ein widerwilliger Versager von Anfang an. Zwar glaubte er, seine Mutter habe ganz recht, wenn sie ihn in die Schule schickte, aber er wußte auch, sie habe bloß darum recht, weil sie seine mangelhafte Veranlagung nicht zugeben wolle. Er wußte mit der tiefen, gefühlsmäßigen Voraussicht von Kindern für alles, was mit ihnen vorgehen wird, daß er auf der Schule doch nur einen armseligen Kerl spielen würde. Aber er nahm sein Geschick als unvermeidlich hin, als wäre er an seiner eigenen Veranlagung schuld, als wäre sein ganzes Wesen verkehrt und die Auffassung seiner Mutter richtig. Hätte er so sein können wie er gemocht hätte, so würde er grade das gewesen sein, was seine Mutter so gern, aber so irrtümlich in ihn hineinlegte. Dann wäre er klug gewesen und hätte alle Anlagen zu einem großen Herrn gezeigt. Das war es, was ihr Ehrgeiz mit ihm vorhatte, und deshalb wußte er, es wäre das Richtige für jeden ordentlichen Jungen. Aber aus einem Schweinsohr kannst du keine Seidenbörse machen, wie er seiner Mutter schon ganz früh mit Bezug auf sich selbst gesagt hatte; zu ihrem tiefen Ärger und Kummer.
Sobald er auf die Schule kam, begann er heftig gegen seine körperliche Unfähigkeit zum Lernen anzukämpfen. Verkniffen saß er da und machte sich ganz blaß und unansehnlich durch seine Anstrengungen, sich über einem Buche zu sammeln, das aufzufassen, was er grade zu lernen hatte. Aber es war umsonst. Wenn er auch den ersten Widerwillen niederkämpfte und wie ein Selbstmörder vor dem Zeugs dastand, er kam nur sehr wenig vorwärts. Es nutzte nichts, daß er sich fest vornahm, zu lernen. Sein Geist arbeitete einfach nicht.
Sein Gemüt dagegen entwickelte sich und wurde sehr empfindlich gegen den ihn umgebenden Dunstkreis; vielleicht war er roh, aber doch zugleich auch empfindsam, sehr empfindsam. Daher rührte die geringe Meinung seiner selbst. Er kannte seine Grenzen. Er wußte, sein Schädel sei ein schwerfälliger, hoffnungsloser Nichtsnutz. So wurde er bescheiden.
Zu gleicher Zeit aber machte er in seinem Gemütsleben doch viel mehr Unterschiede als die meisten anderen Jungens, und das verwirrte ihn. Er war sinnlicher veranlagt und besaß feinere Gefühle als sie. Er haßte sie wegen ihres triebmäßigen Stumpfsinns, litt wieder unter der Verachtung, die er für sie fühlen mußte. Handelte es sich aber um Verstandesangelegenheiten, dann war er im Hintertreffen. Da war er ganz in ihrer Hand. Er war ein Dummkopf. Er besaß nicht Verstand genug, um die dümmste Behauptung zu widerlegen, so daß er gezwungen mancherlei zugab, an das er ganz und gar nicht glaubte. Und hatte er es einmal zugegeben, so wußte er nicht, glaubte er dran oder nicht; gewöhnlich, gestand er sich, glaubte er daran.
Aber jeden, der ihm auf dem Wege über das Gemüt Erleuchtung verschaffen konnte, den liebte er. Er konnte seine Rührung nicht verbergen, als er dasaß und der Lehrer packend Tennysons »Ulysses« oder Shelleys »Ode an den Westwind«[7] vorlas. Seine Lippen öffneten sich, seine Augen füllten sich mit einem sehnenden, beinahe leidenden Licht. Und der Lehrer las weiter, angefeuert durch seine Macht über den Jungen. Durch diese Erfahrung fühlte Tom Brangwen sich über alle Maßen bewegt, er bekam fast Angst vor ihr, so tief ging sie ihm. Als er aber beinahe heimlich und voller Scham versuchte, das Buch selbst vorzunehmen und die ersten Worte begann »O wilder Westwind, Atem du des Herbst«, da verursachte allein schon der Druck ihm ein kitzliges, widerwilliges Gefühl auf der Haut, das Blut trat ihm ins Gesicht und sein Herz füllte sich mit leidenschaftlicher, brennender Wut über seine Unfähigkeit. Er warf das Buch zu Boden, trampelte darauf herum und lief auf das Kricketfeld hinaus. Er haßte Bücher, als wären sie seine Feinde[2q]. Er haßte sie schlimmer, als er je einen Menschen gehaßt hatte.
Sein Wille besaß keine Gewalt über seine Aufmerksamkeit. Sein Geist kannte keine festen Gewohnheiten, an die er sich hätte halten können, er fand nichts, um sich daran zu halten, nichts, wovon er hätte ausgehen können. Nichts war ihm greifbar, in sich selbst wußte er nichts, das er fürs Lernen hätte verwenden können. Er wußte nicht, wie er anfangen sollte. Daher war er auch so hilflos, sowie es auf verstandesmäßige Überlegung oder Lernen durch Nachdenken ankam.
Für Mathematik besaß er ein gewisses gefühlsmäßiges Verständnis, ließ ihn dies aber im Stich, so war er hilflos wie ein Schwachsinniger. So merkte er, er werde nie festen Boden unter den Füßen fühlen, er schwamm im Nichts. Der endgültige Niederbruch erfolgte durch seine vollkommene Unfähigkeit, auf eine Frage einzugehen, ohne daß man ihm die Antwort in den Mund legte. Hatte er einen Aufsatz über das Heerwesen zu schreiben, so lernte er endlich die paar ihm bekannten Tatsachen auswendig niederschreiben: »Man kann ins Heer eintreten, sobald man achtzehn Jahre alt ist. Man muß über fünf Fuß acht Zoll groß sein.« Aber die ganze Zeit über fühlte er sich lebendig überzeugt, dies sei nur eine Ausflucht und all diese Binsenwahrheiten seien über alle Begriffe dumm. Dann wurde er rot vor Wut, fühlte wie ihm das Herz in die Hosen sank, strich alles durch, was er geschrieben hatte, machte einen todeskampfähnlichen Versuch, etwas im richtigen Aufsatzstil auszudenken, scheiterte auch daran, wurde vor Wut und Scham gänzlich stumpfsinnig, legte die Feder hin und hätte sich lieber in Stücke reißen lassen, als daß er nun noch ein einziges Wort zu schreiben versucht hätte.
Trotzdem gewöhnte er sich bald an die Lateinschule, und die Schule gewöhnte sich an ihn, indem sie ihn als hoffnungslosen Dämel beim Lernen einschätzte, aber in ihm andrerseits auch den anständigen, ehrlichen Burschen achtete. Nur ein engherziger, herrschsüchtiger Kerl, der Lateinlehrer, quälte ihn und füllte seine blauen Augen mit wahnsinniger Wut und Scham. Es kam zu einem scheußlichen Auftritt, wobei der Junge dem Lehrer mit einer Schiefertafel ein Loch in den Kopf schlug, und dann verlief alles wie vorher. Der Lehrer fand wenig Mitgefühl. Aber Brangwen krümmte sich innerlich und litt unter dem Gedanken an seine Tat, selbst lange nachher noch, als er schon ein Mann war.
Er war froh als er die Schule verlassen konnte. Es war ja zwar nicht ganz ohne Vergnügen gewesen, er hatte sich sehr an dem Zusammensein mit den anderen Jungens gefreut, oder hatte doch geglaubt, er fände Freude daran; die Zeit war rasch in endloser Geschäftigkeit vorübergegangen. Aber die ganze Zeit über hatte er das Gefühl gehabt, sich an diesem Orte der Gelehrsamkeit in unwürdiger Stellung zu befinden. Die ganze Zeit über war er sich seines Mißerfolges, seiner Unfähigkeit bewußt. Aber er war zu gesund, zu vollblütig, um darüber elend zu werden; er war viel zu lebendig. Und doch fühlte sich seine Seele jämmerlich bis zur Hoffnungslosigkeit.
Einen warmherzigen, klugen Jungen von etwas schwächlichem Körperbau, eine Art Schwindsüchtigen, hatte er sehr lieb gehabt. Die beiden verband eine gradezu vorbildliche Freundschaft, wie David und Jonathan, wobei Brangwen Jonathan, der Dienende, war. Aber er hatte sich seinem Freunde nie ebenbürtig gefühlt, weil des anderen Geist den seinigen rasch überflügelte und ihn beschämt weit hinter sich ließ. So kamen die beiden Jungens gleich nach Verlassen der Schule auseinander. Aber Brangwen erinnerte sich noch lange seines ehemaligen Freundes und bewahrte ihm ein Andenken als einer Art Lichterscheinung, einer schönen Lebenserfahrung.
Tom Brangwen war froh, als er wieder auf dem Hofe ankam, wo er sich ganz in seinem Fahrwasser fühlte. »Hab' ja doch nur 'nen Kohlkopf auf den Schultern, laßt mich man auf dem Felde bleiben«, sagte er zu seiner verzweifelten Mutter. Er hatte eine zu schlechte Meinung von sich selbst. Aber an seine Arbeit auf dem Hofe ging er voller Freude, vergnügt über das Herumwirtschaften und den Erdgeruch, voller Jugend und Kraft und guter Laune und mit gutem Mutterwitz, dabei auch willens und imstande, die eigenen Mängel zu vergessen; zuweilen war er wahnsinnigen Wutausbrüchen unterworfen, für gewöhnlich aber stand er auf bestem Fuße mit all und jedem.
Als er siebzehn Jahre alt war, fiel sein Vater von einem Heuschober und brach sich das Genick. Von da an lebten Mutter, Tochter und Sohn zusammen auf dem Hofe, gelegentlich mal durch laut jammernde, von Eifersucht eingegebene Besuche des Schlachters Frank aufgestört, der einen Groll gegen die ganze Welt gefaßt hatte, weil sie ihm stets weniger als seinen gebührenden Anteil zukommen ließ. Besonders gegen den jungen Tom war Frank eingenommen, den er ein verzogenes Kröt nannte, und Tom erwiderte diesen Haß voller Heftigkeit, sein Gesicht rötete sich und seine blauen Augen begannen starr zu werden. Effie schlug sich dann auf Toms Seite gegen Frank. Wenn aber Alfred aus Nottingham kam, mit dem dicken Unterkiefer und von unten auf schulend, einsilbig, aber seine Angehörigen mit einer gewissen Verachtung behandelnd, dann stellten Mutter und Effie sich auf seine Seite und schoben Tom in den Schatten. Es ärgerte den Jungen, daß die Weiber aus dem älteren Bruder eine Art Helden machten, bloß weil er nicht zu Hause lebte und so'n Spitzenzeichner und beinahe ein feiner Herr war. Aber Alfred war eine Art gefesselter Prometheus, so liebten die Weiber ihn. Später lernte Tom seinen Bruder besser verstehen.
Als jüngster Sohn fühlte Tom sich eine gewichtige Persönlichkeit, nun die Fürsorge für den Hof sich ihm auf die Schultern legte. Er war erst achtzehn Jahre alt, aber durchaus imstande, alles fertig zu bringen, was sein Vater getan hatte. Und selbstverständlich blieb die Mutter der Mittelpunkt des Hauses.
Er wuchs zu einem sehr frischen, gewandten jungen Manne heran, der eifrig jeden Augenblick seines Lebens wahrnahm. Er arbeitete und ritt und fuhr zu Markte, er ging mit seinen Gefährten aus, bekneipte sich gelegentlich auch mal und spielte Kegel und besuchte kleine Wanderbühnen. Einmal, als er sich in einem Wirtshause bezecht hatte, ging er mit einer Dirne nach oben und sie verführte ihn. Damals war er neunzehn.
Dies Ereignis brachte ihm eine Art Knacks bei. In der anheimelnden Vertrautheit der Küche des Hofes nahmen die Frauenzimmer die oberste Stellung ein. Im Hause ordneten die Männer sich ihnen unter, bei allen Haushaltsangelegenheiten, in allem, wo es sich um Sitte und Benehmen handelte. Die Frau war für sie das Wahrzeichen jenes höheren Lebens, das Glauben, Liebe und Sitte umfaßt. In ihre Hände legten die Männer ihr Gewissen, zu ihr sagten sie: »Sei du mein Gewissensbewahrer, sei du der Engel an meiner Schwelle, der über meinen Ausgang und Eingang wacht.« Und die Frau erfüllte die ihr anvertraute Aufgabe, bei ihr fanden die Männer unter allen Umständen Ruhe, sie nahmen ihr Lob oder ihren Tadel mit Vergnügen oder Ärger hin, wüteten wohl mal gegen sie und schnaubten, aber nie entzog ihre Seele sich auch nur einen Augenblick ihrer Oberherrschaft. Sie verließen sich auf sie hinsichtlich der eigenen Festigkeit. Ohne sie wären sie sich wie Strohhalme im Winde vorgekommen, der sie nach Belieben hier- oder dorthin blasen konnte. Sie war ihr Anker und ihre Sicherheit, sie die zügelnde Hand Gottes, die sie mitunter höchlichst verabscheuten.
Als nun Tom Brangwen mit seinen neunzehn Jahren, ein Junge frisch wie ein junger Baum, dessen Wurzeln ganz in seiner Mutter und Schwester lagen, als der nun fand, er habe in einem gewöhnlichen Wirtshause bei einer Dirne gelegen, da war er ganz fassungslos. Bis dahin hatte es für ihn nur eine Art Frauen gegeben – seine Mutter und Schwester.
Aber nun? Er wußte nicht, was er davon denken sollte. Eine leichte Verwunderung, eine Welle des Zornes, von Enttäuschung stieg in ihm auf, zunächst ein Geschmack wie von Asche und die kalte Furcht, dies wäre nun alles, was ihm bevorstände, seine Beziehungen zum Weibe würden zu nichts weiterem führen als zu dieser Nichtigkeit; dann auch ein leichtes Schamgefühl vor der Dirne, Angst, sie möchte ihn verachten wegen seiner Untauglichkeit; er empfand einen kalten Abscheu gegen sie und auch wieder Furcht vor ihr; einen Augenblick überfiel ihn ein lähmender Schrecken bei dem Gedanken, er habe sich vielleicht eine Krankheit bei ihr geholt; und auf all diesen Wirrwarr aufgeregter Gefühle legte sich die beruhigende Hand des Verstandes, der ihm sagte, es wäre eigentlich doch nichts dabei, solange wie er nicht krank geworden wäre. Bald fand er sein Gleichgewicht wieder, und wirklich war auch nicht viel dabei.
Aber erschreckt hatte es ihn doch und ihm Mißtrauen ins Herz geflößt und die Furcht vor seinem inneren Ich noch gesteigert. Nach ein paar Tagen ging er jedoch wieder in seiner eigentümlich sorglosen Weise unbekümmert umher, seine blauen Augen so klar und ehrlich wie nur je, sein Gesicht gerade so frisch, seine Eßlust genau so stark wie früher.
Oder wenigstens doch dem Anschein nach. Tatsächlich hatte er ein wenig von seinem übersprudelnden Selbstvertrauen verloren, und der Zweifel hielt ihn von weiteren Ausgängen ab.
Noch eine Zeitlang nachher blieb er ruhiger, achtete mehr auf sich beim Trinken, hielt sich mehr von seinen Genossen zurück. Die Enttäuschung seiner ersten fleischlichen Berührung mit dem Weibe, verstärkt durch den ihm eingeborenen Wunsch, in einer Frau die Verkörperung all seiner unausgesprochenen, starken gottgläubigen Triebe zu finden, legte ihm ein Gebiß zwischen die Zähne. Er besaß etwas, das zu verlieren er sich fürchtete, wovon er nicht einmal sicher war, ob er es wirklich besäße. Dieses erste Mal machte ja nicht viel aus: aber die Liebe war im Grunde seines Herzens doch die allerernsthafteste und furchtbarste Angelegenheit.
Geschlechtliche Begierden quälten ihn nun, seine Einbildungskraft blieb immer von wollüstigen Bildern erfüllt. Was ihn aber in Wirklichkeit verhinderte, zu einem leichtfertigen Frauenzimmer zurückzukehren, viel mehr als seine angeborene Bedenklichkeit, das war die Erinnerung an die Armseligkeit seiner Erfahrung von neulich. Es war so gar nichts gewesen, so spärlich und so schwunglos, daß er sich schämte, sich einer Wiederholung auszusetzen.
Er machte eine gewaltige, aus dem Innern kommende Anstrengung, um seine angeborene Fröhlichkeit in ihrer alten Frische wieder zu gewinnen. In seiner Veranlagung lag ein mächtiger Strom von Leben und guter Laune, der Sinn für Selbstgenügsamkeit und Überschwang, der Sicherheit verleiht. Jetzt erfüllte ihn alles mit Spannung. Ein angestrengtes Licht trat in seine Augen, seine Brauen waren fortwährend leicht zusammengekniffen. Seine laute Fröhlichkeit gab einem lauernden Schweigen Raum, und ganze Tage liefen ihm in Unschlüssigkeit hin.
