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"Wir machen Sie unsterblich!" - Der größte aller Menschheitsträume ist wahr geworden: Jeder, der es sich leisten kann, lässt sein Gehirn scannen, damit bei Bedarf - im Todesfall - die GESELLSCHAFT® das gespeicherte Ich reinkarniert. Doch dann geschieht ein furchtbarer Fehler: Thomas V. erwacht eines Tages im Körper von Leon P., im Körper eines Fremden also - obwohl er im Original ebenfalls noch existiert. Leon P. wurde zwar nach einem tödlichen Unfall wiederbelebt, doch die GESELLSCHAFT® hat versehentlich das falsche Bewusstseins-Backup in dessen Kopf gepflanzt. Thomas begreift, er ist nur eine Kopie seiner selbst, die man nur durch Auslöschung ungeschehen machen kann. Ohne seine wahre Identität preiszugeben, spielt Thomas mit - spielt den Anderen, als wäre er es selbst. Er bekämpft den Ekel vor seinem fremden Körper, versucht, die nie gekannte Ehefrau zu lieben und sogar den schrecklichen neuen Vater zu akzeptieren, der sich für den Fall des eigenen Ablebens einen Ersatzkörper in Indien reserviert hat. Und tatsächlich, trotz vermeintlich eklatanter Erinnerungslücken wird Thomas als Leon schließlich wahr- und angenommen. Aber so sehr er sich auch bemüht, es zieht ihn immer wieder zurück in sein altes Leben - das jedoch besetzt ist von dem, der er einst gewesen zu sein glaubt: vom echten Thomas, der nichts von der Kopie seines Ich in einem Fremden weiß. So wird Thomas II zum heimlichen Stalker seiner selbst. Als dann noch eine längst verloren geglaubte Liebe wieder auftaucht, eskaliert die Situation. Und die GESELLSCHAFT® sieht sich genötigt, ihren Fehler wiedergutzumachen.
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Seitenzahl: 919
Veröffentlichungsjahr: 2015
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H. DERHANK
Der Zwilling
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Sylvie liebt Leon
Die Verwandlung
Eine fremde Welt betreten
Sich fragen, wer man ist
Ich in der Mundhöhle
Der Spiegel
Nullphase: Erwachen ohne Erinnerung
Seelenscan
Wiedergeburt II
Skepsis
Gänse im Park
Die Therapiegruppe
Ein ewiger Krebspatient
Orgasmus technicus
Traum(a)
Gottes Seele
Wieder (nicht) zu Hause
Das Geschäft mit Spenderkörpern und -hirnen
Und wenn wir uns lieben?
Schlaflos beieinanderliegen
Rekonvaleszenz
Wo Musik ist, lass dich nieder
Davon laufen lernen
Nach außen telefonieren
Ankommen
Der Vater
Werkstatt des Lebens
Avatare stürzen ab
The man with the child in his eyes
Der Andere
E-Mail for you
Mutter
Den Anderen von ferne retten
Meine Familie
Ich bin du
Meine, meine Familie
Sie hat Krebs und keinen Inder
Im Tal des Himalaja
Wen liebt Franka?
Katharina die Schöne
Angesichts des Todes
Die Beichte
Day After
Vergebung und ob man ein zweites Mal heiratet
Im Turm der GESELLSCHAFT ®
Mit Gewalt
Das morphocerebrale Feld
Kontinuum
Die Verwandlung
Erwachen
Dank
Der Autor
Der Verlag
Impressum neobooks
LSD - Verlag Literarische Sammlung DERHANKwww.LSD-Verlag.de
»Wir machen Sie unsterblich!«
Der größte aller Menschheitsträume ist wahr geworden: Jeder, der es sich leisten kann, lässt regelmäßig sein Gehirn scannen, damit bei Bedarf - sprich: im Todesfall - die Gesellschaft® das gespeicherte Ich reinkarniert.
Thomas V. erwacht eines Tages im Körper von Leon P. Der wurde zwar nach einem tödlichen Unfall wiederbelebt, doch die Gesellschaft® hat versehentlich das falsche Bewusstseins-Backup in dessen Kopf gepflanzt.
Ohne seine wahre Identität preiszugeben, spielt Thomas mit - spielt den Anderen, als wäre er es selbst. Er bekämpft den Ekel vor seinem fremden Körper, versucht, die nie gekannte Ehefrau zu lieben und sogar den schrecklichen neuen Vater zu akzeptieren, der sich für den Fall des eigenen Ablebens einen Ersatzkörper in Indien reserviert hat. Und tatsächlich, trotz vermeintlich eklatanter Erinnerungslücken wird
Thomas als Leon schließlich wahr- und angenommen.
Aber so sehr er sich auch bemüht, es zieht ihn immer wieder zurück in sein altes Leben - das jedoch besetzt ist von dem, der er einst gewesen zu sein glaubt: vom echten Thomas, der nichts von der Kopie seines Ich in einem Fremden weiß. So wird Thomas II zum heimlichen Stalker seiner selbst. Als dann noch eine längst verloren geglaubte Liebe wieder auftaucht, eskaliert die Situation. Und die Gesellschaft® sieht sich genötigt, ihren Fehler wiedergutzumachen.
In einer nahen Zukunft ist der medizinische Fortschritt dank Gentechnik, künstlicher Organe und hochsensitiver Prothesen in der Lage, im Todesfall jeden Menschen, und sei er noch so alt, krank oder verletzt, wiederherzustellen. Einziger Schwachpunkt bleibt das Gehirn, das binnen weniger Minuten irreversible Schäden nimmt, weshalb eine Wiederbelebung zwar den Körper zurückholt, nicht aber das, was wir unter dem Wort 'Ich' verstehen. Erst die Entdeckung des 'morphocerebralen Feldes' verspricht den Durchbruch in die Unsterblichkeit. Dank einer digital gespeicherten Momentaufnahme des Bewusstseins lässt sich nun auch das Gehirn eines Verstorbenen nachzüchten, sodass der Mensch in Gänze wiederaufersteht.
Doch ist der, der dann erwacht, wirklich noch der, der er zuvor gewesen ist? Wann ist das Ich noch dasselbe Ich? Was ist es, was uns Persönlichkeit, Individualität, Identität verleiht? Wo bleibt die unverwechselbare Seele, wenn es den Neurowissenschaften gelingt, Kopien unserer selbst anzulegen? Und was sagt eigentlich Gott dazu?
Für Thomas, den ZWILLING, zerreißen bei der Suche nach seinem ich-bin-der-ich-bin die transzendenten Vorstellungen des Menschen wie illusionistische Vorhänge - als wären sie nur dazu geschaffen, die abgründigen Untiefen der Ichfalle zu verschleiern. Denn jenseits unserer Selbsttäuschung ist nichts: kein Gott, keine Seele, nicht einmal ein konsistentes Ich und auch sonst nichts, das über den Mahlstrom aufblitzender Wahrnehmungen hinauszeigt. Allein die Liebe ist noch für ein Wunder gut, aber auch die kann nur den retten, der nicht an ihr verzweifelt.
Erwachen
und sich wiederfinden in einem anderen Körper, als dem erinnerten, und allmählich begreifen, dass man nicht mehr man selbst ist.
Leon, ach du mein wilder Leon.
Staubwedeln auf seiner Gitarre, im Musikzimmer, wo alles rumliegt, und Sylvie nicht staubwedeln müsste, weder als Putz- noch als Hausfrau, Staubwedeln ist eigentlich ein Tick und hat was mit Aneignen zu tun, sich die Wohnung in Besitz nehmen, das ganze Haus, wenn keiner da ist, denn der Junge trifft sich heute mal auswärts (ein Wunder), das Haus wäre aber genauso leer, wäre er hier, nein, das ist gemein, ich sollte so nicht über meinen Jungen denken, Jungs sind so, in dem Alter usw., und mein anderer Junge ist aber auf dem Heimweg, mein großer starker Junge Leon; ach du mein Leon.
Sylvie wedelt Staub, wo fast kein Staub ist, sie wedelt mit dem altmodischen Erbstück von anno Großmama, ein Stab aus fast schwarz gedunkeltem Holz und ebenso schwarzen, noch wunderbar erhaltenen, dicht gebundenen Straußenfedern, sie wedelt zwischen den unzähligen bunten elektrischen Effektgeräten, die in einem offenen Instrumentenkoffer aneinandergereiht liegen, sie wedelt zwischen den Kabeln und Steckern, sie wedelt an Mikrofonständern und Gitarrenhaltern, sie wedelt an Röhrenverstärkern, die so groß sind wie Wäschetruhen, an kleineren Amps und an Mischpulten, sie wedelt an Kopfhörern, Kabeltrommeln, Mikrofonen und an einem Aufnahmegerät, und sie wedelt an ihren eigenen Instrumenten, meine Flöten, denkt sie ein bisschen sentimental, ihre großen Blockflöten, die in einem Flötenständer stehen, und ein versuchsweise angeschafftes Didgeridoo, das sie auch spielt, nicht besonders gut, die Zirkulationsatmung will nicht bei ihr, Zirkulationsatmung ist wie gar nicht atmen, wie nicht atmen und trotzdem nicht ersticken, Zirkulationsatmung ist wie den Moment anhalten, wie Zeit anhalten und in der angehaltenen Zeit so was wie eine eigene Zeit spielen, so ist der Klang, den sie mag, den sie aber selbst nicht beherrscht auf dem Didge. Sylvie wedelt den imaginären Staub von dem australisch bunt bemalten Stamm aus Eukalyptusholz. Leons Gitarrenspiel ist so ähnlich, sie haben das Didge deswegen gekauft, um gemeinsam zu spielen, seine zeitangehaltene Elektrizität, und sie den zeitangehaltenen Atem.
Sollte nicht sein, leider, aber ihre Flöten schaffen das auch, und mit den Flöten ist sie gut, besonders mit den großen tiefen, der Bassflöte zum Beispiel, oder der Schalmei, ein Stiefkind in der Flötenreihe, so wie das Didge, aber die Schalmei spielt Sylvie göttlich, sagt jedenfalls Leon. Mein Beitrag ist klein, denkt sie, aber wenn sie zusammenkommen oder Konzerte geben, in kleinen Klubs und am liebsten bei Leuten zu Hause, Kammerkonzerte im Wohnzimmer, dann bin ich ich, dann ist Sylvie ganz bei sich, ganz glücklich, dann bilden Gestern, Heute und Morgen einen Punkt. Einen einzigen Punkt. Vielleicht liebe ich Leon manchmal deswegen so sehr, dass es wehtut. Was nicht normal ist, nach so langer Zeit, wer hat schon das Glück, einen Ehemann nach 16 Jahren immer noch so zu lieben, das ist nicht normal, das ist das Glück.
Denkt Sylvie.
Und: Ich könnte mich jetzt ausziehen. Und stattdessen die Schürze anziehen, die weiße mit Rüschen, und sonst nichts, und mich von ihm ertappen lassen, beim Wedeln, beim Wedeln mit nacktem Hintern, sie stellt sich vor, sie hätte ihre Sachen bereits ausgezogen, sie wedelt weiter und in ihrer Fantasie wedelt sie auf diese Art wie nackt, immer weiter und weiter, was immer unsinniger ist, das Wedeln, weil doch alles längst staubfrei ist, aber das macht nichts, sie tanzt durch das kleine Musikzimmer, und in ihrer Fantasie kommt Leon nach Hause und kommt die Treppe hinauf und dann erwischt er sie in flagranti, und er bestraft sie dafür, ein bisschen, was natürlich kein Bestrafen ist, wie auch kein Erwischen, sie fantasiert sich ja ihn und keinen anderen, aber trotzdem hat es dieses wie Verbotene, dieses Erwischtwerden, und Bestraftwerden, und dann fesselt er sie, ans Bett oder überhaupt fesselt er sie, immer noch, immer wieder bin ich von dir gefesselt, und ich dich auch, wir zwei sind voneinander gefesselt, und manchmal darf auch sie ihn ans Bett fesseln, und ich muss dann Sachen mit dir machen, dann wird er zum Vulkan, und darum wedle ich nackt, nackt, nackt, sie kneift sich durch die Jeans in ihren Po, als wollte sie testen, ob das ein Nackttraum ist.
Ich könnte mich ja wirklich ausziehen, denkt Sylvie und lacht. Lacht, weil das albern ist, genauso wie es albern ist, jetzt nach links und rechts zu schauen, ob nicht doch jemand da ist, der, gesetzt den Fall, sie zöge sich aus, sie beobachten könnte. Sie schaut auch zum Fenster, und zum Fenster hinaus, aber da sind nur die Blätter der Ulme und keine Möglichkeit für den Nachbarn, zu ihr hineinzusehen. Trotzdem spürt sie an ihren Wangen, dass sie rot geworden ist, sie könnte sich hier ausziehen, und dann muss sie pinkeln vor lauter Erregung. Sie eilt ins Bad, setzt sich auf die Toilette und dann klingelt das Telefon.
Aber Sylvie kann nicht rangehen, so mittendrin.
Und wenn das Leon ist?
Sie kriegt einen Schreck, es klingelt weiter und darum singt sie dagegen an, wie ein Kind, das sich Mut ansingt im Dunkeln, singt irgendwas, etwas, das sie sich selbst ausgedacht hat, vielmehr beim Pinkeln jetzt gerade ausdenkt, und der Klang des Telefons mischt sich in ihre Komposition.
Es hört auf zu klingeln, und Sylvie denkt, dass Leon es hasst, wenn sie nicht rangeht, dafür hätten sie schließlich überall diese schnurlosen Dinger rumstehen! Er regt sich so schnell auf, besonders nach so einer langen Arbeitswoche, und dann denkt sie: Er kommt doch hoffentlich nicht später? Schon wieder mal? Nein, es ist Freitag, heute nicht, er wird angerufen haben, dass er nun losfährt, dann wären das noch zehn Minuten, noch zehn Minuten!, soll ich mich jetzt ausziehen oder nicht? Und nun ist sie ganz hin und hergerissen, ob sie sich ausziehen soll oder nicht, Leon müsste ja gleich da sein, und Lust, Lust hätte sie ja, und wie!
Stattdessen zieht sie sich an, fasst sich noch einmal an den Schlüpfer und drückt ihre Finger ein wenig hinein, ins Feuchte, dann schließt sie hastig die Knöpfe ihrer Jeans, ich muss ihn zurückrufen, er hasst das, wenn nicht, sie geht also hinaus, schaut sich im Flur wieder um, als wäre sie nicht allein, kichert sich selbst zu, ein bisschen nervös, und greift zum Telefon. Auf dem Display steht: Leon. Er war es, wie erwartet, ich ziehe mich also ganz schnell aus und die Schürze an, die hinten offen ist, das wird ihn ablenken vom Wütendsein, es wird ihn wild statt wütend machen, oder - nein - ich rufe ihn doch eben an. Besser ist das.
Sie drückt die Rückruftaste und hält sich das Telefon ans Ohr, es tutet, einmal, zweimal, und dann geht Leon ran.
»Ja!«, sagt er. Nicht 'Ja?', sondern 'Ja!'
Sylvies Herz klopft, und sie ist nicht schnell genug, etwas zu sagen.
»Sugar?«, sagte er, Sugar. Dabei ist seine Stimme noch immer gereizt, aber er bekämpft das. Man hört leise Fahrgeräusche.
»Kommst du?«, fragt Sylvie. Auch sie hat etwas Geladenes in ihrer Stimme. Aber das andere Geladene. Unwillkürlich.
»Sugar«, nochmals er, »ich dachte, wir könnten heute ins Kino, wo Hendrik doch bei seinem Freund übernachtet, vorher was essen gehen und ... weil ich doch morgen ...“
»Mein Löwe ...«, gurrt Sylvie und findet das ein bisschen sehr devot, am Telefon zu gurren. Sie hört das 'Kalack-Kalack-' des Blinkers.
»Ja ...?«, sagt er.
»Komm erst mal nach Hause, ja?«
»Ja, sure, Baby, ...«
Sylvie atmet tief, so tief, dass sie sich selbst im Hörer hören kann. Sogar in seinem Auto müsste man das hören.
»Kommst du?«, im Ausatmen.
»Ja Sugar, ich komme... was ... was hast du denn?«
»Nichts ...« Sex.
»Du bist ja wie auf ...« Jetzt hört sie ihn atmen. Und dass er Gas gibt, als würde er innerlich und äußerlich beschleunigen. Synchron. Und dann macht er: »Mhhh ...«
Sex.
Sylvie kichert: »Komm schnell ...«, sagt sie, mehr ein Seufzen, laut geflüstert und fast ohne Stimme.
»Holla ...«, auch seine Stimme plötzlich erregt, »Sugar, du kleines ... und ob ich komme, I'm coming, ich rase, ich werde dich glei... hhhh... Shit! SHIT!!!«
Entsetzen und undefinierbare Geräusche; es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um sie als Bremsenquietschen und Aufprall zu interpretieren, ein lauter Knall und etwas wie Splittern oder Aneinanderstoßen, vielleicht sogar noch ein Schrei, aber undeutlich, und alles so schnell und die anschließende Stille so absolut, dass Sylvie nicht mehr weiß, was sie gehört hat.
Leon?
Als Thomas Vanderra eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, links und rechts einige Apparaturen, von denen Schläuche, Katheder und Kabel ausgingen und an unsichtbarer Stelle mit ihm verbunden schienen. Insbesondere aber sein Gesicht fühlte sich an wie verformt; von einer ungeordneten Ansammlung aus ihm herauskragender Mundwerkzeuge und Antennen, die ihm hilflos vor den Augen flimmerten.
»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum.
Eine fremde Welt betreten. Sich einen Moment erzwingen, ein Beisichsein, wo nichts ist, als Sichverlieren. Eine fremde Welt, die mich träumen lässt, sie wäre ich.
Eine fremde Welt scheißen. Eine fremde Welt ausscheißen. Sie in Besitz nehmen, indem man sie oder sich in ihr vollscheißt. Darin schwimmen, wie ein Baby, in der eigenen feuchten, wunden Hitze.
Stelle sich mal einen Wurm vor, einen, zum Beispiel, Regenwurm, dem man das eine Ende zertreten hat, versehentlich, und dem man diese zertretene Hälfte abgetrennt hat, abgeschnitten mit einem Skalpell, und der innere Tunnel der gesunden Seite plötzlich wie an einem offenen Ende angekommen ist. Es ist der Moment, sich im Nichts zu verlieren, oder aber als Tunnel gerettet zu werden, indem man einen anderen aufgeschnittenen Wurm nimmt und an ihn andockt, sodass der offene Tunnel des ersten Wurms in den Tunnel des zweiten übergeht, und der erste Wurm sozusagen in dem zweiten weiterkriechen kann. Der Tunnel, das Hohle, ist ein Kriechen in der Zeit, der Tunnel, der sich selbst fortführt in vermeintlicher Kontinuität, der sich selbst in das neue Hohle hineinkriechend macht, das neue Leere gewissermaßen, er selbst ist das Nichts. Das, das fortgesetzt träumt.
Bin ich schon fertig? Bin ich fertiggeschlafen? Habe ich? Ein Film, am Ende, Schlussszene, zwei Männer und eine Frau, nackt, auf einem großen Bett, ach Franka, die Frau war schwanger und der Film ist von Tom Tykwer.
Warum aber erwache ich nicht, wenn ich doch fertig bin? Fertiggescannt. Warum entgleite ich mir immer wieder, ist es so schwer, aus der Tiefenhypnose wieder herauszukommen? Halbe Stunde, nicht länger, hat sie gesagt, die Assistentin, oder war es ein er?, oder wer? Keine zwei Stunden mit Film, du aber hast das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Nicht einmal das Atmen ist spürbar, nur dass immens viel Zeit vergangen ist oder vergeht.
Und plötzlich beschleicht dich ein ganz anderes Gefühl. Eine Ahnung, warum das hier alles so schleppend geschieht. Warum du nicht atmest. Warum du nicht einfach erwachst und aufstehst und nach Hause fährst. Warum du das Gefühl hast, nicht mehr im Schlaflabor zu sein.
Schlaflabor? Welches Schlaflabor.
Verblassen von etwas, Ahnen von etwas anderem.
Bin ich tot?
Habe ich mich umgebracht? Die Frage steht im Raum, der Raum ist ein Traum ist ein Kinderreim, den ich nie gesungen habe, nicht mal kenne. Fremdes Kind? In mir? Oder ich in ihm? Nein, ich weiß doch, dass ich schlafe, ich träume, aber die Selbstmordfrage hat mich aufgeschreckt, aufgeweckt, sie hat dieses Plötzliche, dieses Siedendheiße, dieses Entsetzen, wenn dir auf einmal klar wird, dass nichts mehr so sein wird wie vorher! Dass ... zum Beispiel, dass da ein Kind fehlt. Und nicht mal wissen, welches? Ich habe gar keine Kinder! Oder man den Stick mit der Präsentation vergessen hat, wenn man bereits neben dem Beamer steht und einen alle ansehen, besonders, weil man es sowieso hasst, einen Entwurf zu präsentieren ... - habe ich mich umgebracht? Ich atme nicht! Ich atme nicht - ich atme! Ich atme nicht und doch zugleich, etwas atmet, etwas atmet mich, eine Maschine atmet mich, plötzliche, überwältigend große Angst, schiere Panik, symptomlose Panik, kein niemand, nichts, das zu Symptomen fähig wäre, ich entgleite mir, ich falle, Fall und Aus ...
Später: Du erinnerst dich an diese Angst. An diesen Moment der Erkenntnis, von einer Maschine geatmet zu werden, bevor du dich wieder verloren hast, und es liegt schon wieder ZEIT dazwischen, du bist wieder eingeschlafen gewesen, das Gefühl JETZT ist ein anderes als während dieses panischen Erschreckens, das Gefühl jetzt ist ein nicht mehr so atemloses, körperloses, eher ein 'ich spüre, fühle, ich bin'. Nichts Erschreckendes also nun. Und obwohl Thomas die Augen geschlossen hat, ahnt er, dass es hell ist, und er stellt sich ziemlich realistisch vor, gleich in einem Krankenzimmer zu erwachen, möglicherweise angeschlossen an Geräte und eben eine Beatmungsmaschine, aber nichts, das wehtut, vielleicht noch nicht.
Ich atme.
Augen?
Geschlossene Augenlider schmecken bei Lichtverhältnissen süß, himbeersüß, und dann riecht er auch ein Geräusch, es ist das schon erwartete, das dazugehört, das gleichmäßig regelmäßige Aufblühen und Vergehen des Kümmelgeruchs eines EKGs, ich rieche meine Herztöne. Und gleichmäßig heißt, es scheint mir trotz allem gut zu gehen (aber trotz allem was?)! Man kann auch die Vögel riechen, von draußen, Frühlingszitronenschwaden, ich habe geschlafen wie ein Toter, und er fragt sich, woher er diesen Humor hat, angesichts dessen, was zu erwarten ist: Ein Erwachen zwischen Leben und Tod, mein Körper schwer angeschlagen, mit womöglich schrecklichen Ausfällen, fehlenden Gliedmaßen oder Lähmungen, die Aussicht, ein Krüppel zu bleiben! Aber ich habe mich nicht umgebracht. Das wäre unlogisch, und dann erinnert er sich auch (und endlich!), dass er sich hat scannen lassen, dass er ein Backup seiner Seele hat anfertigen lassen. Was nicht mehr Seele heißt, sondern Hirnscan. Ein kleines Vermögen, das er dafür bezahlt hat, unsterblich zu sein! Und das jetzt jeden Monat?
Atmen, das plötzlich schmerzt. Und wieder eine unerwartete Panikattacke: Ich bin gestorben, muss gestorben sein, ich erwache ganz offensichtlich nicht in dem Institut, ich bin nicht gerade eben gescannt worden, sondern weiß der Henker wann? Der Henker oder wer auch immer mich umgebracht hat. Nein, nicht ich habe mich, habe ich doch? Und dass ich hier liege und zu mir komme, langsam oder jetzt gerade viel zu schnell, das heißt doch - das heißt doch - das heißt doch - dass ...
ES FUNKTIONIERT!!!
Die Angst verwandelt sich in eine irre Freude, die genauso in dir explodiert wie die Angst, aufspringen wollen und brüllen vor Freude, was Thomas natürlich nicht tut, aber der Impuls, sich zu extrovertieren, der ist überwältigend. Es funktioniert!!! Es funktioniert bedeutet, dass - Trommelwirbel, Tusch - Thomas Vanderra von nun an ein Unsterblicher ist, meine Damen und Herren, sehen Sie hier den unsterblichen Thomas Vanderra, den Mann, der nie - nie nie nie mehr - sterben wird. Hyperventilierendes Freudenkonzert, atmen, Atmen tut weh! Obwohl mein Körper reglos bleibt, ist da ein Sturm aus Lachen und Jubeln in mir, ich könnte wen auch immer umarmen, die ganze Welt meinetwegen, oder auch: Franka.
Ernüchterung, plötzlich ist die Freude weg, so schnell, wie gekommen, Franka.
Ich weine.
Das Weinen geschieht genauso reglos und mit genauso wenig Kontakt zur Oberfläche, wie vorher Angst oder Freude. Ich weine nicht etwa in mich hinein, das hieße ja, das Weinen hätte einen Anfang und eine Richtung, aber so ist es nicht. Es geschieht einfach. Vielleicht geschieht es nicht einmal, sondern ist einfach da. Wie schon immer gewesen, ganz tief in mir drin. So tief, dass man es nicht räumlich lokalisieren kann. In diesem meinem Körper. So tief, dass ich mich stumm in den nächsten Schlaf weine. Franka. So ein Scheiß.
Ich erwache erneut und erinnere mich an die Erkenntnis, Thomas zu sein. Thomas Unsterblich, er war nur wieder eingeschlafen, nichts Besorgniserregendes, der Thomas oder der neue Thomas, noch immer weiß ich nicht, was geschehen ist, wie ich gestorben bin, ich spüre aber immer mehr meinen Körper zurück. Der sich noch fremd anfühlt, oder ungewohnt, aber das mag mit den Verletzungen zusammenhängen, die ich unweigerlich haben muss.
Ich gehöre zu denen, die es geschafft haben. Die der Unausweichlichkeit des Todes eine lange Nase machen. Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, und was für einer, seit ein paar Jahren dürfen wir unsterblich sein, die letzte Bastion der Religion ist genommen, die Seele gehört nicht mehr diesem ominösen Gott, den wir uns im Angesicht des Todes ohnehin nur ausgedacht haben, sondern endlich uns! Die Seele, die Seele, ich ich ich, ich lebe! Gehört die Seele denn jetzt uns? Mir? Thomas erinnert sich, bevor er selbst den Vertrag unterschrieben hat, ein Kritiker der Reinkarnationsmedizin gewesen zu sein, und der Gesellschaft, die sie betreibt. Gehört die Seele statt Gott jetzt mir? Oder der Gesellschaft? Ach Thomas, was für unsinnige Fragen angesichts der freudentaumelnden Tatsache des buchstäblich nackten Überlebens, angesichts dieses meines Erwachens, dieser Erkenntnis, ich bin unsterblich, quod erat demonstrandum!
Thomas konzentriert sich in sich hinein, bergab sozusagen, aber nein, er vermutet, dass er liegt, also nicht bergab, sondern sozusagen rumpfabwärts. Und dass bei diesem inneren, mit geschlossenen Augen durchgeführten Forschen die Hände das Erste sind, was er hört. Nein, ich höre nicht, ich fühle! Höre? Greifenklang, ein Werkzeug spielen, die Finger sind der angeschwollene Gesang der Tuba, sie klingen zum Platzen prall, auf beider Hände Seiten, eine vorsichtige Bewegungsprobe - kaum mehr als ein Zucken - bringt Aufschluss: Ich habe laute Hände. Oder glaube, laute - ich meine: große Hände zu hören, nein, anders, großer Hände gewahr zu werden. Sie klingen, nein, liegen - eindeutig - auf Stoff. Die Bettdecke, die wie ein Kontrabass dröhnt, ist getrennt von meinem restlichen Resonanzkörper, durch ihre Schwere ertönt ein Körper, der sich anders anhört, als ich seine Lieder erinnere. Ich höre ihn - mich? - von außen, mit den Händen? Oder von innen, mit meinem Bewusstsein?
Ich bin ein Konzertsaal, offenbar, ich bin ein Riese. Geworden.
Wieder eine Panik, wieder Entsetzen, wieder wieder wieder, ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese! Das ist nicht meine Musik, willst du schreien, will ich, ICH schreien, aber das wäre zu theatralisch, die Panik verfliegt, das ist lächerlich, albern, du bist albern, Thomas, sei froh, dass alles dran ist, dass da ein Rumpf brummt, der dir gehört, und Beine wie Posaunen, sogar die Trompetenfüße erschallen eindeutig lebendig! Du beruhigst dich, lässt die Augen zu und lauschst der sanften Melodie der Bettdecke auf den gekrümmten Zehen. Du spielst sie, diese Zehen, was geht, was sich anhört, nein, anfühlt wie tausend Jahre eingerostet, es knarzt und kratzt, aber es klingt. Du bewegst die Zehentonleiter rauf gegen die Decke, und wieder runter, wie ein Xylofon, erst alle fünf zugleich, dann getrennt, du schlägst den großen Zeh einzeln an, die kleinen im Quartett nach unten und umgekehrt und an beiden Füßen dasselbe Spiel. Warum höre ich meine Hände nicht mehr? Aber - als hätte nur wer auf diese Frage gewartet - da spielt ja eine Hand auf deiner!
Ein plötzlicher Geruch von kräftigem Tee, Pfefferminze? Und gleich wieder vorbei. Dann erneut, ich rieche ein Wort, jemand duftet ein Wort, ich rieche meinen Namen, nein, nicht meinen, aber immer wieder diese kurzen Duftwolken von rechts. Thomas fragt sich ins Lichtdunkelsüße hinein, wer das sein könne, und ob Franka zu ihm zurückgekehrt sei, oder - ein furchtbarer Gedanke - er wegen Franka hier liegt!? Wegen ihr sich umgebracht haben?, manchmal war ich kurz davor (aber nie wirklich!). Muss ich wieder weinen?, was sich in einem Kopf, der so anders ist - so anders, dass, egal, WAS passiert ist, es schrecklich gewesen sein muss -, ganz seltsam anfühlt. Aber er hört die Tränen ganz nah bei sich oder zumindest diese Vorstufe von Tränen, ein plötzliches, Schluckreize verursachendes Zum-Heulen-zumute-Sein, was das ganze Gesicht aufbläst und wie gegen ein Kissen drückt, mit dem man dich ersticken will, es ist, als wäre das Gesicht angeschwollen, furchtbar angeschwollen, und erst jetzt hörst du das falsche Gebiss in dir, die Stellung der Zähne, kleiner Tentakel namens Zunge spielt Klavier, tastet alles ab, hinten eine stille Lücke, zwei Lücken, die Abstände zwischen den Klängen sind zu groß, oder die Klänge zu leise oder der Mund zu groß oder die Zunge zu klein, überhaupt wessen Speichel höre ich gerade, höre ich?, schlucke ich?, ich schmecke ihn nicht und doch zugleich, wen schmecke ich da? Dir kommt ein ekelhafter Würgereiz, die falsche Kehle zieht sich zusammen, als wollte sie die kleine fremde Zunge verschlucken, von jetzt auf gleich spielt dein soeben noch tränennah gewesenes Gesicht eine Schweißperlensonate, voller Hitze, mein Kopf, denkt Thomas, ist unter eine Straßendampfwalze geraten, gewesen, aber ich erwache, reg dich nicht auf, ich ERWACHE! Und das ist das Wichtigste.
Denkt Thomas.
»Leon?!«, riechst du die Stimme erneut.
Für eine gefühlte Sekunde stockt Thomas' Gehirn. Wer? Wer bin ich? Oder war das nur eine sinnliche Ungenauigkeit?, ein falscher Geruch? Ton? Stimme? Doch der Geruch wiederholt sich: »Leon!«, Pfefferminze, aber du riechst gar nicht den Namen, sondern die Stimme.
»Hörst du ... mich?« Hören? Kann man denn Stimmen hören?
»Leon, bist du wach ...?«
Jetzt hörst du sie tatsächlich, natürlich hört man Stimmen, wie konntest du was anderes denken? Sie klirrt oder kratzt, die Stimme, sie riecht nach Glas - nein, sie KLINGT nach Glas, und hat zugleich etwas Ersticktes, Angstvolles, und dann eine andere Stimme, männlich (was überhaupt dazu führt, die erste Stimme als weiblich zu identifizieren), die duftet beruhigend auf sie ein, auf die Person, die dich Leon nennt.
Ich will nicht wach werden.
Du weißt, dass Nicht-wach-werden-Wollen nur ein Fluchtreflex ist, weißt du?
Ja, ich will weg!
Aber Thomas kann die unbekannte Hand auf seiner (meiner?) Hand nicht abschütteln, er versucht es nicht einmal, er hat Angst, diese Hand zu bewegen, er ist viel zu befangen, das erste Mal in seinem Leben diese, diese Hand zu bewegen, die Zehen sind kein Problem gewesen, aber die Hand, die Hand, die ist nicht nur zum Greifen da, die Hand macht viel mehr als funktionieren, sie macht etwas, was mit anderen Händen zu tun hat, aber was nur, was? Um Himmels willen, WAS???
Viele Jahre später erwacht Thomas noch immer in einem Krankenzimmer. Mit offenen Augen, die im Dunkeln und aus diesem Liegendwinkel nur an den Sichtfeldrändern Dinge unscharf wahrnehmen, z.B. Geräte, die leise regelmäßige Töne von sich geben, und ein Fenster (Vorhänge?), ja, es ist dunkel, er ist nicht blind oder so etwas, es ist einfach nur tiefe Nacht. Es ist auch nicht viele Jahre später, das war nur ein Gefühl von unbeschreiblich großer Distanz gewesen, zeitlich, vielleicht auch räumlich, ich schaue in die unendliche oder auch ewige Nacht und versuche, nicht zu denken, oder die Gedanken nicht zu quälen, sie einfach vorüberziehen zu lassen, Gedanken von Arbeit, ich denke Arbeit, Entwürfe, ich denke Hausbauen, ich denke Büro und Landesbauordnung und Brüstungshöhen von Balkonen ...
»Leon?« Als zerbräche Glas.
Es ist wieder Tag. Fremden Speichel erzeugen und mit fremden Zähnen und einer falschen Zunge das Nasse in der unbekannten Mundhöhle zerkauen, schon wieder Ekel, wieder Würgen, ich muss mich zwingen, diesem Mund fernzubleiben, denk lieber an die Hand, oh, Hand auf Hand, wieder Hand auf Hand, da ist sie wieder, ich habe so schön geträumt, ein warmer satter Traum, der glücklich macht, aber schon ist er weg, nicht die kleinste Erinnerung, weggeschoben von diesem fremden Namen, dieser fordernden Stimme, ich erinnere mich an diese Stimme, diese fremde, nach Pfefferminze schmeckende Stimme, nein, das ist nicht Franka, nein, das ist sie nicht. Aber ich habe sie schon einmal gerochen, neulich erst, im Bus, wir haben im Bus nebeneinander gesessen, und die Stimme hat meine Hand gehalten, und ich hatte die Augen geschlossen, habe gelegen, aber wie? Im Bus gelegen? Erinnere ich mich an den Unfall? Plötzlich bist du dir sicher, dass es ein Unfall war, obwohl du weißt, dass das nicht möglich ist, sich daran zu erinnern, die letzte Erinnerung eines von den Toten Auferstandenen ist der Moment des Gehirnscans, mehr geht nicht. Das haben sie dir gesagt. Unmöglich. Und schlagartig hast du deine Augen offen!
Und:
Irgendetwas ist ERSCHRECKEND (nur was?)!
Die fremde Frau, die deine Hand hält, Schwester?, Doktor?, sie trägt keinen Kittel, du siehst aus der Perspektive des Liegenden ein Frauengesicht hoch droben, unscharf, wegschwimmend, blinzel, Thomas, blinzel! Doch im Blinzeln fallen die Lider wieder in sich zusammen, mit jedem Lidschlag ändert sich die Farbe des Lichts ...
[Klack]
Grün ...
[Klack]
Rot ...
[Klack]
Blau ...
[Klack]
Die Augen implodieren, du implodierst, und dein Gesicht schrumpft wie ein zerstochener Ballon zusammen, du fällst aus dir selbst hinaus, raus aus dem Gesicht, raus, durch deine dir fremden Augen nach oben weg hinaus.
Dann: Du atmest, doch es ist nicht dein Atem.
»Leon, bitte schau mich an. Leon, du ... du hast es geschafft, du lebst, Leon ... Leon ...!« Es klirrt wie winterliches Eis in den oder deinen Ohren.
Was für eine absurde Verwechslung? Für wen hält die Stimme mich? Also gut, denkst du, also gut, schaue ich dich an, fremde Stimme, du öffnest die Augen und stellst fest, dass etwas nicht funktioniert damit, deswegen das Blinzeln, dein Sehen bleibt unscharf, das Gesicht, das zu dir spricht - trotz Blinzeln bleibt die fremde Frau eine unscharfe Frau, so sehr du auch deine Pupillen bemühst.
Doch eines ist sicher, das ist nicht Franka, das ist eine Fremde, die dich 'Leon' nennt, die deine (Leons?) Hand hält, die lange, dunkelbraune Haare hat, ein ovales Gesicht und vermutlich große Augen (man sieht nur ... du siehst nur die weich gezeichneten Flecken da, wo Augen sein sollten).
Das spontane Geräusch aus deiner Kehle, der Kehle an oder in dir, das ist so entsetzlich anders als das, was du erwartet hättest, es klingt so schräg, dass du das Spontane, diesen Stimm- oder Sprechautomatismus, gleich wieder zum Verstummen bringst. Dich zwingst. Ich zwinge mich, zu schweigen. Allein sich zwingen zu können hat etwas Beruhigendes. Dieser geschundene Körper ist mir noch nicht ganz entglitten.Kontrolle.
Die Frau macht ebenfalls ein von innen kommendes Geräusch (von ihrem Innen), das beruhigen soll, und streichelt deine Prankenhand, und du beschließt, ganz nüchtern, es damit nun zu versuchen, die Hand der Stimme vorzuziehen, die Zehen haben schließlich funktioniert, also wagen wir die Hand!
Und es geht! Der Arm dreht sich, er gehört dir!, und die (deine!) Hand legt sich langsam, ganz, ganz langsam auf den Rücken, Finger, die sich einzeln und ebenso langsam, wie in Zeitlupe, unter Posaunen und Fanfaren öffnen wie auf einem michelangelischen Gemälde, und der Lärm, der dabei entsteht, entsteht nur in deinem Kopf. Denn taub ist das in Wahrheit, die Handfläche ist taub, die Finger, die zu bewegen sich beginnen, sind taub, man muss bei diesem Unfall deine Hände überfahren haben, ein Wunder, dass überhaupt was geht, und eine andere Hand, die noch fremder ist als diese (oder ist diese die fremdere?) legt sich in die deine hinein wie in eine Muschel, wie zum darin Schlafen, und diese deine Handmuschel schließt sich mit solch minutiöser Sorgfalt, dass für einige Sekunden das ganze Dasein sich auf das Zusammenkommen dieser ungleich fremden Hände beschränkt. Du schließt dafür sogar wieder die Augen, bist ganz im Fühlen der Hände, fühlst mit fremden Fingern die noch fremderen, bewegst heimlich auch die linke Hand, nur um sicher zu sein, dass auch hier alles funktioniert, ansonsten ist es einfach etwas Gutes, mit wem auch immer Menschlichem zu kommunizieren auf so innige Weise, bedenkend, dass du ganz offensichtlich dem Tod von der Schippe gesprungen sein musst. Und dann spürst du, wie die fremden Finger sich in deiner rechten Hand bewegen und an einem Ring drehen.
Anschließend (habe ich zwischendurch geschlafen?) oder beim nächsten Mal (oder ich war mal wieder tot gewesen?) hast du eine Brille auf. Hat sie dir eine aufgesetzt, leider nicht deine, deine ist schwerer, diese ist leicht und randlos, aber dass etwas auf dem Gesicht liegt, erinnert dich daran, eines zu haben, ein Gesicht, das noch immer wie angeschwollen ist, oder geben sie mir Cortison?
Die Brille löst einen weiteren Konflikt aus: Je mehr du versuchst, deine Augen scharf zu stellen, desto unschärfer wird das Bild, das sie dir projizieren, es ist eben die falsche Brille und stattdessen siehst du einen jungen Mann - einen Pfleger oder einen Fremden -, zu jung um Pfleger oder fremd zu sein, denn die sich immer auf ihn statt auf die Frau scharfstellenden Brillengläser - falsch: Augen -, die sehen mehr einen verwirrten Jungen als einen Mann, einen, der dich anstarrt, als wärst du eine bemitleidenswerte Kreatur, oder aber ein Monster, er starrt dich an und scheint nicht zu wissen, was er empfinden soll. Die Frau dagegen verschwimmt immerzu, so sehr du auch versuchst, sie ins Bild zu bekommen. Aber du sagst nichts, du erinnerst dich mit Erschrecken an diesen fürchterlichen Laut, der beim letzten Versuch zu sprechen deiner Kehle entsprungen ist (was oder wann war das?). Eher zufällig, du willst wegen der Augensache schon resignieren, bemerkst du, dass das, was du siehst, dann scharf wird, wenn deine Augen in einen graduell anderen Zustand fallen. Für einen Moment ein scharfes Mädchen, ein schönes und schon wieder vorbei. Sich bewusst um diese besondere Haltung der Augapfelmuskulatur zu bemühen bringt gar nichts, aber dann, als du erneut resignierst, ist sie wieder scharf.
Sie lächelt.
Was dich zwingt, ebenfalls zu lächeln, was sich anfühlt, als würden sich zwei aneinander gerostete Metallplatten gegenläufig verschieben, oder als würde verklebtes Plastik aufbrechen, dein Lächelversuch ist ein Reflex, der nicht funktioniert. Schau niemals in einen Spiegel, denkst du dir, aber es scheint weniger schlimm, als erwartet, denn sie lächelt noch immer, und mit flackernden Augen studierst du das Gesicht der Fremden, wie eine Kamera studierst du es, eine Kamera mit defektem Autofokus, es ist mehr ein Aufschnappen von Einzelbildern zwischen den Unschärfemomenten, aber es gelingt dir.
Du versuchst, nicht zu sehr über das Gesicht zu rätseln, darüber, ob du sie kennen müsstest, oder gar, ob das Franka ist, und ob der Teil deines Gehirns, der sich an Franka erinnern müsste, beschädigt ist, solche Fragen bleiben theoretisch, solange nur dieses Gesicht über dir schwebt und Glücklichsein bedeutet.
»Leon, erkennst du uns?«
Du willst erst den Kopf schütteln, aber du lässt es, aus Angst vor dem, was dieser Körper noch an bösen Überraschungen bereithält, aber auch, weil du nicht willst, dass das Gesicht verschwindet, oder sich nur verändert, es vielleicht sein Lächeln verliert, du hast doch nichts als dieses Gesicht. Also nickst du nur ganz zaghaft, ängstlich, weil auch ein Nicken dir das Genick brechen könnte, aber es scheint ihr zu genügen, deine mimisch kinetische Reaktion, die du selbst nicht beurteilen kannst, so bleibt dir ihr Lächeln erhalten, mit einem großen Mund und großen Zähnen, und die Augen haben einen Schatten (hat sie getrauert? Um mich?); hohe Wangenknochen, hohe Stirn, helle Haut, aber weniger rosig als mehr mit einer Note warmem Gelb.
Als sie erneut »Leon!« sagt, wird dir klar, dass dein Gehör definitiv Schaden genommen haben muss. Dieses Klirren von Stimmen. Die ihre ist wie zerspringendes Glas, was aber eindeutig innerhalb deiner Ohren stattfindet, als könntest du plötzlich andere Frequenzen hören, oder gewisse Frequenzen nicht mehr, als wäre das Spektrum der von dir hörbaren Frequenzen verschoben, ja geht denn das?
Ja!, denkst du, es geht so einiges, zum Beispiel, nunmehr Leon zu heißen, dabei heiße ich doch Thomas, oder ist das eine falsche Erinnerung? Habe ich niemals Thomas geheißen? Mein ganzes Leben lang nicht und immer Leon gewesen und mit dieser Frau das Leben geteilt?
»Leon, du hattest einen Unfall ...« (also doch!), »aber alles wird gut, alles ... alles ...« Ihre Hand (die noch immer in der deinen liegt, vielleicht ist gar keine Zeit vergangen?) dreht sich, sie bewegt die Finger, will ihre Finger öffnen, aber du drückst sie unwillkürlich wieder zusammen (unwillkürlich, dieses Wort hat plötzlich eine unheimliche Bedeutung), du drückst, beinahe zu fest, und sie legt ihre zweite Hand auf deine, umschließt die Handmuschel wiederum, Hand in Hand in Hand, was gut tut, und sei es nur wegen der Wärme. Menschliche Nähe. So fremd sie auch ist, ist diese Frau wenigsten keine Maschine oder eine nur ihre Arbeit verrichtende Pflegerin, du spürst ihre aufrichtige Anteilnahme, sie holt dich förmlich heraus aus was auch immer.
»Nein, versuche es gar nicht erst«, sagt die Frau. »Du kannst dich nicht erinnern! Sei froh! Nicht mal an den Moment davor, da sind ...« sie schluckt, »Tage, ein paar Wochen, nur ein paar, die du ... verloren hast. Aber die kriegen sie wieder hin, mach dir keine Sorgen, da gibt es Therapeuten, Erinnerungstherapeuten, auch du, auch für dich ...«
Ich weiß, dass ich mich habe scannen lassen, willst du ihr sagen, ich erinnere mich, wie ich mein letztes Backup gemacht habe, an das Backup selbst erinnere ich mich nicht, aber daran, wie der Arzt mir erklärt, dass ich mich daran nicht würde erinnern können, im Falle dass (und dass wir hoffen, er möge nicht eintreten, der Fall, dass, es diene ja nur der inneren Sicherheit!). Deine letzte Erinnerung ist der Hypnotiseur wenige Minuten vor dem Scan, und dass ich mich nicht beunruhigen bräuchte, aber er mich auch nicht beruhigen darf, keine Spritze oder so etwas, man kommt in den Scanner, wie man ist, mit einem nackten, nüchternen Gehirn, authentisch.
»Leon, die Ärztin ist da ... kannst du ... kannst du sprechen?«
Muster, denkst du, sie scannen deine Muster. Du versuchst dir vorzustellen, wie das aussieht, wenn ein Magnetfeld binnen einer Trilliardstel Sekunde ein holografisches Ebenbild deines Gehirns erstellt, wie es deine Einzigartigkeit kopiert, dupliziert und anschließend speichert, es handelt sich um ein vierdimensionales Foto, hat der Arzt gesagt, um das zeitlose Abbild eines Gehirnmoments, so wie ein zweidimensionales Foto einen dreidimensionalen Raum abbilden kann, so bildet der Hirnscan ein dreidimensionales Abbild eines vierdimensionalen, in die Zeit eingebundenen morphocerebralen Feldes ab. Morphocerebrales Feld ... ein Abbild, das erst im Anschluss, nach dem Shot, tatsächlich gescannt wird, digitalisiert wird, dann, wenn du längst wieder raus bist aus der Röhre, welche mit einem riesigen Ballon verbunden ist, und du denkst: Ist der Ballon real? Oder war er nur ein Bild gewesen, Einbildung, eine Vorstellung, eine Metapher des Arztes für das Hologramm. Für das morphocerebrale Feld? Ein gelb leuchtender, halbtransparenter Ballon, direkt über dir, deine Seele ist darin eingesperrt ...
In wachen Stunden zählte er gerne seine Persönlichkeiten. Die ihn davon abhielten, authentisch zu sein. Die ihn zwangen, niemals sich damit zu begnügen, nur er selbst zu sein. Selbst? Wer ist das? Nur einer zu sein.
Zitat Ende.
Zitat ohne Zitierenden.
Dein Kopf sind tausend Nadelstiche. Doch dass dein Gesicht sich so fremd anfühlt, liegt auch daran, dass du was im Mund hast, Plastik, ein Schlauch, auch auf dem Gesicht, und nein, das ist gar nicht im Mund, das ist ein Schlauch in der Nase, ein dünner Schlauch durch die Nase in den Hals, aber der Schmerz im Rachen kommt wohl eher von einer Beatmungsmaschine, die dich, wer weiß, wie lange, geschunden hat. Luftröhrenschnitt. Der Begriff bohrt sich dir wie sein Gegenstand ins Fleisch. Sie haben dir, während du im Koma lagst, die Atemluft direkt durch den Hals in die Lunge geblasen. In die Lunge - und kaum denkst du 'Lunge', spürst du Schmerzen in der Brust. Schmerzen, die mit dem Atmen einhergehen. Hattest du was am Herzen? An der Brust? Lunge? Hast lange unter einer Armada an Maschinen gelegen, warst von den Maschinen durchdrungen gewesen, Schläuche, Kabel, Katheder, die dich genährt und beatmet haben, und in der Nase steckt immer noch so ein Ding. Luftröhrenschnitt, eine Vorstellung, die dich grausen lässt. Hals auf und ... du vermutest das nur, du weißt nichts, oder hat es dir die Ärztin erklärt, die sich jetzt anstelle der fremden Frau über dich beugt? Ärztin, immer erkennbar unter Tausend, die haben das gewisse Extra in ihrer Ausstrahlung, diese hier hat eine große Brille und das dünne Haar zu einem Dutt gebunden, ein bisschen ein Maustyp, Brillenschlange, Streberin, und sie nennt dich »Herr Petrović?!«
Schon wieder eine oder dieselbe Verwechslung, aber welcher Art? Erst Leon, jetzt Herr Petrović, abwarten, Thomas, warte einfach ab, die Hauptsache ist doch: Du lebst!
Die Ärztin macht irgendwelche Bewegungen vor deinem Gesichtsfeld, »Herr Petrović, Können Sie sich erinnern, wer Sie sind?«
Du nickst, ja ich kann, natürlich kann ich mich erinnern, wenn auch anders, als ihr hier alle vielleicht denkt oder erwartet, aber: ICH ERINNERE MICH!
Die Ärztin pulsiert, scharf - unscharf - scharf ... Schneller als die fremde Frau, aber vielleicht haben sich deine Augen auch schon an die falsche Brille gewöhnt.
»Sagen Sie mir Ihren Namen!«, fordert Mausgesicht. Ihre Stimme ist anders als die der Frau, auch wie aus Glas, aber schriller, als würde Tonscherben aneinander reiben. »Herr Petrović?!«
Du konzentrierst dich auf den Brust-Lunge-Kehlkopf-Mund-Sprech-Apparat dieses Körpers, der beinahe ohne dein Dazutun aktiv geworden wäre, und du sagst, du flüsterst (aus Angst vor dem Klang der Stimme): »Thomas!«
»Bitte?«
»Thomas ...«, hauchst du, dabei klingt nicht einmal deine Flüsterstimme nach Thomas.
»Thomas ... eh ...« Sie schaut auf etwas in ihrer Hand, einen Papierbogen vielleicht, schaut dich wieder an, »Herr Petrović?! Sie sind Herr Petrović ...?«
Du schüttelst den Kopf, du deutest an, den Kopf zu schütteln, der Kopf ist so schwer oder so starr, dass das Kopfschütteln nur ein Zittern ist.
Die Ärztin sieht hoch, irgendwohin, wo dein Blick nicht folgen kann. Dann plötzlich das Gesicht der anderen Frau neben ihr, der Frau, die so warm deine Hand gehalten hat.
»Leon?« Ihre Glasstimme ist brüchig, zittrig, oh nein, weine doch nicht, »Ja ...?«, flüsterst du.
»Leon ... du ...«
Tu dir das nicht an, Thomas, verlier sie nicht, nicht auch noch sie, wer ist schon Thomas? Lass sie doch glauben, du wärst ...
»Leon ...«, flüsterst du. Es klingt falsch, so sehr falsch, aber etwas regt sich in Frau und Ärztin. Etwas Positives. Lass sie doch, nur für einen Moment, belass es dabei:
»Leon Pet ... Pedrovitsch!«
Sie wollen etwas anderes hören als Thomas, und du hast auf einmal Angst, Thomas preiszugeben, ihn zu verraten, als müsse (oder könne) sich Thomas in Leon Petrović verstecken.
»Petrović!«, sagst du noch einmal, und richtiger, mit einer Stimme aus tiefster Seele, wie sie einem fremder nicht klingen kann, aber das, DAS ist deine Stimme, neu, und hab keine Angst: Die Ärztin scheint damit einigermaßen klarzukommen, sie sagt nur: »Ja?«
»Leon ...«, wiederholst du. Warum auch immer das jetzt besser ist.
Ich bin Leon Petrović. Was ist das? Oder wer?
Die schöne Frau sieht dich an und ist glücklich. Dann verschwindet sie wieder. Aber sie bleibt im Raum. Und der Junge? Ist der auch da? Ist das ihr Sohn, ist das der Sohn - von ... Leon? Und sie ist Leons - Frau? Nein, das wäre zu absurd, wie auch immer diese Verwechslung zustande kommt, den eigenen Mann dürfte sie wohl noch erkennen, oder?
ODER?!!!
Die Ärztin mit der Tonscherbenstimme beginnt zu reden. Künstliches Koma, aus dem du erwacht seist, und dass eine Reha folgen würde, und dass du nicht der Erste wärst, im Gegenteil, die Sache hätte längst Routine. Und immer, wenn dir die Augen zufallen wollen, sagt sie, du sollst sie anschauen. Sie begreift so wenig wie die andere, dass es zu einer Verwechslung gekommen ist, dass du nicht der bist, für den sie dich halten. Oder bist du es, der nicht begreift, dass du nicht der bist, für den DU dich hältst? Begreifst du etwa selbst nicht, dass du gar nicht hier sein dürftest? Dass du gar nicht sein dürftest, gar nicht existieren?
Bin ich ich? Absurd! Nur dass dieser Körper mein ... nicht mein zu sein scheint. Beruhige dich Thomas, wie oft erlebt man das? Dass der Körper einem fremd wird? Bei jeder Grippe ist das so, und mit deinen 53 Jahren hast du schon einiges an Körperentfremdungen erlebt, erst vor zwei Jahren, als dich eine Infektion tagelang von rechts auf links gedreht hat, da ist das hier nichts dagegen, was also bitte, was also soll jetzt signifikant anders sein? Geschwollene Hände, Schmerzen in Brust und Kehle, der Kopf schwer und der Mund wie nach einem Zahnarztbesuch. Die Augen haben neue Sehschärfen, die Stimmen sind gläsern und das Licht? Selbst das Licht ist anders, anders, bloß wie anders? Unbeschreiblich anders.
Symptome, Thomas, Symptome, das hat man schon mal, immerhin bin ich gestorben.
Oder sollte es tatsächlich sein, dass?
Nein.
»Herr Petrović, wir ...«
Nein!
Du willst diese Ahnung nicht in einen Gedanken gießen, nicht in etwas Formuliertes, lass Ahnung Ahnung sein, denk dir das nicht aus, Thomas, mal dir das nicht aus, du bist Thomas, sie werden dir doch keinen neuen Körper verpasst haben, soweit ist die Technik doch noch gar nicht, deswegen hast du doch den Chip im Nacken, damit sie dich holen, holen, immer online, damit die deinen toten Körper holen, und wenn aber doch? Oder doch nicht? Doch nicht mehr zu gebrauchen gewesen, dieser tote Thomas? Was hat er denn gemacht, der Thomas, woran ist er denn gestorben?
Und was redet die eigentlich? Die Mausgesichtärztin? Sie will dir doch was erklären, aber du kannst sie nicht verstehen, in deinen Ohren nur das schrille Klirren, das sich kaum mehr nach Stimme anhört, und das immer lauter wird, oder du dir immer lauter einbildest, kann es denn tatsächlich sein, ist es tatsächlich möglich dass sie ... dass du ... falsch bist? Dass sie den Falschen von den Untoten erweckt haben? Nein, dass sie dich im falschen Körper erweckt haben? Im falschen Körper?!
Die Maus mit der Brille kommt dir nahe, viel zu nahe, deine Augen wehren sich gegen diese Nähe, erst verschwimmt sie, und dann plötzlich ist sie überscharf, ganz nah und scharf und perspektivisch so verzerrt, als sähe man sie durch ein Fisheye-Objektiv.
Was ist bloß mit mir geschehen? Was ist mit Thomas geschehen? Hatte ich wirklich einen Unfall? Ich, Thomas? Oder dieser Leon? Wurde Thomas als Leon wiederbelebt? Oder - in Leon? Was ist das für eine absurde Geschichte? Kaum aber hast du dir diesen Gedanken ausformuliert, diesen Gedanken zu Ende gedacht, da zerreißt sie dich wieder, die Angst, die panische, unbegreifliche, unfassbare Angst. Nicht das erste Mal seit deinem Erwachen, aber diesmal bleibt der Fall in die Ohnmacht aus, die Implosion der Sinne, du bleibst mitten im Absturz hängen, wie eine Fliege in einem Spinnennetz, aus Angst, du bleibst wach und in voller Wahrnehmung eines unerträglichen Entsetzens, das dieser Körper an deiner statt SPÜRT. Beklemmung, Atemnot und sich aufrichtende Härchen.
»Herr Petrović?« und: »Leon?«
Klirren. Scherbenstimmen. Was immer auch geschehen ist, du hast Angst davor, aber wovor? Angst, vor dem Zurück? Du willst nicht dahin ... wohin ... was ist das - zurück? Die Sprache lässt kein passendes Wort zu, es gibt kein Zurück, wohin denn auch?, zurück in den großen holografischen Ballon über dirselbst, mit dirselbst? Deine verzerrte Körperwahrnehmung, deine falschen Wahrnehmungen dieses fremden Körpers durch die Sinne dieses fremden Körpers helfen dir wie zwielichte Komplizen, trotz Panikattacke unauffällig zu bleiben, helfen dir, die körperlichen Reflexe der Angst nach innen zu kehren, sie zu unterdrücken, Herzrasen, Blutrauschen und Übelkeit, Reflexe, deren Ausbruch an die Oberfläche du unbedingt verhindern musst, doch mittendrin, während die Ärztin mit ihrer Scherbenstimme Löcher in dein Gehirn schneidet (meins?), fragst du laut: »Wo bin ich?«
Laut, du hast das furchtbar laut gesagt, hast diesen völlig fremden Körper dazu benutzt, es geradezu hinauszuschreien, sodass Mauskopf zurückgezuckt ist.
Wo bin ich?
Du hast nach dem Wo gefragt, nicht nach dem Wer.
Mauskopf lächelt, für sie ist das Wo ein Fortschritt gewesen, sie hat deine Erkenntnis, selbst falsch oder an falscher Stelle erwacht zu sein, nicht bemerkt, auch nicht, als sie dich beinahe aufgefressen hätte, hat nicht gemerkt, dass deine Frage nur das Geräusch eines Meteoriteneinschlags war, des Einschlags dieser Erkenntnis, existenziell falsch zu sein. Falsch!
Und - mein Gott - unwiderruflich!
Unwiderruflich? Unumkehrbar? Unheilbar krank? Unheilbar - Leon?
Sie tupft mit etwas deinen Mund ab, offenbar ist Speichel ausgetreten.
»Herr Petrović, Sie hatten einen Unfall ...« (ja, ich weiß, aber nicht ich, nicht ICH hatte einen ...!), »Sie sind hier im St. Barbara Krankenhaus, in der Unfallchirurgie, in der Intensivstation, es ist alles gut, Sie haben das überlebt, wir haben Sie wieder hingekriegt!« (Oder doch ich? Hatte ICH einen Unfall?)
Ein plötzliches Bedürfnis, mich aufzurichten, das sie abfängt: »Langsam, Herr Petrović, langsam ...«, schon der Versuch war schmerzhaft, aber auf eine eigenartig taube Art schmerzhaft, als wüsste der Brustkorb nicht so recht, wie er es dir mitteilen soll, dass da was gebrochen oder gerissen ist, und die Lunge, die pfeift!
»Ein Autounfall«, sagt sie, »Sie haben ... telefoniert, mit Ihrer Frau, beim Fahren, da ist es passiert.«
Meine Frau?
»Sie hatten mehrere Rippenbrüche und einen sehr tiefen Lungenriss, der hat einen Pneumothorax ausgelöst. Und der hat zu einem Mediastinal- und Hautemphysem geführt, das sich sehr schnell ausgebreitet hat, sodass ihr Herz versagte und Sie ... noch am Unfallort ... verst...«
»Was?«
»Herr Petrović, nichts ... alles wird gut, die Gesellschaft hat das verhindert, dass Sie wirklich gestorben sind. Sie haben Glück. Sie wurden reinkarniert. Sie sind nicht tot!«
Meine - Frau?! Du fühlst nach deinen falschen Fingern. Dieser Ring. Da ist ein Ring, ein einfacher, runder ... Ring! Ein Ehering.
Und dann sprichst du den zweiten vollständigen Satz deines neuen Lebens: »War ich denn ... tot?«
Diesmal sehr bewusst, gezielt, gewählt. Noch während du diese vier Worte sagst, spürst du, wie wenig du es bist, der die Worte sagt, wie wenig du es bist, der spricht, wie viel mehr du IHN sprechen lässt, diesen Körper, und dass das nicht nur Probleme mit den Stimmbändern sind, wegen der Narben oder Wunden, die die Intubation hinterlassen hat, wegen der über Tage oder Wochen andauernden Beatmung, oder der Operation an der Lunge. Nicht die gestörte Intensität der Schmerzen in Brust und Rachen machen dir bewusst, wie wenig das hier deins ist, nein, es ist der völlig fremde Klang deiner dieser dir uneigenen Stimme in deinen diesen dir uneigenen Ohren. Das ist nicht meine Stimme. Ist so wenig meins, wie der Name oder die Frau meins ist, nichts, aber auch gar nichts ist meins, und: Was ist mit mir geschehen nach oder bei diesem Unfall?
Die Mausfrau mit der großen Brille verzerrt sich selbst wie ein Cartoon in einem Kinderbuch, gleich beißt sie mich und deshalb will ich zurückweichen, den Körper wechseln, was natürlich nicht geht, man kann sich nicht einmal wegträumen oder wegschlafen, und zugleich - so wenig Meinigkeit auch von diesem Monstrum von Körper ausgeht -, zugleich simuliert er doch simultan deine Empfindungen und Gedanken. Oder simuliert er nur das, was die Frau ihm abverlangt? Ist es das? Nur das? Der Körper lächelt oder so ähnlich (das hatten wir schon), was sie irritiert, dein hässliches Lächeln ist nicht das Gebotene, also fragst du noch einmal, diesmal gebrochener, zugleich nicht wirklich Übleres mehr erwartend als die Fremdheit dieser Stimme in dir: »War ich tot?«
»Ja«, sagt Frau Doktor, du weißt nicht einmal ihren Namen, oder hatte sie sich vorgestellt?
»Herr Petrović, Sie wissen, warum Sie hier sind ...?«
DU sammelst Spucke, was geht (und eklig ist, es ist nicht deine Spucke, nicht DEINE!), du sammelst Worte (selbst bei denen bist du dir nicht sicher, ob es deine sind - aber von wo sonst könnten sie her sein?): »Ich hatte einen Unfall ...« (Fragezeichen? Ausrufezeichen? Punkt? PUNKT?!)
»Nein, Herr Petrović, ich meinte, WARUM Sie TROTZDEM hier sind, trotz Unfall ...?«
»Wa ... rum?« (diese deine nicht deine Stimme ist sehr männlich ...)
»Warum Sie - trotzdem Sie tot ... waren ... warum Sie TROTZDEM hier sind?«
»Ich bin bei der Gesellschaft ...« (gesprochen ohne nachzudenken).
»Ja, Sie sind bei der Gesellschaft - sind da versichert, die Gesellschaft kümmert sich darum, dass Sie nicht tot sind, nicht tot bleiben, sie wird dafür sorgen, dass Sie zurückkommen, dass Sie dank der Reinkarnation wieder ein normales Leben führen werden, IHR normales Leben, als wäre nichts geschehen, das versuche ich die ganze Zeit, Ihnen klarzumachen!«
Du schließt die Augen unter den Brillengläsern.
»Herr Petrović, wir müssen ein paar Tests machen.«
Augen bleiben zu. Du nickst. Genickbruch.
»Herr Petrović, bitte öffnen Sie die Augen!«
Du blinzelst, Mauskopf scharf, Mauskopf unscharf ...
»Erinnern Sie sich an Ihre Frau?«
Du nickst.
»Sagen Sie mir ihren Namen!«
Namen? Welchen Namen? Ich habe keine Frau. Nie gehabt. (Doch woher der Ring?) Franka ist falsch, denn Franka ist nicht meine Frau. Ich muss lügen, ich kann nicht lügen, nicht einmal das.
»Sie ist schön ...«, sagst du, nichtssagend, aber an diese Fremde denkend, die mit der Hand in deiner, und Frau Mauskopf nickt, schaut hoch, lächelt (zu ihr?), dann wieder zu dir, zustimmend: »Ja, das ist sie, können Sie sich an ihren Namen erinnern?«
Du strengst deine Augen an, deinen Kopf, kein Name, woher ein Name?, du schüttelst den Kopf des Mannes dieser gefragten Frau.
»Sylvie ...?«, fragt die Ärztin, »... vielleicht?«
Sie sieht wieder auf, dahin, wo - Sylvie - sein müsste.
Du lässt deinen Mannkopf leise sagen: »Sylvie ...«
»Sie erinnern sich?«
Du nickst. Lügst.
Lügst nicht. Ich erinnere mich doch, verteidigst du dich vor dir selber, vor wem selber, vor dem Mann, der du jetzt bist?
»Und Ihr Beruf, Herr Petrović? Was arbeiten Sie? Erinnern Sie sich ... nennen Sie mir Ihren Beruf!«
Du denkst an Häuser, du weißt ja deinen Beruf, aber dass du oder etwas Unbewusstes in dir den Mann verräterisch »Architekt« sagen lässt, lässt dich erschrecken.
Sie runzelt bilderbuchmäßig ihre Mäusestirn, schaut in ihre Unterlagen, Papierbogen oder Tablett-Display, dann sieht sie dich wieder an. Sie untergräbt ihren eigenen Test, als wolle sie die Sache beschleunigen, abhaken, und sagt: »Sie meinen 'Zimmermann'?«
Du nickst viel zu eifrig, diesmal tut der Nacken (Nicken kommt von Nacken!) wirklich weh! Bin ich etwa ein Zimmerer, mit meinen zwei linken Händen? Der Gedanke ist so komisch, dass du lachen musst, richtig hässlich lachen, sodass es überall wehtut, die ganze kaputte Brust zerreißt ein zweites Mal.
Die Ärztin scheint das falsch zu verstehen, deutet dein Lachen als die Wiederkehr einer Erinnerung, die du nie gehabt hast. Du willst sehen, ob dieser andere Körper die passenden zwei rechten Hände zu deinen verlorenen zwei linken hat, du hebst sie an, die Hände, die gar nicht geschwollen sind, doch, die linke ist blau angelaufen, aber du erkennst sofort die Injektionswunde, blau, rot, rote Punktwunden, und am Ringfinger der rechten Hand tatsächlich ein Ring, ansonsten sind das die reinsten Pranken, nein, ich übertreibe, es sind kräftige Hände, ja, aber nicht grobschlächtig, Hände mit Gefühl - und es sind gefesselte Hände. Sie haben deine Ellenbogen mit einer Mullbindenschlaufe am Bettgestell angebunden, du kannst sie kaum anheben, gerade so, dass du zwar die Unterarme bewegen und deine Hände ansehen, die Arme aber nicht erheben kannst, als müsse man das Personal vor deinen Schlägen schützen - oder dich vor dir selbst, oder auch nur davor, dich am neuen Kopf zu kratzen. Die Geste, die Art und Weise, wie du diese Hände vor dein Gesicht hältst (was trotz der Binden gerade noch geht), wie du sie betrachtest, die verrät dich, die hat dich schon verraten, das sind nicht deine, das sind eindeutig Tischlerhände, obwohl kein einziger Finger fehlt, trotzdem, in einem kurzen Moment des Klarsehens erkennst du ein paar Stellen, das könnten vernarbte Splitter sein, Holz, mit dieser Hände Arbeit, und ein goldener Ehering, und jetzt?
Die Hände fallen über dir zusammen wie ein Turm.
Böser Traum?
Beim nächsten Erwachen öffnest du statt der Augen die Lippen. Du hast dich in die Mundhöhle zurückgezogen und beobachtest von dort heraus einen Pfleger und eine Schwester, die an dem, der dich umschließt, herummachen. Du siehst zu, wie sie den undefinierbaren Sud für die Magensonde wechseln, die in Leons Nase steckt. Und du kannst den Plastikschlauch, der hinter Zunge und Zäpfchen in diesen Körper hineinführt, förmlich sehen.
Als sie fertig sind, schauen die beiden dich an, dich bzw. irgendetwas, das sich außerhalb des Mundes befindet. Du bleibst versteckt unter der Oberfläche, von dem du nicht einmal wissen willst, wie sie eigentlich aussieht. Wie du aussiehst. Dein neues Gesicht, dessen fremde Formen du - als sie gegangen sind - dann doch heimlich mit den ebenso fremden Fingern abtastest. Was sich taub anfühlt, zahnarzttaub, eingeschlafen taub, und weil die Arme immer noch angebunden sind, kommst du nur bis zu den Augenbrauen und nicht weiter, nicht bis zur Stirn, von der du nur ahnst, dass sie jetzt hoch ist. Die Augenbrauen sind viel feiner, als die buschigen, die ich früher hatte. Mädchenbrauen. Ich will's gar nicht wissen.
Du bleibst in der Mundhöhle. Von wo aus du Leute beobachtest, die immer wieder kommen und an dem Mann Dinge auswechseln, auch untenrum, wo alles weit weg und taub ist, du vermutest, dass der Mann Windeln tragen muss, ganz sicher muss er, auch wenn du dich nicht erinnern kannst, je geschissen zu haben. Oder wie sie dich ansprechen. Du hockst in der Höhle, hinter der Zunge, einem Krokodil von Zunge, das sich nicht rührt, während du zwischen spitzen Zähnen hindurchschaust wie ein verängstigter Höhlenmensch.
Irgendwann erscheint Frau Doktor Mausgesicht, zusammen mit anderen Männern und Frauen, alle in Kitteln, mit Klemmbrettern im Arm und Stethoskopen um den Hals, aber das mit den Klemmbrettern und Stethoskopen erfindest du dir hinzu, du kannst sie ja kaum sehen mit dem nur haarbreit geöffneten Mund, und sie reden in ihrer Fachsprache über den, in dem du hockst, und über die Maschine, an der er angeschlossen ist, an der sein Kopf angeschlossen ist, und eine ältere Ärztin fragt nach dem Reinkarnator, und wieso der noch impulsiere? Sie redet so, als schliefest du oder lägest im Koma, oder wärst ungebildet genug, um kein Wort zu verstehen, du verstehst auch tatsächlich kaum etwas, aber du verstehst, dass diese Maschine deinen Kopf mit wohldosierten Stromstößen intakt hält, als könntest du nicht selber denken, oder noch nicht, denn eigentlich hätte diese Maschine, eben dieser Reinkarnator, was ein besonders komplizierter Hirnschrittmacher zu sein scheint, eigentlich hätte dieser doch längst heruntergefahren sein müssen, und dass man nur in Ausnahmefällen den Patienten im Wachzustand noch impulsieren müsse, und sie diskutieren darüber, dass dein Gehirn sich nicht so günstig entwickelt habe, wie erwartet, ja was haben sie denn erwartet? Was?!
Vielleicht ist genau das geschehen. Ich bin erloschen, mit Haut und Haar, und man hat mich in einen fremden Körper hineininkarniert. Einen Spenderkörper. Organspende, Körperspende, warum nicht? Weil das absurd ist, Thomas! Wer sollte seinen Körper in Gänze spenden? Ja, wer das Geld nicht hat für das eigene Backup ... Ach Thomas, wer arm ist, soll sich den Reichen freiwillig schenken? Und wenn man die Armen dafür bezahlt? Davon hast du nie gehört. Und wenn es so wäre, warum verwechselt man dich dann? Alle sind sie davon überzeugt, dass du Leon heißt. Leon. Leon Petrović!
Nein!
Ich bin Thomas. Thomas Vanderra. Der dafür bezahlt hat, dass man ihm ein neues Hirn züchtet, wenn er stirbt. Das ist es doch, darum geht es doch beim Backup. Aber was ist mit diesem hier? Mit dem ich hier denke? Über mir, dort, hinter dem Gaumenknochen? Wessen Hirn steckt in diesem Körper? Meins? Thomas'? Leons? Ich denke an absurde Geschichten von vertauschten Köpfen bei Hund und Katze. It's hirning cats 'n' dogs. Ich träume. Muss.
Als sie gegangen sind, legst du dich neben Zunge Krokodil und schläfst, um diesen entlaufenen Traum wieder einzufangen. Aber du findest ihn nicht, keinen Traum, keinen, an den du dich anschließend erinnerst. Nur an das glucksende Baden in fremdem Speichel, Höhlenklänge, sogar die Echos widerhallender Tropfen glaubst du im Schlaf aus der Tiefe des toten Tieres gehört zu haben. Warum träumt man nicht mehr, nach der Reinkarnation? Weil das, was du im Wachen erlebst, selbst ein Traum ist?
Am nächsten Morgen ziehen sie Leon die Sonde aus der Nase. Du nimmst es zuerst kaum wahr, öffnest nur den Mund ein wenig, gerade so, dass du Finger in Gummihandschuhen sehen kannst, die an einem rot verschmierten Kathederschlauch ziehen, und in dir oder hinter dir, im Rachen, da spürst du ein glitschiges Ziehen, und plötzlich stehst du knietief im Blut. Schwarzes Blut, das sich, aus der Kehle kommend, zwischen maroden Zähnen sammelt. Und das von außen über die schmalen Lippen rinnt, sich in den Mundwinkeln sammelt und ebenfalls hineintropft. In dich. In ihn. Du watest durch eine Mischung aus Blut und Speichel nach vorne, zum Licht, lugst durch die schießschartenschmalen Lücken zwischen den Zähnen und erkennst den Pfleger, einen schweren, bärtigen, korpulenten Riesen mit einem Bärchengesicht, der draußen ein Gesicht abtupft.
»Alles in Ordnung?«, brummt der Bär mit einer elektrisch verzerrten Bärenstimme und schaut dich an. Du schreckst zurück, verkriechst dich nach hinten, willst dich unter der Zunge verstecken, aber da ist überall das Blut.