Der Zugvogel - Michael Voigt - E-Book

Der Zugvogel E-Book

Michael Voigt

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Beschreibung

Eine junge Frau sucht das Abenteuer. Ein ukrainischer Waisenjunge sucht seine Zukunft. Ein Reisender sucht das Vergessen. Eine Krankenschwester sucht den Neuanfang. Dazu ein wütendes Wildschwein und ein blauer Trabant. Ihre Wege kreuzen sich - mit ungeahnten Folgen für jeden von ihnen. Michael Voigts Erstlingswerk "Der Zugvogel" entstand 1998 und entführt in einige der schönsten Gegenden Deutschlands.

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Seitenzahl: 92

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Michael Voigt

Der Zugvogel

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1: Sonjas Zeit

Teil 2: Wege zum Ziel

Impressum neobooks

Teil 1: Sonjas Zeit

h e u t e

Der Wind weht nur noch sehr schwach. Verlassen liegt der Park, denn es wird Abend. Noch ist die Dämmerung nicht eingetreten. Dennoch legt sich langsam die Stille über das Wasser und durchdringt die dichten Kronen der Bäume am Ufer. Der Gesang der Vögel wird einsamer, seltener. Dass der vergehende Tag diesen Ort noch vor kurzem mit Betriebsamkeit ausfüllte, erscheint nun unwirklich, seltsam weit weg. Und so bin ich allein an diesem Ort der Erinnerung, allein an diesem Tag mit dem besonderen Datum. Die Vergangenheit flüstert mir zu. Sie erzählt eine Geschichte...

d a m a l s

1

Es war sehr heiß an diesem Julitag des Jahres 1995. Bauern bangten um das Korn auf den Feldern und waren doch froh über diese regenfreie Zeit, die ihnen so vieles erleichterte. Kinder genossen ihre Ferien und suchten im nächsten Badesee Abkühlung. Wer hingegen arbeiten musste, stöhnte unter der Hitze und sehnte den Feierabend herbei. Traktoren bollerten über Feldwege und Straßen. Am blauen Himmel zog ein Flieger seine einsame Bahn.

Inmitten dieser so alltäglichen Szene eines Sommertages ereignete sich der Auftakt zu einer Begegnung, wie sie nur die Zufälligkeiten des Lebens zu schreiben vermögen. Unbeeindruckt von der Temperatur und dem schlechten Zustand der Straße, bahnte sich ein blauer Trabant seinen Weg durch die winzigen Dörfer der Lausitz, deren Namen dem Durchreisenden sofort wieder aus dem Gedächtnis verschwanden. Der junge Mann am Steuer verschwendete auch keine Mühe darauf, seine Umgebung näher wahrzunehmen. Er hätte wohl gern ein wenig gedöst, kannte er den Weg doch wenigstens ungefähr.

Der 22 Jährige war in jeder Hinsicht unauffällig: Durchschnittliche Körpergröße, eine blonde Allerweltsfrisur, nicht besonders smartes Auftreten, keine teuren Kleidungsstücke oder Acessoires. Nur eines an ihm war ungewöhnlich: Sein Seelenzustand, den freilich niemand wissen konnte und den er sorgfältig verbarg. Auch vor sich selbst, denn er hatte Angst, sonst wieder an das denken zu müssen, wovor er auf der Flucht war. Jan floh vor sich selbst, vor den mitleidigen Blicken seiner Freunde und der Last, jeden Morgen aufs neue den gleichen Gedanken ertragen zu müssen: Es wird keine Hochzeit geben, du bist wieder allein...

****

Der stinkende, altersschwache Ikarus-Bus befuhr seine tägliche Route vom Lübbenauer Bahnhof nach Boblitze. Er quälte sich auf kaputten Dorfstraßen und durch enge Kurven, holperte wie jeden Tag über einen einsamen Bahnübergang und kam schließlich mit einem letzten Zischen zum Stehen. Sonja erhob sich und stieg als Einzige aus. Bis jetzt war alles wie immer. Wie jedes Jahr eben. Vorhersehbar, anscheinend ohne die Chance auf Ungewöhnliches.

„Hier verändert sich auch rein gar nichts“, murmelte das Mädchen vor sich hin, als sie sich umsah. Noch immer das gleiche marode Kopfsteinpflaster, der längst geschlossene und halb verfallene Konsum sowie die beschauliche Ruhe, in der sich das Dorf vor ihr ausbreitete. ‚Sogar ich mit meinen 19 Lenzen stehe jedes Jahr wieder an genau dieser Stelle’, dachte sie bei sich.

Wieso das so war, konnte sie sich selbst nicht recht erklären. Hätte jemand danach gefragt, was allerdings noch nie vorgekommen war, wäre ihre Antwort vermutlich recht nichtssagend ausgefallen. Dabei war Sonja nicht eben ein Mensch, der es liebte, Pläne zu machen. Spontaneität lag ihr viel mehr.

Doch zu Hause, im mecklenburgischen Örtchen Möllenhagen, brauchte gerade niemand eine frisch ausgelernte „Kaufmännisch-Technische Assistentin“. Vermutlich noch nicht einmal in 100 Jahren. Und so blieb Sonja eben kein Geld für einen Trip durch Südeuropa oder Kanada oder was sie sich sonst noch ersehnte... Stattdessen also Jahr für Jahr die Fahrt zu den Großeltern. Immerhin noch besser, als zu Hause zu versauern.

Genug sinniert, ermahnte sich das Mädchen innerlich. Sie blies sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, schnappte ihr Gepäck und marschierte los. Als sie wenig später das Tor des Bauernhofes öffnete, den ihre Großeltern bewohnten, glitt ein Lächeln über Sonjas Gesicht. Selbst das hatte sich nicht geändert: Opas Hund war zu faul zum Bellen. Schläfrig lag er in der Hitze, schaute zu ihr auf und blinzelte nur ganz leicht, blieb liegen und schloss bald wieder die Augen. Es lohnte sich offenbar nicht, für diesen Stammgast kostbare Kraft zu vergeuden...

****

Jan verwünschte sich innerlich für seine idiotische Idee, einfach ins Blaue drauflos zu fahren. Sonst plante er stets alles sorgfältig. Seinem Umfeld galt er als ruhiger, beinahe schon pedantischer Mensch. Aber dieses eine Mal hatte er nur so schnell wie möglich fort gewollt. Weg von allem, was vertraut war und Erinnerungen bergen konnte.

Die erste Station seiner Reise hieß Lübbenau. Der Ort war zumindest abseits der Plattenbauten ebenso historisch wie beschaulich und außerdem gerade vollgestopft mit Touristen. Freilich, ganz zufällig war Jan nicht hier. Er kannte das Städtchen immerhin von einem früheren, kurzen Aufenthalt her. Selbst in der Ferne suchen Menschen eben das Bekannte, den Halt, die Sicherheit.

So schien es nur natürlich, dass sein „Unterbewusstsein“ ihn den Weg hierher hatte einschlagen lassen. Vielleicht fand sich hier ja tatsächlich eine „Oase der Ruhe“, also das, was Jan zu suchen meinte. Zunächst aber gab es ein wesentlich banaleres Problem zu lösen. Seit zwei Stunden irrte er frustriert durch die Gassen der Altstadt, ohne ein preiswertes Quartier zu finden. In der Hochsaison kein sehr aussichtsreiches Unterfangen.

****

Geduldig hatte Sonja ihren Großeltern alle Fragen nach „Ma“ und „Pa“ beantwortet, versichert, dass es allen gut gehe und selbstverständlich liebe Grüße ausgerichtet. Später, nachdem sie in der kleinen Kammer ihre Sachen ausgepackt hatte, schlüpfte sie in ihre Shorts und ging hinüber zu einem alten Schuppen. Seit Jahrzehnten stand dort Omas Fahrrad. Ein wahrhaftes Ungetüm mit riesigem Lenker, großem Gepäckträger und einer Stabilität verheißenden Rahmenkonstruktion.

Nachdem Sonja die Reifen aufgepumpt und den Staub des letzten Jahres abgewischt hatte, konnte die Fahrt endlich losgehen. Die altmodisch geschwungenen Lenkergriffe erforderten zwar ein wenig Geschick, aber dafür war die Federung ausgezeichnet. Angesichts der schlechten Straßen schien dies auch angebracht zu sein. Insgeheim machte sich Sonja über ein Warnschild lustig, welches auf Straßenschäden hinwies. Die Schäden waren zwar deutlich erkennbar. Doch von einer wirklichen Straße konnte keine Rede sein...

Als Sonja das verschlafene Dorf allerdings erst einmal hinter sich gelassen hatte, führte die Fahrt sie über verlassen wirkende Landstraßen und Feldwege. Nach etwa drei Kilometern bog Sonja schließlich auf einen Pfad ab, der durch ein winziges Wäldchen führte, bis sie ans Ufer eines kleinen Wasserlaufes kam. An dessen Ufer schaukelte, wie eh und je, gut versteckt, Opas Kahn in den leichten Wellen. Sonja stieg ab, kramte einen Schlüssel hervor und machte sich an dem alten, rostigen Schloss zu schaffen...

****

Jan hatte es endlich geschafft. 60 Mark pro Nase und Nacht waren seiner Ansicht nach zwar recht üppig, aber eben leider das einzige und nebenbei auch niedrigste Angebot, das zu bekommen gewesen war. Außerdem entschädigten die direkte Lage am Wasser sowie ein eigener Außenzugang auch ein wenig für den tiefen Griff in die Brieftasche.

Nun jedoch saß Jan gelangweilt in seinem Zimmer herum, unmittelbar unter dem Dach. Bei der Hitze!!! Er grübelte. ‚Was mach ich hier eigentlich?’ Dabei wusste er es genau. Der Anblick von hundert Dingen und Plätzen in seiner Heimat war unerträglich geworden. Unerträglich, weil ihn alles an Susanne erinnerte. Susi, das war die Frau, die eine Verlobung löste, um mit einem schmalzigen Franzosen durch die Gegend zu ziehen. Susi, das war die Frau, die ihr gemeinsames Kind umgebracht hatte, bevor es geboren werden konnte. Die Susi seiner Erinnerungen jedoch war trotzdem die Frau, die Jan unendlich vermisste. Das ganze damit zusammenhängende Gefühlschaos hatte er jetzt eingetauscht gegen die Langeweile in einer brütend heißen Dachstube.

Jan stand auf, spähte unentschlossen zur Tür hinaus, stieg schließlich doch die Außentreppe hinunter und schlenderte zum „Kleinen Hafen“, der sich als Anlegestelle für Kähne und Ruderboote entpuppte.

Touristen stiegen dort den lieben langen Tag in lange, flache Kähne mit Tischen und Sitzbänken darin, um sich stundenlang durch den Spreewald staken zu lassen. Ab und zu steuerten die Boote einige Verkaufsstände an, wo es dann „Spezialitäten der Region“ zu erwerben gab. Die gleichen Gurken und Kirschen (um nichts anderes handelte es sich nämlich) führte jeder Supermarkt zu Hause vermutlich billiger, aber na ja. Jan kannte das alles zur Genüge. Darum interessierte ihn der ganze Trubel auch nicht sonderlich.

Etwas abseits jedoch führte eine Brücke über einen der unzähligen Wasserarme. Jan betrat das hölzerne Bauwerk. Zögernd zunächst setzte er die ersten Schritte, weg, vom lauten Durcheinander der Stimmen. Er ging dann weiter, immer weiter und fand es recht erholsam, in dieser einsetzenden, zauberhaften Stille an nichts zu denken, nur den Augenblick zu genießen.

***

Sonja hatte Pech gehabt. Das heißt, eigentlich war es nur ihre eigene Dummheit gewesen. Zuerst wollte sie ihrem Großvater natürlich nicht glauben, dass es im Spreewald endlich wieder Wasserschlangen gäbe. Woher auch. Dieses Märchen konnte man vielleicht schreckhaften Touristen erzählen...

Sonja kannte allerdings die alte Sage vom Schlangenkönig. Dieser sann angeblich auf Rache, weil ihm in grauer Vorzeit der hiesige Schlossherr seine Krone gestohlen haben sollte. Doch als die Kommunisten 1945 den Adel vertrieben, verschwanden seltsamerweise auch die Schlangen. Jetzt aber war gerüchteweise ein Nachkomme des Schlossherren wieder in der Region. Vielleicht wollte er ja irgendwelche Erbansprüche anmelden. Nun gut. Dazu gehörte auch eventueller Ärger mit fiesen Wasserschlangen...

Als sich im Wasser daher ein schmaler dunkler Schatten bewegte, wurde Sonja doch neugierig. Blitzschnell griff sie zu, natürlich daneben und kippte durch den eigenen Schwung mit lautem Platschen über den flachen Bootsrand ins Wasser.

Jenes war zwar nicht sehr tief, aber dafür extrem nass. Als Sonja endlich wieder in den schwankenden Kahn geklettert war, besah sich sie von oben bis unten. Der dünne Stoff des T-Shirts und die Shorts klebten am Körper, als wären die Sachen nur aufgemalt worden. Natürlich war nun alles halb durchsichtig. So konnte sie sich auf keinen Fall blicken lassen! Glücklicherweise befand Sonja sich abseits der Strecken, auf denen die Touristenboote aus Lübbenau üblicherweise verkehrten. Auch Anwohner gab es hier nicht. Also wrang Sonja ihre Kleidungsstücke nacheinander gründlich aus, verzichtete auf die Unterwäsche und schlüpfte mit viel Überwindung wieder in das eklig feuchte T-Shirt und die Shorts.

Ganz ohne wäre ihr dann doch zu riskant gewesen, denn die Wasserstraßen waren recht schmal und auch an diese Ufer konnten sich schließlich Wanderer verirren. Doch die Klamotten waren hoffentlich bald wieder trocken. Zu irgendetwas musste die Hitze schließlich gut sein. Im Kahn ließ es sich schon so lange aushalten, wenn man flach darinnen lag. So machte Sonja die Augen zu, döste ein und bemerkte daher nicht, dass der Kahn währenddessen langsam aus der kleinen Bucht heraustrieb...

***

Noch