Lady Chatterley (Letzte, unzensierte Version) - D. H. Lawrence - E-Book

Lady Chatterley (Letzte, unzensierte Version) E-Book

D H Lawrence

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Beschreibung

D. H. Lawrence: Lady Chatterley und ihr Liebhaber. Letzte, unzensierte VersionFür die eBook-Ausgabe neu editiert, in aktualisierter Rechtschreibung und modernisierter Übersetzung. Mit eBook-Inhaltsverzeichnis und verlinkten Fußnoten›Sie hatte gedacht, eine Frau würde dabei sterben vor Scham. Stattdessen starb die Scham.‹Mittelengland, 1920: Constance Chatterley, Baronin in Wragby Hall, ist vom Zusammenleben mit ihrem Ehemann Clifford, der durch eine Kriegsverletzung impotent geworden war, frustriert. Da lernt sie Oliver Mellors, den neuen Wildhüter ihres Mannes kennen. Einerseits abgestoßen von seiner Respektlosigkeit und Derbheit, andererseits angezogen von seiner vitalen Männlichkeit, gerät Constance in ein Chaos der Gefühle. Die Faszination überwiegt, und sie beginnt eine Affäre mit dem Mann, die immer leidenschaftlicher, intimer und zügelloser wird. Constance erlebt körperliche Intensität, sexuelle Praktiken und eine wollüstige Befriedigung, wie sie dies nie für möglich gehalten hätte. – Kompliziert wird die Geschichte, als sie feststellt, dass sie schwanger ist ... © Redaktion CloudShip›Lady Chatterley und ihr Liebhaber‹ ist ein Klassiker der erotischen Literatur und enthält zeitlose Wahrheiten über das Zusammensein von Mann und Frau. Und gleichzeitig ist es ein Skandalbuch erster Güte, das viele Jahre lang in den meisten Ländern Europas auf dem ›Index‹ stand und nur versteckt gehandelt werden konnte.

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Inhalt

Titelseite

Klappentext

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Impressum

Fußnoten

Klappentext

›Sie hatte gedacht,

eine Frau würde dabei sterben vor Scham.

Stattdessen starb die Scham.‹

Mittelengland, 1920. Constance Chatterley, Baronin in Wragby Hall, ist vom Zusammenleben mit ihrem Ehemann Clifford, der durch eine Kriegsverletzung impotent geworden war, frustriert. Da lernt sie Oliver Mellors, den neuen Wildhüter ihres Mannes kennen. Beinahe angewidert von dessen Respektlosigkeit und Derbheit, doch angezogen von seinem Selbstbewusstsein und seiner schamlosen Männlichkeit, gerät Constance in ein Chaos der Gefühle. Die Faszination überwiegt, und sie beginnt eine Affäre mit dem Mann, die immer leidenschaftlicher, intimer und zügelloser wird. Constance erlebt körperliche Intensität, sexuelle Praktiken und eine wollüstige Befriedigung, wie sie sie nie für möglich gehalten hätte. – Kompliziert wird die Geschichte, als sie feststellt, dass sie schwanger ist ...

›Lady Chatterley und ihr Liebhaber‹ ist ein Klassiker der erotischen Literatur und menschlichen Psychologie, und enthält zeitlose Wahrheiten über das Zusammensein von Mann und Frau. Und gleichzeitig ist es ein Skandalbuch erster Güte, das viele Jahre lang in den meisten Ländern Europas auf dem ›Index‹ stand und nur versteckt gehandelt werden konnte. Auch in Australien, Indien, Japan und China war das Buch zeitweise verboten.

Über den Autor: David Herbert Lawrence (1885–1930) war ein englischer Schriftsteller. – Der Sohn eines Bergmanns und einer Lehrerin studierte Pädagogik und nahm in London eine Stelle als Lehrer an. 1911 erkrankte er an Tuberkulose und musste den Schuldienst quittieren. Er begann ein Verhältnis mit der Ehefrau seines ehemaligen Lehrers und heiratete sie später. Das Paar bereiste Europa, Mexiko, Australien und die Vereinigten Staaten, wo sie im Tausch gegen ein Manuskript eine Ranch in New Mexico erwarben. Als Autor war Lawrence hochproduktiv. Neben Romanen schrieb er Gedichte, Essays, Reiseberichte und Theaterstücke. Ein Großteil seines Schaffens thematisiert die Beziehung zwischen den Geschlechtern. – Als sich die Tuberkulose wieder verschlimmerte, kehrten er und seine Frau 1920 nach Europa zurück, wo sie sich in Italien niederließen. Im Alter von nur 44 Jahren starb D. H. Lawrence am 2. März 1930 während eines Kuraufenthalts in der Nähe von Cannes.

© Redaktion CloudShip, 2016

Erstes Kapitel

Unser Zeitalterist dem Wesen nach tragisch, darum sträuben wir uns dagegen, es tragisch zu sehen. Eine Katastrophe ist geschehen, wir stehen inmitten des Trümmerhaufens, wir fangen an, neue kleine Wohnstätten zu bauen, neue kleine Hoffnungen zu hegen. Es ist eine zähe Arbeit. In die Zukunft führt keine glatte Straße. Aber wir schlagen uns durch, wir klettern über Hindernisse. Wir müssen leben, ganz gleich, wie viele Himmel eingestürzt sein mögen.

In dieser Lage befand sich mehr oder weniger auch Constance Chatterley. Der Krieg hatte ihr das Dach über dem Kopf zum Einstürzen gebracht, und sie hatte erkannt, dass man im Leben nie fertig ist.

Sie heiratete Clifford Chatterley, als er im Jahre 1917 für einen Monat auf Heimaturlaub war. Ihre Flitterwochen währten einen Monat. Dann ging er zurück in den Krieg nach Flandern – und wurde sechs Monate später wieder nach England verfrachtet, mehr oder weniger in Stücken. Constance, seine Frau, war damals dreiundzwanzig Jahre alt, er selbst war neunundzwanzig.

Seine Lebenszähigkeit war bemerkenswert. Er starb nicht, und die Stücke schienen wieder zusammenzuwachsen. Zwei Jahre lang blieb er in der Obhut der Ärzte. Dann wurde er für geheilt erklärt und konnte ins Leben zurückkehren. Die untere Körperhälfte allerdings, von den Hüften abwärts, war für immer gelähmt.

Das war im Jahr 1920. Das Paar bezog Clifford Chatterleys altes Heim, Wragby Hall, den »Familiensitz«. Da sein Vater gestorben war, war Clifford nun ein Baronet1, Sir Clifford, und Constance war Lady Chatterley. Sie begannen ihren Haushalt und ihr Eheleben auf dem recht verlassenen Stammsitz der Chatterleys mit kaum ausreichendem Einkommen. Cliffords einzige Schwester war weggezogen. Andere nahe Verwandte gab es nicht. Der ältere Bruder war im Krieg gefallen. Clifford, für immer ein Krüppel, der wusste, dass er nie Kinder haben würde, kam nach Hause in die nebligen Midlands, um den Namen der Chatterleys lebendig zu erhalten, solange er konnte.

Er war nicht wirklich niedergeschlagen. Er konnte in einem Rollstuhl umherfahren, und hatte auch ein Modell mit anmontiertem kleinen Motor, mit dem er langsam durch den Garten und den schönen melancholischen Park kutschieren konnte, auf den er so sehr stolz war, obgleich er tat, als wäre ihm nichts daran gelegen.

Er hatte so viel durchgemacht, dass er nun bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit zu leiden verloren hatte. Er wirkte seltsam heiter und fröhlich, ja beinahe vergnügt, möchte man sagen, mit seiner rosigen, gesunden Gesichtsfarbe und seinen blassblauen, herausfordernd glänzenden Augen. Seine Schultern waren breit und stark, die Hände sehr kräftig. Er war teuer gekleidet und trug elegante Krawatten aus der Bond Street2. Doch in seinem Gesicht war der wachsame, aber ein wenig leere Blick des Krüppels.

Er war so nahe daran gewesen, sein Leben auszuhauchen, dass das, was davon übrig war, ihm wundervoll köstlich erschien. Der gierige Glanz seiner Augen verriet, wie stolz er war, nach der großen Erschütterung noch am Leben zu sein. Doch die Verwundung war auch so schlimm gewesen, dass irgendetwas in ihm zugrunde gegangen, dass einige seiner Gefühle verschwunden waren. Irgendwo war eine Lücke, eine leere, empfindungslose Stelle.

Constance, seine Frau, war ein rotwangiges, ländlich aussehendes junges Mädchen mit weichem braunem Haar, kräftigem Körper und bedächtigen Bewegungen, und sie war voll ungewöhnlicher Energie. Sie hatte große, wundervolle Augen und eine weiche sanfte Stimme, und schien eben aus ihrem Heimatdorf gekommen zu sein. Dem war keineswegs so. Ihr Vater war das einst wohlbekannte Mitglied der königlichen Akademie der Künste, der alte Sir Malcolm Reid. Ihre Mutter war in den besten Tagen des Präraffaelismus3 eine jener kultivierten Fabierinnen4 gewesen. Inmitten von Künstlern und kultivierten Sozialisten genossen Constance und ihre Schwester Hilda eine, wie man sie nennen könnte, ›ästhetisch unkonventionelle‹ Erziehung. Sie waren, um Kunst einzuatmen, nach Paris, Florenz und Rom und, in der anderen Richtung, auch in Den Haag und nach Berlin zu großen Sozialistenkongressen mitgenommen worden, wo Redner in allen Kultursprachen sich hören ließen und niemand sich Zurückhaltung auferlegte.

Die beiden Mädchen waren daher von frühester Jugend an weder durch Kunst noch durch politische Ideen eingeschüchtert. Denn diese waren ihre natürlichen Elemente. Sie waren Kosmopoliten und Provinzler zugleich, von jenem kosmopolitischen Provinzlertum der Kunst, das Hand in Hand mit reinen sozialistischen Idealen geht.

Im Alter von fünfzehn Jahren schickte man sie nach Dresden, unter anderem der Musik wegen. Und sie hatten es sich dort gut gehen lassen. Sie lebten ein freies Leben mit den Studenten, sie führten lange Wortgefechte mit den Männern über philosophische, politische und künstlerische Dinge, sie waren ebenso gut wie die Männer selbst – nur noch besser, weil sie Frauen waren. Und so zogen sie mit stämmigen Jünglingen, die Gitarren trugen – pling, pling! –, los in die Wälder. Sie sangen Wandervogellieder und waren frei. Frei! Das war das große Wort. Draußen in der offenen Welt, draußen in den morgendlichen Wäldern, mit frischfröhlichen, stimmkräftigen jungen Gesellen, waren sie frei zu tun, was ihnen beliebte, und – vor allem – zu sagen, was ihnen beliebte. Die Gespräche waren es, auf die es ihnen vor allem ankam, der leidenschaftliche Austausch von Ideen. Die Liebe war nur eine nebensächliche Begleiterscheinung!

Hilda und Constance hatten beide, ehe sie achtzehn waren, ihre versuchsweisen Liebesaffären hinter sich. Die jungen Männer, mit denen sie so leidenschaftlich redeten und so lustig sangen und unter den Bäumen in solcher Freiheit campierten, wollten natürlich ein Liebesverhältnis. Die Mädchen waren im Zweifel; aber schließlich, es wurde so viel über die Sache geredet, sie wurde für so wichtig gehalten ... und die Männer waren so demütig und lechzten so sehr danach. Warum sollte ein Mädchen nicht großmütig sein wie eine Königin und sich als Geschenk geben?

So hatten sie sich dann als Geschenk gegeben, eine jede dem Jüngling, mit dem sie die verzwicktesten und vertraulichsten Gespräche geführt hatte. Die Gespräche, die Wortgefechte, waren die Hauptsache; die Liebe und die Liebesbeziehung waren nur eine Art kleiner Rückschlag ins Primitive, eine kleine Ernüchterung. Man war hinterher weniger verliebt in den Knaben und ein bisschen geneigt, ihn zu hassen, als wäre er unbefugt in das verbotene Gebiet des Privatlebens und der inneren Freiheit eingedrungen. Denn da man ein Mädchen war, bestand die ganze Würde und Bedeutung, die man im Leben besaß, in der Erlangung einer unbedingten, einer perfekten, einer reinen und edlen Freiheit. Was sonst bedeutete das Leben eines Mädchens, wenn nicht das Abwerfen der alten und niedrigen Verpflichtungen und Knechtungen?

Und wieviel sentimentales Zeug man auch immer darüber reden mochte, dieser ganze Sexualrummel war eine der urältesten, niedrigsten Verpflichtungen und Knechtungen. Die Dichter, die ihn verherrlichten, waren zumeist Männer. Frauen hatten stets gewusst, dass es noch etwas Besseres, etwas Höheres gibt. Und nun wussten sie es bestimmter denn je. Die schöne reine Freiheit eines Weibes war unendlich wundervoller als irgendeine geschlechtliche Einlassung. Das einzige Unglück war nur, dass die Männer darin so weit hinter den Frauen her hinkten. Sie lechzten nach diesem sexuellen Zeug wie die Hunde.

Und einer Frau blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Ein Mann mit seinen Appetiten glich wirklich einem Kind. Eine Frau musste ihm überlassen, was er wollte, sonst würde er wie ein Kind wahrscheinlich unartig werden und davonlaufen und verderben, was eine sehr angenehme Beziehung gewesen war. Aber eine Frau konnte sich einem Manne ja auch hingeben, ohne ihr inneres freies Ich mit dazu zu geben. Das schienen die Dichter und die großen Redner über Sexualität nicht wirklich in Betracht gezogen zu haben. Eine Frau konnte einen Mann nehmen, ohne sich selbst zu geben. Ganz zweifellos konnte sie ihn nehmen, ohne sich in seine Macht zu geben. Statt dessen konnte sie diesen sexuellen Kram eher dazu nutzen, Macht über ihn zu haben. Denn sie brauchte sich im geschlechtlichen Verkehr bloß zurückzuhalten und ihn zu Ende kommen und sich verausgaben zu lassen, ohne selbst bis zum entscheidenden Augenblick zu gelangen; und dann konnte sie das Zusammensein verlängern und ihren eigenen Orgasmus und Höhepunkt erreichen, während er nur noch ihr Werkzeug war.

Beide Schwestern hatten ihre ersten Erfahrungen in der Liebe bereits gemacht, ehe der Krieg ausbrach, und dann wurden sie eilends heimgerufen. Keine war je in einen jungen Mann verliebt gewesen, ohne dass er und sie einander in Worten sehr nahe gewesen wären, das heißt, ohne dass sie zutiefst interessiert aneinander gewesen wären. Die erstaunliche, die tief gehende, die unglaubliche Sensation, die darin lag, leidenschaftlich mit einem wirklich gescheiten jungen Mann stundenlang zu reden, Tag für Tag, durch Monate hindurch, wieder von neuem zu beginnen – die hatten sie sich nie so vorgestellt, ehe sie wirklich eintrat. Die paradiesische Verheißung »Du sollst Männer haben, um mit ihnen zu reden«, war nie offiziell verkündet worden. Sie war in Erfüllung gegangen, ehe sie begriffen, welche Art von Verheißung das war.

Und wenn nach der erregten Vertrautheit dieser lebhaften und seelisch erleuchtenden Diskussionen das Sexuelle schließlich unvermeidlich wurde, dann nahm man es eben hin. Es markierte das Ende eines Kapitels. Es besaß auch seinen eigenen Reiz: Ein seltsamer bebender Schauer innen im Körper, ein letzter Kampf von Selbstbehauptung, so wie letztes Glühen, aufregend und sehr ähnlich der Reihe von Sternchen, die man setzen kann, um das Ende eines Abschnittes oder eine Unterbrechung im Text zu markieren.

Als die Mädchen in den Sommerferien 1913 heimgekommen waren – Hilda war damals zwanzig und Connie achtzehn Jahre alt – hatte ihr Vater deutlich sehen können, dass sie ihr Liebeserlebnis gehabt hatten.

L’amour avait passé par la5, wie jemand es ausgedrückt hatte. Aber er war selbst ein Mann von Erfahrung und ließ das Leben seinen Lauf nehmen. Die Mutter dagegen, eine nervöse Schwerkranke in den letzten paar Monaten ihres Lebens, die wollte bloß, dass ihre Mädchen »frei« seien und »ihre Persönlichkeit verwirklichten«. Sie selbst war nie imstande gewesen, sich vollkommen zu verwirklichen; es war ihr versagt geblieben. Der Himmel weiß, warum, denn sie war eine Frau, die eigenes Vermögen besaß und der man stets ihren Willen gelassen hatte. Sie gab ihrem Mann die Schuld daran. Aber der wirkliche Grund war, dass sie ein altes Muster von Autorität, das ihrem Geist oder ihrer Seele eingepflanzt war, nie hatte abschütteln können. Er hatte nichts mit Sir Malcolm zu tun, der seine nervös feindselige, reizbare Frau in ihrem eigenen Hühnerstall herrschen ließ, während er seiner Wege ging.

So waren die Mädchen also »frei« und kehrten dann nach Dresden zu ihrer Musik, zur Universität und zu ihren jungen Männern zurück. Sie liebten ihre betreffenden jungen Männer, und ihre betreffenden jungen Männer liebten sie, mit der ganzen Leidenschaft geistiger Anziehung. All die wundervollen Dinge, die die jungen Männer dachten, zum Ausdruck brachten und schrieben, – dachten, sprachen und schrieben sie für die jungen Weiber. Connies Jüngling war musikalisch, Hildas Jüngling technisch versiert. Aber sie lebten einzig für ihre Mädchen, das heißt, im Geiste und in ihren geistigen Regungen.

Auch an ihnen war klar zu sehen, dass die Liebe durch sie hindurchgegangen war, das heißt, das körperliche Erlebnis. Es ist sonderbar, welch eine kaum merkliche, aber unverkennbare Veränderung es im Körper sowohl des Mannes als auch der Frau bewirkt: Die Frau ist blühender, feiner gerundet, die jungen Kanten sind geglättet, und ihre Miene wird entweder schüchtern oder triumphierend; der Mann ist viel ruhiger, mehr nach innen gekehrt, sogar die Form seiner Schultern und seiner Hinterbacken ist weniger selbstbewusst und unsicherer.

Im eigentlichen, körperlich empfundenen sexuellen Erschauern erlagen die Schwestern beinahe der seltsamen männlichen Gewalt. Aber rasch fassten sie sich wieder, nahmen den Schauer als eine Sensation hin und blieben frei. Wogegen die Männer, in den Frauen in Dankbarkeit für das sexuelle Erlebnis, ihnen ihre Seelen zu Füßen legten. Und nachher fast so dreinsahen, als hätten sie einen Schilling verloren und ein Sechspencestück gefunden. Connies Freund konnte bisweilen ein wenig mürrisch sein und Hildas Freund ein wenig zynisch. Aber so sind die Männer nunmal! Undankbar und nie zufrieden. Wenn du sie nicht nimmst, hassen sie dich, weil du nicht willst, und wenn du sie nimmst, hassen sie dich auch – aus irgendeinem anderen Grund. Oder aus gar keinem Grund, außer dass sie unzufriedene Kinder sind und nie zufrieden sein können, was immer man ihnen gibt, – mag eine Frau tun, was sie will.

Jedoch es kam der Krieg, und Hilda und Connie wurden wiederum nach Hause zurückgehetzt, nachdem sie bereits im Mai zum Begräbnis der Mutter daheim gewesen waren. Noch vor Weihnachten 1914 waren ihre beiden jungen Deutschen tot, worauf die Schwestern weinten und ihre jungen Männer leidenschaftlich liebten, und gleichzeitig vergaßen. Sie waren einfach nicht mehr da.

Beide Schwestern lebten in ihres Vaters, in Wirklichkeit ihrer Mutter Haus in Kensington und verkehrten in dem jungen Cambridger Kreis, dem Kreis, der für »Freiheit« eintrat und durch Flanellhosen und am Halse offene Flanellhemden und eine wohlanerzogene Art gefühlsmäßiger Anarchie, eine diskret flüsternde Stimme und eine überempfindliche Art des Benehmens gekennzeichnet war. Hilda jedoch heiratete plötzlich einen um zehn Jahre älteren Mann, ein älteres Mitglied dieses Cambridger Kreises, einen Mann mit ordentlich viel Geld und einem bequemen, in seiner Familie beinahe erblichen Posten in einem Ministerium; auch schrieb er philosophische Essays. Sie lebte mit ihm in einem kleinen Haus in Westminster und bewegte sich in jener guten Gesellschaft hoher Staatsbeamter, die nicht ganz zu den Spitzen gehören, die aber die wirklich intelligente Kraft der Nation sind oder sein möchten; Leute, die wissen, wovon sie reden, oder reden, als ob sie es wüssten.

Connie betätigte sich ein wenig in der Kriegshilfe und verkehrte mit den flanellbehosten Cambridger Intransigenten6, die alles und jedes sanft bespöttelten. Ihr bester Freund war ein gewisser Clifford Chatterley, ein junger Mann von zweiundzwanzig, der aus Bonn, wo er die technischen Einzelheiten des Kohlenbergbaus studiert hatte, heimgeeilt war. Zuvor hatte er zwei Jahre in Cambridge studiert. Nun war er Leutnant in einem vornehmen Regiment, und so stand es ihm in Uniform noch besser an, alles ins Lächerliche zu ziehen.

Clifford Chatterley stammte aus höheren Kreisen als Connie. Connie gehörte der wohlhabenden Intelligenz an, er aber der Aristokratie. Nicht von der ganz feudalen Art, aber immerhin. Sein Vater war ein Baronet, und seine Mutter war die Tochter eines Viscounts gewesen.

Aber Clifford war, obgleich von besserer Abstammung als Connie und mehr zur »Gesellschaft« gehörend, auf seine Weise provinzhafter und schüchterner. Er bewegte sich unbefangen in der engen »großen Welt«, das heißt, der landbesitzenden Aristokratie, aber er war scheu und nervös in jener anderen großen Welt, die sich aus den ungeheuren Horden des Mittelstandes und der unteren Klassen und der Ausländer rekrutierte. Um die Wahrheit zu sagen: Er empfand sogar ein klein wenig Angst vor der mittelständischen und proletarischen Menschheit und vor Ausländern, die nicht seiner Klasse angehörten. Auf gewisse lähmende Art war er sich seiner eigenen Wehrlosigkeit bewusst, obwohl ihm alle Bollwerke des Bessergestellten zur Verfügung standen – eine sonderbare, aber allgemeine Erscheinung dieser Zeit.

Daher fesselte ihn die besondere, sanfte Selbstsicherheit eines Mädchens wie Constance Reid. Sie war in jener äußeren Welt des Chaos so viel mehr Herr der Lage als er selbst.

Nichtsdestoweniger war auch er ein Rebell; er rebellierte sogar gegen seine eigene Klasse. Aber Rebell ist vielleicht ein zu starkes Wort; viel zu stark. Er wurde nur mit hineingezogen in die allgemeine, moderne Auflehnung der Jungen gegen Konventionen und jede Art echter Autorität. Väter waren lächerlich; sein eigener, eigensinniger ganz besonders. Und Regierungen waren auch lächerlich; unsere eigene abwartende und teetrinkende ganz besonders. Und die Armee war lächerlich und die alten Nichtskönner von Generalen sowieso, der rotgesichtige Kitchener vor allen. Sogar der Krieg war lächerlich, obwohl er eine ganz hübsche Menge Leute auf dem Gewissen hatte.

Wirklich, alles war ein wenig oder sogar sehr lächerlich; sicherlich war alles, was mit Autorität zusammenhing, ob im Heer oder in der Regierung oder an der Universität, in gewissem Maße lächerlich. Und soweit die herrschende Klasse irgendwelche Anstalten machte zu herrschen, war auch sie lächerlich. Sir Geoffrey, Cliffords Vater, war in hohem Maße lächerlich, wie er so seine Bäume zerhackte und Männer aus seinem Bergwerk ausjätete, um sie in den Krieg zu schubsen, und selber dabei so schön in Sicherheit und patriotisch war – aber auch mehr Geld für sein Land verschwendete, als er besaß.

Als Miss Chatterley – Emma – aus den Midlands nach London kam, um sich als Krankenschwester zu betätigen, redete sie in einer ruhigen Art sehr witzig über Sir Geoffrey und seinen entschlossenen Patriotismus. Herbert, der ältere Bruder und Erbe, lachte lauthals, obgleich es seine Bäume waren, die gefällt wurden, um als Stützpfeiler für die Schützengräben herzuhalten. Clifford aber lächelte nur ein wenig unbehaglich. Alles war lächerlich, ganz recht. Aber wenn es einem zu nahe kam und man selber auch lächerlich wurde ...? Leute aus einer anderen Klasse, wie zum Beispiel Connie, waren wenigstens in einem ernst. An eines glaubten sie: Sie waren recht ernst, wo es um die englischen Soldaten ging und die drohende allgemeine Wehrpflicht und den Mangel an Zucker und an Bonbons für die Kinder. In allen diesen Dingen machten die Behörden selbstverständlich lächerliche Fehler. Aber Clifford konnte es sich nicht zu Herzen nehmen. Für ihn waren die Behörden ab ovo7 lächerlich. Nicht wegen der Bonbons oder der Soldaten.

Und die Behörden kamen sich selbst lächerlich vor und benahmen sich auf eine recht lächerliche Art, und das Ganze war ein großes Narrenhaus. Bis die Dinge drüben auf dem Festland sich entwickelten und Lloyd George8 kam, um herüben die Situation zu retten. Das überstieg sogar die Grenzen dessen, was lächerlich genannt werden konnte, und die kecken jungen Leute lachten nicht mehr.

Im Jahr 1916 fiel Herbert Chatterley, und so wurde Clifford der Erbe. Sogar das machte ihn ängstlich. Seine Wichtigkeit als Sohn Sir Geoffreys und als Spross von Wragby war ihm so eingefleischt, dass er ihr nicht entkommen konnte. Und doch wusste er, dass auch dies in den Augen der riesigen brodelnden Welt lächerlich sei. Nun also war er der Erbe und für Wragby verantwortlich. War das nicht schrecklich? Und auch herrlich? Und doch vielleicht bloß unsinnig?

Sir Geoffrey ließ die Unsinnigkeit nicht gelten. Er war blass und nervös in sich selbst verkrochen und hartnäckig entschlossen, sein Land und seine eigene Stellung zu retten, mochte nun Lloyd George oder sonstwer am Ruder sein. So abgesondert war er, so abgeschnitten von dem England, das wirklich England war, so völlig unfähig, die wahre Lage der Dinge zu wahrzunehmen; Sir Geoffrey trat ein für England und Lloyd George, wie seine Vorfahren eingetreten waren für England und Saint George; und er erkannte nie den Unterschied. Sir Geoffrey fällte Nutzholz und trat ein für Lloyd George und England – England und Lloyd George.

Und er wollte, dass Clifford heirate und einen Erben zeuge. Clifford hatte das Gefühl, dass sein Vater ein hoffnungsloser Anachronismus sei. Aber worin war er selbst ihm auch nur einen Schritt voraus? Außer in einem zaghaften Gefühl für die Lächerlichkeit von allem und jedem und die überragende Lächerlichkeit seiner eigenen Stellung? Denn nolens volens9 nahm er seine Adelswürde und Wragby bitter ernst.

Die fröhliche Erregung war aus dem Krieg entschwunden ..., tot. Zu viel Tod und Gräuel. Ein Mann brauchte Trost und Stütze. Ein Mann musste einen Anker in seiner Welt haben. Ein Mann brauchte eine Frau.

Die Chatterleys, zwei Brüder und eine Schwester, hatten, auf Wragby miteinander eingeschlossen, ungeachtet all ihrer Kontakte, merkwürdig isoliert gelebt. Ein Gefühl des Isoliertseins verstärkte die Familienbande, auch ein Gefühl der Schwäche ihrer Stellung, ein Gefühl der Wehrlosigkeit – trotz oder auch wegen des Titels und Grundbesitzes. Sie waren abgekapselt von jenem industriellen Mittelengland, in dem sie ihr Leben verbrachten. Und sie waren abgekapselt von ihrer eigenen Klasse durch die grübelnde, bockige, verschlossene Natur Sir Geoffreys, ihres Vaters, über den sie sich lustig machten, obwohl sie doch so empfindlich waren in allem, was ihn betraf.

Die drei hatten erklärt, sie wollten immer beisammen leben. Aber nun war Herbert tot, und Sir Geoffrey wollte, Clifford solle heiraten. Sir Geoffrey erwähnte es kaum; er sprach sehr wenig. Aber seine schweigende, grübelnde Beharrlichkeit machte es Clifford sehr schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Emma jedoch sagte: Nein! Sie war zehn Jahre älter als Clifford, und sie fühlte, dass seine Heirat eine Desertion wäre, ein Verrat an allem, wofür die jungen Mitglieder der Familie eingestanden waren.

Clifford, allem zum Trotz, heiratete Connie und verlebte einen Monat Flitterwochen mit ihr. Es war das schreckliche Jahr 1917, und sie waren so vertraut miteinander wie zwei Leute, die auf einem sinkenden Schiff ausharren. Er war unberührt gewesen, als er heiratete; und das Sexuelle an der Ehe bedeutete ihm nicht viel. Auch in anderen Dingen waren sie einander so nahe, er und sie. Und Connie empfand diese Intimität, die jenseits des Geschlechtlichen, jenseits der »Befriedigung« eines Mannes lag, als einen kleinen Triumph. Clifford jedenfalls war nicht gerade erpicht auf seine »Befriedigung«, wie so viele Männer es zu sein schienen. Nein! Diese Intimität war tiefer, war persönlicher als das, und das Sexuelle war bloß etwas Zufälliges oder ein Zubrot: Einer dieser seltsamen, dumpfen organischen Vorgänge, die sich in ihrer Plumpheit beharrlich erhielten, aber nicht wirklich notwendig waren. Connie wollte aber natürlich Kinder haben, wenn auch nur, um ihre Stellung gegenüber ihrer Schwägerin Emma zu stärken.

Aber zu Anfang des Jahres 1918 wurde Clifford zusammengeschossen heimtransportiert, und Kind war noch keines da. Und Sir Geoffrey starb vor Verdruss.

Zweites Kapitel

Connie und Clifford kamen im Herbst 1920 nach Wragby heim. Miss Emma Chatterley, noch immer entrüstet über ihres Bruders Treuebruch, war nach London gezogen, wo sie in einer kleinen Wohnung lebte.

Wragby Hall war ein langgestrecktes, niedriges, altes Gebäude aus braunen Ziegeln, um die Mitte des 18. Jahrhunderts erbaut und später vergrößert, bis es einem Kaninchenbau glich und wenig Würde ausstrahlte. Es stand auf einer Anhöhe in einem sehr schönen alten Park von Eichen, aber leider konnte man in geringer Entfernung den Schornstein der Tevershall-Zeche mit seiner Wolke von Dampf und Rauch erblicken und in der feuchten dunstigen Ferne den Hügelrücken mit den zerstreuten Häusern des Dorfes Tevershall, eines Dorfes, das beinahe am Eingang zum Park begann und sich in hoffnungsloser Hässlichkeit eine lange aschefarbene Meile weit hinzog. Häuser, ganze Reihen elender, kleiner, verrußter Ziegelbauten mit schwarzen Schieferdächern als Deckel darauf, mit scharfen Ecken und von einer gewollten trostlosen Trübseligkeit.

Connie war Kensington gewohnt oder die schottischen Berge oder die Hügel von Sussex – das war ihr England. Mit dem Stoizismus der Jugend erfasste sie auf den ersten Blick die völlige, seelenlose Hässlichkeit der Midlands der Kohle und des Eisens – und ließ es dabei bewenden. Die Hässlichkeit war so unglaublich und so, dass man sie am besten ausblendete. Von den recht unfreundlichen Räumen in Wragby aus hörte sie das Gerassel der Kohlensiebe rings um die Schachtöffnung, das Puffen der Seilwinden, das Klicken der hin und her verschobenen Loren und die heiseren kurzen Pfiffe der Bergwerkslokomotiven. Die Halden um den Tevershall-Schacht brannten, hatten seit Jahren gebrannt, und es würde Tausende kosten, sie zu löschen. Also brannten sie. Und wenn der Wind dort aus der Richtung wehte, was oft vorkam, war das Haus erfüllt vom Gestank dieser schwefeligen Verbrennung des Exkrements der Erde.

Aber selbst an windstillen Tagen roch die Luft nach etwas Unterirdischem: Schwefel, Eisen, Kohle oder Säure. Und sogar auf den Christrosen setzte sich der Ruß beharrlich fest, unwirklich, wie schwarzes Manna vom Himmel des Weltuntergangs.

Nun ja, so war es eben: Vom Schicksal bestimmt wie alles andere! Es war recht fürchterlich, aber warum dagegen strampeln? Man konnte es nicht wegstrampeln. Es nahm eben seinen Lauf – das Leben wie alles übrige auch! Auf dem niedrigen, dunkeln Wolkengebälk brannten des Nachts rote Flecken und zitterten schwellend und sich zusammenziehend wie schmerzende Brandwunden. Das waren die Hochöfen. Anfangs fesselten sie Connie mit einer Art von Entsetzen; sie hatte ein Gefühl, als lebe sie unterirdisch. Daran gewöhnte sie sich. Und an den Vormittagen regnete es.

Clifford behauptete, Wragby sei ihm lieber als London. Die Landschaft habe einen ruhigen eigenen Willen, und die Leute hätten Zähigkeit. Connie fragte sich, was sie sonst noch hätten: Sicherlich weder Augen noch Gehirne. Die Menschen waren so hohlwangig, ungestalt und trübselig wie die Landschaft selbst, und ebenso abweisend. Nur gab es da etwas in ihrem breiten Verschleifen der Mundart und dem Klacken ihrer grobgenagelten Werkschuhe, wenn sie in kleinen Gruppen auf dem Heimweg von der Arbeit über den Asphalt dahinzogen, etwas, das Entsetzen erregend war und rätselhaft.

Es hatte keine Begrüßungsfeier für den heimkehrenden Grundherrn gegeben, keine Festlichkeiten, keine Deputation, nicht einmal eine einzige Blume. Nur eine nasskalte Fahrt in einem Automobil, eine dunkle, feuchte Allee entlang, die sich durch düstere Bäume wühlte, hinaus auf den Abhang des Parks, wo graue, nasse Schafe weideten, auf den Hügel hinauf, wo das Haus seine dunkelbraune Fassade ausbreitete und die Haushälterin und ihr Mann schemenhaft, gleich unsicheren Bewohnern auf dem Angesicht der Erde, warteten, bereit, ein Willkommen zu stammeln. Zwischen Wragby Hall und Tevershall, gab es keine Verbindung, gar keine. Es wurden keine Hände an die Mützen gehoben, es wurden keine Knickse gemacht. Die Bergleute starrten bloß; die Ladenbesitzer lüfteten die Mützen vor Connie wie vor einer Bekannten, und Clifford nickten sie verlegen zu, das war alles. Eine unüberbrückbare Kluft, und auf beiderseits eine stille Art von Abneigung. Anfangs litt Connie unter dem stetigen Geriesel von Feindseligkeit, das aus dem Dorfe sickerte. Später verhärtete sie sich dagegen, und es wurde eine Art Anregungsmittel, etwas, dem man sich gewachsen zeigen musste. Nicht, dass sie und Clifford unbeliebt gewesen wären; sie gehörten bloß einer ganz anderen Spezies an als die Bergleute. Eine unüberbrückbare Kluft, ein unbeschreiblicher Riss, wie er vielleicht südlich des Trent10 nirgends vorhanden, in Mittelengland aber und im industriellen Norden ein unüberwindlicher Abgrund ist, über den hinweg es keine Verbindung geben kann. Du bleibe auf deiner Seite, und ich will auf der meinen bleiben! Ein seltsames Verneinen des gemeinsamen Pulsschlags der Menschheit.

Aber das Dorf sympathisierte mit Clifford und Connie in einem abstrakten Sinne, doch irgendwie verbunden, durch das hüben wie drüben geltende: Lass du mich in Ruhe!

Der Pfarrer war ein netter Mann von ungefähr sechzig Jahren, völlig von seiner Pflicht erfüllt und persönlich beinahe zur Unbedeutendheit, zu einem Schatten herabgedrückt durch das schweigende »Lass du mich in Ruhe!« des Dorfes. Die Frauen der Bergleute waren fast alle methodistisch. Die Bergarbeiter waren gar nichts. Aber selbst das Bisschen offizielle Uniform, das der Geistliche trug, genügte, um vollständig die Tatsache zu verdunkeln, dass er ein Mann wie irgendein anderer war. Nein, er war der Mista Ashby, eine Art automatischer Gebets- und Predigtunternehmung.

Dieses verstockte, instinktive: »Wir halten uns für ebenso gut, wie du bist, wenn du unbedingt Lady Chatterley sein willst!«, war für Connie anfangs äußerst verblüffend und rätselhaft. Die seltsame, argwöhnische, falsche Liebenswürdigkeit, mit der die Bergarbeiterfrauen ihren Annäherungsversuchen begegneten, der seltsam beleidigende Unterton, dieses: »Oh Gott, oh Gott, jetzt bin ich wirklich wer, wenn die Lady Chatterley mit mir redet; aber sie braucht deswegen noch lange nicht zu glauben, dass ich nicht ebenso gut bin wie sie!«, das sie stets aus den halb schmeichlerischen Stimmen der Weiber näseln hörte, war etwas Brüskierendes. Es war nicht darum herumzukommen. Es war hoffnungslos und beleidigend nonkonformistisch.

Clifford ließ die Leute in Ruhe. Connie lernte es, ein Gleiches zu tun; sie ging einfach vorbei, ohne sie anzusehen, und die Weiber glotzten, als wäre sie eine wandelnde Wachsfigur. Wenn Clifford mit ihnen zu tun hatte, tat er recht hochmütig und verachtungsvoll; man konnte es sich nicht leisten, freundlich zu sein. Ja, er war im Ganzen eher überheblich und voll Verachtung gegen jeden, der nicht seiner eigenen Klasse angehörte. Er behauptete seinen Platz ohne einen Versuch zur Aussöhnung. Und er war weder beliebt noch unbeliebt bei den Leuten. Er gehörte einfach mit zu allem andern. Wie die Kohlenhalden und Wragby selbst.

Aber Clifford war in Wirklichkeit äußerst scheu und leicht verlegen, nun, da er gelähmt war. Er hasste es, irgendjemanden in seiner Nähe zu haben, außer den Leuten zu seiner persönlichen Bedienung, denn er musste in einem Rollstuhl oder einer Art Krankensessel sitzen. Trotzdem war er von seinem alten teuren Schneider genau so sorgfältig gekleidet wie eh und je, und er trug die sorgfältig ausgesuchten Krawatten aus der Bond Street genauso wie zuvor. Und in der oberen Körperhäfte sah er genau so elegant und eindrucksvoll aus wie immer. Er war niemals einer von diesen modernen, femininen jungen Männern gewesen; er hatte eher etwas Bukolisches11 mit seinem geröteten Gesicht und seinen breiten Schultern. Aber seine sehr ruhige, zögernde Stimme und seine zugleich herausfordernden und wachsamen Augen, die selbstbewusst und auch wieder unsicher blickten, enthüllten seine wahre Natur. Sein Benehmen war oft beleidigend überheblich und dann wieder bescheiden und unaufdringlich, beinahe ängstlich.

Connie und er waren einander sehr zugetan, auf die distanzierte moderne Art: Er war durch den großen Schock seiner Gelähmtheit viel zu sehr im Innersten verletzt, um unbefangen und leichtlebig zu sein. Er war etwas Verwundetes, und weil er das war, hielt Connie leidenschaftlich zu ihm.

Aber sie konnte sich eines Gefühls der Verwunderung nicht erwehren, wie wenig Verbindung er in Wirklichkeit mit Menschen hatte. Die Bergarbeiter waren in einem gewissen Sinne seine eigenen Leute; aber er sah sie mehr als Objekte denn als Menschen, mehr als Bestandteile der Kohlengrube denn als Teile seines Lebens, mehr als rohe, formlose Erscheinungen denn als Mitmenschen, mit denen er etwas Gemeinsames hatte. Auf eine gewisse Art fürchtete er sich vor ihnen; er konnte es nicht ertragen, wenn sie ihn, der nun gelähmt war, anblickten. Und ihr wunderliches, rohes Leben schien ihm so unnatürlich wie das Leben von Igeln.

Er zeigte ein entferntes Interesse – aber so wie ein Mensch, der durch ein Mikroskop hinunter oder durch ein Teleskop hinaufblickt. Er war nicht in Kontakt. Er war mit niemand in tatsächlichem Kontakt, außer überlieferungsgemäß mit Wragby und, durch das verpflichtende Band der Familie, mit Emma. Darüber hinaus kam ihm im Grunde nichts nahe.

Auch Connie fühlte, dass sie selbst nicht wirklich an ihn herankam; vielleicht gab es schließlich bei ihm auch nichts, an das man gelangen konnte, sondern bloß eine Verneinung menschlichen Kontakts.

Und doch war er unbedingt abhängig von ihr. Er brauchte sie in jedem Augenblick. So groß und stark er war, er war hilflos. Er konnte in einem Rollstuhl umherfahren, und er besaß auch ein motorisiertes Modell, mit dem er langsam im Park umher tuckern konnte. Allein aber war er wie etwas Verlorenes. Er brauchte Connie, ihre Anwesenheit, damit sie ihm versichere, er existiere überhaupt.

Dennoch war er ehrgeizig. Er hatte begonnen, Novellen zu schreiben; sonderbare, sehr persönliche Geschichten von Leuten, die er gekannt hatte. Gescheit, recht sarkastisch und doch auf irgendeine rätselhafte Art nichtssagend. Sie zeigten eine außerordentliche und eigenartige Beobachtungsgabe. Aber es war keine Berührung da, keine tatsächliche Ambition. Es war, als würde sich das Ganze in einem luftleeren Raum abspielen. Und da das Gefilde des Lebens heute größtenteils eine künstlich erleuchtete Bühne ist, wurden die Novellen dem modernen Leben seltsam gerecht, der modernen Psychologie sozusagen.

Clifford war, was diese Novellen betraf, beinahe krankhaft sensibel. Er wollte, dass jedermann sie für gut halte, für das Allerbeste seiner Art, für das Nonplusultra. Sie erschienen in den aller modernsten Magazinen und wurden, wie es so üblich ist, gelobt und kritisiert. Aber für Clifford war die Kritik Qual – Messer, die ihn stachen. Es war, als befinde sich sein ganzes Ich in diesen Geschichten.

Connie half ihm, so gut sie konnte. Anfangs war sie begeistert. Er besprach alles mit ihr, besprach es eintönig, eindringlich, beharrlich, und sie musste mit aller Kraft darauf eingehen. Es war, als müssten ihre ganze Seele und ihr Leib und Geschlecht sich erheben und in diese, seine Geschichten eindringen. Das nahm sie mit und beschäftigte sie völlig.

Von physischem Leben lebten sie sehr wenig. Connie hatte das Hauswesen zu überwachen. Aber die Haushälterin hatte Sir Geoffrey viele Jahre gedient, und diese vertrocknete ältliche, in höchstem Maße pedantische Person – man konnte sie kaum eine Kammerfrau oder gar ein Weib nennen – , die bei Tische aufwartete, war seit vierzig Jahren im Haus. Selbst die Hausmädchen waren nicht mehr jung. Es war entsetzlich! Was konnte man mit solch einem Haus anfangen, außer es nicht zu betreten! All die vielen, endlosen Zimmer, die niemand benützte, all dies mittelenglische tägliche Einerlei, die mechanische Reinlichkeit, die mechanische Ordnung! Clifford hatte darauf bestanden, eine neue Köchin dazu zu nehmen, eine erfahrene Frau, die schon in seiner Junggesellenwohnung in London bei ihm gedient hatte.

Im Übrigen schien das Anwesen in automatisierter Gleichmut geleitet zu werden. Alles ging in bester Ordnung vor sich, in peinlichster Reinlichkeit, genauester Pünktlichkeit; sogar in peinlichster Ehrlichkeit. Und doch war es für Connie eine automatisierte Anarchie. Keine Wärme des Gefühls hielt es organisch zusammen. Das Haus erschien so trübselig wie eine tote Sackgasse.

Was konnte sie anderes tun, als es zu lassen, wie es war? Also ließ sie es, wie es war. Miss Chatterley, mit ihrem aristokratisch schmalen Gesicht kam bisweilen und triumphierte, da sie nichts verändert fand. Sie würde Connie nie verzeihen, dass sie sie aus ihrer Bewusstseins-Einheit mit dem Bruder verdrängt hatte. Sie, Emma, war es, die eigentlich mit ihm diese Novellen, diese Bücher schreiben sollte, – die Chatterley-Novellen, etwas Neues in der Welt, das sie, die Chatterleys, hervorgebracht hatten. Es gab keinen Maßstab zum Vergleich, keine Verwandschaft mit früheren Gedanken und Ausdrucksformen. Es gab nur etwas Neues in der Welt: die Chatterley-Bücher, etwas ganz Persönliches.

Wenn Connies Vater zu vorübergehendem Besuch auf Wragby war, sagte er im Vertrauen zu seiner Tochter: »Cliffords Geschreibe ist ja recht gescheit, aber es ist nichts dahinter. Es wird nicht bleiben!« Connie blickte den schottischen ›Ritter von‹, der es sich sein ganzes Leben lang hatte gut gehen lassen, an, und ihre Augen, ihre großen, stillverwunderten blauen Augen bekamen einen verschwommenen Blick. Nichts dahinter! Was meinte er mit »Nichts dahinter«? Wenn die Kritiker es lobten, und Cliffords Name beinahe berühmt war, und es ihm sogar Geld einbrachte ... Was meinte ihr Vater da, wenn er sagte, es sei nichts an dem, was Clifford schrieb? Was mehr sollte dahinter sein, als es war?

Denn Connie hatte sich die Richtschnur der Jungen zu eigen gemacht: Was der Augenblick enthielt, das war alles. Und die Augenblicke folgten einander, ohne notwendigerweise zueinander zu gehören.

Es war während ihres zweiten Winters auf Wragby, dass ihr Vater zu ihr sagte: »Ich hoffe, Connie, du wirst dich durch die Umstände nicht zwingen lassen, eine Demi-vierge?12« zu sein.«

»Eine Demi-vierge?« erwiderte Connie unsicher. »Warum? Warum nicht?«

»Außer natürlich, es passt dir!« sagte ihr Vater hastig. Zu Clifford sagte er dasselbe, als die beiden Männer allein waren. »Ich fürchte, es ist nicht ganz das Geeignete für Connie, eine Demi-vierge zu sein.«

»Eine Halbjungfrau?« erwiderte Clifford, sich den Ausdruck übersetzend, um sicher zu sein.

Er überlegte einen Augenblick und wurde dann sehr rot im Gesicht. Er war verärgert und beleidigt.

»In welcher Weise ist es nicht das Geeignete?« fragte er steif.

»Sie wird mager, knochig. Es entspricht nicht ihrer Art. Sie ist nicht diese Sardinenart von schmächtigem kleinen Mädel. Sie ist eine muntere schottische Forelle.«

»Ohne die Flecken natürlich«, sagte Clifford.

Er wollte später Connie etwas über diese Demi-Vierge-Sache sagen – diesen halbjungfräulichen Zustand der Dinge. Aber er konnte es nicht über sich bringen. Er war zu vertraut mit ihr und doch nicht vertraut genug. Er war so sehr eins mit ihr in seinem und ihrem Geiste. Aber körperlich waren sie füreinander nicht vorhanden. Und keiner von beiden konnte es ertragen, das Corpus delicti herbei zu zerren. Sie waren so vertraut, und doch völlig außer Fühlung.

Connie erriet jedoch, dass ihr Vater etwas zu Clifford gesagt haben musste, was dem nun im Kopfe herumging. Sie war überzeugt, dass ihm nichts daran läge, ob sie eine Demi-vierge oder Demi-monde13 sei, solange er es nicht unbedingt sicher wüsste und man ihn nicht darauf hinwiese. Was das Auge nicht sieht und das Hirn nicht weiß, ist nicht vorhanden.

Connie und Clifford lebten nun seit beinahe zwei Jahren auf Wragby, es war für sie ein unbestimmtes Leben des Aufgehens in Clifford und seiner Arbeit. Beider Interessen hatten nie aufgehört, über seinem Werk zusammenzufließen. Sie redeten und rangen in den Wehen literarischen Schaffens und hatten das Gefühl, als ob irgendetwas geschähe, wirklich – im leeren Raum – geschähe.

Und insoweit war es ein Leben wie im Leeren. Es war ein Nicht-Dasein. Wragby war da, und die Dienerschaft war da – aber geisterhaft, nicht wirklich existierend. Connie unternahm Spaziergänge im Park und in den Waldungen, die an den Park stießen, und genoss die Einsamkeit und das Geheimnisvolle, stieß die braunen Blätter des Herbstes mit dem Fuß vor sich her und pflückte die Primeln des Frühlings. Aber es war alles ein Traum, oder vielmehr, es war wie ein Schatten der Wirklichkeit. Die Eichenblätter waren für sie wie Eichenblätter, die man im Spiegel sich regen sieht. Sie selbst war eine Gestalt, von der jemand einmal gelesen hatte, und pflückte Primeln, die bloß Schatten waren oder Erinnerungen oder Worte. Weder sie noch irgendetwas hatte Substanz – keine Fühlung, keinen Kontakt! Nur dieses Leben mit Clifford, dieses endlose Spinnen von Hirngespinsten, von Aufzeichnungen des Bewusstseins, diese Geschichten, von denen Sir Malcolm sagte, es sei nichts dahinter und sie würden nicht bleiben. Warum sollte etwas dahinter sein? Warum sollten sie bleiben? Für den Tag genügt des Tages Übel. Für den Augenblick genügt der Anschein der Wirklichkeit.

Clifford hatte eine ganze Reihe von Freunden, oder vielmehr Bekannten, und er lud sie nach Wragby ein. Er lud alle möglichen Leute ein, Kritiker und Schriftsteller, Leute, die helfen würden, seine Bücher zu loben. Und sie waren geschmeichelt, nach Wragby eingeladen zu werden, und sie schütteten Lob aus. Connie durchschaute das alles vollkommen. Aber warum nicht? Dies war eines der flüchtigen Muster im Spiegel. Was war schon schlimm daran?

Sie war die Hausfrau für diese Leute – zumeist Männer. Sie war auch die Hausfrau für Cliffords gelegentlich auftauchende aristokratische Verwandten. Da sie ein weiches, rotwangiges, ländlich aussehendes Geschöpf war, das zu Sommersprossen neigte, große blaue Augen, gelocktes braunes Haar, eine weiche Stimme und recht ausgeprägte weibliche Hüften hatte, wurde sie für ein wenig altbacken und »frauenhaft« gehalten. Sie war kein kleiner Sardinenfisch mit flacher Knabenbrust und kleinen Hinterbäckchen. Sie war zu feminin, um ganz smart zu sein.

Also waren die Männer, besonders die nicht mehr ganz jungen, wirklich sehr nett zu ihr. Aber da sie wusste, welche Qual der arme Clifford beim leisesten Anzeichen eines Flirts empfinden würde, ermutigte sie sie in keiner Weise. Sie blieb still, ruhig und unverbindlich, sie hatte keine Fühlung mit ihnen und beabsichtigte nicht, sie zu haben. Clifford war außerordentlich stolz auf sie.

Seine Verwandten behandelten sie recht freundlich. Sie wusste, dass diese Freundlichkeit einen Mangel an Respekt anzeigte und dass diese Leute keine Achtung vor einem hatten, wenn man sie nicht ein wenig in Furcht versetzte. Aber auch hier Ging sie nicht in Kontakt. Sie ließ sie freundlich und leise verachtungsvoll sein. Sie ließ sie fühlen, dass es gar nicht nötig war, den Dolch in Bereitschaft zu halten. Sie hatte keine wirkliche Verbindung zu ihnen.

Die Zeit ging dahin. Was immer sich ereignete, es ereignete sich nichts, weil sie so komfortabel außer Kontakt war. Sie und Clifford lebten in ihrer beider Ideen und seinen Büchern. Sie sah Gäste kommen und gehen – es waren immer Leute im Haus. Die Zeit ging weiter wie die Uhr. Es wurde halb acht, statt halb sieben.

Drittes Kapitel

Connie spürte allerdings eine zunehmende Ruhelosigkeit. Ihrer Haltlosigkeit entspringend, ergriff eine Unruhe von ihr Besitz wie ein Wahn. Ihre Gliedmaßen zuckten, wenn sie nicht wollte, dass sie zucken sollten, es riss ihr Rückgrat empor, wenn sie sich gar nicht mit einem Ruck aufsetzen wollte, sondern es vorgezogen hätte, bequem zu ruhen. Es durchfuhr ihren Körper, ihren Schoß, bis sie das Gefühl hatte, sie müsse ins Wasser springen und schwimmen, um sich davon zu befreien. Eine wahnsinnige Unrast verursachte ihr ohne ersichtlichen Grund heftiges Herzrasen, und sie magerte ab.

Es war einfach Ruhelosigkeit. Sie eilte plötzlich durch den Park davon, ließ Clifford allein und lag lang ausgestreckt zwischen den Farnen. Nur von dem Haus wegkommen ... Sie musste weg von dem Haus und von jedermann. Der Wald war ihre einzige Zuflucht, ihr Heiligtum.

Aber er war nicht wirklich eine Zuflucht, ein Heiligtum, denn auch zu ihm hatte sie keine echte Verbindung. Es war bloß ein Ort, an dem sie alles übrige abschütteln konnte. Sie fand niemals Fühlung mit dem Geist des Waldes selbst, gesetzt, es gäbe solch ein unsinniges Ding.

Undeutlich war sie sich bewusst, dass sie dabei war, auf irgendeine Art zugrunde zu gehen. Undeutlich wusste sie, dass sie abgeschottet war: Sie hatte die Fühlung mit der greifbaren und lebendigen Welt verloren. Nur Clifford und seine Bücher gab es, die kein wirkliches Dasein hatten – hinter denen nichts war! Leere über Leere. Undeutlich wusste sie es, aber es war, als stieße sie mit dem Kopf an einen Stein.

Ihr Vater mahnte abermals: »Warum nimmst du dir nicht einen Freund? Das wäre das Allergesündeste für dich.«

In diesem Winter kam Michaelis für ein paar Tage zu Besuch. Er war ein junger Irländer, der sich durch seine Theaterstücke bereits ein großes Vermögen in Amerika erworben hatte. Er war eine Zeit lang von der eleganten Gesellschaft in London begeistert hofiert worden, denn er schrieb flotte Gesellschaftsstücke. Dann begriff die elegante Gesellschaft allmählich, dass sie von einem ruppigen Dubliner Straßenköter veralbert worden war, und es kam der Rückschlag. Michaelis wurde der Inbegriff all dessen, was gehässig und schurkig hieß. Man fand, er sei anti-englisch, und in der Klasse, die diese Entdeckung machte, galt dies für ärger als das schmutzigste Verbrechen. Er wurde völlig kaltgestellt, und seine Leiche in die Abfalltonne gestopft.

Nichtsdestoweniger hatte Michaelis nach wie vor seine elegante Junggesellenwohnung in Mayfair und war das Sinnbild eines Gentleman, wenn er die Bond Street entlang schritt; denn man kann nicht einmal die besten Schneider dazu bringen, ihre geächteten Kunden links liegen zu lassen, wenn diese Kunden gut zahlen.

Clifford lud den jungen Mann von dreißig in einem Augenblick ein, in dem es um dessen gesellschaftlichen Aussichten wenig vielversprechend stand. Aber Clifford zögerte nicht. Michaelis fand vermutlich bei ein paar Millionen Leuten Gehör, und da er dennoch ein hoffnungsloser Außenseiter war, würde er zweifellos für die Einladung nach Wragby gerade jetzt dankbar sein, da der Rest der eleganten Welt ihn schnitt. Und aus Dankbarkeit würde er zweifellos Clifford drüben in Amerika nützlich sein. Eine Hand wäscht die andere. Und es konnte einem sehr nutzen, wenn auf die richtige Art über einen gesprochen wurde, besonders »drüben«. Clifford war ein kommender Mann; und es war bemerkenswert, welch einen gesunden Instinkt für Selbstvermarktung er besaß. Es kam soweit, dass Michaelis ihn höchst edelmütig in einem Bühnenstück verewigte, und Clifford wurde eine Art volkstümlicher Held.

Bis die Welle umschlug, als er erkannte, dass er lächerlich gemacht worden war.

Connie wunderte sich ein wenig über Cliffords blinden, gebieterischen Trieb, bekannt zu werden, das heißt, in der ungeheuren amorphen Welt, die er nicht selber kannte und vor der er sich mit Unbehagen drückte, bekannt zu werden; bekannt als ein Schriftsteller, als ein erstklassiger moderner Schriftsteller. Connie wusste von dem erfolgreichen alten, herzlichen, zu Spiegelfechterei geneigten Sir Malcolm, dass Künstler tatsächlich für sich Reklame machten und sich anstrengten, ihre Ware an den Mann zu bringen. Aber ihr Vater benützte die schon ausgetretenen Wege, die auch von allen anderen Mitgliedern der Königlichen Akademie benützt wurden, wenn sie ihre Bilder verkauften.

Wogegen Clifford neue Wege der Reklame entdeckte, und zwar die verschiedenartigsten. Er lud allerlei Leute zu sich nach Wragby ein, ohne sich etwas dabei zu vergeben. Aber entschlossen, sich rasch ein Monument an Ruf zu errichten, benützte er beim Bau allen Schutt, der ihm zur Hand kam.

Michaelis traf pünktlich ein, in einem sehr auffälligen Wagen mit einem Chauffeur und einem Diener. Er war ganz Bond Street. Aber bei seinem Anblick zuckte etwas in Cliffords Landedelmannsseele zurück. Michaelis war nicht ganz ... nicht ganz ... ja, er war ganz und gar nicht, nun ja, ... was er äußerlich anzudeuten sich mühte. Für Clifford war dies nun tatsächlich zu viel. Aber er war dennoch sehr höflich zu dem Mann, was ihm erstaunlich gut gelang. Die hündische Göttin des Erfolges, wie sie genannt wird, umsprang knurrend und beschützerisch den halb demütigen, halb trotzigen Michaelis und schüchterte Clifford völlig ein: Denn auch er wollte sich der hündischen Göttin des Erfolges prostituieren, wenn sie ihn bloß nehmen wollte.

Michaelis war ersichtlich kein Engländer, trotz allen Schneidern, Hutmachern, Friseuren und Schuhmachern des besten Viertels von London. Nein, nein, er war ersichtlich kein Engländer. Diese falsche Sorte von flachem, blassem Gesicht und von Haltung, und diese wehleidige Art, etwas nicht verschmerzen zu können! Er hegte einen Groll und ewigen Grund zu klagen. Das war klar für jeden echten englischen Gentleman, der es verschmähen würde, so etwas in seinem Benehmen so aufdringlich zum Vorschein kommen zu lassen. Der arme Michaelis hatte viele Fußtritte eingesteckt, sodass er sogar jetzt noch ein wenig wie ein verprügelter Hund aussah. Er hatte sich mit seinen Stücken durch reinen Instinkt und noch reinere Unverschämtheit seinen Weg auf die Bühne und an die Rampe gebahnt. Er hatte das Publikum gepackt, und er hatte gemeint, die Tage des Getretenwerdens seien vorbei. Leider waren sie es nicht – würden es nie sein. Denn er forderte in gewissem Sinne zum Getretenwerden heraus. Er lechzte danach, dort zu sein, wo er nicht hingehörte, – in der englischen Oberklasse. Und wie die sich freute über die verschiedenen Tritte, die sie ihm versetzen konnte! Und wie er sie dafür hasste!

Nichtsdestoweniger reiste er mit seinem Diener und seinem sehr auffälligen Wagen, dieser Dubliner Köter.

Es war etwas an ihm, das Connie gefiel. Er gab sich keine Allüren; er hatte keine Illusionen über sich selbst. Er sprach zu Clifford vernünftig, kurz und praktisch über alle Dinge, die Clifford zu wissen wünschte. Er machte sich nicht breit und ließ sich nicht gehen. Er wusste, er war nach Wragby eingeladen worden, um ausgenutzt zu werden, und wie ein alter, gerissener, beinahe gleichgültig gewordener, oder auch ein cleverer Geschäftsmann ließ er sich ausfragen und antwortete mit so wenig Gefühlsverschwendung wie möglich.

»Geld!« sagte er, »Geld ist eine Art Instinkt. Es gibt eine Art Naturveranlagung im Menschen, Geld zu machen. Es ist nicht etwas, das man selber tut. Es ist nicht ein Trick, den man ausführt. Es ist eine Art fortlaufender Zufall der eigenen Natur. Wenn man einmal beginnt Geld zu verdienen, dann geht es so weiter. Bis zu einem gewissen Punkt, vermute ich.«

»Aber man muss eben den Anfang machen«, sagte Clifford.

»Gewiss! Man muss hineinkommen. Man kann nichts tun, wenn man draußen gehalten wird. Man muss sich den Eingang erzwingen. Wenn man das einmal getan hat, geht es ganz von alleine weiter.«

»Aber hätten Sie anders als durch Theaterstücke Geld verdienen können?« fragte Clifford.

»Oh, wahrscheinlich nicht. Ich mag ein guter oder ein schlechter Schriftsteller sein – aber ein Schriftsteller, und zwar ein Bühnenschriftsteller, das bin ich nun einmal, und muss es sein. Das steht außer Zweifel.«

»Und Sie glauben, dass Sie ein Schreiber beliebter Stücke sein müssen?« fragte Connie.

»Ja, so ist es!« rief er und wandte sich mit einem jähen Blick ihr zu. »Es steckt nichts dahinter, es steckt nichts hinter der Popularität, und, was das anlangt, auch nichts hinter dem Publikum. Es steckt nicht wirklich etwas in meinen Stücken, was sie großartig machen würde. Es ist nicht das. Sie sind eben wie sie sein müssen ..., wie das Wetter von der Art ist, die benötigt wird ... zumindest für den Augenblick.«

Er wandte seine trägen, sehr runden Augen, die in solch bodenloser Illusionslosigkeit ertränkt waren, auf Connie, und sie erzitterte ein wenig. Er schien so alt – unendlich alt. Aufgebaut aus Schichten von Desillusion, die in ihm Generationen weit hinunterreichte wie geologische Gesteinsschichten. Und zugleich war er verloren wie ein Kind; in gewissem Sinne ein Geächteter, aber mit dem verzweifelten Lebenswillen seiner köterartigen Existenz.

»Zumindest ist es wundervoll, was Sie in Ihrem Alter erreicht haben«, sagte Clifford nachdenklich.

»Ich bin dreißig ... ja, ich bin dreißig!« sagte Michaelis scharf und mit einem jähen, sonderbaren Lachen, hohl, triumphierend und bitter.

»Und Sie sind allein?« fragte Connie.

»Wie meinen Sie das? Ob ich allein lebe? Ich habe meinen Diener. Er ist ein Grieche, so behauptet er, und ganz unfähig. Aber ich behalte ihn weiter. Und ich will heiraten. Oh ja, ich muss heiraten.«

»Das klingt, als müssten Sie sich die Mandeln rausnehmen lassen,« lachte Connie. »Wird es Sie eine solche Überwindung kosten?«

Er blickte sie bewundernd an. »Nun ja, Lady Chatterley, in einem gewissen Sinne ja. Ich finde ... entschuldigen Sie ... ich finde, ich kann keine Engländerin heiraten, nicht einmal eine Irländerin.«

»Versuchen Sie es mit einer Amerikanerin,« meinte Clifford.

»Oh, eine Amerikanerin!« Sein Lachen klang hohl. »Nein, ich habe meinem Diener gesagt, er soll mir eine Türkin oder so was finden ... etwas Orientalisches.«

Connie wunderte sich wirklich über dieses sonderbare, melancholische Exemplar eines erfolgreichen Mannes. Man sagte, er habe ein Einkommen von fünfzigtausend Dollar allein in Amerika. Manchmal war er hübsch; manchmal, wenn er seitwärts und abwärts blickte und das Licht auf ihn fiel, besaß er die stille, bleibende Schönheit einer elfenbeingeschnitzten Negermaske, mit seinen sehr runden Augen und den starken, eigenartig geschwungenen Brauen, den unbeweglich zusammengepressten Lippen, mit jener vorübergehenden, aber offenbarenden Unbeweglichkeit – einer Regungslosigkeit, einer Zeitlosigkeit, wie der Buddha sie anstrebt und Schwarze sie bisweilen ausdrücken, ohne sie je anzustreben, – etwas Uraltes, ein Sich-Fügen in die Klasse. Äonen der Fügsamkeit in das Klassenschicksal, statt unseres individuellen Widerstandes. Und dann ein Hindurchschwimmen – wie Ratten durch einen dunklen Fluss. Connie fühlte ein plötzliches seltsames Aufwallen von Sympathie für ihn, das mit Mitleid gemischt war und einer Prise Widerwillen, ein Aufwallen, das beinahe Liebe war. Der Außenseiter! Und die Leute nannten ihn einen Streber! Um wie viel streberhafter und aufdringlicher doch Clifford aussah! Und um wie viel dümmer!

Michaelis wusste sogleich, dass er Eindruck auf sie gemacht habe. Er wandte ihr seine runden, haselnussbraunen, ein wenig vorstehenden Augen mit einem Blick völligen Unbeteiligtseins zu. Er schätzte sie ein, sie und das Ausmaß des Eindrucks, den er gemacht hatte. Engländern gegenüber konnte ihn nichts davor bewahren, der ewige Außenseiter zu sein, nicht einmal die Liebe. Aber Frauen vergafften sich manchmal in ihn ... auch englische Frauen.

Woran er mit Clifford war, wusste er ganz genau. Sie waren zwei fremde Hunde, die einander gern angeknurrt hätten, sich jedoch stattdessen gezwungenermaßen anlächelten. Aber was die Frau anlangte, war er nicht ganz so sicher.

Das Frühstück wurde stets in die Schlafzimmer gebracht; Clifford erschien niemals vor dem Mittagessen, und das Speisezimmer war ein wenig trübselig. Nach dem Frühstückskaffee fragte sich Michaelis, diese rastlose und unstete Seele, was er anfangen solle. Es war ein schöner Novembertag – schön nach Wragby-Maßstäben. Er blickte über den schwermütigen Park. Mein Gott! Welch ein Ort!

Er sandte ein Mädchen hinauf und ließ fragen, ob er etwas für Lady Chatterley besorgen könne, er wolle nach Sheffield fahren. Das Mädchen brachte die Antwort, Lady Chatterley lasse fragen, ob er in ihr Zimmer hoch kommen wolle.

Connie hatte ein eigenes Wohnzimmer im dritten Stock, dem obersten Stockwerk im Mitteltrakt des Hauses. Cliffords Zimmer befanden sich natürlich zu ebener Erde. Michaelis fühlte sich geschmeichelt, in Lady Chatterleys Boudoir gebeten worden zu sein. Achtlos folgte er dem Mädchen ... er bemerkte niemals die Dinge um sich, er hatte niemals Fühlung mit seiner Umgebung. In ihrem Zimmer blickte er flüchtig umher, streifte die schönen deutschen Reproduktionen nach Renoir und Cézanne.

»Es ist sehr gemütlich hier oben«, sagte er mit seinem sonderbaren Lächeln, als täte es ihm weh, zu lächeln, und ließ dabei seine Zähne sehen. »Es war klug von Ihnen, sich hier oben einzurichten.«

»Ja, ich glaube auch«, erwiderte sie.

Ihr Zimmer war der einzige heitere, moderne Raum im Haus, der einzige in Wragby, in dem ihre Persönlichkeit zum Ausdruck kam. Clifford hatte ihn nie gesehen, und sie forderte sehr wenige Leute auf, heraufzukommen.

Nun saßen sie und Michaelis vor dem Kamin einander gegenüber und plauderten. Sie fragte ihn über ihn selbst aus, über seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder – andere Leute waren stets so etwas wie ein Mysterium für sie, und wenn ihre Sympathie geweckt war, kannte sie keine Klassendünkel. Michaelis sprach offen über sich; ganz offen und ohne Geziertheit offenbarte er einfach seine verbitterte, gleichgültige Seele eines verlaufenen Hundes und ließ dann einen Schimmer rachsüchtigen Stolzes auf seinen Erfolg erkennen.

»Warum sind Sie solch ein einsamer Kauz?« fragte Connie ihn, und abermals sah er sie mit seinem vollen, forschenden, haselnussbraunen Blick an.

»Manche Käuze sind schon so,« erwiderte er und fügte dann mit einem Anflug vertraulicher Ironie hinzu: »Und wie ist’s denn mit Ihnen? Sind Sie nicht auch so eine Art einsamer Kauz?« Ein wenig überrascht, dachte Connie ein paar Augenblicke nach und sagte dann: »Nur in gewissem Sinn, nicht ganz und gar so wie Sie.«

»Bin ich ganz und gar ein einsamer Kauz?« fragte er mit seinem seltsamen Lächeln, das schon ein Grinsen war, als hätte er Zahnweh, so schmerzlich war es, und seine Augen waren so völlig schwermütig oder stoisch oder desillusioniert oder furchtsam.

»Nicht?« fragte sie ein wenig atemlos, als sie ihn anblickte. »Sind Sie das nicht?«

Sie fühlte ein schreckliches Flehen von ihm zu ihr kommen, das sie beinahe ihr Gleichgewicht verlieren ließ.

»Oh, Sie haben ganz recht,« sagte er und wandte den Kopf ab und blickte seitwärts und abwärts, mit dieser seltsamen stoischen Gelassenheit einer alten Rasse, einer Regungslosigkeit, die man heutzutage kaum mehr antrifft. Und das war es, was Connie die Kraft verlieren ließ, ihn ganz distanzlos betrachten.

Er sah zu ihr auf, mit dem vollen Blick, der alles sah, alles durchdrang. Gleichzeitig aber schrie das Kind, das in der Nacht weinte, aus seiner Brust zu ihr, auf eine Art, die sie mitten im Leibe verspürte.

»Es ist riesig nett von Ihnen, sich Gedanken über mich zu machen,« sagte er lakonisch.

»Warum sollte ich das nicht!« rief sie, mit kaum genug Atem, es auszusprechen.

Er stieß ein bitteres Lachen aus, das wie ein rasches Hüsteln klang.

»Oh, auf diese Art! ... Darf ich für einen Augenblick Ihre Hand halten?« fragte er plötzlich und richtete seine Augen mit beinahe hypnotischer Kraft auf sie – eine flehende Anrufung, die sie unmittelbar in den Schoß traf.

Sie starrte ihn an, betäubt und gebannt, und er trat zu ihr und kniete neben ihr nieder, nahm ihre Fußknöchel fest in beide Hände, sein Gesicht in ihren Schoß vergrabend, und blieb so, regungslos. Sie war vollkommen benommen und betäubt und blickte mit einer Art Verwunderung auf seinen beinahe zarten Nacken hinab und fühlte, wie sein Gesicht sich an ihre Schenkel presste. In all ihrer flammenden Bestürzung konnte sie sich nicht zurückhalten, ihre Hand mit Zärtlichkeit und Mitgefühl auf seinen wehrlosen Nacken zu legen, und er erzitterte in einem tiefen Erschauern.

Dann blickte er mit jenem schrecklichen Flehen in seinen runden, glühenden Augen auf. Sie war völlig unfähig, dem zu widerstehen. Aus ihrer Brust strömte das erwidernde, unendliche Sehnen über ihn; sie musste ihm alles geben, alles, was er nur wollte.

Er war ein seltsamer und sehr sanfter Liebhaber, sehr sanft mit der Frau, unbeherrscht zitternd und doch zugleich unbeteiligt, bewusst, jedes Lautes draußen bewusst.

Ihr bedeutete es nichts, außer dass sie sich hingab. Und endlich hörte er auf zu zittern und lag ganz still, ganz still. Und dann, mit beklommenen, mitfühlenden Fingern, strich sie über seinen Kopf, der an ihrer Brust lag.

Als er sich erhob, küsste er ihre beiden Hände, dann ihre beiden Füße in den sämischledernen Slippern und ging schweigend ans andere Ende des Zimmers, wo er, ihr den Rücken zukehrend, stehen blieb. Einige Minuten herrschte Schweigen. Dann wandte er sich um und kam wieder zu ihr, die auf ihrem alten Platz am Kamin saß.

»Und jetzt werden Sie mich vermutlich hassen,« sagte er in seiner ruhigen, geraden Art. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

»Warum sollte ich Sie hassen?« fragte sie.

»Das tun die meisten,« antwortete er und fasste sich dann schnell, »ich meine, man erwartet es bei einer Frau.«

»Dies ist ganz und gar nicht der Augenblick, Sie zu hassen«, sagte sie verstimmt.

»Ich weiß, ich weiß, es sollte so sein. Sie sind schrecklich gut zu mir ... « rief er zerknirscht.

Sie fragte sich, warum ihm so jämmerlich zu Mute sei. »Wollen Sie sich nicht wieder setzen?« fragte sie. Er blickte nach der Tür.

»Sir Clifford!« sagte er. »Wird er ... wird er nicht ...?«

Sie schwieg einen Augenblick und überlegte. »Vielleicht«, sagte sie und blickte zu ihm auf. »Ich will nicht, dass Clifford weiß ... nicht einmal, dass er argwöhnt ... Es würde ihm so weh tun. Aber ich glaube nicht, dass es schlecht ist. Oder doch?«

»Schlecht? Guter Gott, nein! Sie sind nur zu unendlich gut zu mir ... ich kann es kaum ertragen.«

Er wandte sich ab, und sie meinte, dass er im nächsten Augenblick zu schluchzen beginnen würde.

»Aber wir brauchen es Clifford nicht wissen zu lassen, nicht wahr?« verteidigte sie sich. »Es würde ihn wirklich so verletzen, und wenn er es nie erfährt, nicht einmal argwöhnt, verletzt es niemanden.«

»Von mir!« rief er beinahe zornig, »von mir wird er nichts erfahren. Da kann er lange warten. Ich sollte mich selbst verraten? Haha!« Er lachte hohl und zynisch über solch einen Gedanken. Sie beobachtete ihn verwundert. Er sagte zu ihr: »Darf ich Ihnen die Hand küssen und gehen? Ich glaube, ich werde nach Sheffield hineinfahren und drinnen zu Mittag essen, wenn Sie erlauben, und zum Tee zurück sein. Kann ich etwas für Sie besorgen? Kann ich sicher sein, dass Sie mich nicht hassen? – Und nicht hassen werden?« schloss er in einem Ton von verzweifeltem Zynismus.

»Nein, ich hasse Sie nicht«, sagte sie. »Ich glaube, Sie sind nett.«

»Ah«, sagte er heftig zu ihr, »mir ist’s lieber, Sie sagen das, als Sie sagten, Sie lieben mich! Es bedeutet so unendlich viel mehr ... Heute Nachmittag also. Bis dahin habe ich über eine Menge nachzudenken.«

Er küsste demütig ihre Hände und ging.

»Ich glaube nicht, dass ich diesen jungen Mann vertragen kann«, sagte Clifford beim Mittagessen.

»Warum nicht?« fragte Connie.

»Er ist solch ein Streber unter seinem Lack ... er wartet nur darauf, einen beiseite zu stoßen.«

»Ich glaube, die Leute sind sehr unfreundlich zu ihm gewesen«, sagte Connie.