Der Zoo in Rom - Pascal Janovjak - E-Book

Der Zoo in Rom E-Book

Pascal Janovjak

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Beschreibung

Roms Zoo wurde 1911 mitten in der antiken Stadt eingeweiht. Entworfen hatte ihn Carl Hagenbeck, der berühmte deutsche Tierhändler. Dieser besondere Ort wird später so schillernde Figuren wie Mussolini, den Papst, Filmschauspielerinnen oder Salman Rushdie anziehen. - Kurz vor seinem hundertsten Geburtstag hat der Zoo viel von seinem einstigen Glanz verloren. Die neue Kommunikationschefin Giovanna soll für den Park eine PR-Strategie entwerfen, als sie dem algerischen Architekten Chahine begegnet, der auf geheimnisvoller Mission in Rom ist. Beide teilen die Faszination für einen Ameisenbären, den letzten Vertreter seiner Art, der das Objekt der eifersüchtigen Fürsorge eines ehrgeizigen Tierarztes und eines Wärters kurz vor der Pensionierung ist. Pascal Janovjaks Roman ist eine außergewöhnliche Zeitreise durch das 20. Jahrhundert. Er verstrickt seine Figuren in ein kurzweiliges Abenteuer, das nicht nur die Bedeutung des Zoos in unterschiedlichen politisch-kulturellen Kontexten, sondern auch das Verhältnis der Menschen zu Tieren spiegelt.

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Seitenzahl: 253

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Pascal Janovjak

Der Zoo in Rom

Roman

Aus dem Französischenvon Lydia Dimitrow

Titel der französischen Originalausgabe:

Le Zoo de Rome

Copyright © 2019 by Actes Sud

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © der deutschen Übersetzung

2021 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild: Robert Havell nach John James Audubon,

American Flamingo, 1838. Washington, National Gallery of Art.

© akg-images

eISBN 978 3 85787 991 3

Der Autor

Pascal Janovjak, geboren 1975 in Basel als Sohn einer französischen Mutter und eines slowakischen Vaters, studierte Komparatistik und Kunstgeschichte in Strassburg. Er lehrte Französisch an der Universität Tripoli (Libanon), leitete 2002–2005 das Büro der Alliance française in Dhaka (Bangladesch) und unterrichtete anschliessend Literatur in Ramallah (Palästina). 2011 Schreibaufenthalt am Istituto Svizzero di Roma. Seither lebt er in Rom. Le Zoo de Rome ist sein dritter Roman. Er wurde mit dem Schweizer Literaturpreis, dem Publikumspreis von Radio Télévision Suisse und dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet.

Die Übersetzerin

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u. a. Stipendiatin in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin) und Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u. a. Joseph Incardona, Isabelle Flükiger, Bruno Pellegrino, Valérie Poirier). www.lydia-dimitrow.de.

Der Zoo in Rom

Sein Name ist Chahine Gharbi, er wurde am 18. April 1970 geboren und ist algerischer Staatsangehöriger. So hat er es vor fünf Minuten in den Anmeldebogen des Hotels eingetragen. Hier führt man ihn schlicht unter der 324, der Nummer des Zimmers, in dem er vom 28. Dezember bis zum 16. Januar, Frühstück inbegriffen, wohnen wird, und diese neue Identität kommt ihm nur gelegen.

In besagtem Zimmer steht er nun, im grauen Licht der Dämmerung. Seinen Mantel hat er noch nicht abgelegt. Ihm gegenüber führt ein Mann in Livree die Handgelenke zusammen, wie ein Gefangener, nur dass er die Daumen verschränkt und sanft die langen Finger spreizt, entfaltet, und so erheben sich seine Hände in den Himmel von Zimmer 324 – zwei grosse schwarze Schwingen mit weissen Unterseiten, sie steigen empor, gleiten durch das Grau der Dämmerung und schweben wieder hinab.

Unser Algerier bewundert den anmutigen Höhenflug der Hände, nur der Sinn der Darbietung scheint sich ihm nicht zu erschliessen, und als der Hotelpage die Vorhänge aufzieht, scheint er auch das gewaltige Bauwerk, das sich draussen zwischen den Schirmkiefern erhebt, nicht zu sehen. Aber er ist schliesslich müde, und er hat auch nichts gefragt. Doch der schwarze Mann lässt nicht locker, er schlägt Krallen in die Luft, reisst seinen Mund weit auf und verdreht die weissen Augen – vielleicht ein Tiger oder ein Löwe, denkt Chahine, schwer zu sagen, jetzt jedenfalls ein Affe: Der Page schwingt die langen Arme hin und her und springt in Zimmer 324 auf und ab, was zwar ziemlich eindrucksvoll wirkt, aber auch ebenso fehl am Platz. Chahine ist erleichtert, als sich die Zimmertür hinter dem Hotelangestellten schliesst, auch wenn der wirklich sein Bestes gegeben hat. Es ist doch ein Kreuz mit den Fremdsprachen, denkt der Page, als er sich zurück auf seinen Posten begibt, und genau dasselbe denkt auch Chahine, als er sich auf sein Bett setzt.

Seinen Mantel hat er immer noch nicht abgelegt. Neben ihm liegen ein Koffer, den er noch nicht aufklappen will, und ein Handy, das dringend aufgeladen werden müsste. Sein Blick wandert durch den Raum; er kennt dieses Zimmer, es sieht genauso aus wie so viele andere auch, an anderen Orten. Ein wenig grösser als nötig, gerade so viel, um einen Hauch von Luxus zu suggerieren. Der mit unbedingt rot-goldenem Stoff überzogene Sessel, das Bild an der Wand, dessen Motiv Chahine im Helldunkel des Raums nicht richtig erkennen kann.

Draussen heben sich die Umrisse der Schirmkiefern ab, die das Geflecht der imposanten Metallstruktur überragen. Die Halbkugel ist über zwanzig Meter hoch, ein Monument aus Luft und Linien aus Stahl, aus fast gleichseitigen Dreiecken, die zur Spitze hin immer kleiner werden. Ja, ein geometrisches Wunder, das jetzt noch schöner aussieht, da die Streben im Morgenlicht erglänzen, die ersten Sonnenstrahlen der Halbkugel zusätzliche Tiefe verleihen. Zwischen den Bäumen, die nach und nach in Farbe getaucht werden, und unter dem immer blauer werdenden Himmel fügt sich die Kuppel sanft in die Landschaft ein. Aber diesen Anblick lässt sich Chahine entgehen. Vollständig bekleidet, ist er eingeschlafen, seine Handflächen sind zur Decke gedreht, sein Mund steht offen. Wir haben keine Eile. Lassen wir ihn schlafen, seine Reise war lang.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es hier noch keine Kuppel aus Metallstreben, keine Schirmkiefern und auch noch kein Hotel. Nur eine Brache am Stadtrand, wildwucherndes Gras und ein paar unscharf abgesteckte und notdürftig bestellte Äcker. Unter dem Blick einer kleinen Gruppe von Honoratioren pflügt ein Bauer mit seinem Ochsen den lehmigen Boden um, während die Männer in Lackschuhen einem Mann folgen, der dabei ist, das Gelände zu vermessen.

Carl Hagenbeck trägt einen dichten Abraham-Lincoln-Bart in Weiss, was seine natürliche Autorität als Tierbändiger und -händler unterstreicht. Er ist ein Mann, der mit Schiffsladungen voller Tiger und Kannibalen die entlegensten Landstriche herbeizuholen vermag, ein Mann, der den Duft von Afrika verströmt, hinter dessen Rücken sich ein Kontinent von wilden Tieren, endlosen Savannen und undurchdringlichen Dschungeln auftut. Und all das fasziniert Rom sehr, wo doch hier höchstens vergilbte Statuen an die epischen Schlachten zwischen Mensch und Tier erinnern – Löwen aus Marmor, Adler mit gestutzten Flügeln, nichts als bröckelnde Mythologie. Rom sehnt sich nach Gebrüll in der Abenddämmerung, nach gefletschten Zähnen und gewetzten Messern, dem hitzig-dumpfen Klang der Trommel und dem Widerschein des Lagerfeuers auf einer dunklen Haut. Und das alles noch umso mehr, da es in Afrika für die Italiener nicht gut läuft. Missmutig müssen sie zusehen, wie ihre Nachbarn die Welt unter sich aufteilen, während sie noch dabei sind, ein Land aufzubauen. Aber eins nach dem anderen. Bis es zum nächsten Imperium reicht, gibt es erst mal einen Zoo.

Hier also ein Mann, der ihnen Afrika auf dem Silbertablett servieren kann, und zwar an Händen und Füssen zusammengebunden, und dazu noch Asien, Amazonien und die Pole. Mit Hagenbeck bringen Sie den Jardin d’acclimatation in Paris zum Erblassen – so hat man es Bürgermeister Ernesto Nathan versichert, und Ernesto Nathan hat keinerlei Anlass, daran zu zweifeln, wenn er sieht, wie der grosse Deutsche mit einem breiten Lächeln das riesige Baugelände abschreitet, wo inzwischen Heerscharen von Arbeitern graben, schichten und planieren, während Züge von Percherons die Erde schleppen. Nathan allerdings lächelt nicht, er fragt sich eher, wie viel ihn das alles kosten wird, schliesslich ist er auch noch dabei, einen Justizpalast, ein Olympiastadion und ein Nationaldenkmal für Vittorio Emanuele errichten zu lassen, und zwar kein kleines, von weitem wird man es sehen können, wie den Eiffelturm. Das ist eine kostspielige Angelegenheit, wie er Hagenbeck versichert, doch der lächelt nur weiter und steigt elegant über die Pfützen hinweg, die der andere umrunden muss. Ohne sich übermässig mit derartigen finanziellen Details aufzuhalten, führt der Deutsche seine unerschütterliche Vision vom modernen Zoo aus, ganz nach dem Vorbild des Tierparks, den er in Hamburg bereits gebaut hat: Es reicht längst nicht, Bäume zu pflanzen und Alleen anzulegen. Das ganze Gelände will gestaltet werden, ein Gefälle muss modelliert, Hügel müssen aufgeschüttet werden, damit sie als Bühne für das tierische Leben dienen können. Gräben braucht es, die dem Besucherauge verborgen bleiben; so können die Eskimos im Vordergrund, das Damwild dahinter und zuletzt die Eisbären platziert werden – oder eben Nubier, Antilopen und Tiger, ganz wie Sie wünschen. Auf keinen Fall Zäune, keine Gitter: Der Besucher soll mit einem einzigen Blick erfassen können, wie die verschiedenen Spezies vor seinen Augen friedlich vereint Seite an Seite leben, in der Illusion von völliger Freiheit. Nathan erkennt durchaus den Reiz in alldem, auch wenn hier nie die Rede davon war, Eskimos auszustellen, die seiner Meinung nach nun wirklich etwas anderes sind als Eisbären – wie auch immer, sagt Hagenbeck, dann nehmen wir eben Robben, das Wichtigste ist, sich zumindest ein wenig an die klimatischen Zusammenhänge zu halten. Dort hinten bauen wir das Amphitheater für die Tierdressurnummern, mit zweitausend Plätzen, und hier das grosse Restaurant, wo man dann Wiener Schnitzel essen kann.

Hagenbeck lächelt, denn noch nie standen ihm so viel Platz und so viele Mittel zur Verfügung: Während der kleine Römer Bürgermeister jeden Pfennig umdreht, schafft er, Carl Hagenbeck, das Paradies auf Erden.

Als er das Hotel verlässt, ist Chahine schon aufnahmefähiger: Nach dem Aufwachen hat er sogar daran gedacht, seine Magnetstreifenkarte in das Kästchen neben der Tür zu stecken, so dass nicht nur das ganze Zimmer, sondern auch sein Handydisplay hell aufleuchtete. Damit hat er alles, was er jetzt braucht, ein einigermassen aufgeladenes Telefon, einen schwarzen Aktenkoffer, der ihn seriös aussehen lässt, ein sauberes Hemd und ein rasiertes Kinn. Nur spät dran ist er: schon dreizehn Uhr; auf dem Weg die Aussentreppe hinunter tippt er die Adresse des Restaurants ein, in dem man auf ihn wartet.

Chahine muss sich konzentrieren, darf an nichts anderes denken, muss den kleinen blauen Punkt, also sich, die Strecke entlangmanövrieren, auf der das Navigationssystem ihn auf direktem Weg zum Ziel führt: erst links, dann die erste wieder links, dann immer geradeaus bis zum roten Marker. Eine lächerliche Distanz von siebenhundertvierzig Metern, auf der Chahine trotzdem mehrmals nur knapp einem Zusammenstoss entgeht: erst mit einem schlechtgeparkten Auto, dann mit einem Hund, dann mit dessen Herrchen, seine Augen kleben am Display und an dem zögerlich voranrückenden kleinen blauen Punkt, der nach links schwenkt, als sein Pendant aus Fleisch und Blut in eine leicht erhöhte, zu beiden Seiten von einem Gitterzaun gesäumte Strasse einbiegt. Die Strasse durchquert auf dem Bildschirm eine grosse graue Fläche ohne weitere Orientierungspunkte, denn der Zoo ist kein öffentliches Gelände – aber das fällt Chahine nicht auf.

Fallen ihm auch nicht die Gerüche auf, die durch die Feuchtigkeit heraufsteigen? Die sonderbaren Laute, die Rufe, die durch den Pflanzenwuchs an seine Ohren dringen? Wir wissen es nicht. Bei Tieren ruft jede Wahrnehmung eine zumindest unmerkliche physische Reaktion hervor; bei den Menschen ist die Sache komplizierter, weil da das Unterbewusstsein dazwischenfunkt – ganz zu schweigen davon, dass Menschen nur zu gern so tun, als ob nichts wäre. Vielleicht zwingt sich Chahine in diesem Moment genau dazu: mit den Augen das Display zu fixieren, ja nicht die gigantische Voliere zu bemerken, die sich zu seiner Linken erhebt, auch nicht die Kunstfelsen, die auf beiden Seiten der Strasse emporragen, nicht das Direktionsgebäude, nicht den alten Eingang zum Reptilarium, nicht den Luftballonverkäufer, nicht die Luftballons, in deren Schnüren er sich jetzt hoffnungslos verheddert; vergeblich versucht er, sich aus der verwickelten Falle zu befreien, und unterdrückt einen Fluch.

Chahine gibt auf. Er steht vor dem Eingang zum Zoo, das lässt sich nicht bestreiten, es ist sogar zu beiden Seiten des gewaltigen Portals in Grossbuchstaben eingraviert: GIARDINO ZOOLOGICO – ein grimmiger Elefant sieht von einem der imposanten Torbogen zu ihm herab, und auch der Löwe, der von der Mauer herunterbrüllt, hat ihn im Blick.

Es ist Wochenanfang, der Platz liegt ausgestorben da, und die Zeit steht still. Durch die Akanthusblätter an den Säulen geht kein Wind. Der brüllende Löwe auf seinem Sockel rührt sich nicht mehr, der Rüssel des Elefanten ist zu Stein gefroren, die Allegorien, die das Bauwerk überragen, sind erstarrt, genauso wie Chahine: vollkommen reglos, eine Statue. Nur der kleine Ballonverkäufer ist in Bewegung, emsig umkreist er den unachtsamen Spaziergänger und dessen Aktenkoffer und versucht, seine Schnüre zu entwirren. Sobald er fertig ist, werden die Wolken wieder ins Grau des Dezembers gleiten, wird das Leben wieder seinen Gang gehen und auf dem Handydisplay ein kleiner blauer Punkt in eine nichtkartographierte Zone schweben.

Das majestätische neobarocke Eingangsportal des Zoos ist nicht das Werk Carl Hagenbecks; der seufzt, als er den von einem gewissen Brasini eingereichten Entwurf sieht: Er hätte etwas mehr im Jugendstil bevorzugt, mehr wie in Hamburg, und seine Mitarbeiter, ein Stab aus wenig kompromissbereiten deutschen Architekten und Landschaftsgestaltern, teilen seine Einschätzung. Allerdings befindet sich einer unter ihnen, der im Stillen die brüllenden Löwen und das italienische Können bewundert. Auf Fotos aus der Zeit hält er sich stets im Hintergrund, ein wenig unheimlich wirkt der Kerl mit seinem grossen schwarzen Hut, dem Prophetenbart und einem Blick, der, wenn er sich nicht ausserhalb des Bildes verliert, das Objektiv regelrecht zu durchbohren scheint. Er wiederum ist Schweizer und ebenfalls Tierbildhauer; man hätte auch ihn mit den Statuen am Eingang betrauen können. Aber dazu reicht sein Talent nicht aus, vielleicht weil er seine Modelle zu sehr liebt. Man erzählt sich, dass er Hyänen züchtet. Dass er Fleisch mitsamt der Knochen verspeist. Dass er brüllt, wenn es dämmert. Mit einem Blick auf seine Fingernägel raunt man sich zu, dass er nach Einbruch der Dunkelheit die Strassen von Zürich in Begleitung einer Löwin durchstreift. All das entspricht auch voll und ganz der Wahrheit, allerdings sei angemerkt, dass die Löwin eine Leine trägt – und wenn er sie nachts ausführt, dann, weil die Zürcher Polizei ihn gebeten hat, es nicht mehr am Tag zu tun.

Aber Hagenbeck hat ihn weder wegen seiner Schwäche für Raubkatzen kommen lassen noch wegen seiner Fähigkeiten als Bildhauer. Urs Eggenschwyler ist ein Meister des Zementrabitz, eines Verfahrens, bei dem ein Holzgebälk mit einem Netz aus Draht verkleidet und mit Zement verputzt wird: Mühelos kann man so inzwischen Grotten, Pyramiden oder Felsen nachbilden. Schon die Polarlandschaft im Hamburger Tierpark war Eggenschwylers Werk, Hagenbeck zählt auf ihn. Denn mehr noch als die Tiere und Pflanzen machen in Wirklichkeit die falschen Felsen einen Zoo aus. Emporragende Steilhänge, geheimnisvolle Klüfte, ganze Eisberge, die bis hierher getrieben zu sein scheinen, mitten in die unberührte Ebene der Stadt: Auch dafür kommen die Menschen, selbst wenn sie es vielleicht nicht wissen.

Urs Eggenschwyler ist allerdings weniger in der Welt herumgekommen als seine Eisberge, und es ist so aufregend für ihn, in Rom zu sein, dass er nicht oder nur schlecht schlafen kann. In der Nacht nach seiner Ankunft hat er von seinem Freund, dem zehn Jahre zuvor verstorbenen Maler Arnold Böcklin, geträumt. In einem langen weissen Gewand betrat Böcklin Urs’ Schlafzimmer, setzte sich auf dessen Bettkante und befahl ihm, ohne dabei die Lippen zu bewegen, auf dem im Zentrum des Zoos gelegenen See eine lebensgrosse Reproduktion seines berühmtesten Gemäldes anzufertigen, der Toteninsel.

Als Urs mit flirrendem Blick und zitternder Stimme von seinem Traum erzählt, hört Hagenbeck aufmerksam zu. Er nickt und legt Urs die Hand auf die Schulter. Er versteht, wie bedeutsam diese Vision und Böcklins Wunsch sind. Natürlich, die Toteninsel, dort in der Mitte des Sees, mit ihren Spitzen und Grüften und Zypressen – er nähert sein Gesicht dem fiebrigen Blick seines Freundes, seine buschigen Koteletten winden sich in dessen ausladenden Vollbart –, unter uns, ja, es erscheint mir geradezu zwingend, die Landschaft dieses mythischen Gemäldes hier, genau hier, nachzubilden. Aber die Römer … ich weiss schon, was sie mir antworten werden. Sie werden mir entgegnen, sie hätten schon die ganze Stadt voll Gräber. Sie sind nicht wie wir, haucht Hagenbeck, sie können die Geister nicht hören, wir sind die Einzigen, die etwas von diesen Dingen verstehen. Aber mach dir keine Sorgen, sagt er und löst behutsam seine Koteletten aus dem Bart des Bildhauers, wir werden sehen, ich werde mit ihnen sprechen, ich kümmere mich darum. Urs geht, mit glänzenden Augen und pochendem Herzen, während Hagenbeck bereut, im selben Hotel zu wohnen wie seine Mitarbeiter.

Wie jeden Morgen seit seiner Ankunft beugt er sich über die Pläne, die den Schreibtisch seiner Suite bedecken. Als Erstes fährt er mit dem Finger über das zukünftige Restaurant auf der Erhebung im Norden des Geländes. Ein grosses Restaurant, eine ausladende Terrasse, mit Blick auf den gesamten Park. Dann setzt Hagenbeck sich wie jeden Morgen auf einen schmiedeeisernen Stuhl, den es noch nicht gibt, mit dem Rücken zu einem Gebäude, das noch nicht gebaut ist, und betrachtet seinen Traum. Als Erstes legt er seinen rechten Ellenbogen auf die Armlehne und dreht sich nach Westen: In der Ferne schimmert die Spitze seines Eisbergs im Morgenlicht, in einer seiner Spalten leuchtet über dem Robbenbecken ein heller Punkt auf, ein Eisbär – ganz in der Nähe hüpfen fünf Kängurus vor der Uferböschung des Sees auf und ab, wo Rosaflamingos, Scharlachsichler und ein paar Purpurhühner ihr Gefieder schütteln. Jetzt streckt Hagenbeck die Beine aus und blickt direkt vor sich: Die Sonne glitzert auf dem ruhigen Wasser, zwei Mandarinenten setzen zum Flug an, sie gleiten über den See, dann über ein paar Gazellen und Zebras hinweg, und auf der grasenden Gruppe ruht der gnädige Blick der Raubkatzen, die im Schatten ihrer Höhlen in der Mittagshitze dösen. Mit etwas Glück mag man sogar zwischen dem Felsen der Löwen und dem der Tiger die neugierigen Höcker einer Nigrischen Giraffe vorbeiziehen sehen. Wunderschön, denkt Hagenbeck, eine Landschaft wie auf einer Postkarte. Und die will Eggenschwyler mit seiner Toteninsel verschandeln, die ganze Sicht würde sie versperren. Er muss um jeden Preis verhindern, dass Urs darüber mit irgendjemandem spricht, man weiss nie, am Ende gehen die Römer noch darauf ein. Sie wollten schon unbedingt ihr neobarockes Eingangsportal, das sagt wohl alles – und als Hagenbeck sich ein wenig nach links, nach Osten dreht, springt es ihm hinter dem Straussengehege, neben dem Elefantenhaus wieder ins Auge. Seit Tagen sagt er sich, dass hier etwas fehlt, um das Portal aus dem Panorama zu tilgen. Vielleicht etwas Kleines, damit die Ziegen und die Gämsen im Sonnenuntergang darauf herumhüpfen könnten. Das wäre doch hübsch. Das könnte ein Gegenstück zum Eisberg werden, und Urs wäre so lange beschäftigt.

Sie hatte den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen, ein leichter Regen kam auf, und die Tropfen trommelten auf das grüne Wasser des Beckens. Darin drehte eine einsame Robbe ihre Runden, wie eine dicke Rakete streifte sie die Zementwände entlang – als sie kurz ihren Kopf aus dem Wasser streckte und gähnte, war Giovanna überrascht, wie rot das Maul war, das zu diesem schmutzig grauen Körper gehörte: leuchtend rot und glänzend, mit einer spitzen Zahnreihe darin; sie hätte gar nicht gedacht, dass Robben ein so scharfes Gebiss haben. Dann schloss das Tier sein Maul wieder und kehrte zu seinem eintönigen Treiben zurück, und Giovanna setzte ihren Rundgang fort. Sie liess sich von dem leichten Gefälle leiten, das sie hinunter zu dem kleinen See und der »Oase« führte, aber an der Bar war niemand, der ihr einen Kaffee hätte ausschenken können, obwohl die Theke des Häuschens hell erleuchtet war. Ein paar Enten tummelten sich an der Uferböschung, aber vor allem war das geräuschvolle Gluckern der Pumpe zu hören, die versuchte, das verdreckte Wasser umzuschlagen. Hinter den Picknicktischen quietschten zwei Schaukeln im Wind, die man mit Flatterband abgesperrt hatte. Eine Holzbrücke führte auf die andere Seite des Sees zu einem mit totem Laub bedeckten Weg. Der üppige Pflanzenwuchs erstickte den Lärm der Stadt, tauchte alles in eine tiefe Stille, die nur vom Rauschen der Blätter und von den Lauten der Tiere durchbrochen wurde. Giovannas Einsamkeit wurde dadurch noch drückender; ab und zu erspähte sie das Gesicht eines Pflegers hinter einem Zaun, sie hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Der Direktor hatte ihr durchaus angeboten, sie zu begleiten, aber sie hatte abgelehnt; nur wurde ihr jetzt klar, dass sie vielleicht unerkannt, aber noch lange nicht unbemerkt blieb. Vielleicht taten ihr aschblondes Haar und ihre schlanke Gestalt ein Übriges – die Tiere zeigten sich allerdings von ihrer Erscheinung wenig beeindruckt: Nur ein Pfau, der ihren Weg kreuzte, und ein Kamel, das sie kauend aus seinem Unterstand heraus ansah, bedachten sie mit einem skeptisch-schrägen Blick. Vielleicht handelte es sich bei Letzterem auch um ein Dromedar, sie konnte nur den Kopf sehen, aber Giovanna hatte sich die Regel mit den Höckern ohnehin nie merken können, sie wäre nicht einmal sonderlich überrascht gewesen, wenn es plötzlich drei gehabt hätte. Sie kam am Tamandino africano und am Casuario elmato vorbei: Ihre Abbilder waren auf zwei Schilder gemalt, denen Giovanna entnahm, dass der Erste eine Art Ameisenbär war und der Zweite ein Strauss aus Neuguinea; beide waren vom Aussterben bedroht, und es wäre interessant gewesen, sie sich anzusehen, wenn diese zwei Vertreter hier es nicht vorgezogen hätten, unsichtbar zu bleiben. Giovanna machte sich also auf die Suche nach dem Bärengehege, von dessen Instandsetzung man ihr in den leuchtendsten Farben berichtet hatte, und überhaupt nach dem richtigen Weg, immer wieder stand sie ratlos am Ende einer Sackgasse, vor verschlossenen Toren und vergilbten Hinweisschildern. Der Plan, den man den Besuchern aushändigte, war kein grosser Wurf, oder hatte jemand über Nacht den Zoo umgebaut? Sie hätte doch jetzt vor dem Tigerfelsen stehen müssen und nicht vor der Treppe zur Grossen Voliere. Zugegebenermassen hatte Giovanna keinen sehr ausgeprägten Orientierungssinn. Vielleicht war es auch die Anspannung: Sie besuchte nicht zum ersten Mal den Zoo, aber vorher war sie nie für ihn verantwortlich gewesen. Die Neuigkeit war noch nicht verkündet worden, aber Giovanna Di Stefano war frischgebackene »Direktorin für Verwaltung und Kommunikation« – und dieser Doppeltitel sagte über die wirtschaftliche Lage des Zoos wohl ebenso viel aus wie die zerbrochenen Stufen, die Giovanna gerade hinaufstieg.

Jede ihrer Beobachtungen war Vorbote einer anstehenden Aufgabe, von der Instandhaltung der Anlagen bis zur Verwaltung der Finanzen. Aber was ihr vor allem Sorgen bereitete, war die Trägheit, von der alles erfasst war. Es gab hier nichts, was hervorstach, nichts, was mitriss. Wie sollte sie einen reglos mitten im Vogelmist sitzenden Storch verkaufen? Oder diesen auf seinem Ast dösenden Ibis? Keins der Tiere wirkte auf sie hier lebendiger als in einer Doku auf dem Plasmabildschirm. Wobei, sehen sich die Leute überhaupt noch Tierfilme an?, fragte sich Giovanna, während sie einen hinkenden, ziemlich gerupften Marabu betrachtete. Aus den Lautsprechern schepperte eine Ansage, der Park werde demnächst schliessen, und lange noch hallte die blecherne Stimme durch die menschenverlassenen Alleen. Sie befanden sich auf einem sinkenden Schiff. Die Privatunternehmen, die im Verwaltungsrat sassen, waren nicht bereit, auch nur einen weiteren Cent zu investieren, und schienen dem bevorstehenden Fiasko gleichgültig entgegenzusehen. Die Katze biss sich in den Schwanz: ohne Besucher kein Geld, ohne Geld kein attraktiver Zoo. Man durfte sich keinen Illusionen hingeben, man würde mit den kleinen Dingen, dem Allernotwendigsten anfangen müssen, die Basis überprüfen, den dringendsten Bedürfnissen nachkommen, dachte Giovanna, während sie dem Schild zum nächsten WC folgte.

Die Toiletten waren sauberer als erwartet, aber für ihren Geschmack trotzdem zu staubig. Es gab kein Toilettenpapier, in den Ecken hingen Spinnweben, es fehlte ein Spiegel. Bei den Männern würde es wohl nicht besser aussehen; um ganz sicherzugehen, holte sie noch einmal tief Luft, stiess nebenan die Tür auf und stand plötzlich einem Typen gegenüber, der an der Wand neben dem Waschbecken lehnte. Ich wollte nur kurz mein Handy aufladen, stammelte der Fremde sofort, als wäre er hier falsch und nicht sie, und sie war überrascht, als sie selbst anfing, verlegen zu stottern, während sie die Tür wieder zuzog; vielleicht waren es seine dunklen Augen gewesen, vielleicht auch, dass er französisch gesprochen hatte. Sie hatte kaum zwei Schritte getan, als sie ihre Fassung wiedergewann, sich ihre Position noch einmal vor Augen führte, und wahrscheinlich war auch ein Quäntchen Neugier dabei; jedenfalls machte sie kehrt, um dem Besucher zu sagen, dass der Zoo gleich schliessen werde. Der Mann hatte weder Zeit gehabt, sich zu rühren, noch sein betretenes Lächeln abzulegen, er nickte, und ihr fiel das Kabel auf, das aus seiner Hosentasche ragte und ihn mit der Steckdose an der Wand verband. Beim Anblick dieses Mannes, der sich selbst auflud, biss Giovanna sich auf die Lippen. Vielleicht würde ihre Arbeit doch amüsanter werden als gedacht – und wenn sie diesmal die Tür schnell wieder zuzog, dann weil sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

Hagenbecks Skizzen gehen reihum. Die Architekten arbeiten sie aus: Das Elefantenhaus wird in einem nüchternen Monumental-Jugendstil gehalten, für die Giraffen soll eine ihrer Grösse entsprechende Moschee entstehen, inklusive Dachgewölbe und Maschrabijja, und für die Strausse ein kleines maurisches Fort, wo weisse Steine sich mit schwarzen abwechseln, samt byzantinischer Kuppel. Auch die verborgene Seite des Dekors muss gestaltet werden: Die falschen Felsen sind hohl, sie lassen Platz für Verbindungsgänge, Lagerräume, Käfige. Die Pläne gehen zwischen den Ingenieurbüros und den Hotelzimmern hin und her, der Landschaftsarchitekt pflanzt ein paar Bäume hinein: Koniferen im nordischen Areal und Palmen überall sonst, Büsche, Sträucher und Farne, um alles an Infrastruktur zu verstecken und damit sich all die Tempel der Ferne in eine urwüchsige Vegetation einfügen können. Ein paar Korrekturen werden an die Seite gekritzelt, ein paar Schnörkel hinzugefügt, die Flachreliefs hinter den Raubkatzenfelsen, die man sich erst sumerisch vorstellt, sollen dann doch von den Inkas inspiriert sein und schliesslich babylonisch-aztekisch anmuten. Was auf dem Papier recht gut aussieht, wird erst schwieriger, als das Ganze in Beton gegossen werden soll und man die Entwürfe auf den Boden übertragen will. Es kommt zu Missverständnissen, Wände stehen nicht im Lot, Gräben durchschneiden Alleen, der Orang-Utan-Pavillon gerät krumm und schief, das Reptilienhaus wird mit Fenstern versehen, wo keine sein sollten. Die Italiener beginnen am gesunden Menschenverstand der Deutschen zu zweifeln, die Deutschen beginnen an den Dolmetschern zu zweifeln, es wird hitzig, Hüte werden zu Boden geworfen, widersprüchliche Entwürfe werden geschwenkt – und schliesslich rückt man sie wieder gerade, und alles löst sich in Wohlgefallen auf, oder zumindest fast. Es kommt der letzte Schliff. Jahrhunderte an Erosion werden auf die noch nicht ganz trockenen Felsen gemalt, die Amerikanischen Bisons bekommen ein paar somalische Hütten, die Hirsche ein indisches Dekor, zum Haarespalten bleibt keine Zeit. Es findet sich noch eine kleine Ecke für die Braunbären und das Wolfsrudel, es wird etwas eng, aber es geht schon.

Die italienischen Ingenieure rücken zu fünft an, Ernesto Nathan erwartet sie schon; in dem Bau, der einmal das Direktionsgebäude werden soll, hört er ihre schweren, sorgenvollen Schritte auf der Treppe – als sie eintreten, sehen sie sich nach allen Seiten um, sie wollen sichergehen, dass sie auch ja alleine sind, und dann legen sie los: Nichts geht mehr, signor sindaco, es ist die reinste Katastrophe, und der Zeitplan, sie reden alle gleichzeitig, führen die Fingerspitzen an die Daumen, fuchteln mit den Händen, reissen die Arme gen Himmel, deuten auf den Boden. Schliesslich versteht Nathan, dass die Beleuchtung noch einmal überdacht werden muss, was er schon wusste, dass aber auch das Kanalisationssystem eines zweiten Blicks bedarf, was ihm neu ist. Hagenbeck hat in erster Linie an das gedacht, was sich auf Blickhöhe befindet, an Landschaft und Tiere; was darüber- oder darunterliegt, ist dabei zu kurz gekommen. Allerdings haben sie keinen roten Heller mehr, es fehlt an Zement, es fehlt an allem und besonders an Zeit: un disastro, signor sindaco.

Der Bürgermeister von Rom verschränkt die Hände auf dem Rücken. Er macht zwei Schritte auf dem Parkett, das zwar noch mit Sägemehl bedeckt ist, aber schon knarrt. Er weiss, dass sie recht haben. Er dreht ihnen den Rücken zu und geht zum Fenster, er betrachtet das Matterhorn, wie es sich im Gegenlicht erhebt. Das Matterhorn in Rom, das ist schon etwas. Das hatte Hagenbeck auserkoren, um die Steinböcke darauf herumhüpfen zu lassen. Ja, das ist ein Anblick: die Linien des Baugerüsts vor der unförmigen Masse von Berg, sein gezacktes Relief. Ganz oben ist eine Gestalt zu erkennen, der üppige Bart lässt keinen Zweifel: Es ist Eggenschwyler, der Schweizer Bildhauer, der mit vollem Einsatz vergnügt und behände den Zement abzupft. Er jedenfalls scheint zufrieden.

Nathan löst die Hände aus ihrer Verschränkung. Hinter ihm haben die fünf Ingenieure immer noch ihre Finger zu den Daumen gespitzt, sie warten. Also dreht sich der Bürgermeister von Rom zu ihnen um und spricht. Es ist nur ein erster Entwurf der Rede, die er am 20. Juni 1910 im Teatro Argentina vor dem mit den Anteilseignern vollbesetzten Parkett halten wird, aber überzeugend ist er schon jetzt: Den Mutigen gehört die Welt, zusammengefasst. Und so steigen fünf Mutige die Treppe wieder hinunter, ihre Schritte sind schon weniger schwer, alles strotzt vor Tatendrang. Nathan wendet sich noch einmal zum Matterhorn, er muss an die Geschichten denken, die er als Kind gehört hat, von Babylon und Zikkurats; mit einer unwirschen Handbewegung wischt er sie weg.

Fast ein Jahrhundert später stand ein kleiner, kahlköpfiger Mann um die gleiche Zeit vor demselben Fenster. Die Landschaft dahinter war nicht mehr dieselbe, doch die interessierte ihn auch gar nicht, genauso wenig wie das, was der Zoodirektor in dem grossen Ledersessel hinter ihm von sich gab. Ihm hörte er schon lange nicht mehr zu, manchmal musste er ihm sogar den Rücken zudrehen, um ihn überhaupt zu ertragen. Was Guido Anselmo Moro interessierte, war die Frau, die da den Weg heraufkam. Durch seine kleine runde Brille hatte er sie genau im Blick: Gerade war sie aus der Unterführung aufgetaucht, sie hatte einen festen, federnden Schritt, der vielleicht ein wenig zu eilig war – widerstrebend blieb sie stehen, als sie vor dem Becken der Zwergflusspferde von einem Pfleger angesprochen wurde. Sie hatte Pech, sie hatte den einzigen Wärter erwischt, der etwas geschwätzig war; dreiundsechzig Jahre war er alt, und vierzig davon hatte er hier im Zoo verbracht: Er konnte Tausende von Anekdoten erzählen und liess auch keine Gelegenheit dazu aus, schon gar nicht, wenn es um eine hübsche Frau ging. Von seinem Fenster herab bewunderte Moro seine Taktik: wie er seinen Wasserschlauch fallen liess, um sich seinem Opfer zu nähern, es dabei keine Sekunde aus den Augen liess und die Schlinge seiner endlosen Geschichte immer fester zog. Moro liebte es zu beobachten: Er hatte einen Doktor in Verhaltensforschung, und er war wissenschaftlicher Leiter des Zoos. Er kannte also all dessen Bewohner und sämtliche Angestellten, und er wusste auch, um wen es sich bei der Frau mit den aschblonden Haaren handelte. Aber ihre Reaktion interessierte ihn. Er sah, wie sie die helle Hand aus der Manteltasche nahm, entschuldigend auf ein Ziel deutete, aber er bemerkte auch ihr Zögern, sah, wie der Oberkörper nicht ganz mit der Bewegung mitkam. Sicher wollte sie den alten Wärter, dessen Vorgesetzte sie bald wäre, nicht kränken. Aber schon hier lag sie falsch: Er, Doktor Moro, war für die Pfleger, ihre Rekrutierung und ihr Wohlbefinden verantwortlich, genauso wie er auch für die Tiere verantwortlich war. Aber das würde sie schnell begreifen. Was ihm mehr Sorge bereitete, war ihr Zögern. Moro kann zögerliche Menschen nicht ausstehen. Es ist zu gefährlich. Die Pfleger zum Beispiel: Sie zögern für einen kurzen Moment, in einem Gehege, und schon verlieren sie eine Hand. Denn Tiere zögern nicht. Sie hüten sich. Das ist etwas grundlegend anderes.