Der Zigeuner und die Jungfrau - D. H. Lawrence - E-Book

Der Zigeuner und die Jungfrau E-Book

D H Lawrence

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Beschreibung

In "Der Zigeuner und die Jungfrau" entfaltet D. H. Lawrence eine komplexe Erzählung über die aufeinanderprallenden Welten von Leidenschaft und gesellschaftlicher Konformität. Durch die schillernde Figur des Zigeuners und die unberührte Jungfrau wird der Leser in einen emotionalen Strudel geworfen, der die Grenzen zwischen Sinnlichkeit, Spiritualität und der Suche nach Identität auslotet. Lawrences literarischer Stil ist geprägt von eindrucksvoller Symbolik und intensivem Psychologismus, der die inneren Konflikte seiner Charaktere anschaulich schildert. Die Geschichte ist nicht nur ein Spiel der menschlichen Begierden, sondern auch eine kritische Reflexion über die gesellschaftlichen Normen des frühen 20. Jahrhunderts. D. H. Lawrence, ein wegweisender Schriftsteller der modernen Literatur, war bekannt für seine tiefgründigen Analysen von Sexualität, Existenz und menschlichen Beziehungen. Geboren 1885 in England, erlebte er selbst die Spannungen zwischen verschiedenen Kulturen und Klassen, was seine Werke stark beeinflusste. Der vorliegende Roman reflektiert seine eigenen Auseinandersetzungen mit traditioneller Moral und seinen Wunsch, die von ihm oft als drückend empfundene bürgerliche Ordnung zu hinterfragen. "Der Zigeuner und die Jungfrau" ist ein eindringliches Leseerlebnis für alle, die sich mit den Themen Liebe, Identität und gesellschaftlicher Konformität auseinandersetzen möchten. Lawrence gelingt es, den Leser in die emotionale Tiefen seiner Figuren zu führen und gleichzeitig universelle Fragen über das Menschsein aufzuwerfen. Ein unverzichtbares Werk für jeden literarischen Enthusiasten und eine ergreifende Einladung, das eigene Verständnis von Intimität und Freiheit zu reflektieren. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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D. H. Lawrence

Der Zigeuner und die Jungfrau

Bereicherte Ausgabe. Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte jenseits gesellschaftlicher Konventionen und kultureller Barrieren
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Nolan Shepherd
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547788676

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Autorenbiografie
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Der Zigeuner und die Jungfrau
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Ausgabe versammelt unter dem Leit-Titel Der Zigeuner und die Jungfrau fünf erzählerische Werke von D. H. Lawrence: Der Zigeuner und die Jungfrau, Die Tochter des Pferdehändlers, Die Hauptmanns-Puppe, Zwei blaue Vögel und Lächeln. Ziel der Sammlung ist es, die Ausdruckskraft von Lawrences kürzerer Prosa in konzentrierter Form zugänglich zu machen und zugleich die inneren Verbindungen zwischen diesen Texten sichtbar zu halten. Im Zusammenspiel eröffnen sie eine prägnante Perspektive auf zentrale Anliegen des Autors: die Erkundung menschlicher Nähe und Distanz, die Konflikte zwischen innerem Drang und äußerem Zwang sowie die feinen Übergänge zwischen Begehren, Freiheit und Verantwortung.

Im Umfang versteht sich die Edition als bewusst kuratierte Auswahl, nicht als Gesamtwerk oder vollständige Werkgattung. Sie bündelt Erzählungen und Novellen, um eine charakteristische, doch überschaubare Bandbreite von Lawrences Prosakunst zu präsentieren. Damit stellt sie einen Lesepfad bereit, der sowohl eine erste Annäherung erlaubt als auch vertiefende Vergleiche facilitert. Der Fokus liegt auf Texten, die in ihrer Dichte und Klarheit exemplarisch zeigen, wie Lawrence Konflikte der Moderne in erzählerische Situationen übersetzt. Ausgeklammert bleiben Gattungen wie Gedichte, Essays oder Briefe, um die Eigenlogik des erzählerischen Werks im kürzeren Format hervorzuheben.

Die Sammlung knüpft an etablierte deutschsprachige Titel an und ordnet die Texte so, dass thematische Resonanzen erkennbar werden, ohne den eigenständigen Klang der einzelnen Werke zu übertönen. Im Vordergrund stehen Lesbarkeit und Kontextualisierung, nicht eine historisch-kritische Apparatur. Zugleich wird die Perspektive auf das Gesamtprofil des Autors geweitet: Die Auswahl lässt unterschiedliche Tonlagen, Figurenkonstellationen und soziale Milieus nebeneinander wirken. Auf inhaltliche Enthüllungen wird bewusst verzichtet; die Einleitung skizziert nur Grundkonstellationen, um die Erfahrung der ersten Lektüre zu bewahren und die interpretativen Räume offenzuhalten, die Lawrence mit kunstvoller Offenheit anlegt.

Gattungspoetologisch bietet die Sammlung eine klare Kontur: Sie umfasst Prosa in den Formen der Kurzgeschichte und der Novelle. Der Zigeuner und die Jungfrau entfaltet als längere Erzählung einen weiteren Atem, während Die Tochter des Pferdehändlers, Die Hauptmanns-Puppe, Zwei blaue Vögel und Lächeln komprimierte, auf einen konzentrierten Konflikt hin zugespitzte Strukturen zeigen. Die Spannweite reicht von psychologisch eng geführten Kammersituationen bis zu Erzählräumen, die Landschaft und Gesellschaft in den Blick nehmen. Gemeinsam ist den Texten, dass sie auf knapper Strecke Schichten von Wahrnehmung, Erinnerung und Erwartung übereinanderlegen und so eine dichte erzählerische Gegenwart erzeugen.

Stilistisch kennzeichnen Lawrence eine bildkräftige, körpernahe Prosa, ein fein differenziertes Sensorium für Atmosphäre und ein Rhythmus, der innere Bewegung in Sprache übersetzt. Die Erzählhaltung bleibt meist nahe an den Figuren und gibt ihrer Selbstwahrnehmung Gewicht, ohne den Blick auf soziale Kontexte zu verlieren. Wiederkehrend sind symbolisch akzentuierte Details, die ohne didaktische Überhöhung Bedeutungsfelder öffnen. Landschaften und Räume wirken als Resonanzkörper seelischer Zustände; Dialoge tragen nicht nur Information, sondern Temperatur. In der Balance von Andeutung und Präzision liegt ein Ton, der das Ungesagte mitschwingen lässt und die Lesenden zu aktiver Deutung einlädt.

Themenhaft verbindet die Texte das Spannungsverhältnis von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Bindung. Begehren, Nähe und Abgrenzung werden in Situationen verhandelt, in denen Konventionen, Klassenlagen und Geschlechterrollen auf individuelle Impulse treffen. Figuren begegnen sich über Grenzlinien hinweg: Herkunft, Bildung, Geld, Arbeit und moralische Erwartungen bilden Rahmen, die überschritten, verteidigt oder neu gedeutet werden. Natur und Kultur erscheinen nicht als simple Gegensätze, sondern als wechselhafte Kräftefelder, in denen Menschen sich ordnen oder entziehen. So entstehen Erzählräume, in denen Entscheidungen möglich werden, ohne dass Eindeutigkeit erzwungen wird – Ambivalenz bleibt produktiv.

Der Zigeuner und die Jungfrau setzt eine junge Frau in eine Konstellation, in der Anziehung und Vorurteil, Neugier und Loyalität gegeneinander stehen. Der Text führt exemplarisch vor, wie Lawrence äußere Differenz und inneres Erwachen miteinander verschränkt. Die Figur des Außenseiters fungiert dabei weniger als exotisches Ornament denn als Spiegel, in dem Gewissheiten zu flirren beginnen. Die Erzählung entfaltet ihre Spannung aus Blicken, Gesten und atmosphärischen Umschlägen; sie arbeitet mit Verdichtungen statt mit spektakulären Wendungen. So entsteht ein Prüfstein für die Frage, wie viel Freiheit ein Individuum gewinnen kann, ohne seine Bindungen zu zerreißen.

Die Tochter des Pferdehändlers fokussiert eine Familienkonstellation in einer Übergangssituation. Ökonomische, emotionale und soziale Lagen greifen ineinander und drängen die Figuren zu Entscheidungen, die weniger von plötzlicher Einsicht als von tastender Bewegung geprägt sind. Lawrence zeichnet den Weg vom Stummwerden zum Sprechen, vom Ausweichen zum Blickkontakt, vom inneren Druck zur Möglichkeit einer Wendung. Dabei wird Nähe nicht als sentimentale Lösung dargestellt, sondern als mühsam zu erringende Form der Verständigung. Die Erzählung zeigt, wie kleinste Zuwendungen eine neue Ordnung der Beziehung ermöglichen können, ohne die Komplexität der Ausgangslage zu verharmlosen.

Die Hauptmanns-Puppe richtet den Blick auf Macht, Darstellung und Begehren innerhalb einer Beziehung, deren Rollenbilder in Bewegung geraten. Körper, Bild und Blick verschränken sich zu einer Studie darüber, wie Identität durch Wahrnehmung erzeugt und verfehlt werden kann. Im Wechsel von Distanz und Annäherung stellt der Text die Frage, was an einem Menschen verfügbar ist und was sich der Verfügung entzieht. Das Motiv der Form – als Figur, als Pose, als Gegenstand – dient nicht als bloße Metapher, sondern als Anlass, die Grenzlinie zwischen Selbstbestimmung und Fremdwahrnehmung erzählerisch auszuloten.

Zwei blaue Vögel entfaltet mit leichter Hand ein Gefüge aus Erwartung, Aufmerksamkeit und den flüchtigen Versprechen des Glücks. Der Text lotet die Mechanik des Blicks aus: Was fällt ins Auge, was entgleitet, und wie prägt der Moment das Urteil? Im kleinen Format wird eine Welt der Zeichen aufgebaut, in der Zufall, Erinnerung und Sehnsucht ein changierendes Muster bilden. Die Vögel stehen nicht für eine eindeutige Bedeutung, sondern halten die Schwebe zwischen Zeichen und Sache, zwischen Wunsch und Wahrnehmung. So zeigt die Erzählung, wie fragile Bilder innere Bewegungen auslösen und zugleich offen bleiben.

Lächeln kreist um die Ambivalenz von Gesten, um das Versprechen der Höflichkeit und die Möglichkeit von Offenheit. Ein Lächeln kann Maske, Brücke oder Abwehr sein; die Erzählung prüft diese Mehrdeutigkeit im sozialen Nahbereich. Lawrence arbeitet mit feinen Übergängen, in denen kleine Verschiebungen des Tons große Wirkungen haben. Dabei wird die Frage gestellt, ob Verständigung gelingen kann, wenn die Zeichen des Miteinanders unsicher sind. Die Kürze des Textes schärft die Wahrnehmung für Nuancen und zeigt, wie alltägliche Höflichkeit zu einer Bühne wird, auf der Wahrheit und Takt ringen, ohne endgültig zu siegen.

Als Ensemble machen diese Erzählungen sichtbar, warum Lawrence in der kürzeren Form so gegenwärtig bleibt: Sie verbinden psychologische Intensität mit sozialer Aufmerksamkeit, Sinnlichkeit mit formaler Ökonomie. Die Sammlung lädt zur vergleichenden Lektüre ein, ohne Thesen zu verordnen; sie öffnet Räume, in denen Motive antworten und widersprechen. Der historisch belastete Begriff im Titel der Haupterzählung wird in dieser Ausgabe ausschließlich kontextualisierend verwendet; er verweist auf die Entstehungszeit und soll nicht fortschreiben, sondern kritische Lektüre ermöglichen. Wer diese Texte zusammen liest, gewinnt ein präzises Bild davon, wie Literatur innere Freiheit tastend erprobt.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

David Herbert Lawrence (1885–1930) war ein englischer Romancier, Lyriker, Erzähler und Essayist der frühen Moderne. Aus einem industriell geprägten Milieu stammend, verband er psychologische Schärfe mit einer Kritik an Entfremdung, Puritanismus und technischer Rationalität. Seine Bücher lösten wiederholt Zensurdebatten aus, weil sie Sexualität, Gewalt und Intimität ohne rhetorische Schleier behandelten. Zugleich suchte er nach Formen eines vitalistischen, leibnahen Lebensbegriffs, der Kunst, Natur und Begehren zusammenführt. Zwischen Provinzrealismus und symbolischer Verdichtung entstand ein Werk, das die Möglichkeiten des englischen Romans erweitert und die Grenzen zwischen Gattung, Reisebericht, Dichtung und kulturkritischem Essay bewusst überschreitet.

Lawrence wuchs in einer Bergarbeitergemeinde in Nottinghamshire auf, deren soziale Spannungen und Sprachklänge seine Stoffe prägten. Nach Schulen vor Ort absolvierte er am University College Nottingham eine Ausbildung zum Lehrer und veröffentlichte erste Gedichte und Erzählungen. Früh gefördert von Edward Garnett und publiziert in Zeitschriften wie The English Review, fand er Anschluss an literarische Debatten der Zeit. Prägende Lektüren umfassten Thomas Hardy sowie kontinentale Strömungen, die natur- und triebbezogene Lebensphilosophien betonten. Als Lehrer in Südengland sammelte er Erfahrungen mit urbaner Moderne, bevor er sich schrittweise ganz dem Schreiben zuwandte und die Provinz seines Ursprungs in eine poetisch verdichtete Landschaft verwandelte.

Sein Debütroman The White Peacock erschien in den frühen 1910er Jahren, gefolgt von The Trespasser und einem Band eindringlicher Erzählungen. Den Durchbruch markierte Sons and Lovers, eine komplexe Studie über Herkunft, Begehrenskonflikte und soziale Mobilität, die sich durch genaue Milieubeobachtung und lyrische Intensität auszeichnet. Lawrence etablierte sich damit als Romancier, der psychologische Einsicht mit Sprachenergie verbindet. Die frühe Kritik schwankte zwischen Bewunderung und moralischer Reserve, erkannte jedoch die Eigenständigkeit seiner Stimme. Parallel dazu entwickelte er eine poetische Diktion, die freies Versmaß und Naturbeobachtung bevorzugt und seine Prosa thematisch wie rhythmisch flankiert.

Im Ersten Weltkrieg spitzten sich Konflikte zwischen Autor und Behörden zu. The Rainbow wurde in Großbritannien wegen angeblicher Obszönität verboten, was seine öffentliche Stellung polarisierte und ökonomisch belastete. Zugleich arbeitete er an Women in Love, das die Zerrissenheit moderner Beziehungen in einer von Gewalt und Industrialisierung gezeichneten Welt intensiviert. Aufgrund politischer Verdächtigungen und allgemeiner Misstrauenslagen verließ er nach Kriegsende England für längere Zeiträume. Die erzwungene Beweglichkeit förderte seine produktive Phase als Reisender und Beobachter, der unterschiedliche Landschaften, Sprachen und Mythen zu Material einer kosmopolitischen, jedoch zutiefst persönlichen Poetik machte.

Die Jahre nach 1919 führten Lawrence durch Italien und Sardinien, nach Ceylon und Australien, schließlich in den amerikanischen Südwesten und nach Mexiko. Reisebücher wie Twilight in Italy, Sea and Sardinia und Mornings in Mexico verbinden ethnografische Beobachtung mit poetischer Imagination. Parallel entstanden Romane wie Aaron's Rod, Kangaroo und The Plumed Serpent, in denen politische Bewegungen, religiöse Sehnsucht und erotische Dynamik in neue Konstellationen treten. Mit Birds, Beasts and Flowers etablierte er eine eigenwillige Naturlyrik. Essays wie Studies in Classic American Literature und seine Auseinandersetzungen mit psychoanalytischen Theorien zeigen einen Schriftsteller, der zugleich streitbar, diagnostisch und experimentierfreudig bleibt.

In den späten 1920er Jahren verschob sich der Schwerpunkt erneut. Lady Chatterley's Lover erschien zunächst außerhalb Großbritanniens und kursierte in ungekürzten Fassungen nur privat, was die Debatten um Zensur weiter anfachte. Lawrence suchte klimatische Schonung und wechselte häufig den Aufenthaltsort, während er Gedichte, Erzählungen und kulturkritische Texte veröffentlichte. Seine Malerei, in London ausgestellt, stieß ebenfalls auf Anstoß und behördliche Eingriffe. Thematisch insistierte er auf Leiblichkeit, Sprache als körperlichem Ereignis und einer Kritik der mechanisierten Zivilisation. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen verfeinerte er Stil und Form und entwarf Gegenwelten, die körperliche Intensität, Mythos und Landschaft neu verschalteten.

Lawrence starb 1930 an den Folgen einer Lungenerkrankung in Südfrankreich. Sein Nachruhm wuchs in den Jahrzehnten darauf erheblich. Die ungekürzte Publikation von Lady Chatterley's Lover in Großbritannien und ein aufsehenerregender Prozess um 1960 veränderten das Verständnis von literarischer Freiheit und trugen zu seiner Kanonisierung bei. Forschung und Kritik lesen sein Werk inzwischen als Schlüsselbeitrag zur literarischen Moderne, in dem Körper, Sprache, Natur und Gemeinschaft neu gedacht werden. Seine Romane und Gedichte haben Autorinnen und Autoren verschiedenster Richtungen beeinflusst und bleiben in Debatten um Sexualität, Ökologie, Technik und Subjektivität anhaltend präsent.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

D. H. Lawrence, geboren am 11. September 1885 in Eastwood, Nottinghamshire, und gestorben am 2. März 1930 in Vence, Frankreich, schrieb die in dieser Sammlung vertretenen Erzählungen überwiegend zwischen dem Vorabend des Ersten Weltkriegs und dem späten Jahrzehnt der Zwischenkriegszeit. Sie entstanden vor dem Hintergrund einschneidender politischer und sozialer Umbrüche in Großbritannien und Europa. Der Weg führt vom späten Edwardianismus über die Kriegsjahre bis zu den kulturellen Experimenten der 1920er Jahre. Die Texte zeigen Lawrence als Autor, der Neuerungen in Literatur, Psychologie und Anthropologie ebenso verarbeitete wie die Verwerfungen von Industrialisierung, Klassenkonflikten und einer sich rasch modernisierenden Alltagswelt.

Die Herkunft aus einer Bergarbeiterfamilie im Kohlenrevier um Nottingham prägte Lawrence dauerhaft. Sein Vater Arthur John Lawrence arbeitete unter Tage, seine Mutter Lydia Beardsall stammte aus dem Kleinbürgertum. Diese Spannungen von Klasse, Arbeit und Ehrgeiz spiegeln sich in Konstellationen von Bildungshunger, sozialem Aufstieg und Entfremdung. Eastwood und die nahe Brinsley Colliery lieferten topografische und soziale Erfahrungsräume, die er in vielen Erzählungen variierte. Schulbesuch und Lehrerausbildung in Nottingham sowie eine frühe Lehrtätigkeit in Croydon (um 1908–1912) konfrontierten ihn mit der urbanen Moderne. Aus dieser Doppelperspektive auf Provinz und Metropole erwachsen stabile Koordinaten seines Erzählens.

Die letzten Friedensjahre vor 1914 waren in Großbritannien von beschleunigter Modernisierung, moralischer Debatte und dem Aufstieg neuer Konsum- und Freizeitkulturen geprägt. Die Frauenbewegung, getragen etwa von der Women’s Social and Political Union unter Emmeline Pankhurst, radikalisierte seit 1908 Protestformen. Gleichzeitig veränderten Motorisierung, Massenpresse und städtische Vergnügungsindustrie Wahrnehmungs- und Beziehungsmuster. Literatur reagierte mit experimentellen Formen; der psychologische Roman gewann an Gewicht. In dieses Klima fällt Lawrence frühe Bekanntschaft mit Londoner Zeitschriftenkreisen und sein Versuch, Sinnlichkeit, Intuition und Naturerfahrung gegen puritanische Normen und utilitaristische Leistungslogiken zu behaupten.

Der Erste Weltkrieg (1914–1918) bildet eine harte Zäsur. Lawrence wurde aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht eingezogen, geriet aber wegen seiner deutschstämmigen Partnerin Frieda Weekley, geborene von Richthofen, in den Fokus der Behörden. Das Paar lebte 1915–1917 in Zennor, Cornwall, und wurde im Oktober 1917 unter dem Defence of the Realm Act zum Verlassen der Region gezwungen. Kriegserfahrung, Misstrauen, Nationalismus und die Zertrümmerung imperialer Sicherheiten hinterlassen Spuren in Figuren, die nach persönlicher und kultureller Erneuerung suchen. Die Nachkriegsordnung, geprägt vom Vertrag von Versailles 1919, bildet den brüchigen Resonanzraum vieler zwischen 1919 und 1928 verfasster Erzähltexte.

Zensur und Moralpolitik prägten Lawrences Laufbahn. Der Roman The Rainbow wurde im Oktober 1915 in London wegen Obszönität beschlagnahmt, und Women in Love fand erst 1920 eine Publikationsform. Lady Chatterley’s Lover erschien 1928 in Florenz im Privatdruck und blieb in Großbritannien bis 1960 offiziell verboten. Diese Eingriffe wirkten auf seine Kurzprosa zurück: Sexualität, Begehren und Macht werden zwar direkt angesprochen, zugleich aber häufig durch symbolische Bildfelder, Naturmetaphern und Dialogführung verschoben. Der rechtliche und publizistische Druck erklärt die wechselnden Publikationswege über britische und amerikanische Verlage sowie die sensible Auslotung sozialer Grenzziehungen.

Nach dem Krieg verließ Lawrence 1919 Großbritannien und begann eine sogenannte savage pilgrimage. Er lebte in Italien, etwa in Florenz und später in Taormina (Sizilien), reiste im Januar 1921 nach Sardinien, worüber Sea and Sardinia 1921 entstand, und zog weiter nach Ceylon sowie 1922 nach Australien. 1922–1925 hielt er sich mehrfach in Taos, New Mexico, bei der Mäzenin Mabel Dodge Luhan auf; Reisen nach Mexiko folgten 1923 sowie 1924–1925. Aufenthalte in Bayern, Österreich und Norditalien ergänzten den Erfahrungsraum. Diese Transiträume zwischen Mittelengland, Alpenregionen und Mittelmeerraum strukturieren Milieus, Sprachen und Gesten, wie sie in mehreren Erzählungen anklingen.

Literarisch steht Lawrence im Umkreis des europäischen Modernismus. Er publizierte in Zeitschriften wie The English Review und diskutierte mit Zeitgenossen wie Ford Madox Ford, Katherine Mansfield und John Middleton Murry, der The Adelphi herausgab. Das Jahr 1922, in dem in London T. S. Eliots The Waste Land und in Paris James Joyces Ulysses erschienen, markiert einen Kulminationspunkt experimenteller Prosa. Lawrence teilte zentrale Anliegen, lehnte jedoch einen rein intellektualistischen Zugriff ab. Seine Kurzprosa verbindet psychologische Schärfe mit körperlicher Intensität und einer skeptischen Haltung gegenüber städtischer Abstraktion, wie sie im kulturellen Klima der Zwischenkriegsjahre kontrovers diskutiert wurde.

Philosophisch verarbeitet Lawrence Strömungen des Vitalismus und der Lebensphilosophie. Friedrich Nietzsche, insbesondere die Betonung dionysischer Energien, sowie Henri Bergsons Ideen zu élan vital und Zeitbewusstsein bieten konzeptuelle Hintergründe. Zugleich setzte er sich mit der Psychoanalyse auseinander: Psychoanalysis and the Unconscious erschien 1921, Fantasia of the Unconscious 1922. Die Erzählprosa zeigt daraus abgeleitet ein Sensorium für Impuls, Rhythmus, somatische Reaktionen und die Konflikte zwischen gesellschaftlicher Form und innerer Bewegung. Das Spannungsfeld von Wille, Trieb, Disziplin und Hingabe wird in Figurenkonstellationen geprüft, ohne sich in psychologischer Fallstudie zu erschöpfen.

Wissenschaftsgeschichtlich wirken Anthropologie und Religionsforschung ein. Sir James George Frazers mehrbändige The Golden Bough (erweitert 1906–1915) und Arbeiten der Cambridge Ritualists, etwa Jane Ellen Harrisons Themis (1912), popularisierten Ritual- und Mythenmodelle. Lawrence nutzte deren Vokabular, um moderne Entfremdung mit Vorstellungen von Ursprünglichkeit, Opfer und Erneuerung zu kontrastieren. Seine Reise zu etruskischen Stätten 1927 mündete in Etruscan Places (postum 1932) und vertiefte die Auseinandersetzung mit vorchristlichen Kulturen. Die Kurzprosa jener Jahre reflektiert diesen anthropologischen Blick, ohne die Gegenwart zu romantisieren: Ritus, Landschaft und Körper werden zu kritischen Prüfsteinen moderner Lebensentwürfe.

Zentrale Motive speisen sich aus dem europäischen Bild vom fremden Anderen. Dazu zählt die literarische Figur des Gypsy als Projektionsfläche für Freiheit, Nomadentum und Gesetzesferne. Der in deutschen Titeln verwendete Ausdruck Zigeuner ist heute als diskriminierend anerkannt; er verweist auf historische Stereotype gegenüber Roma und Sinti, die in Großbritannien und auf dem Kontinent verbreitet waren. Lawrence reflektiert diese Ambivalenzen, indem er Anziehung und Angst, Begehren und Grenzziehung gegeneinander führt. Die Erzählprosa zeigt so eine Kultur, die nach Authentizität sucht und zugleich an überlieferten Klassifikationen von Ethnie, Geschlecht und Respektabilität festhält.

Geschlechterrollen und Intimität verschoben sich rechtlich und kulturell. In Großbritannien erweiterte der Representation of the People Act 1918 das Wahlrecht; 1919 hob der Sex Disqualification Removal Act formale Berufszugangsbarrieren für Frauen auf; der Matrimonial Causes Act 1923 egalisierte Scheidungsgründe; 1928 folgte die Equal Franchise Act mit dem gleichen Wahlrecht für Frauen ab 21. Schriften wie Marie Stopes’ Married Love (1918) etablierten neue Diskurse über Sexualität. Lawrence reagierte darauf mit Figuren, die zwischen Selbstbestimmung und Bindung, Begehren und sozialer Kontrolle oszillieren. Die Erzählungen spiegeln damit eine Übergangszeit zwischen viktorianischem Erbe und moderner Intimität.

Arbeitswelt und Klassenbeziehungen erfuhren Erschütterungen. Der landesweite Bergarbeiterstreik 1912, die Kohlekrise 1921 und der Generalstreik vom 4. bis 12. Mai 1926 bildeten Kulminationen sozialer Konflikte. In den Kohlerevieren der Midlands, zu denen Nottinghamshire gehört, prallten Gewerkschaften, Unternehmer und Staat aufeinander; Migration innerhalb der Insel und technologische Rationalisierung veränderten Gemeinschaften. Lawrence verarbeitete diese Spannungen in Darstellungen von Prekarität, Statusverlust, Würde und rebellischer Selbstbehauptung. Die Erzählprosa nutzt dabei Alltagsszenen, Arbeitsmetaphern und Landschaftsbilder, um die Erosion alter Loyalitäten und die Suche nach neuen Formen von Gemeinschaft, Autorität und Sinn zu erfassen.

Technologische Modernisierung prägt Milieu und Symbolik. Eisenbahnnetze, Automobile und eine expandierende Stromversorgung veränderten Mobilität und Wahrnehmung. Der Electricity Supply Act 1926 schuf die Grundlage für eine landesweite Koordinierung der Elektrizität in Großbritannien. Neue Konsumgüter, Kinos und städtische Warenhäuser formten Begehren und Selbstdarstellung. In diesem Umfeld erscheinen Natur, Wetter und Körper als Gegenbilder zu Mechanisierung, Routine und Lärm. Lawrence’ Erzählungen setzen häufig auf plastische Sinneseindrücke, um den inneren Takt gegen die Beschleunigung zu behaupten. Gleichzeitig intrudieren Maschinen und technische Artefakte in Beziehungen und Rituale und erzeugen Reibungen, die soziale Lagen neu sortieren.

Kontinentale Schauplätze verweisen auf die Nachkriegsordnung. Die Auflösung Österreich-Ungarns im November 1918 und der Vertrag von Saint-Germain 1919 veränderten politische, wirtschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen im Alpenraum. In Deutschland führte die Hyperinflation 1923 zu einer dramatischen Entwertung, die Alltag und soziale Hierarchien umstülpte. Tourismus kehrte langsam zurück, doch die Zeichen der Front und der Demobilisierung blieben sichtbar. Lawrence’ Aufenthalte in Bayern, Österreich und Norditalien sensibilisierten ihn für diese Übergangssituationen. Seine Figuren bewegen sich durch Landschaften, in denen alte Offizierskulturen, neue Republiken, Grenzregime und eine fragile Ökonomie aufeinandertreffen und Identitäten provisorisch werden.

Die Entstehungskontexte der Erzählungen sind mit Lawrences Publikationswegen verschränkt. Frühe Kurzprosa erschien 1914 in der Sammlung The Prussian Officer and Other Stories. Nach dem Krieg folgten England, My England and Other Stories (1922), The Ladybird, The Fox, The Captain’s Doll (1923) und The Woman Who Rode Away and Other Stories (1928). The Virgin and the Gipsy wurde 1930 postum in London veröffentlicht. Britische und amerikanische Verlage wie Martin Secker, Thomas Seltzer und Alfred A. Knopf trugen zur Zirkulation bei. Vorabdrucke in Zeitschriften sicherten Reichweite und spiegelten Debatten über Form, Moral und Moderne.

Lawrences gesundheitliche Fragilität bildete einen existenziellen Hintergrund. Wiederkehrende Atemwegserkrankungen kulminierten in einer Tuberkulosediagnose in den 1920er Jahren. Der Versuch, in milderen Klimazonen zu leben, strukturierte seine Aufenthalte in Italien, auf Seewegen und in New Mexico. Er starb am 2. März 1930 in Vence, Alpes-Maritimes. Die Erfahrung von Verletzlichkeit und Endlichkeit verschiebt in der Kurzprosa den Akzent auf Unmittelbarkeit, Risiko und das Recht auf intensives Leben. Diese existenziellen Dringlichkeiten verbinden sich mit sozialen Krisenerfahrungen der Zeit und verleihen Figurenentscheidungen eine Dramatik, die über private Psychologie hinausweist.

Im Zusammenspiel von industrieller Herkunft, Kriegserfahrung, Exil, Modernismusdebatten, Zensur und anthropologischen Suchbewegungen formiert sich der historische Kontext dieser Erzählungen. Orte wie Eastwood, Zennor, Florenz, Taormina, Taos oder alpine Regionen rahmen kulturelle Kollisionen und Übergänge. Daten wie 1915 (Verbot von The Rainbow), 1919 (Versailles), 1922 (Modernismusgipfel), 1926 (Generalstreik) oder 1930 (postume Veröffentlichungen, Tod des Autors) verankern die Texte in einer Jahrzehnte umfassenden Transformationszeit. Daraus erwächst ein Œuvre, das das moderne Subjekt in seiner sozialen, körperlichen und symbolischen Brüchigkeit zeigt und die Frage nach Erneuerung gegen Konvention und mechanisierte Ordnung stellt.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Der Zigeuner und die Jungfrau

Novelle über eine Pfarrerstochter in einer erstickenden englischen Provinz, die sich von einem ungebundenen Außenseiter angezogen fühlt. Die Begegnung stellt Konvention, Begehren und die Möglichkeit innerer Befreiung gegeneinander, bis ein Naturereignis die latenten Konflikte entlädt.

Die Tochter des Pferdehändlers

Nach dem wirtschaftlichen Ruin ihrer Familie trifft eine junge Frau in einem Moment der Verzweiflung auf einen Landarzt. Aus der Rettung entsteht eine intensive, ambivalente Bindung, die die Grenzen von Mitleid, Wille und Liebe verwischt.

Die Hauptmanns-Puppe

Ein Nachkriegsverhältnis zwischen einem Offizier und einer Frau wird durch eine kunstvolle „Puppe“ des Hauptmanns zum Spiegel ihrer Machtspiele. Auf einer Reise in die Berge spitzt sich der Kampf um Identität, Kontrolle und Begehren zu.

Zwei blaue Vögel

Ein Schriftsteller gerät zwischen konkurrierende Ansprüche und Sehnsüchte zweier Frauen, während die „blauen Vögel“ als Bild für flüchtige Freiheit und Inspiration kreisen. Die Geschichte beleuchtet die Spannungen zwischen künstlerischer Selbstbehauptung und sozialen Bindungen.

Lächeln

Ein unscheinbares Lächeln löst in einem fragilen Beziehungsgeflecht eine Kette von Missverständnissen, Machtverschiebungen und Selbstoffenbarungen aus. Lawrence zeigt, wie kleine Gesten verborgene Leidenschaften und Verletzungen freilegen.

Der Zigeuner und die Jungfrau

Hauptinhaltsverzeichnis
Der Zigeuner und die Jungfrau
Die Tochter des Pferdehändlers
Die Hauptmanns-Puppe
Zwei blaue Vögel
Lächeln

Der Zigeuner und die Jungfrau

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Als die Frau des Vikars mit einem jungen Habenichts durchbrannte, gab es eine Entrüstung ohne Grenzen. Ihre beiden kleinen Mädchen waren doch erst sieben und neun Jahre alt. Und der Vikar war ihr ein so guter Mann. Gewiß, er hatte graues Haar. Aber sein Schnurrbart war noch schwarz, er sah gut aus, und er war seiner leidenschaftlichen und schönen jungen Frau mit stummer Glut zugetan.

Warum ging sie davon? Warum brannte sie mit einer derartig aufregenden Plötzlichkeit durch, als hätte sie den Verstand verloren?

Niemand wußte die Frage zu beantworten. Bis auf die Frommen: die sagten, sie wäre eine Verworfene. Ein paar von den guten, also nicht verworfenen Ehefrauen schwiegen dazu. Sie kannten den Grund.

Die beiden kleinen Mädchen erfuhren ihn nie. Sie waren tief getroffen und kamen zu dem Schluß, daß ihre Mutter sich nichts aus ihnen gemacht habe.

Der böse Wind, der noch niemals Irgendwem etwas Gutes zugeblasen hat, fegte die Vikarsfamilie mit schlimmem Stoß hinweg. Aber man sehe und staune: Da bekommt der Vikar, der sich mit einiger Auszeichnung durch Aufsätze und Streitschriften hervorgetan hat und der sich durch sein Schicksal das Mitgefühl der Gelahrten erwarb, die Pfarre in Papplewick. Der Herr hat ihn gnädigen Sinnes vor dem Unheilswind in eine Pfarre im Norden gerettet.

Das Pfarrhaus war ein ziemlich häßliches Steingebäude; man sieht es, bevor man ins Dorf kommt, am Ufer der Papple liegen. Weiterhin, nachdem die Straße den Fluß gekreuzt hat, kommt man an die Steingebäude der alten Baumwollspinnereien, die sich früher ihre Antriebskraft aus dem Wasser holten. Dann schwingt sich die Straße hügelan, in die kahlen Steinstraßen des Dorfes.

Für die Vikarsfamilie bedeutete die Verpflanzung in die Pfarrstelle eine gründliche Veränderung. Der Vikar – oder vielmehr jetzt: der Pfarrherr – holte sich seine alte Mutter, seine Schwester und auch einen seiner Brüder aus der Stadt herbei. Die beiden kleinen Mädchen lebten nun in einer ganz anderen Umwelt als früher.

Der Pfarrer war zu dieser Zeit siebenundvierzig Jahre alt; er hatte sich nach der Flucht seiner Frau einem heftigen und nicht eben durch Würde gehemmten Kummer hingegeben. Mitfühlende Damen hatten ihn vom Selbstmord zurückgehalten. Sein Haar war nun fast weiß, und er blickte aus wilden Augen mit tragischem Ausdruck um sich. Man brauchte ihn nur anzusehen, so wußte man gleich, wie furchtbar das alles war und wie schlimm das Geschick ihm mitgespielt hatte.

Und doch war da irgendein falscher Ton in dem Ganzen. Und einige gerade von den Damen, deren Mitgefühl mit dem Vikar am tiefsten gewesen war, hatten gegen den Pfarrer so etwas wie eine heimliche Abneigung. Es war, wenn man ihn einmal recht besah, ein Zug versteckter Selbstgerechtigkeit in seinem Wesen.

Die kleinen Mädchen machten sich natürlich, in der noch unbewußten Art von Kindern, das in der Familie geltende Urteil zu eigen. ›Großmuttchen‹, die über Siebzig war und nicht mehr gut sah, spielte die Hauptrolle im Hause. Tante Cissie führte den Haushalt: über Vierzig, blaß, fromm, von einem verborgenen Leiden innerlich zernagt. Blieb noch Onkel Fred, ein kümmerlicher, graugesichtiger Mann von vierzig Jahren, der schmuddlig für sich hinlebte und jeden Tag zur Stadt fuhr. Nun, und der Pfarrer war natürlich die Hauptperson – nächst Großmuttchen.

Großmuttchen wurde ›Mater‹ angeredet. Sie gehörte zu den grobschlächtigen, gerissenen alten Haudegen, die ihr Leben lang ihren Willen kriegen, weil sie den Schwächen ihres Mannsvolks Butter aufs Brot zu schmieren verstehen. Und sie wußte sofort, wie das Ding anzufassen war. Der Pfarrer ›liebte‹ die Pflichtvergessene noch immer und würde sie lieben bis ans Grab. Also – psst: heilig war des Pfarrers Gefühl. In seinem Herzen beschlossen wie in einem Schrein war das reine Geschöpf, das er umworben und angebetet hatte.

Durch die böse Welt da draußen wanderte währenddessen eine mit Schande bedeckte Frau, die den Pfarrer betrogen und ihre kleinen Kinder verlassen hatte. Sie war nun an einen jungen und niederträchtigen Mann gefesselt, und er würde ihr ganz gewiß die Erniedrigung antun, die sie verdiente. Dies war mit aller Deutlichkeit klarzumachen, und dann – psst! Denn in der erhabenen Reinheit des pfarrherrlichen Herzens blühte noch immer im reinen Weiß eines Schneeglöckchens das Bild seiner jungen Braut. Das weiße Schneeglöckchen welkte nicht. Jenes andere Geschöpf, das mit dem niederträchtigen jungen Manne durchgebrannt war, hatte nichts damit gemein.

Also bestieg die Mater, die als Witwe in einem kleinen Hause ein bißchen an Würde und Bedeutung verloren hatte, ihren Thron im beherrschenden Lehnstuhl des Pfarrhauses und pflanzte ihren massigen alten Leib wieder fest in den Boden. Sie würde sich nicht wieder entthronen lassen. Listig weihte sie der pfarrherrlichen Treue für das weiße Schneeglöckchen einen ehrfürchtigen Seufzer, während sie Mißbilligung dafür heuchelte. Mit listig betonter Ehrfurcht vor der großen Liebe ihres Sohnes unterdrückte sie jedes abfällige Wort gegen die Nessel, die jetzt draußen in der bösen Welt wucherte und einst den Namen Mrs. Arthur Saywell geführt hatte. Da sie sich wieder verheiratet hatte, hieß sie jetzt, Gott sei Dank! nicht mehr Mrs. Arthur Saywell. Keine Frau trug den Namen des Pfarrherrn. Das reine weiße Schneeglöckchen blühte in perpetuum, ohne Benennung. Und in den Gedanken der Familie lebte es als ›sie, die einst Cynthia war‹.

Das alles war Wasser auf die Mühle der Mater. Es sicherte sie gegen die Gefahr, daß Arthur sich wieder verheiratete. Sie gängelte ihn an der schwächsten aller Schwächen: an seiner heimlichen Eigenliebe. Er hatte ein unvergängliches weißes Schneeglöckchen geheiratet. Der Glückliche! Ihm war Leid geschehen. Der Arme! Er hatte gelitten. Aber ach, welch ein wahrhaft liebendes Herz! Und er hatte – verziehen! Ja, dem weißen Schneeglöckchen war verziehen worden. Er hatte der Ungetreuen sogar in seinem letzten Willen gedacht, für den Fall, daß der Andere, der Schurke, einmal – – Aber psst! Nicht einmal in Gedanken sollte man der Nessel da draußen in der verderbten Welt zu nahe kommen! ›Sie, die einst Cynthia war.‹ In unzugänglicher Höhe soll das weiße Schneeglöckchen auf dem Gipfel der Vergangenheit blühen. Die Gegenwart steht auf einem anderen Blatt.

In dieser Luft, gemischt aus Gerissenheit, Selbstheiligung und bewußtem Verschweigen, wuchsen die Kinder auf. Auch sie sahen das Schneeglöckchen auf unzugänglicher Höhe blühen. Auch sie wußten, daß es in einsamem Glanze über ihrem Leben thronte, auf ewig unberührbar.

Dennoch drang zuweilen aus der unreinen Welt ein böser Pesthauch von Selbstsucht und verderbter Lust herein: der Hauch von jener Nessel, von ›ihr, die einst Cynthia war‹. Die Nessel brachte es tatsächlich fertig, von den beiden kleinen Mädchen, ihren Töchtern, dann und wann ein Briefchen zu ergattern. Und die silberhaarige Mater bebte insgeheim vor Wut. Denn wenn ›sie, die einst Cynthia war‹, jemals wiederkam, dann würde von ihr, der Mater, nicht viel übrig bleiben, das wußte sie. Ein heimlicher Strom des Hasses ging von der Großmutter aus und traf die beiden Mädchen: Waren sie doch die Kinder jener geil wuchernden Nessel, jener Cynthia, die der Mater mit so leidenschaftlicher Verachtung begegnet war.

Für die Kinder mischte sich mit alledem eine vollkommen deutliche Erinnerung an ihr eigentliches Heim, an das Vikarshaus im Süden, und an Cynthia, ihre zauberhafte, aber nicht eben verläßliche Mutter. Ein großer Glanz war um sie gewesen, ein Flutwirbel von Leben, wie eine fliegende und gefährliche Sonne kam und ging sie, kam und ging sie im Hause. Die Erinnerung an sie war für immer eine Erinnerung an Glanz, aber auch an Gefahr; an Zauber, aber auch an beklemmende Selbstsucht.

Nun war der Zauber dahin, und frierend stand, wie eine porzellanene Blüte, das weiße Schneeglöckchen auf seinem Grabe. Nicht minder dahin war die Gefahr der Unstetigkeit, war jene besonders gefährliche Art von Selbstsucht, bei der man an Löwen und Tiger denken mußte. An ihre Stelle war eine vollkommene Stetigkeit getreten, in der man ganz ungestört zugrunde gehen konnte.

Aber die Beiden gingen nicht zugrunde – sie wuchsen heran. Und je größer sie wurden, um so deutlicher wurde ihre Verwirrung, ihre Verwunderung, ihr Erstaunen vor dem Leben. Die Mater verlor im Altern immer mehr ihr Augenlicht. Sie mußte sich im Hause umherführen lassen. Sie stand erst gegen Mittag auf. Aber blind oder nicht, bettlägerig oder nicht – sie gab die Herrschaft im Hause nicht aus der Hand.

Übrigens war sie gar nicht bettlägerig. Sobald sie die Männer im Hause wußte, saß die Mater auf ihrem Thron. Sie war zu schlau, um sich zur Nachlässigkeit verlocken zu lassen. Besonders da sie Nebenbuhlerinnen hatte.

Ihre eigentliche Nebenbuhlerin war Yvette, die jüngere der beiden Schwestern. Yvette hatte etwas von der ungreifbar schweifenden, achtlosen Heiterkeit der entschwundenen Cynthia. Nur daß sie lenksamer war. Die Mater hatte sie vielleicht noch rechtzeitig in den Zügel genommen. Vielleicht –!

Der Pfarrer war vernarrt in Yvette und verzog sie mit seiner blind verliebten Zuneigung; auf eine Art, die immer zu sagen schien: Bin ich nicht ein weichherziger, nachgiebiger alter Knabe? Er gefiel sich in dieser Rolle, und die Mater kannte seine Schwächen haargenau. Sie kannte sie und schlug Kapital daraus, indem sie lauter schmückende Vorzüge und gute Eigenschaften daraus machte. Er sah sich gern im Besitz bestrickender Eigenschaften, so wie Frauen sich gern im Besitz bestrickender Kleider sehen. Und die Mater klebte klug und umsichtig Schönheitspflästerchen auf seine Mängel und Gebrechen. Ihre Mutterliebe verlieh ihr eine hellsichtige Erkenntnis seiner Schwächen, und sie verbarg sie vor seinem Blick unter ehrendem Schmuckwerk. Wohingegen ›sie, die einst Cynthia war‹ – Aber nicht einmal erwähnen sollte man sie in solchem Zusammenhang. In ihren Augen war doch der Pfarrer beinahe ein Krüppel und ein Idiot gewesen.

Hier ist die wunderliche Tatsache zu erwähnen, daß die Mater insgeheim Lucille, die ältere Schwester, gründlicher haßte als die verzogene Yvette. Lucille, schwierig und reizbar, empfand die Macht der Mater mehr und schwerer als die verzärtelte und ungreifbar schweifende Yvette.

Tante Cissie wiederum haßte Yvette. Sie haßte schon den Namen – ›Yvette‹. Tante Cissie hatte ihr ganzes Leben der Mater geopfert, und Tante Cissie wußte es, und die Mater wußte, daß sie es wußte. Im Laufe der Jahre freilich war eine Überlieferung, ein vertraglicher Zustand daraus geworden. Dieser überlieferte Zustand wurde von Allen anerkannt, Tante Cissie selbst mit einbegriffen. Diese Erkenntnis spielte eine große Rolle in ihren Gebeten. Womit wiederum bewiesen ist, daß auch sie irgendwo ihr eigenes und selbständiges Empfinden hatte, die Arme. Sie war kein eigener Mensch namens Cissie mehr, sie hatte ihr Leben und ihr Geschlecht eingebüßt. Und nun, da sie den Fünfzigern zuschlich, flackerten zuweilen seltsame grüne Flammen der Wut in ihr auf, und in solchen Augenblicken war sie wie von Sinnen.

Aber die alte Mater hatte sie und ließ sie nicht los. Tante Cissie hatte nur eine Aufgabe im Leben: sie mußte für die Mater sorgen.

Dieser höllische Haß, der manchmal wie grüne Flammen in Tante Cissie aufschoß, richtete sich gegen alles, was jung war. Dann betete sie, die Arme, und versuchte vom Himmel Vergebung zu erlangen. Sie aber konnte nicht vergeben, was ihr angetan war, und zuweilen hatte sie siedendes Gift in den Adern.

Nun muß man nicht glauben, daß die Mater eine warme, gütige Seele war. Das war sie keineswegs. Sie verstand es, pfiffig, wie sie war, nur zu scheinen. Und den Enkelinnen dämmerte allmählich die Erkenntnis ihres wahren Wesens. Unter ihrem altmodischen Spitzenhäubchen, unter ihrem Silberhaar, unter der schwarzen Seide, die sich über ihrem stämmigen, kurzen, vorgewölbten Körper spannte, verbarg die alte Frau ein schlau berechnendes Herz, das immer und immer nur auf Erhaltung ihrer weiblichen Macht sann. Mit der Schwäche der unfrischen, unlebendigen Männer hatte sie diese Macht gleichsam großgefüttert, und sie hielt sie unwandelbar fest, indessen ihre Jahre dahinflossen: vom siebzigsten zum achtzigsten und vom achtzigsten, mit neuem Anlauf, dem neunzigsten entgegen.

Denn es gab da ein überliefertes Familiengesetz, das ›festes Zusammenhalten‹ verlangte: Zusammenhalten Aller untereinander, vor allem aber im Verhältnis zur Mater. Die Mater war natürlich die Achse, um die sich das Leben der Familie drehte. Die Familie war eigentlich nur ihr erweitertes Ich. Die Macht, unter der sie die Familie hielt, war Naturgesetz. Da ihre Söhne und Töchter schwach waren, jeder für sich ein unselbständiger Splitter, so waren sie natürlich zum ›Zusammenhalten‹ geneigt. Denn – fanden sie draußen, außerhalb der Familie, etwas anderes als Gefahr und Kränkung und Schmach? Vorsicht also! hieß die Losung. Vorsicht und Zusammenhalten gegenüber der bösen Welt! Mochte es auch innerhalb der Familie noch so viel Haß und Reiberei geben – darauf kam es nicht an. Der Welt gegenüber mußte die Familie ein Wall unzerstörbarer Einheit sein.

2

Inhaltsverzeichnis

Aber erst, als die beiden Schwestern endgültig von der Schule heimkamen, fühlten sie das volle Gewicht, mit dem die tote alte Hand der Mater auf ihrem Leben lastete. Lucille war damals fast einundzwanzig, Yvette neunzehn. Sie hatten eine gute Mädchenschule besucht und waren dann ein abschließendes Jahr in Lausanne gewesen; nun waren sie genau das, was man erwarten durfte: schlanke junge Geschöpfe mit frischen, beweglichen Gesichtern, mit kurzem Haar und jungenhaften Ich-scher-mich-den-Teufel-Manieren.

»Was ich so scheußlich öde in Papplewick finde,« sagte Yvette, indessen sie auf dem Kanaldampfer standen und die grauen, grauen Klippen von Dover langsam näherrücken sahen, »-es sind überhaupt keine Männer da. Weshalb hat Papa nicht ein paar nette alte Kerle in seiner Freundschaft? Na, und Onkel Fred – ich danke!«

»Oh, man weiß doch nie – es kann ja was auftauchen«, sagte Lucille, die mehr zu weltweiser Betrachtung neigte.

»Tu nicht so, als ob du nicht wüßtest, was uns erwartet«, sagte Yvette. »Sonntags Chorgesang, und ich kann gemischten Chor nicht ausstehen. Jungenstimmen allein sind entzückend, aber es dürfen keine Frauenstimmen dazwischen kommen. Na, und Sonntagsschule, und Jungfrauenverein, und gesellige Zusammenkünfte – alle die lieben alten Seelen, die wissen wollen, wie es Großmuttchen geht. Meilenweit nicht ein einziger netter Junge.«

»Na, ich weiß doch nicht –!« sagte Lucille. »Da sind doch schließlich immer noch Framleys. Und Gerry Somercotes himmelt dich an, das weißt du doch.«

»Ich kann Bengels, die mich anhimmeln, nicht ausstehen!« rief Yvette und kehrte ihre nervöse Nase zum Himmel. »Sie öden mich an. Sie hängen Einem an wie Blei.«

»Also anhimmeln sollen sie dich nicht. Schön. Aber was verlangst du denn eigentlich? Ich finde es furchtbar nett, sich anhimmeln zu lassen. Daß man sie nicht heiratet, versteht sich von selbst – also weshalb sollen sie nicht himmeln, wenn es ihnen Spaß macht?«

»Ich will mich aber verheiraten«, rief Yvette.

»Schön. Dann laß dich doch von ihnen anhimmeln, bis du einen darunter findest, der allenfalls fürs Heiraten in Frage kommt.«

»Auf die Art finde ich nie einen. Nichts bringt mich dermaßen auf wie ein augenverdrehender Verehrer. Sie öden mich an! Mir wird hundsmiserabel davon.«

»Mir auch, wenn sie Einem zu nahe rücken. Aber aus einiger Entfernung finde ich sie ganz nett.«

»Ich möchte mich mal ganz furchtbar verlieben.«

»Das sieht dir ähnlich! Ich nicht! Ich würde es abscheulich finden. Du wahrscheinlich auch, wenn es dir tatsächlich passierte. Und schließlich müssen wir uns wohl erst mal ein bißchen einleben, bevor wir wissen, was wir wollen.«

»Aber findest du es nicht auch scheußlich, daß wir jetzt wieder nach Papplewick müssen?« sagte Yvette und kehrte ihr nervöses Näschen zum Himmel.

»Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen. Gewiß, wie werden uns wohl ein bißchen langweilen. Ich wollte, Papa schaffte sich einen Wagen an. Wahrscheinlich müssen wir unsere alten Fahrräder wieder aus dem Stall holen. Wär's nicht nett, mal wieder nach Tansy Moor hinaufzufahren?«

»Oh, entzückend! Wenn es auch ein gräßliches Stück Arbeit ist, so eine alte Tretmühle die Hügel hinaufzustrampeln.«

Das Schiff näherte sich den grauen Klippen. Es war Sommer, aber der Tag war grau. Die beiden Mädchen hatten die Pelzkragen ihrer Mäntel hochgeklappt und ihre flotten kleinen Hüte über die Ohren herabgezogen. Hochgewachsen waren sie, schlank, mit frischen Gesichtern, unverbildet kindlich, dabei selbstbewußt, allzu selbstbewußt in ihrem schulmädchenhaften Dünkel – und in alledem so furchtbar englisch. Sie schienen so frei – und waren natürlich innerlich in lauter Vorurteile verwickelt und verstrickt[1q]. Sie schienen so kühn und unabhängig – und waren in Wahrheit natürlich ganz und gar abhängig und in sich selbst wie in einen Käfig eingesperrt. Sie sahen aus wie mutige, schlanke Segler, die eben aus dem Hafen auf das weite Meer des Lebens hinausfahren. Und sie waren natürlich nichts weiter als zwei arme steuerlose Lebensschiffe, die vom einen Ankerplatz nur losgekettet waren, um zum anderen zu treiben.

Als sie ins Pfarrhaus kamen, fuhr ihnen ein Frösteln ins Herz. Es kam ihnen häßlich, fast schmutzig vor; es hatte die muffige Atmosphäre jener kleinbürgerlichen, ungepflegten Behaglichkeit, die aufgehört hat, behaglich zu sein und nur noch staubig und unsauber ist. Das unfreundliche steinerne Haus mutete sie beklemmend unsauber an, sie hätten nicht zu sagen gewußt, warum. Die schäbigen Möbel schienen ihnen irgendwie schmutzig – nichts im ganzen Hause atmete Frische. Sogar das Essen, das auf den Tisch kam, hatte jene abscheuliche trostlose Gewöhnlichkeit, die für ein ›von draußen‹ kommendes junges Geschöpf so ekelerregend ist. Rostbraten und nasser Kohl, kaltes Hammelfleisch und Kartoffelbrei, saure Gurken und unentschuldbare Puddinge.

Großmuttchen, die ›gern ein Häppchen Schweinernes aß‹, bekam auch besondere Gerichte, Fleischbrühe und Zwieback oder ein Schüsselchen mit duftendem Eierrahm. Die graugesichtige Tante Cissie aß überhaupt nichts. Sie saß stumm am Tisch und legte sich nichts weiter als eine einzige einsame nackte gekochte Kartoffel auf den Teller. So saß sie mit bösartiger Beharrlichkeit während der ganzen Mahlzeit, indessen Großmuttchen eilig das für sie Zubereitete hinunterschlabberte – man konnte von Glück sagen, wenn sie sich dabei nicht den vorgewölbten Bauch bekleckerte. Was auf den Tisch kam, war in keiner Weise verlockend; wie konnte es das auch sein, wenn Tante Cissie alles Eßbare, ja den Vorgang des Essens selbst verabscheute und niemals ein Dienstmädchen auch nur ein Vierteljahr im Hause halten konnte? Die beiden Schwestern aßen mit Widerwillen, wobei Lucille wacker Haltung wahrte, während Yvettes empfindsames Näschen deutlich ihre Abneigung ausdrückte. Nur der Pfarrer, weißhaarig, machte eine Ausnahme: er wischte seinen langen grauen Schnurrbart mit dem Mundtuch und machte behaglich seine Witzchen. Auch er begann schwerfällig und träge zu werden, da er den ganzen Tag in seinem Studierzimmer saß und jede körperliche Anstrengung mied. Aber er riß immerzu seine spöttischen Witzchen und saß behaglich unter der schirmenden Obhut der Mater.

Die Landschaft mit ihren steilen Hügeln und ihren tiefen, schmalen Tälern war ernst und düster, aber es lag eine ganz eigene mächtige Kraft darin. Zwanzig Meilen entfernt begann die schwarze Industriegegend des Nordens. Aber das Dorf Papplewick war so etwas wie eine Insel, und das Leben darin war steinig und starr. Alles war aus Stein und von einer schroffen Härte, die in ihrer Unnachgiebigkeit beinahe etwas Erhabenes hatte.

Alles traf ein, wie es die Schwestern vorausgesehen hatten: sie traten wieder in den Chor ein, sie halfen in der Kirchspielarbeit. Aber Yvette wehrte sich entschieden gegen die Sonntagsschule, den Hoffnungsbund und den Christlichen Jungfrauenverein – kurz gegen alle die Betätigungen, die von ausgemachten alten Jungfern und eigensinnigen, beschränkten ältlichen Männern ausgeübt wurden. Sie drückte sich soviel wie möglich um die Kirchenpflichten und verließ das Pfarrhaus bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Die Framleys, eine große, schmuddelige, vergnügte Familie droben auf dem Grange, waren ihr da eine unschätzbare Zuflucht. Jede Einladung zu einer Mahlzeit außerhalb des Hauses nahm sie sogleich an, sogar wenn eine von den Arbeiterfrauen sie einlud, zum Tee zu bleiben. Sie spürte ein seltsames Gefühl der Erregung, wenn sie in solche Häuser kam. Sie unterhielt sich gern mit den Arbeitern; viele von ihnen hatten, fand sie, so prachtvoll geschnittene, hartlinige Köpfe. Aber sie lebten natürlich in einer anderen Welt.

So gingen die Monate hin. Gerry Somercotes war ein treuer Anbeter. Natürlich waren auch noch andere da – Söhne von Landwirten oder Mühlenbesitzern. Eigentlich hätte es für Yvette eine gute Zeit sein müssen. Es gab ununterbrochen Gesellschaften und Tanzabende, Freunde holten sie im Wagen ab und sausten mit ihr zur Stadt, zum Nachmittagstanz im vornehmsten Hotel oder in dem ›fabelhaften‹ neuen Tanzpalast, ›Pally‹ genannt.

Bei alledem ging sie immer umher wie unter einem hypnotischen Bann. Niemals fühlte sie sich so frei, daß sie wahrhaft heiter sein konnte. Tief in ihr wühlte unablässig ein unerträgliches Gefühl der Gereiztheit, die ihr selbst wie ein Unrecht vorkam, die ihr selbst verhaßt war, und die dadurch nur um so schlimmer wurde. Sie wurde sich niemals darüber klar, wodurch dieses Gefühl entstand.

Zu Hause war sie tatsächlich äußerst reizbar und benahm sich gegen Tante Cissie abscheulich grob. Yvettes böse Launenhaftigkeit wurde sprichwörtlich in der Familie.

Lucille, die schon immer mehr zum Praktischen neigte, nahm in der Stadt eine Stellung als Privatsekretärin bei einem Manne an, der Jemanden mit fließendem Französisch und Stenographie brauchte. Sie machte die Fahrt zur Stadt und von der Stadt täglich im gleichen Zuge wie Onkel Fred. Aber sie fuhren niemals gemeinsam; Lucille radelte bei gutem wie bei schlechtem Wetter zum Bahnhof, und Onkel Fred ging zu Fuß.

Die beiden Schwestern waren sich in einem Punkte einig: Sie wollten ein wirklich kurzweiliges gesellschaftliches Leben führen. Und es war für sie ein immer neuer Anlaß zur Wut, daß das Pfarrhaus für ihre Freunde ›unmöglich‹ war. Im Erdgeschoß waren nur vier Räume: die Küche, in der die beiden mißvergnügten weiblichen Dienstboten hausten; das dunkle Speisezimmer; das Studierzimmer des Pfarrers; und das große, ›gemütliche‹, traurige Wohnzimmer, auch ›Salon‹ genannt. Im Speisezimmer war ein Gasofen. Nur im Wohnzimmer wurde ein richtiges wärmendes Feuer unterhalten. Denn hier war natürlich Großmuttchens Thron aufgeschlagen.